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ZWISCHEN DEN ZEILEN DIE GESCHICHTE DES KREISBLATTES FÜR DEN KREIS MALMEDY UND DER ST. VITHER-VOLKZEITUNG 1866-1940
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Zwischen den Zeilen. Die Geschichte des Kreisblattes für den Kreis Malmedy und der St.Vither Volkszeitung 1866-1940

Apr 09, 2023

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ZWISCHEN DEN ZEILEN

DIE GESCHICHTE DES KREISBLATTES FÜR DEN KREIS MALMEDY

UND DER ST. VITHER-VOLKZEITUNG 1866-1940

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GENERALSTAATSARCHIV UND

STAATSARCHIVE IN DER PROVINZ

QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCHSPRACHIGEN BELGIER

3

Generalstaatsarchiv -Algemeen Rijksarchief – Archives générales du Royaume Ruisbroekstraat 2 rue de Ruysbroeck 1000 Brüssel – Brussel - Bruxelles

Publ. xxxx

D/2008/531/

De volledige lijst van onze publicaties kan U gratis bekomen op eenvoudig verzoek ([email protected]) of raadplegen op internet (http://arch.arch.be)

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ZWISCHEN DEN ZEILEN

DIE GESCHICHTE DES KREISBLATTES FÜR DEN KREIS MALMEDY

UND DER ST. VITHER VOLKSZEITUNG

von

Andreas FICKERS (Hrsg.)

BRÜSSEL 2008

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INHALTSVERZEICHNIS

INHALTSVERZEICHNIS ....................................................................................... 5 EINLEITUNG .......................................................................................................... 11 FORSCHUNGSSTAND OSTBELGIEN ............................................................... 15 TEIL I: FABIAN MÜLLER-LUTZ - „DEN EINFACHSTEN ANSPRÜCHEN NICHT GENÜGEND?“DAS KREISBLATT FÜR DEN KREIS MALMEDY IN DER BISMARCKZEIT (1866-1890) ................................................................ 19 I. EINLEITUNG ........................................................................... 20

A. Einführung in die Thematik der Arbeit ................................. 20 II. DIE ENTWICKLUNG DES ZEITUNGSWESENS IM 19.

JAHRHUNDERT ...................................................................... 23 A. Technische und allgemeine Entwicklung .............................. 23 B. Die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen .......... 26 C. Pressepolitik in Preußen und im Kaiserreich – die

Organisation der Provinzpresse ............................................ 28 III. DER KREIS MALMEDY ......................................................... 31

A. Allgemeines .......................................................................... 31 B. Die wirtschaftliche und soziale Situation im Kreis Malmedy in

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ............................... 37 C. Verkehrsverhältnisse und Postwesen im Kreis Malmedy ..... 40 D. Die Presse des Kreises Malmedys ......................................... 42

IV. DAS KREISBLATT FÜR DEN KREIS MALMEDY .............. 44 A. Das Produkt, die Produktion und Organisation des

Kreisblattes. .......................................................................... 44

V. DER REDAKTIONELLE TEIL DES KREISBLATTES ......... 51 A. Allgemeines .......................................................................... 51 B. Die politische Berichterstattung des Kreisblattes ................. 55 C. Das Verhalten des Kreisblattes während des Kulturkampfs..65 D. Das Kreisblatt und die Neuorganisation der Regierungspresse

von 1882 ............................................................................... 71

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Inhaltsverzeichnis

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E. Die Berichterstattung über lokale Themen ........................... 78

VI. DER ANZEIGENTEIL DES KREISBLATTES ....................... 88 VII. FAZIT ........................................................................................ 95

VIII. ANHANG .................................................................................. 99 TEIL II: LUISE CLEMENS - ZWISCHEN DEN ZEILEN: DIE MALMEDY-ST.VITHER VOLKSZEITUNG UND DER “VATERLANDSWECHSEL“ EUPEN-MALMEDYS (1919-1925) ................. 102 I. EINLEITUNG ......................................................................... 106 II. MEDIENWIRKUNG ............................................................... 108

A. Was ist Zensur? ................................................................... 110 B. Tradition der Zensur – Tradition der Täuschung !? ............ 111

III. DIE REGION EUPEN-MALMEDY ....................................... 116 A. Zur Geographie ................................................................... 116 B. Historie Eupen-Malmedys .................................................. 117

IV. ZUR ZEITUNGSLANDSCHAFT EUPEN-MALMEDYS .... 123 A. Einleitung ............................................................................ 123 B. Die Aachener Presse ........................................................... 124 C. Die Malmedy-St.Vither Volkszeitung ................................ 125 D. Die Konkurrenz im Zeitraum von 1919-1925 ..................... 128

V. ZWISCHEN DEN ZEILEN: DIE MALMEDY- ST.VITHER VOLKSZEITUNG UND DER ‚VATERLANDSWECHSEL’ 1919-1925 ................................................................................ 129 A. Einleitung ............................................................................ 129 B. Die Malmedy-St.Vither Volkszeitung als Informations-

lieferantin und Protestorgan ............................................... 129 C. Zwischen den Zeilen ........................................................... 157

1. “Wir wehren uns für alle Zeit gegen jede Abtrennung deutschen Gebietes im Westen…” Die Stellvertreter-artikel - ...................................................................... 157

2. „Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es um es zu besitzen“ - Themenkomplex Vaterland - .......... 163

a. Gedichte.„Dem echten unverfälschten und unverdorbenen Bauern ist die Scholle - heilige Scholle.“- Tradition - Sitte - Heimat - Staat - ....... 164

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Inhaltsverzeichnis

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b. „Den Versuchen, die deutsche Sprache zu unter-drücken oder gar zu verdrängen, müssen wir im Sinne unserer Existenz energisch entgegentreten.“ - Die Sprache - ................................................................ 167

c. „… Den guten Kampf haben sie gekämpft“ - Die Kriegerdenkmäler - ............................................... 170

d. „Geduld! Es kommt noch irgendwo Verlorenes zurück;“ - Die Gedichte - ...................................... 174

e. Leben in zwei Welten – Die Ausrichtung der Nachrichten nach Deutschland .............................. 175

VI. SCHLUSSBETRACHTUNG .................................................. 177 MONIKA RÖTHER - KOLLEKTIVE IDENTITÄTSKONSTRUKTION DURCH AUTORITATIVE DEUTUNGSANGEBOTE. DIE MALMEDY ST. VITHER VOLKSZEITUNG UND DIE BEVÖLKERUNG EUPEN-MALMEDY-ST.VITHS (1866-1940) ................................................................... 180 I. EINLEITUNG ......................................................................... 181

II. EUPEN-MALMEDY UND SEIN ZEITUNGSWESEN ......... 187 A. Die Entwicklung Eupen-Malmedys 1815-1940 .................. 187 B. Presse in Eupen-Malmedy ................................................... 191 C. Die Entwicklung vom Kreisblatt für den Kreis Malmedy

zur St.Vither Volkszeitung ................................................. 193

III. BEGRIFFSKLÄRUNG UND THEORETISCHER ZUGANG202 A. Der Begriff der kollektiven Identität ................................... 202 B. Auslandsdeutsche Minderheiten ......................................... 210

IV. DAS DEUTSCHE KAISERREICH IM BEWUSSTSEIN DER GRENZBEVÖLKERUNG ....................................................... 214 A. Die Gründung des Reiches und einer reichsdeutschen

Identität? ............................................................................. 214 B. Der Konflikt zwischen nationaler und religiöser Identität im

Kulturkampf ....................................................................... 217 V. DER ERSTE WELTKRIEG IM BEWUSSTSEIN DER

GRENZBEVÖLKERUNG ....................................................... 227 A. Der Bruch der belgischen Neutralität durch das Deutsche

Reich ................................................................................... 227 B. Franktireurs-Propaganda ..................................................... 229

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VI. VERSAILLER VERTRAG UND ZWISCHEN-KRIEGSZEIT: DIE ANGLIEDERUNG UND VOLKSBEFRAGUNG .......... 235 A. Der Versailler Vertrag - starkes Gemeinschaftsgefühl

angesichts der Friedensbedingungen .................................. 235 B. Die Volksbefragung – Unrechtserfahrung als Stärkung der

„imagined community“ ...................................................... 239 C. Übergangszeit unter Baltia (1920-25) – Unzufriedenheit mit

dem Gouvernement ............................................................ 245 VII. DIE WAHLEN ALS AUSDRUCK DES REVISIONISMUS IN

EUPEN-MALMEDY NACH DER ENDGÜLTIGEN EINGLIEDERUNG IN DEN BELGISCHEN STAAT ........... 250 A. Die Wahlen 1925 – die neubelgischen „Stiefbrüder“ der

Katholischen Partei ............................................................ 250 B. Die CVP in den Wahlen 1929 – der Revisionismus auf seinem

Höhepunkt .......................................................................... 256 C. Die Wahlen 1932 – beginnende Radikalisierung und

einsetzender Stimmenrückgang der Revisionisten ............. 262

VIII. EUPEN-MALMEDY IM SCHATTEN DES DRITTEN REICHES – FRÜHZEITIGE IDENTIFIKATION MIT DEM NATIONALSOZIALISTISCHEN GEDANKENGUT UND DER EINHEIT DES DEUTSCHEN VOLKES ................................ 267 A. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland –

eine vielversprechende Perspektive für die Heimattreuen? 267 B. Die Heimattreue Front als revisionistische Einheits- bewegung

aller heimattreuen Kräfte .................................................... 274 C. Die Saarabstimmung – die saarländischen „Volksgenossen“

kehren „heim ins Reich“ .................................................... 283 D. Die „Volksgemeinschaft“ innerhalb der deutschen Grenzen

wächst – der „Anschluss“ Österreichs ............................... 287 E. Eine andere Gruppe von Auslandsdeutschen: die Sudeten-

deutschen und das Münchener Abkommen als Hoffnungs-schimmer ............................................................................ 292

F. „Heim ins Reich“ ................................................................ 299

IX. SCHLUSSBETRACHTUNG: DER IDENTITÄTSWANDEL DER BEVÖLKERUNG DER GRENZKREISE VON REICHSDEUTSCHER BIS ZU NATIONALSOZIALIS-TISCHER ZEIT – IMMER NEUE HERAUSFORDERUNGEN 305

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Inhaltsverzeichnis

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X. ABBILDUNGSVERZEICHNIS ............................................. 310

XI. ANHANG ................................................................................ 311

LITERATURVERZEICHNIS .............................................................................. 317 A. Allgemeine Literatur zu Eupen-Malmedy-St.Vith .............. 317 B. Fabian Müller-Lutz, Das Kreisblatt für den Kreis Malmedy

in der Bismarckzeit ............................................................. 319 1. Quellen ...................................................................... 319 2. Veröffentlichungen .................................................... 319

C. Luise Clemens, Zwischen den Zeilen ................................. 320 1. Quellen ....................................................................... 320 2. Veröffentlichungen .................................................... 321

D. Monika Röther: Kollektive Identitätskonstruktion ............. 322 1. Identität/ Medien/ Öffentlichkeit .................................... 322 2. Minderheiten/ Auslandsdeutsche: .................................. 323

a. Kaiserreich: ............................................................. 324 b. Erster Weltkrieg: ...................................................... 324 c. Drittes Reich: .......................................................... 324

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EINLEITUNG

Bei dem 1866 gegründeten Kreisblatt für den Kreis Malmedy, das 1905 in Malmedy-St.Vither Volkszeitung und 1934 in St.Vither Volkszeitung umbe-nannt wurde, handelt es sich um eine für den Regionalhistoriker ausgespro-chen wichtige und interessante Quelle. Als offizielles Verkündungsorgan amt-licher Bekanntmachungen für den preußischen Verwaltungsbezirk Malmedy kam dem Kreisblatt eine wichtige politisch-informative Funktion unter preu-ßischer, reichsdeutscher und belgischer Herrschaft zu. Gerade diese Staaten-wechsel mit ihren mannigfachen politisch-administrativen wie kulturellen Verflechtungen lassen sich mit der Analyse des Kreisblattes beispielhaft re-konstruieren. Darüber hinaus birgt die Zeitung als zentrale Quelle der politischen Öffent-lichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts die Chance, die komplexen Prozesse moderner Nationsbildung für den Historiker nachvollziehbar zu machen.1 Hierbei kann auf ein ausgeprägtes Repertoire an methodischen und theoreti-schen Konzepten aus dem Bereich der politischen Wissenschaften, der Sozio-logie sowie der Geschichtswissenschaften zurückgegriffen werden.2 In diesem Sinne bietet die Analyse des Kreisblattes die Chance, nach den historischen Wurzeln eines regional geprägten Identitätsgefühls zu forschen, indem man die Zeitung auf ihre Funktion als zentrales Werkzeug öffentlicher Meinungs-mache oder gar politischer Agitation hin untersucht.3 Frühere Forschungsar-beiten haben bereits die zentrale Rolle der Zeitungen als Faktoren der Steue-rung öffentlicher Kommunikationsräume herausgestellt.4

1 Siehe HOBSBAWN E., Das Erfinden von Traditionen, in: CONRAD C., KESSEL M. (Hrsg.), Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart, 1998, S. 97-120; ANDERSONN, B., Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzeptes, Frankfurt, New York, 1997. 2 KNIPPENBERG H., MARKUSSE J. (Hrsg.), Nationalising and Denationalising European Border Regions, 1800-2000. Views from Geography and History, Dordrecht, Boston, London, 1999; DONNAN H., WILSON T., Borders. Frontiers of Identity, Nation and State, Oxford, New York, 1999; VON HIRSCHHAUSEN U., LEONHARD J. (Hrsg.), Nationalismen in Europa. West- und Os-teuropa im Vergleich, Göttingen, 2001. 3 NÖRTEMANN, G.H., ImagiNation. Nationale Mythologie und literarische Selbststilisierung in Belgien im 19. Jahrhundert. Henri Conscience und die Schlacht der Goldenen Sporen, in: His-torische Anthropologie, 2001, Jg. 9, Bd. 1, S. 27-53; LECOURS A., Political Institutions, Elites, and Territorial Identity Formation in Belgium, in: National Identities, 2001, Jg. 3, Bd. 1, S. 51-68. 4 CHRISTMANN H., Presse und gesellschaftliche Kommunikation in Eupen-Malmedy zwischen den beiden Weltkriegen, Diss. München, 1974.

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Einleitung

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Neben den primär politikgeschichtlichen Fragestellungen erlaubt die Zei-tungsanalyse zudem einen Einblick in mentalitäts- und alltagsgeschichtliche Entwicklungen und Veränderungen. So geben die vielen kleinen Werbeanzei-gen sowie die zahlreichen Verlautbarungen privatrechtlichen Charakters die Möglichkeit, Einblick in die Konsumgewohnheiten oder die Festkultur der Region zu erlangen. Die zahlreichen Anpreisungen medizinischer und pseu-dowissenschaftlicher Heilmittel erlauben beispielsweise Einsichten in das Medizinalwesen, die sozialhygienischen Vorstellungen aber auch in die Aber-gläubigkeit der Zeitgenossen.1 Nicht zuletzt bietet dieser historische Längs-schnitt von immerhin 78 Jahren Zeitgeschichte (1866-1944) die Möglichkeit zu einer Rekonstruktion der wirtschaftspolitischen Voraussetzungen des Druckgewerbes im St.Vither / Malmedyer Raum. In einem von der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens (Minister Oliver Paasch), dem Eupener Staatsarchiv (Dr. Alfred Minke) und dem Lehrstuhl für Neuere Geschichte (Prof. Dr. Armin Heinen) des Historischen Instituts der RWTH Aachen geförderten Forschungsprojekt unter Leitung von Andreas Fickers wurde die einzigartige Zeitungssammlung erstmals vollständig inven-tarisiert. Alle Ausgaben sind nun in einer elektronischen Datenbank erfasst, in der neben den im engeren Sinne zeitungsrelevanten Angaben (Erscheinungs-datum, Nummer, Jahrgang, Herausgeber, Sondernummern oder Beilagen) auch inhaltlich relevante Informationen schlagwortartig aufgelistet sind (Ti-telseite, politisch relevante Ereignisse, Anzeigen). Die vollständige Samm-lung aller Jahrgänge dieses für das St.Vither und Malmedyer Land zentralen Zeitungsblattes wurde uns von Frau Margarete Doepgen freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Ihr gebührt unser besonderer Dank. Parallel zur Er-stellung dieser historischen Datenbank wurden im Rahmen des Forschungs-projektes drei Magisterarbeiten realisiert, die sich – mit jeweils unterschiedli-chen chronologischen und thematischen Schwerpunkten – mit dem Kreisblatt bzw. der Volkszeitung beschäftigt haben und in der nun vorliegenden Publi-kation zusammengefasst sind. Monika Röther hat mit ihrer Arbeit „Kollektive Identitätskonstruktion durch autoritative Deutungsangebote: Die Malmedy-St.Vither Volkszeitung und die Bevölkerung Eupen-Malmedy-St.Viths“ eine fundierte Überblicksdarstellung für den gesamten Erscheinungszeitraum der Zeitung vorgelegt, in der die poli-tische und gesellschaftliche Wandlung des Blattes vom Nachrichten übermit-telnden Amtsblatt zum Ereignis kommentierenden und politisierenden Heima-torgan subtil nachgezeichnet wird.

1 FRANK R., Mentalitäten, Vorstellungen und internationale Beziehungen, in: LOTH W., OSTERHAMMEL J. (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen - Ergebnisse - Aussichten, München 2000, S. 159-185; LEJEUNE, C., Leben und Feiern auf dem Lande, 3 Bde., Büllin-gen 1997f; LEJEUNE, C., FICKERS A., CREMER F., Spuren in die Zukunft. Anmerkungen zu einem bewegten Jahrhundert, Büllingen 2001.

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Einleitung

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Während Röthers Arbeit den Vorteil einer historischen Überblicksdarstellung bietet, die grundlegende Konfliktmuster wie jene zwischen Katholizismus und Nationalismus als Paradigmen der redaktionellen Positionierung ausmacht, wählt Luise Clemens in ihrer Arbeit „Zwischen den Zeilen. Die Malmedy-St.Vither Volkszeitung und der Vaterlandswechsel Eupen-Malmedys“ einen mikrohistorischen Fokus, der eine kritische Lektüre jener Texte ermöglicht, die in Zeiten politischer Zensur erschienen sind. Wie aufschlussreich jene „Lektüre zwischen den Zeilen“ sein kann, zeigt sich am Beispiel sogenannter „Stellvertreter-Diskurse“. Bei ihnen handelt es sich um redaktionelle Stel-lungnahmen zu politischen Ereignissen in anderen Regionen Europas, die stellvertretend für die eigene Region diskutiert und kommentiert werden. Die-se Methode des „verdeckten Schreibens“ erlaubt es, trotz politischer Zensur Kritik an den bestehenden lokalen Verhältnissen zu üben. Die im engeren Sinne zeitungswissenschaftliche Arbeit von Fabian Müller-Lutz „’Den einfachsten Ansprüchen nicht genügend?’ Das Kreisblatt für den Kreis Malmedy in der Bismarckzeit 1866-1890“ zeigt deutlich, dass es sich beim Kreisblatt aus politikhistorischer Sicht um ein typisches Produkt der preußischen Presselandschaft handelt, dessen lokale Bedeutung nicht politi-scher, sondern wirtschaftlicher Natur war. Als einziges deutschsprachiges Or-gan im Kreis Malmedy fungierte es - neben den amtlichen Bekanntmachun-gen - vor allem als regional bedeutendes Anzeigenblatt, das Annoncen und Ankündigungen, Markttermine und Handelspreise bekanntmachte. Dass das Blatt während des sogenannten Kulturkampfes – sehr zum Unbehagen eines großen Teils seiner Leserschaft – Position für die preußische Staatsregierung und die Nationalliberalen bezog, die den politischen Katholizismus (v.a. die Zentrumspartei) bekämpften, zeigt einmal mehr, dass die Spannungen zwi-schen Katholizismus und Nationalismus als ideologischer Grundkonflikt für das Malmedyer-St.Vither Land im 19. und 20. Jahrhundert gelten. Alle drei Arbeiten demonstrieren auf eindrucksvolle Weise den Reichtum die-ser lokalhistorischen Quelle, machen auf der anderen Seite aber auch deutlich, dass sich an Hand der Analyse einer Zeitung nur begrenzt Rückschlüsse auf die tatsächliche politische Lage oder zum kulturellen und sozialen Umfeld der Region ziehen lassen. Eine vergleichende Betrachtung anderer Presseorgane (dies ist in Ansätzen in den drei Magisterarbeiten geschehen) sowie nähere Informationen zu den Informationsquellen sowie der redaktionellen Struktur der Zeitungen wäre nötig, um sich ein ausführlicheres Bild der politischen Kultur und der Rolle der Zeitungen als zentrale Mediatoren des öffentlichen Diskurses machen zu können. Die ist in Ansätzen mit dem von Heinz Warny herausgegeben Band zur Geschichte der deutschsprachigen Presse in Ostbel-gien geschehen1, doch bedarf es vergleichender Fragestellungen und Untersu-

1 WARNY, H. (Hrsg.) Zwei Jahrhunderte deutschsprachige Zeitung in Ostbelgien, Eupen 2007. Siehe darin auch den von Andreas Fickers, Monika Röther und Luise

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Einleitung

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chungen, um die komplexen Zusammenhänge und Eigenheiten des Pressewe-sens und deren Einfluß auf die öffentliche Meinung auf mikrohistorischer Ebene rekonstruieren und interpretieren zu können. Auch steht eine Medien-geschichte im Sinne geographisch und intermedial vergleichender Analysen (über die Rolle von Radio und Fernsehen im Prozess der kulturellen Moderni-sierung unserer ländlich geprägten Gegend wissen wir so gut wie nichts) erst ganz am Anfang. Ich hoffe, dass dieses Projekt und die daraus hervorgegan-genen Arbeiten hier einen Impuls darstellen, und möchte mich abschließend bei Monika Röther, Luise Clemens und Fabian Müller-Lutz für ihr außerge-wöhnliches Engagement im Rahmen dieses Forschungsprojektes bedanken. Ohne die großzügige Unterstützung des gesamten Vorhabens durch Herrn Prof. Armin Heinen vom Lehrstuhl für Neueste Geschichte der RWTH Aachen wäre die Realisierung des gesamten Vorhabens schlicht nicht möglich gewesen. Ihm gebührt mein besonderer Dank. Den Mitarbeitern des Staatsar-chivs Eupen, insbesondere Els Herrebout und ?, sei an dieser Stelle ausdrück-lich für die Fertigstellung des Manuskriptes gedankt. Möge vor allem die Da-tenbank zukünftigen Heimatforschern ein hilfreiches und nützliches Instru-ment zur inhaltlichen Erschließung dieses wichtigen Quellenbestandes sein. Maastricht, im Februar 2008 Dr. Andreas Fickers Associate Professor für vergleichende Mediengeschichte an der Fakul-tät für Sozial- und Kulturwissenschaften der Universität Maastricht

Clemens gemeinsam verfassten Beitrag zur St.Vither Volkszeitung „ Vom preussi-schen Amtsblatt zum heimattreuen Sprachrohr. Die Malmedy-St.Vither Volkszeitung in der Presselandschaft der Zwischenkriegszeit, S. 211-238.

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FORSCHUNGSSTAND OSTBELGIEN Die Literatur zum Thema Ostbelgien ist recht umfangreich1, allerdings befas-sen sich viele dieser Werke mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Daher sind für die frühe Geschichte der Kreise Eupen und Malmedy die Arbeiten des ehemaligen Landrats Karl Leopold Kaufmann von besonderer Bedeu-tung.2 Kaufmann schildert die Geschichte der südlichen Region der Ostkanto-ne sehr umfangreich und detailliert, weshalb seine Untersuchungen nach wie vor die umfassendste Darstellung der Geschichte des Gebietes von Malmedy und St.Vith im 19. Jahrhundert ist. Leider ist Kaufmanns Arbeit teilweise un-übersichtlich gegliedert und zudem um eine Rechtfertigung der preußischen Verwaltung bemüht.3 Mit der Geschichte des deutsch-belgischen Grenzlands und damit auch des Kreises Malmedy hat sich Klaus Pabst in seiner 1964 erschienenen Dissertati-on über Eupen-Malmedy in der belgischen Regierungs- und Parteienpolitik 1914-19404 sowie in Aufsätzen über das Problem der deutsch-belgischen Grenze seit 18155, zur wallonischen Minderheit6 und zur politischen Ge-schichte des deutschen Sprachgebiets in Belgien7 ausführlich beschäftigt. Zu-sätzlich finden sich Informationen über die Geschichte des Untersuchungsge-bietes vor 1914 auch in einer Reihe weiterer Publikationen, von denen

1 Siehe MIEßEN W., Die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens. Bibliographie 1945-2002, 2 Bände (Quellen und Forschungen zur Geschichte der deutschsprachigen Belgier), Brüssel 2003. 2 KAUFMANN K.L., Der Kreis Malmedy. Geschichte eines Eifelkreises von 1865 bis 1920, neu hrsg. von NEU H., Bonn, 1961 (zitiert als Kaufmann I) sowie KAUFMANN K.L., Der Grenzkreis Malmedy in den ersten fünf Jahrzehnten unter preußischer Verwaltung, Bonn, 1940 (zitiert als Kaufmann II). 3 Deshalb ist hier auf die Besprechung von Kaufmanns Buch durch LEGROS E., La Wallonie malmédienne sous le régime prussien. Sur deux livres d’un ancien Landrat, in: La Vie Wallone, 1963, 37 und 1964, 38 hinzuweisen. Diese Besprechung Kaufmanns ist allerdings ebenfalls sehr einseitig und daher mit Vorsicht zu genießen. 4 PABST K., Eupen-Malmedy in der belgischen Regierungs- und Parteienpolitik 1914-1940, Aachen, 1964. 5 PABST K., Das Problem deutsch-belgischen Grenze in der Politik der letzten 150 Jahre, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, 1965, Bd. 77, S.183-210. 6 PABST K., Die preußischen Wallonen - eine staatstreue Minderheit im Westen, in: HAHN H.H., KUNZE P. (Hrsg.), Nationale Minderheiten und staatliche Politik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin, 1999. 7 PABST K., Politische Geschichte des deutschen Sprachgebiets in Ostbelgien bis 1944, in: Nel-de P.H. (Hrsg.), Deutsch als Muttersprache in Belgien, Wiesbaden, 1979, S. 9-33.

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die Werke Heinz Doepgens1 und Heinrich Rosensträters2 hervorzuheben sind. Ebenfalls von Bedeutung ist die Dissertation von Herbert Lepper über die po-litischen Strömungen im Regierungsbezirk Aachen zur Zeit der Reichsgrün-dung und des Kulturkampfes.3 Diese zweibändige Untersuchung geht detail-liert auf die politischen Verhältnisse während des Untersuchungszeitraums ein und enthält viele wichtige empirische Daten wie Wahlergebnisse, Wahlbetei-ligungen oder Beschäftigungszahlen, aufgeschlüsselt nach Wirtschaftszwei-gen für den Kreis Malmedy. Darüber hinaus sei hier noch auf die Arbeiten von Herbert Ruland4 verwiesen, der mit seiner Dissertation und weiteren Auf-sätzen einen sehr guten Einblick in die Lebens- und Arbeitsverhältnisse im deutsch-belgischen Grenzgebiet ermöglicht. Mit Teilbereichen der Geschichte Ostbelgiens setzen sich die Arbeiten von Martin Schärer5, Manfred Enssle6, Kurt Fagnoul7 und Hubert Jenniges8 ausei-nander, wobei Enssle die politischen Entwicklungen in der Zwischen-kriegszeit ins Zentrum seiner Arbeit stellt und Schärer den Focus auf die Zeit von 1940-1945 im deutsch-belgischen Grenzraum richtet. In diesem Zusam-menhang sei eben auch die Arbeit von Fagnoul genannt, die zwar auch einen Überblick seit der Weimarer Zeit bietet, aber die Annexionspolitik nach 1945 in ihr Zentrum stellt. In einem Aufsatz, der den Zeitraum von 1780-1995 be-handelt, widmet sich Jenniges der Problematik der wechselnden Nationalitä-ten und Identitäten der Bevölkerung der Grenzregion. Neuere Einblicke in die Geschichte Eupen-Malmedys bieten die Arbeiten von Alfred Minke9 und Bruno Kartheuser10 zu den 30erJahren des 20. Jahrhun-

1 DOEPGEN H., Die Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy an Belgien im Jahre 1920, Bonn 1966. 2 ROSENSTRÄTER H., Deutschsprachige Belgier. Geschichte und Gegenwart der deutschen Sprachgruppe in Belgien. Band 1, Aachen, 1985. 3 LEPPER H., Die politischen Strömungen im Regierungsbezirk Aachen zur Zeit der Reichsgründung und des Kulturkampfes 1867-1887, Bonn, 1967. 4 RULAND H., Zum Segen für uns alle. Obrigkeit, Arbeiterinnen und Arbeiter im deutsch-belgischen Grenzland (1871-1914), Eupen, 2000; RULAND H., Zwischen Hammer und Amboß, Eupen, Malmedy, St.Vith und die „zehn Gemeinden“ von 1939-1945, Eupen, 1996; DERS., Leben und Leiden einer Grenzbevölkerung, in: HEINEN A. u.a. (Hrsg.), Grenzkontrolle, (er-scheint voraussichtlich im Frühjahr 2007). 5 SCHÄRER M., Deutsche Annexionspolitik im Westen. Die Wiedereingliederung Eupen-Malmedys im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main, 1978. 6 ENSSLE M. J., Stresemann’s territorial revisionism: Germany, Belgium and the Eupen-Malmedy question 1919-1929, Wiesbaden, 1980. 7 FAGNOUL K., Die annullierte Annexion. Vom Wiener Kongress bis zum Ende Bolleniens. Ein Beitrag zur Grenzgeschichte von Eupen, Malmedy, St.Vith unter Berücksichtigung der belgi-schen Gebietsforderungen nach dem 2. Weltkrieg, St.Vith, 1985; DERS., St.Vith in alten Zei-ten.Geschichte, Personen & Gebäude. Pikantes und Prägnantes, St. Vith, 2001. 8 JENNIGES H., Germans, German-Belgians, German-Speaking Belgians, in: DEPREZ K. (Hrsg.), Nationalism in Belgium: shifting identities, 1780-1995, Basingstoke, 1998. 9 MINKE A., Die politische Zugehörigkeit Eupens im Laufe der Jahrhunderte, in: Geschichtli-ches Eupen, Eupen, 1992, Bd. 26, S. 45-58.

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derts und von Britta Bley11, die sich mit der Kriegsschuldfrage im Span-nungsverhältnis der deutsch-belgischen Beziehungen während der Weimarer Republik beschäftigt. Carlo Lejeune12, der sich mit den deutsch-belgischen Kulturbeziehungen seit 1925 befasste, lieferte darüber hinaus in Zusammen-arbeit mit Fickers und Cremer die „Anmerkungen zu einem bewegten Jahr-hundert“13. In ihren Essays zur ostbelgischen Geschichte geht es den Autoren vor allem um eine kritische Auseinandersetzung mit den „verdrängten Jahren 1914-1945“14 sowie um eine kritische Analyse der ostbelgischen Erinne-rungskultur und Geschichtspolitik15. Erste medienhistorische Arbeiten zur Pressegeschichte der heutigen belgi-schen Ostkantone stammen aus dem Jahre 1939. Alfred Stommen gibt in sei-ner Dissertation "Die Presse Eupen-Malmedys"16, wenn auch oberflächlich, bereits eine kurze Übersicht über die Entwicklung der Doepgenschen Zeitung. Sehr viel gründlicher hat sich Heidi Christmann in ihrem Werk „Presse und gesellschaftliche Kommunikation in Eupen-Malmedy zwischen den beiden Weltkriegen“17 mit dem Zeitungswesen in Eupen und Malmedy befasst. Zu-dem behandelt Christmann in den Einführungskapiteln auch ausführlich die Entstehung und Geschichte der Presselandschaft Eupens und Malmedys vor 1914. Neben den hier genannten Autoren haben sich auch Werner Brüls18 und Gu-drun Hunold19 mit der Bedeutung von Medien für die kulturelle Identität der Bevölkerung der Region auseinander gesetzt, wobei es sich bei Hunolds Ar-beit um eine Untersuchung zur aktuellen Situation in der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens handelt. Abschließend seien die Magisterarbeiten von

10 KARTHEUSER B., Die 30er Jahre in Eupen-Malmedy, Einblick in das Netzwerk der reichsdeutschen Subversion, Neundorf, 2001. 11 BLEY B., Wie viel Schuld verträgt ein Land?, Bielefeld, 2005. 12 Vgl. LEJEUNE C., Die deutsch-belgischen Kulturbeziehungen 1925-1980. Wege zur europäi-schen Integration?, Köln, Weimar, Wien, 1992. 13 LEJEUNE C., FICKERS A., CREMER F., Spuren in die Zukunft, Anmerkungen zu einem beweg-ten Jahrhundert, Büllingen, 2001. 14 So der Titel einer Ausstellung im Mai 1990 in Eupen und Februar 1991 in St.Vith. Vollstän-diger Titel: ‚Die verdrängten Jahre: Eupen - Malmedy - St.Vith 1914-1945’; Vgl. dazu auch CREMER F., MIEßEN W. (Hrsg.), Spuren. Einführung. Materialien zur Geschichte der Deutsch-sprachigen Gemeinschaft Belgiens, Eupen, 1995. 15 FICKERS A., Gedächtnisopfer. Erinnern und Vergessen in der Vergangenheitspolitik der deutschsprachigen Belgier im 20. Jahrhundert, in: zeitenblicke, 2004, 3, Nr. 1, URL: http://zeitenblicke.historicum.net/ 2004/01/fickers/index.html [Zugriff: 21.03.2007]. 16 STOMMEN A., Die Presse Eupen-Malmedys, Düsseldorf, 1939. 17 CHRISTMANN H., Presse und gesellschaftliche Kommunikation in Eupen-Malmedy zwischen den beiden Weltkriegen, München, 1974. 18 BRÜLS W., Die Eupener Nachrichten und das Grenz-Echo 1933-1940. Zwei Eupen-Malmedyer Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, Universität Löwen, 1991-1992. 19 HUNOLD G., Die Bedeutung der Medien für die kulturelle Identität der deutschsprachigen Minderheit in Belgien, Magisterarbeit am Institut für Soziologie der RWTH Aachen, Aachen, 2001.

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Marc Homem-Cristo20 und Thomas Müller21 genannt. Homem-Chisto geht in seiner Untersuchung der ostbelgischen Presse auf die Jahre 1928-1935 in Eu-pen-Malmedy ein, während Müller eine Forschungsarbeit zur medialen Ver-mittlung der nationalsozialistischen Raumordnung im Westen des Deutschen Reiches vorgelegt hat, die auch den deutschsprachigen Teil Belgiens berück-sichtigt.

20 HOMEM-CRISTO M., Die Eupen-Malmedy-Frage in der Presse der ostbelgischen Kantone, Magisterarbeit der Universität Reims und der RWTH Aachen, Aachen, 2002-2003. 21 MÜLLER Th., „Zwischen Maas und Rhein“, Ein nationalsozialistisches Medienprojekt im deutsch-belgischen-niederländischen Grenzraum, Magisterarbeit am Institut für politische Wis-senschaft, 1999.

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TEIL I: FABIAN MÜLLER-LUTZ

„DEN EINFACHSTEN ANSPRÜCHEN NICHT GENÜGEND?“

DAS KREISBLATT FÜR DEN KREIS MALMEDY IN DER BISMARCKZEIT

(1866-1890)

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I. EINLEITUNG

A. EINFÜHRUNG IN DIE THEMATIK DER ARBEIT Im Jahr 1866 gründete der aus Zell an der Mosel stammende Drucker Josef Doepgen im damals preußischen St. Vith das „Wochenblatt für den Kreis Malmedy“. Es war die erste rein deutschsprachige Zeitung, die im heute zu Belgien gehörenden Kreis Malmedy erschien und außerdem die erste in St. Vith publizierte Zeitung. Bereits nach einem halben Jahr wurde das Wochen-blatt zum offiziellen Kreisblatt des Kreises Malmedy und änderte seinen Titel in „Kreisblatt für den Kreis Malmedy“. In dieser Arbeit soll die Entwicklung des Kreisblattes in der Zeit von seiner Gründung bis zum Jahr 1890 untersucht werden. Da sich die Erforschung der Geschichte der heutigen belgischen Ostkantone Eupen und Malmedy bislang meist auf die ereignisreiche Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg konzentriert hat, ist die vorliegende Arbeit auch ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Kreises Malmedy vor 1914. Daher erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Kreisblatt für den Kreis Malmedy nicht nur un-ter zeitungsgeschichtlichen Aspekten, sondern eingebettet in den regionalen und allgemein historischen Kontext. Mit der Untersuchung des Kreisblattes sollen Antworten auf die folgenden Fragen gefunden werden: - Wie hat sich das "Wochenblatt für den Kreis Malmedy" in der Zeit von 1866 bis 1890 unter formellen Gesichtspunkten entwickelt? Genauer: Wie hat sich die Auflage, das Layout, die Gewichtung der einzelnen Ressorts und der An-zeigen entwickelt? - Welche inhaltlichen Tendenzen und Entwicklungen lassen sich aus der Zei-tung ablesen? Konkreter gesagt: Wie sah die Berichterstattung des Kreisblat-tes aus? Gab es eine klare politische Linie? Was für eine Rolle spielten lokale und regionale Ereignisse? Lassen sich aus dem Kreisblatt eventuelle lokale und regionale Entwicklungen ablesen? - Wie sah es mit der Rezeption der Zeitung aus? Sprich: Wer las das Kreis-blatt? Lässt sich feststellen, was für eine Rolle das Kreisblatt im Kreis Mal-medy spielte, hatte es gar eine meinungsbildende Funktion? Zu diesem Zweck wurden von den im Historischen Institut der RWTH Aachen zugänglichen Jahrgängen des Kreisblattes für den Kreis Malmedy die Jahrgänge 1866 bis 1890 analysiert und unter Heranziehung der Literatur in den presse- und regionalhistorischen Kontext eingeordnet. Die Basis für die Analyse des Kreisblattes bildet das der Medienwissenschaft entliehene Kon-zept der traditionellen Zeitungsanalyse.1 Diese Form der Analyse konzentriert sich vor allem auf vier Aspekte der Zeitung:

1 Vgl. FAULSTICH W., Medienwissenschaft, Paderborn, 2004, S. 87.

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1. Die Zeitung als Produkt. Hierbei werden Art der Zeitung, Aufbau der ein-zelnen Ausgaben nach Ressorts, die Zeitungssprache, der Artikelaufbau, die Anzeigen, die verschiedenen Textformen usw. untersucht. 2. Die Zeitungsproduktion. Hier werden Zeitungseigentümer und der Journa-lismus in all seinen Facetten betrachtet. 3. Die Organisation der Zeitung als Betrieb und als Branche. Unter diesem Teilaspekt versteht man die Analyse der Struktur des Zeitungsmarktes oder des einzelnen Unternehmens. 4.Die Zeitungsrezeption. Dies beinhaltet die Rezeption der Zeitung von Mar-keting über Vertrieb und Kaufverhalten bis hin zum Zeitunglesen. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, war es nötig, den zeitlichen Rahmen der Untersuchung zu begrenzen. Der gewählte Zeitrahmen von 1866 bis 1890 ermöglicht es, die ersten 25 Jahrgänge des Kreisblattes für den Kreis Malmedy zu berücksichtigen und so eine ausreichende Quellenbasis für die Arbeit zu schaffen. Das Jahr 1890 bietet sich dabei als Schlusspunkt an, weil es mit dem Rücktritt von Reichskanzler Bismarck allgemein eine Zäsur in der deutschen Geschichte darstellt. Auch unter regionalgeschichtlichen Gesichts-punkten liegt es nahe, mit Beginn der 1890er Jahre einen Schnitt zu machen: Der Kreis Malmedy und die Stadt St. Vith waren durch den Bau der "Venn-bahn" und ihrer Nebenstrecken Mitte bis Ende der 1880er Jahre mit den Zen-tren des aufstrebenden Deutschen Reichs verbunden und fanden allmählich aus ihrer Abgeschiedenheit heraus.2 Die Arbeit wird folgendermaßen gegliedert sein: Als erstes werden der pres-segeschichtliche sowie der regionale Kontext geschildert. Dabei wird zu-nächst auf die technischen Entwicklungen, die für die Verbreitung von Zei-tungen im 19. Jahrhundert ausschlaggebenden Faktoren und die presserechtli-chen Rahmenbedingungen eingegangen. Eine besondere Berücksichtigung wird dabei dem offiziösen Pressewesen in Preußen zu Teil, dem das Kreisblatt als offizielles Verlautbarungsorgan der Kreisverwaltung angehörte. Zum zweiten werden überblicksartig die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse im Kreis Malmedy in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschildert. Die Grundzüge der deutschen Geschichte zwischen 1866 und 1890 werden als bekannt vorausgesetzt, weshalb hier auf einen all-gemein historischen Abriss verzichtet wird. Als nächstes folgt dann die Analyse des Kreisblattes für den Kreis Malmedy. Diese wird thematisch geordnet in einzelne Themenblöcke. Zunächst wird dabei die Entwicklung der Zeitung als Produkt unter äußerlichen Gesichts-punkten behandelt.

2 Vgl. KAUFMANN K.L., Der Kreis Malmedy. Geschichte eines Eifelkreises von 1865 bis 1920, neu hrsg. von NEU H., Bonn, 1961, S. 42-44 (zitiert als Kaufmann II).

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Danach wird zur inhaltlichen Analyse der Zeitung übergegangen. Dieser Teil ist aufgeteilt in zwei Abschnitte: Zunächst wird eine Untersuchung des redak-tionellen Teils vorgenommen, bei welcher der Fokus vor allem auf der politi-schen Berichterstattung und der Rolle der lokalen Themen liegt. Bei der Un-tersuchung der Rolle der lokalen Themen werden zudem die Auseinanderset-zungen des Kreisblattes mit anderen Zeitungen mit einbezogen. Abschließend wird der Anzeigenteil des Kreisblattes einer Betrachtung unterzogen.

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II. DIE ENTWICKLUNG DES ZEITUNGSWESENS IM 19. JAHRHUNDERT

A. TECHNISCHE UND ALLGEMEINE ENTWICKLUNG Für den zeitungsgeschichtlichen Teil der Arbeit wird im wesentlichen auf Überblicksdarstellungen zurückgegriffen, besonders hervorzuheben sind hier-bei Jürgen Wilkes „Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschich-te“3 sowie Rudolf Stöbers Werk „Deutsche Pressegeschichte“.4 Für die Dar-stellung des offiziösen Pressewesen in Preußen wurden noch die Arbeiten von Eberhard Naujoks zur Organisation der Regierungspresse in Preußen5, von Bernd Sösemann über die staatliche Informationspolitik unter Bismarck6, von Gertud Nöth-Greis zum "Literarischen Büro"7 und Rudolf Stöbers Aufsatz über die Reorganisation der Regierungspresse im Jahr 18828 herangezogen. Es sei an dieser Stelle auch auf Gunda Stöbers Werk "Pressepolitik als Not-wendigkeit"9 verwiesen, das zwar zeitlich auf die Zeit nach 1890 begrenzt ist, aber nichtsdestotrotz eine sehr gute Darstellung der staatlichen Presse- und Kommunikationspolitik in Deutschland vor 1914 liefert.Die Presse in Deutschland nahm im Laufe des 19. Jahrhunderts eine rasante Entwicklung. Die Zahl der Zeitungen stieg schnell und kontinuierlich an, ebenso schnell gewannen die Zeitungen an Verbreitung und die Auflagen vervielfachten sich. 1824 erschienen in Preußen 96 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 35 000, acht Jahrzehnte später war die Zahl der Pressetitel auf über 4000 mit ei-ner Gesamtauflage von mehr als 25 Millionen Exemplaren im Jahre 1906 an-gestiegen.10 Die Ursachen für diesen Boom waren vielfältig. Zum einen wurde er bedingt durch die Veränderung der sozialen Verhältnisse in Deutschland im 19. Jahr-hundert. So wuchs die Bevölkerung von 23,5 Millionen auf dem Gebiet des 3 WILKE J., Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis in zwanzigste Jahrhundert, Köln, 2000. 4 STÖBER R., Deutsche Pressegeschichte: Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz 2000. 5 NAUJOKS, Bismarck und die Organisation der Regierungspresse, in: Historische Zeitschrift , 1967, 205, S. 46-80. 6 SÖSEMANN B., Publizistik in Staatlicher Regie. Die Presse- und Informationspolitik der Bismarck Ära, in: KUNISCH J. (Hrsg.), Bismarck und seine Zeit, Berlin, 1992, S. 281-308. 7 NÖTH-GREIS G., Das Literarische Büro als Instrument der Pressepolitik, in: WILKE J. (Hrsg.), Pressepolitik und Propaganda. Historische Studien vom Vormärz bis zum Kalten Krieg, Köln, 1997, S. 1-78. 8 STÖBER R., Bismarcks geheime Presseorganisation von 1882, in: Historische Zeitschrift, 1996, 262, S. 423-451. 9 STÖBER G., Pressepolitik als Notwendigkeit. Zum Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit im wilhelminischen Deutschland 1890-1914, Stuttgart, 2000. 10 Vgl. STÖBER R., Pressegeschichte, S. 145.

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Deutschen Bundes 1816 auf 56 Millionen in den Grenzen des Deutschen Rei-ches zur Jahrhundertwende. Mit der Industrialisierung und Verstädterung nach 1871 wandelte sich das Land von einem Agrarland zur Industrienation. Die ständische Gesellschaft wurde umgewandelt, die bürgerliche Mittel-schicht und die Industriearbeiterschaft drängten Adel und Klerus in ihrer be-herrschenden Stellung mehr und mehr zurück.11 Gleichzeitig gab es immer mehr Menschen, die Lesen und Schreiben konnten, eine Grundvoraussetzung für die Verbreitung von Zeitungen und Zeitschriften. Die allgemeine Schul-pflicht wurde im 19. Jahrhundert zur Selbstverständlichkeit. In Preußen be-suchten 1896 5,2 Millionen Kinder die öffentlichen Grundschulen, fast vier-mal soviel wie 1822. Die Alphabetisierungsrate lag dort um 1800 bei 60%, 1850 bei etwa 80% und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Analphabe-tismusproblem im deutschen Reich weitgehend gelöst.12 Die immer größer werdende Verbreitung von Zeitungen während des 19. Jahrhunderts wäre jedoch nicht möglich gewesen ohne entscheidende Verän-derungen auf dem Gebiet der Druck- und Satztechnik sowie der Nachrichten-übermittlung. Die Druckmaschinen um 1800 entsprachen im Wesentlichen immer noch den Pressen der Gutenberg-Zeit. Es wurde wie vor 350 Jahren nach dem Prinzip Fläche gegen Fläche gedruckt. Diese Handpressen hatten zwar den Vorteil einer ausgereiften Technik, aber auch entscheidende Nach-teile: Der nötige Anpressdruck, um brauchbare Resultate zu erzielen, ließ sich nur bei mäßig großen Formaten erzielen. Dies hatte zur Folge, dass das For-mat der Druckseiten begrenzt, Drucken körperlich extrem anstrengend und vor allem zeitaufwändig war.13 Es gelang den nach England ausgewanderten deutschen Maschinenbauern Friedrich Gottlob Koenig und Andreas Friedrich Bauer diese Nachteile durch die Erfindung einer neuen Druckmaschine, die nach dem Prinzip Fläche gegen Zylinder arbeitete, zu beseitigen. Die 1810/11 patentierte Schnellpresse erhöhte die Druckkapazität auf das Fünffache des alten Systems und trat rasch ihren Siegeszug an: 1811 wurde das erste Buch auf einer Schnellpresse gedruckt, 1814 die erste Zeitungsausgabe.14 Nach Deutschland kam die Schnellpresse Anfang der 1820er Jahre. In großer Zahl wurde sie seit 1840 angeschafft und erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Rotationspresse abgelöst.15 Doch um die Druckkapazität zu steigern, mussten nicht nur das Drucken selbst, sondern auch andere Arbeitsgänge beschleunigt werden, vor allem das zeitaufwändige Setzen. Wie das Drucken hatte sich auch das Setzen seit Gu-tenbergs Zeiten nur wenig verändert. Es wurde immer noch manuell betrieben und erforderte viel Zeit, da ein Setzer zwei Drittel seiner Zeit mit der Herstel-

11 Vgl. WILKE, Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 156. 12 Vgl. ebd., S. 157. 13 Vgl. STÖBER R., Pressegeschichte, S. 145. 14 Vgl. WILKE, Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 158. 15 Vgl. STÖBER R., Pressegeschichte, S. 116.

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lung des Randausgleichs und dem Einsortieren der Drucktypen in den Setz-kasten verbringen musste.16 Abhilfe schaffte hier 1884 die Erfindung der Li-notype durch Ottmar Mergenthaler in Baltimore. Die Linotype verband das Setzen mit dem Gießen der Drucktypen. Durch sie konnten ganze Zeilen von Matrizen gesetzt, gegossen und automatisch auf die richtige Zeilenbreite ge-bracht werden.17 Um diese Entwicklungen zur Entfaltung zu bringen, bedurfte es noch eines Rohstoffes: Papier. Dieses wurde traditionell aus Lumpen, so genannten Ha-dern, hergestellt, deren Menge jedoch nicht beliebig vermehrbar war, so dass die steigende Nachfrage schnell zu einem Mangel führte. Eine Erfindung des sächsischen Webers Friedrich Gottlob Keller sorgte für die Überwindung die-ses Engpasses. Keller erhielt 1845 ein Privileg auf sein Verfahren, Papier un-ter Beimischung von Holzschliff herzustellen. Dieses Verfahren verbilligte die Papierkosten soweit, dass es möglich war, große Auflagen preiswert dem Publikum anbieten zu können.18 Die Verbesserungen von Druck- und Satztechnik sowie der Papierproduktion waren notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für die rapide Ausbreitung des Massenkommunikationsmittels Zeitung. Man brauchte auch (Nachrichten-)Stoff, um die Seiten zu füllen. Die Zulieferung von Nachrich-ten erfolgte durch die Post. Durch den Chausseebau und seit den 1840er Jah-ren durch die Eisenbahn erhöhte sich die Leistungsfähigkeit der Postdienste enorm, was zwangsläufig auch der Presse zugute kam.19 In der Nachrichten-übermittlung ging der entscheidende Fortschritt jedoch von der Telegrafie aus. Bereits seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde der durch den Franzosen Claude Chappe entwickelte Flügeltelegraf zur Nachrichtenüber-mittlung eingesetzt, allerdings nahezu ausschließlich zu militärischen Zwe-cken.20 Da die optische Telegrafie sehr personal- und zeitintensiv war, wurde auch hier nach Mitteln und Wegen gesucht, die Nachrichtenübermittlung zu beschleunigen. Der Durchbruch gelang mit der Nutzung der Elektrizität. Be-reits seit Beginn des 19. Jahrhundert waren verschiedene Systeme der elektri-schen Telegrafie entwickelt worden. Es dauerte jedoch bis in die 1840er Jah-re, ehe sich der Telegraf des Amerikaners Samuel Morse durchsetzte und die gesellschaftliche Kommunikation revolutionierte. In kürzester Zeit löste die neue Technik den optischen Telegrafen ab. Bereits am 1. Oktober 1849 wurde sie in Preußen für die Öffentlichkeit freigegeben und primär von Eisenbahngesellschaften und Börsenanlegern genutzt. Auch

16 Vgl. ebd., S. 117. 17 Vgl. WILKE, Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 159. 18 Vgl. ebd., S.160. 19 Vgl. WILKE, Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 160. 20 Vgl. ebd., S. 162. In Deutschland kam die optische Telegrafie erstmals 1832 zum Einsatz, als der preußische König Friedrich Wilhelm III. die Einrichtung einer Telegrafenlinie von Berlin über Köln nach Koblenz anordnete.

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für die Presse war diese Technologie von enormer Bedeutung, bot sie doch die Möglichkeit, wichtiger Nachrichten schneller habhaft zu werden.21 Darüber hinaus gab der elektrische Telegraf den Anlass zur Entstehung der Telegrafenbüros, der späteren Nachrichtenagenturen. Telegraf und Nachrich-tenagenturen stellten die Nachrichtenbeschaffung auf eine rationellere, aber weniger exklusive Basis. In Deutschland war es der Expeditionsleiter der Ber-liner „National-Zeitung“ Bernhard Wolff, der im November 1849 ankündigte, telegrafische Depeschen in das Blatt aufzunehmen. Um die dafür anfallenden Kosten zu decken, bot Wolff seine Depeschen auch auswärtigen Zeitungen an.22 Dies war die Keimzelle von „Wolff’s Telegraphischem Bureau“ (WTB), das bald zur offiziösen preußischen Nachrichtenagentur aufsteigen sollte. 1869 schloss das WTB einen Vertrag mit der preußischen Regierung, der dem Telegrafenbüro zwar einen Zuschuss von 100 000 Talern pro Jahr einbrachte, dafür der preußischen Regierung aber erhebliche Einflussnahme gestattete. Durch diesen Vertrag war das WTB zu einer staatsabhängigen Institution ge-worden, was es jahrzehntelang in der Öffentlichkeit in Misskredit brachte.23 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich auch ein weiteres Hilfs-gewerbe, die Anzeigenagenturen oder Annoncen-Expeditionen. 1850 war der „Intelligenzzwang“24 in Preußen aufgehoben worden und damit der Weg frei für eine Expansion des Anzeigenmarktes. Hier etablierten sich die Annoncen-Expeditionen, die den Anzeigenmarkt erkundeten, Angebot und Nachfrage ermittelten und zusammenführten. 1855 wurde in Altona das erste Unterneh-men dieser Art gegründet. Die Annoncen-Expeditionen trugen wesentlich zur Entwicklung des Anzeigenwesens als Finanzierungsquelle für Presseartikel bei und gewannen daher für Zeitungen und Zeitschriften große Bedeutung.25 Alle diese Entwicklungen waren die technischen und organisatorischen Vo-raussetzungen dafür, dass Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland im spä-ten 19. Jahrhundert expandierten. Zu Zeitungslesern wurden nun die Grupp-pen der immer stärker alphabetisierten Bevölkerung, die zuvor kaum Zugang zu diesen Medien hatten – Frauen, Arbeiter, Kleinbürger und Bauern.

B. DIE RECHTLICHEN UND POLITISCHEN RAHMENBEDINGUNGEN

21 Vgl. Basse D., Wolff’s Telegraphisches Bureau. Agenturpublizistik zwischen Politik und Wirtschaft, München, 1991, S. 17. 22 Vgl., ebd., S. 18. 23 Vgl., ebd., S. 39ff. 24 Der Intelligenzzwang war eine Einrichtung des 18. Jahrhunderts. Er behielt die Veröffentli-chungen von Inseraten eigenen Anzeigenblättern, den so genannten Intelligenzblättern, vor und gestattete politischen Zeitungen nur den Nachdruck von Anzeigen. Vgl. WILKE, Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 118f. 25 Vgl. WILKE, Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 249.

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Das Paulskirchen-Parlament hatte in seinem Verfassungsentwurf erstmals Meinungs- und Pressefreiheit garantiert. Mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 war jedoch auch die Umsetzung der Verfassungsbestimmungen gescheitert und man kehrte wieder zu einer repressiven Pressegesetzgebung zurück. In Preußen versprach die 1850 oktroyierte Verfassung zwar Presse-freiheit, das am 12. Mai 1851 erlassene Pressegesetz war aber überaus restrik-tiv. Es schrieb für Zeitungsbetriebe Konzessions- und Kautionspflicht vor, enthielt detaillierte Ordnungsregelungen, nicht zuletzt dazu, wie Polizei und Gerichte bei „Preßvergehen“ einschreiten konnten, und führte ein sukzessives Haftungsprinzip ein, nach dem nicht nur Autor und Verleger, sondern auch Drucker, Sortimenter und sogar Kolporteure und Leihbibliothekare belangt werden konnten.26 Diese strengen Bestimmungen wurden, nachdem Prinz Wilhelm 1858 in Preußen die Regentschaft übernommen hatte, ein wenig gelockert, aber als Otto von Bismarck 1862 preußischer Ministerpräsident wurde, verschlechter-ten sich die Verhältnisse erneut. Bismarcks Verhalten im preußischen Verfas-sungskonflikt, als er versuchte, gegen die Mehrheit des Landtags ohne bewil-ligtes Budget zu regieren, brachte ihm die Kritik vieler liberaler Blätter ein. Bismarck ließ daraufhin ohne Beschlussfassung oder Zustimmung des Land-tags am 1. Juni 1863 die so genannte Presseordonanz publizieren, in der er es den Behörden anheim stellte, Zeitungen zu verbieten, die durch ihre Haltung gegenüber Krone und Regierung Anstoß erregten. Der Versuch des Minister-präsidenten, auf diese Weise eine Präventivzensur einzuführen, war nicht von Erfolg gekrönt. Nach massiven öffentlichen Protesten musste die Ordre zu-rückgenommen werden und es blieb beim Pressegesetz von 1851.27 Da staatlicherseits trotz der grundsätzlich gegebenen Pressefreiheit ein Be-dürfnis nach Reglementierung der Presse bestand, legte man den Zeitungen wirtschaftliche Fesseln an. Dies geschah durch Wiedereinführung der Stem-pelsteuer. Diese Steuer richtete sich in Abstufungen nach der Bogenzahl einer Zeitung oder Zeitschrift in einem bestimmten Zeitraum und führte zu erhebli-chen finanziellen Belastungen und Absatzminderungen.28 Neben dem wirtschaftlichen Aspekt hatte die Stempelsteuer auch direkte Auswirkungen auf das Erscheinungsbild der Zeitungen. Da sich die Steuer nach der Zahl der Bögen richtete, wählten einige Zeitungen ein größeres For-mat. Um möglichst viel Stoff auf möglichst wenig Platz unterbringen zu kön-nen, wurden Zeitungen in kleinen Drucktypen gesetzt, der Zeitungskopf ge-quetscht und auf fette Auszeichnungsschriften verzichtet. Dieses Layout er-schwerte die Übersicht für den Leser gewaltig und führte dazu, dass die dama-ligen Zeitungen aus heutiger Sicht „Bleiwüsten“ glichen und ihre Lektüre auch für die Zeitgenossen mühselig und anstrengend gewesen sein dürfte. 26 Vgl. WILKE, Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 218. 27 Vgl. STÖBER R., Pressegeschichte, S. 130. 28 Vgl. WILKE, Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 221.

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Vermutlich war dieser Effekt den Initiatoren der Stempelsteuer durchaus will-kommen.29 Mit der Reichsgründung 1871 änderten sich die Rechtsverhältnisse für die Presse erneut. Artikel IV der im April 1871 erlassenen Reichverfassung sprach dem Reich die alleinige Kompetenz zur Pressegesetzgebung zu, es dauerte aber bis zum Juli 1874, bis mit dem Reichspressegesetz eine einheitli-che rechtliche Grundlage für die im Reich erscheinenden Zeitungen und Zeit-schriften geschaffen wurde.30 Das Reichspressegesetz garantierte erstmals in Deutschland grundsätzlich die Pressefreiheit. Es war jedoch keineswegs frei von repressiven Vorschriften. Das Gesetz ermöglichte den Behörden die Be-schlagnahmung von Druckschriften ohne richterliche Anordnung im Falle der Aufforderung zum Hochverrat, der Majestätsbeleidigung, des Aufrufs zum Klassenhass, der Gefährdung des öffentlichen Friedens und der Verbreitung unzüchtiger Schriften. Des Weiteren wurde eine Impressumspflicht, die Ab-lieferung von Pflichtexemplaren, eine Berichtigungspflicht und die Aufnahme von amtlichen Bekanntmachungen verordnet.31 Für das Pressewesen im Kaiserreich bedeutete das Reichspressegesetz zwei-fellos eine wesentliche Liberalisierung und brachte den Vorteil einer einheitli-chen Rechtsgrundlage für das gesamte Reich mit sich, doch die Drangsalie-rung der Presse durch den Staat war damit noch keineswegs beendet. Die vor-hin genannten Straftatbestände boten den Behörden weiterhin die nötige Handhabe, um gegen die Presse vorzugehen. Im Kulturkampf zwischen Bis-marck und der katholischen Kirche wurde erstmals von den im Reichspresse-gesetz vorgesehenen Möglichkeiten zur Beschlagnahme massiv Gebrauch gemacht. Im Zuge des Sozialistengesetzes gelang es der Regierung sogar, das Reichspressegesetz teilweise außer Kraft zu setzen, indem sie Druckschriften, die sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen enthielten, kurzer Hand verbot.32 Angesichts dieser Tatsachen kann man für die Epoche des Kaiserreichs, trotz der Liberalisierung und dem Ende der pres-serechtlichen Zersplitterung in Reichs- und Landesgesetzgebung, von einer Periode der eingeengten Meinungsfreiheit sprechen.33

C. PRESSEPOLITIK IN PREUßEN UND IM KAISERREICH – DIE ORGANISATION DER PROVINZPRESSE

Die Pressegesetzgebung nach der Revolution von 1848 hatte dazu geführt, dass den staatlichen Stellen das Mittel der Präventivkontrolle nicht mehr zur 29 Vgl. WILKE, Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 230. 30 Vgl. WILKE, Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 253. 31 Vgl. STÖBER R., Pressegeschichte, S. 136. 32 Vgl. ebd., S. 137. 33 Vgl. WETZEL H.-W., Kulturkampfgesetzgebung und Sozialistengesetz (1871/74-1890), in: FISCHER H.-D. (Hrsg.), Deutsche Kommunikationskontrolle des 15. bis 20. Jahrhunderts, München, 1982, S. 131-152, S. 150.

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Verfügung stand. Dies wurde nicht nur mit repressiven Maßnahmen beant-wortet, sondern auch mit einer aktiven Pressepolitik. In Preußen war auf Anordnung des Ministerpräsidenten Rudolph von Auers-wald 1848 ein „Literarisches Cabinet“ im Staatministerium eingerichtet wor-den.34 Diese Behörde, die 1860 in „Literarisches Bureau“ umbenannt wurde und seit 1862 dem Innenministerium unterstand, hatte die Aufgabe, tägliche Presseübersichten anzulegen, gouvernementale Publikationen mit Artikeln zu versorgen und der ausländischen Presse Korrespondenzen zu liefern.35 Unter Bismarck wurde auch das amtliche bzw. offiziöse Zeitungswesen reor-ganisiert. Die Funktionen einer offiziösen Zeitung gingen von der „Stern-Zeitung“ auf die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ über, die in den folgen-den Jahren das Blatt war, über das sich Bismarck bevorzugt an die Öffentlich-keit wandte.36 Ein weiterer Schritt war die Neuorganisation der Provinzpresse. Bismarck, der sich in den Städten mit der publizistischen Übermacht der libe-ralen Zeitungen konfrontiert sah, hoffte, sich die Landbevölkerung durch eine entsprechende Einflussnahme gewogen zu machen und so ein Gegengewicht zur liberalen Mehrheit in den Städten schaffen zu können. Um der konservativ und königstreu eingeschätzten Bevölkerung des ländlichen Raumes die Politik der Regierung näher zu bringen, boten sich die Kreisblätter an. In der fünfzi-ger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es in Preußen mehrere hundert derartige Zeitungen, die meistens einmal pro Woche erschienen und eher unpolitisch waren. Prinzipiell sollten diese Zeitungen unter Aufsicht der Landräte stehen, was jedoch längst nicht überall der Fall war.37 Innenminister Eulenburg nahm den Plan auf, und von 1863 an gab das „Lite-rarische Bureau“ die „Provinzial-Correspondenz“ heraus. Dabei handelte es sich um eine wöchentlich als Quartblatt erscheinende Beilage mit Artikeln und Nachrichten für die Kreisblätter. Sie wurde den Zeitungen beigelegt, konnte aber auch für sich stehen oder als agenturähnliche Korrespondenz ge-nutzt werden.38 Die „Provinzial-Correspondenz“ hatte 1863 eine Auflage von 18 000 Stück und 84 Abonnenten, und erreichte ihre größte Verbreitung 1867 mit 162 Abonnenten und einer Auflage von über 30 000 Stück. Die Auflage der „Provinzial-Correspondenz“ konnte in den siebziger Jahren sogar noch weiter gesteigert werden, allerdings nahm die Abonnentenzahl zu dieser Zeit kontinuierlich ab. 39

34 Vgl. NÖTH-GREIS G., Das Literarische Büro als Instrument der Pressepolitik, in: WILKE J. (Hrsg.), Pressepolitik und Propaganda. Historische Studien vom Vormärz bis zum Kalten Krieg, Köln, 1997, S. 1-78, S.3. 35 Vgl. ebd., S. 10-14. 36 Vgl. WILKE, Medien- und Kommunikationsgeschichte, S. 235. 37 Vgl. NAUJOKS E., Bismarck und die Organisation der Regierungspresse, in: Historische Zeitschrift, 1967, 205, S. 46-80, S. 51. 38 Vgl. ebd., S. 57. 39 Vgl. NÖTH-GREIS, S. 60-61.

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Zeitgleich mit der Schaffung der „Provinzial-Correspondenz“ wurden auch die Zügel der Kreisblattorganisation straffer gezogen: Zeitungen, die nicht als gouvermentale Organe betrachtet wurden, entzog die Regierung den begehr-ten Titel Kreisblatt, um ihn regierungsfreundlichen Publikationen zu sichern. Zusätzlich wurde die Regierungspresse auf dem Lande dadurch bevorzugt, dass ihr amtliche Veröffentlichungen vorbehalten wurden.40 Mit der Reichsgründung hörte die Regierung keineswegs auf, sich der amtli-chen und offiziösen Presse zu bedienen, um ihre Anliegen positiv in der Öf-fentlichkeit darzustellen, im Gegenteil. Die innenpolitischen Konflikte und die außenpolitischen Schachzüge machten eine aktive Pressepolitik in den Augen Bismarcks zur Notwendigkeit.41 Hierfür wurde aber auf der Ebene der Kreisblätter eine Umstrukturierung von notwendig, da sich die „Provinzial-Correspondenz“ mehr und mehr als unzulänglich entpuppte. Wie bereits er-wähnt, sank die Anzahl der Bezieher dieser Beilage, weshalb sie ihren Wir-kungskreis nicht erweitern konnte. Bismarck dürfte die Unzulänglichkeit der „Provinzial-Correspondenz“ spätestens nach den Reichstagswahlen 1881 klar geworden sein; deshalb entschloss er sich zu einer neuen Presseoffensive. Aus Scheu vor der Öffentlichkeit wurde nun eine Geheimkorrespondenz, die „Neuesten Mitteilungen“, herausgegeben.42 Diese durch Mittel aus dem Wel-fenfonds finanzierte vierseitige Korrespondenz sollte die gesamte preußische Kreisblattpresse bedienen. Aber auch mit den „Neuesten Mitteilungen“, auf die im Laufe dieser Arbeit noch einmal detailliert eingegangen wird, ließ es sich nicht verhindern, dass die Bedeutung kleiner regierungsfreundlicher Zei-tungen in der immer größer werdenden Zahl an Pressetiteln zusehends schwand.43

40 Vgl. NAUJOKS, S. 56. 41 Zur Pressepolitik Bismarcks Vgl. SÖSEMANN B., Publizistik in Staatlicher Regie. Die Presse- und Informationspolitik der Bismarck Ära, in: KUNISCH J. (Hrsg.): Bismarck und seine Zeit, Berlin, 1992, S. 281-308. 42 Vgl. STÖBER R., Bismarcks geheime Presseorganisation von 1882, in: Historische Zeit-schrift, 1996, 2062, S. 423-451, S. 425-428. 43 Vgl. ebd., S. 449-451.

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III. DER KREIS MALMEDY

A. ALLGEMEINES Das Gebiet des ehemaligen Kreises Malmedy erstreckte sich von der Moor-landschaft des Hohen Venns bei Sourbrodt, südwestlich von Aachen, entlang der deutsch-belgischen bis zur luxemburgischen Grenze bei Burg Reuland. Im Nordwesten des Gebietes lag, angrenzend an das Hohe Venn, die von bewal-deten Bergen und tief eingeschnittenen Tälern gekennzeichnete Malmedyer Wallonie mit der ehemaligen Kreisstadt Malmedy als Zentrum. Östlich und südlich davon schloss sich das klimatisch sehr viel herbere Eifelhochland von St. Vith an, eine wellige, teilweise sumpfige Hochfläche, die nach Süden hin zum Ourtal abfällt.44 Das St. Vither Land gehörte seit dem 15. Jahrhundert zum Herzogtum Lu-xemburg und war Teil der habsburgischen Niederlande. 1714 fiel das Gebiet an die österreichische Linie des Hauses Habsburg und blieb bis zum Ein-marsch der französischen Revolutionstruppen 1792 unter österreichischer Verwaltung. Die Gegend um Malmedy war der östliche Teil des Besitzes der Reichsabtei Stablo-Malmedy.45 Nach der Annexion durch Frankreich 1795 wurde das Gebiet gemeinsam mit dem heutigen Kanton Eupen erstmals als „Arrondissement Malmedy“ zu einer Verwaltungseinheit zusammengefasst, die dem Ourthe-Departement mit der Hauptstadt Lüttich angehörte.46 Diese Einheit wurde 1814 durch den Wiener Kongress gesprengt. Ohne Rück-sicht auf sprachliche Grenzen oder historische Zusammenhänge wurden das Gebiet der Abtei Stablo-Malmedy und die Herzogtümer Luxemburg und Limburg zwischen Preußen und dem Königreich der Niederlande aufgeteilt.47 Preußen erhielt den kleineren Teil Limburgs und Luxemburg sowie die Ost-hälfte des alten Abteiterritoriums. Das nun zu Preußen gehörende Gebiet süd-lich des Hohen Venns wurde zunächst in zwei Landkreise eingeteilt: den Kreis St. Vith und den Kreis Malmedy, die beide durch vom König ernannte Landräte verwaltet wurden, die dem Regierungspräsidenten in Aachen und dem Oberpräsidenten der Rheinprovinz in Koblenz unterstanden.48 Diese Ein-teilung war aber nur von kurzer Dauer, 1821 wurde der Kreis St. Vith auf-gelöst und mit dem Kreis Malmedy vereinigt.49

44 Vgl. ROSENSTRÄTER, S. 18f. 45 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 221. 46 Vgl. ebd., S. 222. 47 Vgl. PABST, Politische Geschichte, S. 19. 48 Vgl. ebd., S. 20. 49 Vgl. ROSENSTRÄTER, S. 95.

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Der Kreis Malmedy umfasste ein Gebiet von 813 qkm, in dem insgesamt etwa 35 000 Menschen lebten.50 Von diesen Einwohnern gehörten ca. 12 000 zu den in der Stadt Malmedy und den umliegenden Gemeinden konzentrierten „preußischen Wallonen“. Ungefähr 10 000 Angehörige dieser Minderheit sprachen nur oder bevorzugt Französisch.51 Die Stadt Malmedy wurde 1820 zur Garnisonsstadt mit einem Bataillonsstamm von 100 Mann mit Offizieren und Unteroffizieren.52 Aus dem Garnisonsgottesdienst ging auch die evangeli-sche Doppelgemeinde Malmedy-St.Vith hervor, die sich nur bescheiden ent-wickelte und mehrheitlich aus preußischen Beamten vor allem aus der Zoll-verwaltung bestand.53 Von diesem protestantischen Einsprengsel abgesehen war die Bevölkerung des Kreises rein katholisch.54

50 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 218f. 51 Vgl. PABST, Die preußischen Wallonen - eine staatstreue Minderheit im Westen, in: HAHN H.H., KUNZE P. (Hrsg.), Nationale Minderheiten und staatliche Politik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin, 1999, S. 71-79, hier S. 72, sowie LEPPER, Politische Strömungen, S. 13; Heinz Doepgen beziffert die Zahl der französisch sprechenden Wallonen im Kreis Malmedy auf 9737 im Jahr 1871; vgl. DOEPGEN, S. 39. 52 Vgl. KAUFMANN I, S. 73. 53 Vgl. KAUFMANN II, S. 62. 54 Vgl. PABST, Preußische Wallonen, S. 72.

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Über das Verhältnis der um St.Vith konzentrierten deutschsprachigen Bevöl-kerung zu den neuen Landesherren ist weit weniger bekannt als über das Ver-hältnis der französischsprachigen Minderheit zur preußischen Herrschaft. Da sich in den ersten Jahrzehnten Malmedys unter preußischer Verwaltung keine nennenswerte Opposition unter den Wallonen entwickelte, kann man davon ausgehen, dass auch das Verhältnis der deutschsprachigen Bewohner des Kreises zur preußischen Herrschaft positiv war. Für das anfangs gute Verhältnis der Wallonen zu den Preußen war die liberale Sprachpolitik der preußischen Regierung von entscheidender Bedeutung. Die Preußen tolerierten die wallonische Mutter- und französische Schriftsprache

Abbildung 1: Die Kreise Eupen und Malmedy nach dem Versailler Vertrag 1919. Quelle: PABST K., Das Problem der deutsch-belgischen Grenze in den letzten 150 Jahren, in: ZAGV, 1965, Bd. 77, S. 204.

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der ehemaligen Abteiuntertanen, die diese Toleranz mit Loyalität und Ver-bundenheit zum preußischen Königreich erwiderten. Während der revolutio-nären Erhebung in Belgien 1830/31 blieb es im Kreis Malmedy ebenso ruhig wie 1848, als sich die Malmedyer als königstreu und preußisch erwiesen.55 Erst die Germanisierungsversuche des Aachener Regierungspräsidenten Kühlwetter 1863 führten zu einer Verschlechterung des Verhältnisses. Nach der Reichsgründung sorgten der Kulturkampf und vor allem das preußische Geschäftssprachengesetz von 1876 für eine zunehmende Entfremdung zumin-dest der französischsprachigen Kreisbewohner.56 Die Germanisierungspolitik hatte auch direkte Auswirkungen auf die politi-schen Verhältnisse im Kreis. Bei den Wahlen zum preußischen Abgeordne-tenhaus 1862 und 1863 wurden Abgeordnete der liberalen Fortschrittspartei gewählt, die in scharfer Opposition zur Regierung stand.57 Die Auswahl der Kandidaten für den Kreis Malmedy, der mit den Kreisen Schleiden und Mon-tjoie den Wahlkreis I des Regierungsbezirk Aachen bildete, fand bis in die 70er Jahre durch kleine Ausschüsse in den Kreisstädten statt, die sich aus den Honoratioren der Städte zusammensetzten. In Malmedy gehörten diesem Aus-schuss unter anderem einflussreiche Großgerber und vor allem der Schriftlei-ter der „Semaine“ Dr. Arsène de Nouë an.58 Die Kandidaten wurden laut Kaufmann vor allem danach ausgesucht, inwiefern sie dazu in der Lage wa-ren, die ökonomischen Interessen des Kreises optimal zu vertreten. Dies führ-te dazu, dass im nahezu ausschließlich katholischen Kreis Malmedy auch evangelische und jüdische Kandidaten gewählt wurden, so beispielsweise mit Eduard Simson einer der bedeutendsten deutschen Parlamentarier des 19. Jahrhunderts.59 Seit Ende des 60er Jahre war vor allem die Eisenbahnfrage entscheidend für die Auswahl der Kandidaten.60 In der zweiten Hälfte der 60er Jahre kam es so wiederholt zu Wahlbündnissen zwischen den Gouvernementalen und den Liberalen im Kreis, denen es auch meist gelang, zumindest im Kreis Malmedy, die meisten Stimmen auf ihren Kandidaten zu vereinen. Erst nach der Reichsgründung 1871 änderte sich das Bild. Die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen des Kulturkampfes führ-ten dazu, dass auch im Kreis Malmedy das Zentrum zur stärksten Kraft wurde und die Kandidaten der regierungsfreundlichen Parteien denen des politischen Katholizismus haushoch unterlagen.61

55 Vgl. ROSENSTRÄTER, S. 96. 56 Vgl. PABST, Preußische Wallonen, S. 75-77. 57 Vgl. DOEPGEN, S. 41. 58 Vgl. KAUFMANN II, S. 188. 59 Vgl. DOEPGEN, S. 41. 60 Vgl. KAUFMANN II, S. 189. 61 Vgl. ebd., S 189.

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Ungeachtet der politischen Entwicklung vollbrachte die preußische Verwal-tung eine bemerkenswerte Kulturleistung: die Verbesserung des Schulwesens und die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht. Noch bevor die endgültige Grenzziehung durch den Wiener Kongress fest-stand, ließ der Chef der provisorischen Verwaltung der Rheinlande, General-gouverneur Sack, die Schulverhältnisse in den ihm unterstehenden Gebieten genau untersuchen. Die Kreisdirektion Verviers, zu deren Gebiet der spätere Kreis Malmedy gehörte, fand 1814 das Schulwesen in einem traurigen Zu-stand vor. Von 23 736 Kindern besuchten kaum mehr als 10% eine Volks-schule. In den 84 Bezirken des Kreises waren insgesamt 88 Lehrer tätig, von diesen waren 34 geistliche Schulvikare und der Rest Laien, darunter Küster und Landarbeiter ohne jede Vorbildung, zudem gab es 32 Bürgermeistereien ohne öffentliche Schule.62 Im Kreis St. Vith waren die reinen Zahlen zu Be-ginn der preußischen Verwaltung zwar freundlicher, hier gab es 1490 Schul-kinder, die „nichts als beten und unvollkommen schreiben“ konnten.63 Die Ursachen hierfür waren vielfältig: Zum einen war der Schulbesuch unre-gelmäßig. Klimatische Schwierigkeiten und weite Schulwege waren Gründe dafür, dass die Kinder den nur im Winter stattfindenden Unterricht nicht re-gelmäßig besuchten. Die häufige Verwendung der Kinder als Viehhüter tat ein Übriges den regelmäßigen Schulbesuch zu verhindern.64 Zum anderen wa-ren die Lehrer miserabel bezahlt und entsprechend schlecht ausgebildet. Wie bereits erwähnt, handelte es sich bei ihnen meist um Geistliche, die zwar teil-weise über eine „gediegene Bildung“ verfügten, oft aber nur wenig bessere Kenntnisse hatten als die häufig gänzlich ungebildeten Laienlehrer.65 Die Laien erhielten ein Schulgeld von höchstens 12 Groschen pro Kind und Jahr, das sie selbst einzutreiben hatten. Die Schulvikare wurden für ihre Lehrertä-tigkeit durch das mit der Gemeinde vereinbarte Einkommen für die Seelsorge entlohnt, das im Schnitt etwas mehr als 100 Taler im Jahr betrug und oft in Naturalien gezahlt wurde.66 Die neue Regierung machte sich daran, die Zustände zu ändern. Zur Verbes-serung der Lehrerausbildung wurde 1815 in Brühl ein Lehrerseminar einge-richtet und in den Kreisen im Sommer wöchentlich „Lehrerkonferenzen“ durch die Schulinspektoren abgehalten. Im Kreis St. Vith wurden diese Kon-ferenzen 1818 eingeführt, in Malmedy drei Jahre später. Die Gemeinden wur-den in die Pflicht genommen, für eine angemessene Besoldung der Lehrer zu sorgen, die je zur Hälfte aus der Gemeindekasse und aus Schulgeld aufzubrin-gen war. Gleichzeitig ließ der Staat die so genannten Dingschulen schließen, in denen „Dinglehrer“, reisende Handwerker oder Landarbeiter, in den Win-

62 Vgl. KAUFMANN I, S. 97. 63 Vgl. ebd., S. 99. 64 Vgl. KAUFMANN I, S. 100 und 109. 65 Vgl. ebd., S. 99. 66 Vgl. ebd., S. 100.

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termonaten gegen Beköstigung durch die Bauern unterrichteten, und begann in mühevoller Kleinarbeit mit dem Aufbau der Volksschule.67 Der Auf- und Ausbau der Volksschule war angesichts der Armut im Kreis Malmedy und dem teilweise geringen Verständnis der Gemeinden zwar mit großen Schwierigkeiten verbunden, aber er zeigte Wirkung. 1827, zwei Jahre nach der Einführung des Schulzwangs durch Preußen, verfügte der Kreis über 56 Elementarschulen, die 3139 der gut 4400 schulpflichtigen Kinder im Kreis besuchten.68 Um dem unregelmäßigen Schulbesuch Herr zu werden, regte der Landrat an, bei Familien mit mehreren Kindern nur ein Kind als Viehhüter zuzulassen, das aber zumindest eine Sonntagsschule besuchen sollte.69 Außer-dem wurde mehr und mehr der ganzjährige Unterricht durchgesetzt. 1833 wurde an 43 von 66 Volksschulen im Kreis Malmedy ganzjährig unterrich-tet.70 Der unregelmäßige Schulbesuch blieb zwar noch lange ein Problem, aber die Maßnahmen der Behörden hatten Erfolg. 1861 besuchten 5505 von 5606 schulpflichtigen Kindern im Kreis Malmedy die 75 Elementarschulen des Kreises, an denen 91 ausgebildete Lehrkräfte unterrichteten, die neben Wohnung und Garten in den Städten 240 Taler, in den Landgemeinden 150-180 Taler Besoldung erhielten.71 Trotz dieser Erfolge blieb das Problem, dass viele Kinder im Sommer zum Viehhüten eingesetzt wurden, bestehen. Dies führte zu einer Sonderregelung, der so genannten Hüteschule. Die Kinder, die zum Hüten des Viehs benötigt wurden, erhielten eine Befreiung vom regelmäßigen Unterricht und mussten nur wenige Stunden Halbtagsunterricht in der Hüteschule besuchen. Diese konnte einen regelmäßigen Unterricht jedoch nicht ersetzen. Noch 1878 be-klagte Landrat von der Heydt, dass mehr als ein Viertel der schulpflichtigen Kinder des Kreises keinen ordnungsgemäßen Unterricht gewohnt und nur be-helfsmäßig versorgt sei.72 Es ist leicht vorzustellen, welche Auswirkungen, dieser notdürftige Unterricht auf die schulische Ausbildung der betroffenen Kinder hatte. Viele von ihnen dürften nicht viel mehr als die Grundkenntnisse des Lesens, Schreibens und Rechnens beherrscht haben. Für eine Zeitung im Kreis ist dieses Phänomen von großer Bedeutung, da man davon ausgehen kann, dass die meisten nur schlecht in der Hüteschule ausgebildeten Kinder als Erwachsene allein schon wegen ihrer schlechten Lesefähigkeiten als Zeitungsleser ausfielen. Damit war der Kreis potentieller Kunden für eine einsprachige Zeitung zusätzlich limitiert.

67 Vgl. KAUFMANN I, S. 101ff. 68 Vgl. ebd., S. 106ff. 69 Vgl. ebd., S. 109. 70 Vgl. ebd., S. 110. 71 Vgl. KAUFMANN I, S. 111. 72 Vgl. KAUFMANN II, S. 209.

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B. DIE WIRTSCHAFTLICHE UND SOZIALE SITUATION IM KREIS MALMEDY IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 19. JAHRHUNDERTS

Schlechter stand es dagegen um die Gerbereien des Kreises. Die meisten Ger-bereien in St. Vith stellten bald nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 den Betrieb ein, so dass sich die Gerbereien nunmehr fast vollständig auf Malmedy konzentrierten. Die dortigen Gerbereien konnten zu Beginn der 1870er Jahre noch vom zunehmenden Rüstungsbedarf des Heeres profitieren, wurden jedoch ab 1876 von der allgemeinen Wirtschaftskrise erfasst. Die auf französische und belgische Lohe angewiesenen Gerbereien Malmedys hatten unter der Zollpolitik zu leiden, die seit 1879 hohe Einfuhrzölle auf ausländi-sche Lohe erhob. Zudem machte sich das Handicap der schlechten Verkehrs-anbindung des Kreises Malmedy mehr und mehr bemerkbar.73 Diese Proble-me hatten zur Folge, dass immer mehr Gerbereien schließen mussten und die Zahl der in den Gerbereien beschäftigten Arbeiter von 500 auf 300 sank.74 Trotz der Krise lagen die Löhne der Arbeiter in den Malmedyer Gerbereien relativ hoch. 1883 verdiente ein gelernter Arbeiter durchschnittlich 16,50 Mark und 1885 19,50 Mark.75 Dass die Löhne im Kreis Malmedy tendenziell höher waren als im übrigen Regierungsbezirk Aachen mag daran liegen, dass auch die Lebenshaltungskosten in dem abgelegenen und schlecht an-gebundenen Eifelkreis wahrscheinlich höher lagen als im Rest des Regie-rungsbezirks.76 Dementsprechend kann auch nicht von den eher hohen Löhnen der Arbeiter auf einen relativen Wohlstand der Kreisbevölkerung geschlossen werden, im Gegenteil. Grund dafür: Die Lage der Landwirtschaft, der Erwerbsquelle für den größten Teil der Kreisbewohner, war alles andere als rosig. Die Ursachen hierfür waren vielfältig. Die klimatischen Bedingungen waren und sind schlecht, niedere Temperaturen und hohe Niederschläge erschwerten die Landwirtschaft im Eifelhochland, auch die Bodenverhältnisse waren, abgese-hen von den Tälern von Warche und Our, alles andere als günstig.77 Die Zer-stückelung des Grundbesitzes, die hohe Verschuldung der Höfe und die zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch weit verbreiteten veralteten Bewirtschaf-

73 Vgl. KAUFMANN II, S. 68. 74 Vgl. ebd., S. 69. 75 Vgl. LEPPER, Poltische Stömungen, S. 55-57. 76 Vgl. KAUFMANN I, S. 67. Kaufmann nennt leider nur Zahlen zu Beginn der preußischen Verwaltung, nach denen die Marktpreise auf Grund der schlechten Verkehrsanbindung in Malmedy ein Sechstel höher lagen als in Aachen und Lüttich. Für den Berichtszeitraum fehlen genaue Angaben. Da die Verkehrsituation sich erst in den 1880er Jahren entscheidend besserte, liegt es nahe zu vermuten, dass die Lebenshaltungskosten auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überdurchschnittlich hoch gewesen sein dürften. 77 Vgl. HOCK H., Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Gebietes von Malmedy und St. Vith in der Zeit vom Wiener Kongress 1815 bis heute, St. Vith 1970, S. 7.

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tungsmethoden erschwerten das Leben der Landwirte im Kreis Malmedy zu-sätzlich.78 Die ungünstige Lage des Kreises und die schlechten Verkehrsver-hältnisse führten außerdem dazu, dass die Landwirte im Kreis Malmedy Schwierigkeiten hatten, das Wenige, was sie über den Eigenbedarf hinaus produzierten, an den Mann zu bringen. Exemplarisch war die Verwertung von Butter. Es war gang und gäbe, dass die Bauern die von ihnen produzierte But-ter bei den Dorfkrämern gegen andere Waren eintauschten. Dieser bis in die 1880er Jahre bestehende Tauschhandel hatte zum Ergebnis, dass einerseits die Krämer selbst in Absatzschwierigkeiten gerieten und es anderseits in den bäu-erlichen Haushalten am nötigsten, vor allem an Bargeld, mangelte.79 Der Kreis Malmedy war ein ländlich geprägtes Gebiet. 1867 lebten 77,3% der Kreisbewohner in den agrarisch kleinbäuerlich strukturierten 40 Landgemein-den des Kreises, 22,7% in den beiden Städten Malmedy und St. Vith.80 Die Landwirtschaft war logischerweise auch die Haupterwerbsquelle der Bevölke-rung, 1882 waren 65% der Erwerbstätigen des Kreises in der Landwirtschaft beschäftigt.81 Neben der Landwirtschaft bot auch die vornehmlich in der Kreisstadt Malmedy konzentrierte Industrie ein Auskommen, hier standen zu Beginn der 1880er Jahre knapp 2500 Menschen in Lohn und Brot.82 Dabei handelte es sich vor allem um Papierindustrie, Gerbereien und Blaukittelfab-rikation.83 Von diesen Industriezweigen waren Papier- und Lederindustrie am bedeutendsten und beschäftigten zusammen ca. 8,5% der Arbeiter des Krei-ses.84 Besonders die Papierindustrie Malmedys gelangte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu voller Blüte. Dies war vor allem der Papierfabrik Steinbach zu verdanken, die seit den 1840er Jahre auf dem neuesten Stand der Technik produzierte und auch die Wirtschaftskrise nach 1873 durch die Pro-duktion von Fotopapier bestens überstand. In den sieben Jahren von 1875 bis 1882 stieg die Zahl der Beschäftigten der Fabrik von 160 auf 350.85 Entspre-chend entwickelten sich auch die Löhne in der Malmedyer Papierindustrie. Im Jahre 1883 verdiente ein gelernter männlicher Arbeiter in diesem Bereich durchschnittlich 14,40 Mark pro Woche, das waren 90 Pfennig mehr als das, was insgesamt im Regierungsbezirk Aachen üblich war.86 Zwei Jahre später lag der Wochenlohn eines gelernten Arbeiters in den Malmedyer Papierfabri-

78 Vgl. KAUFMANN I, S. 21. 79 Vgl. ebd., S: 37. sowie KAUFMANN II, S. 72. 80 Vgl. LEPPER, Politische Strömungen, S. 16. 81 Vgl. ebd., S. 20. 82 Vgl. ebd., S. 20. 83 Vgl. ROSENSTRÄTER, S. 96. 84 Vgl. PABST, Die preußischen Wallonen, S.72, sowie LEPPER 1967, S. 45. In der Papier- und Lederindustrie waren 1882 4,04% der Erwerbstätigen des Kreises tätig und in der Textilin-dustrie 4,48%. 85 Vgl. KAUFMANN II, S. 65-66, sowie LEPPER, Politische Strömungen, S. 35. 86 Vgl. LEPPER, Politische Strömungen, S. 55.

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ken mit 16,50 Mark mehr als drei Mark über dem Durchschnittsverdienst in der Papierindustrie des Regierungsbezirks Aachen.87 Die schlechten geographischen Bedingungen brachten es außerdem mit sich, dass die Landwirtschaft nicht von den agrarwissenschaftlichen und techni-schen Fortschritten profitieren konnte, die in den benachbarten rheinischen Gebieten bereits genutzt wurden. Diese Rückständigkeit war nicht allein durch die abseitige geographische Lage bedingt, sondern auch durch die Ar-mut der Landwirte im Kreis Malmedy. Es gab kaum Güter, die finanziell in der Lage waren, Neuerungen durchzuführen.88 Um diese schwierige Situation zu verbessern wurde eine Vielzahl von Maß-nahmen ergriffen. Die Ödlandflächen des Kreises und Teile des Hohen Venns wurden seit Mitte des Jahrhunderts systematisch aufgeforstet, um auf diese Weise den negativen klimatischen Einflüsse des Hochmoors entgegenzuwir-ken.89 Infolge der 1830 beendeten Katasterabschätzung wurde die Grundsteu-er gesenkt und so die Leistungsfähigkeit der Landwirte gesteigert.90 Außer-dem förderte die 1833 gegründete Lokalabteilung des landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen neue Methoden der Bodenbewirtschaftung, die ebenfalls zu einer Verbesserung der Landwirtschaft beitrugen.91 Nach der Reichsgründung erfolgten gegen Ende der 1870er Jahre weitere Maßnahmen. Der durch den geistlichen Rektor Cremer 1879 in Niederemmels bei St. Vith gegründete „Verein kleiner Landwirte zur Herstellung von Süßrahmbutter“ war ein Vorläufer der späteren zentralen Molkereigenossenschaften und machte sich erfolgreich daran, dem nach wie vor bestehenden Tauschhandel ein Ende zu bereiten. Umfasste der Verein im Gründungsjahr 45 Vieh besit-zende Haushalte mit 192 Kühen, waren es bereits vier Jahre später 950 Haus-halte mit 4100 Kühen, die für mehr als 36 000 Kilo gelieferte Butter insge-samt 128 163 Mark erhielten. Diese Summe entsprach einer Mehreinnahme von 81 000 Mark im Vergleich zum Tauschhandel.92 Die Aktivitäten des „Buttervereins“ brachten auch eine Verbesserung der Wiesen und Weiden im Kreis Malmedy mit sich. Die Mitglieder des Vereins düngten die genossenschaftlichen Wiesen dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechend, gleichzeitig wurden Entwässerungsgräben angelegt und die Weiden eingezäunt. Dadurch wurden Viehhüter und Hütehund nicht mehr benötigt. Ein Umstand, der besonders den nach wie vor zur Viehhut ein-gesetzten schulpflichtigen Kindern zugute kam.93

87 Vgl. ebd., S. 56. 88 Vgl. KAUFMANN I, S. 37. 89 Vgl. ebd., S. 36. 90 Vgl. ebd., S. 38. 91 Vgl. ebd., S. 39f. 92 Vgl. KAUFMANN II, S. 71-73. 93 Vgl. ebd., S. 74.

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Diese Maßnahmen brachten zwar eine spürbare Verbesserung, Missernten und daraus resultierende Notstände konnten sie aber nicht verhindern. Miss-ernten waren in der Eifel keine Seltenheit, allerdings konnten sie, wenn zu-friedenstellende Ernten folgten oder vorausgegangen waren, verkraften wer-den. In der zweiten Hälfte der 1870er kam es zu einer schnellen Reihenfolge von Missernten, die 1882 zu einer Hungersnot führten. Eine im Juni einset-zende Regenperiode, die fast bis Jahresende anhielt, vernichtete die Ernte fast vollständig. Nur ein Drittel der Kreisbewohner war noch in der Lage, sich von den eigenen Ernteerträgen zu ernähren. Die betroffenen Kreise, außer Mal-medy auch Prüm, Daun, Schleiden und Adenau, konnten der Situation allein nicht mehr Herr werden. Nur durch viele Privatspenden und Zuwendungen von Staat und Provinz gelang es, Lebensmittel und Saatgut in ausreichender Menge zu beschaffen und so die Katastrophe abzuwenden. Die massive Aus-wanderung aus dem Kreis nach Amerika in den folgenden Jahren konnte trotzdem nicht verhindert werden94 Um derartiges in Zukunft zu verhindern, riefen Staat und Provinz den so ge-nannten Eifelfonds ins Leben, der eine nachhaltige Wirtschaftspflege gewähr-leisten sollte. Daraus erhielt der Kreis Malmedy 235000 Mark alleine für Drainagen und Be- und Entwässerungsanlagen. Außerdem wurde Geld in den Feldgrasbau, Viehweideanlagen, Stall- und Dungstätteneinrichtunge,n sowie das landwirtschaftliche Schulwesen investiert und so die Situation nachhaltig verbessert.95

C. VERKEHRSVERHÄLTNISSE UND POSTWESEN IM KREIS MALMEDY

Wie bereits mehrfach erwähnt, litt der Kreis Malmedy unter seiner schlechten Verkehrsanbindung. Als das Gebiet 1815 an Preußen fiel, war das Straßennetz des Kreises in einem dürftigen Zustand, lediglich die Verbindung zwischen Malmedy und dem belgischen Stavelot war einigermaßen ausgebaut.96 Trotz der schlechten Straßenverhältnisse wurde bereits im Frühjahr 1817 eine reitende und eine fahrende Postverbindung zwischen Aachen und Trier einge-richtet, die beide über Malmedy und St. Vith führten, sowie eine Verbindung von Malmedy über Montjoie nach Eupen.97 Es dauerte jedoch bis Mitte der 1830er Jahre, bis die wichtigsten Straßenbauvorhaben beendet waren. 1835/36 war die Straße Aachen-Trier komplett fertig gestellt, von 1841 an wurden Malmedy und St. Vith miteinander verbunden und 1843 bis 1846 die Straße Aachen-Luxemburg bis zur Landesgrenze gebaut.98 Knapp zehn Jahre später

94 Vgl. KAUFMANN II, S. 62-64. 95 Vgl. ebd., S. 88-91. 96 Vgl. KAUFMANN I, S. 112. 97 Vgl. ebd., S. 116. 98 Vgl. ebd., S 113, sowie KAUFMANN II, S. 20.

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wurde eine Verbindung über das Hohe Venn nach Eupen geschaffen und im Laufe der Zeit das Netz der Gemeindewege weiter ausgebaut. Dieser Ausbau des Straßennetzes des Kreises war zwar eine beachtliche Leistung, doch es gelang nicht, damit die Absatzschwierigkeiten der lokalen Industrie und Landwirtschaft zu beseitigen.99 Gleichzeitig veränderte sich auch die Linienführung der Post zwischen Aachen und Trier. Anstatt den Umweg über Malmedy und St. Vith zu fahren, nahm die Post den direkten Weg von Trier über Schönberg und Bütgenbach nach Aachen. Die beiden Hauptorte des Kreises waren nun über Zubringer mit der Postverbindung Aachen-Trier verbunden.100 Bei diesem System blieb es in die 1880er Jahre. Die wesentlichste Veränderung kam mit der Eröffnung der Bahnlinie Gerolstein-Trier 1871, als eine Verbindung von Malmedy nach Stadtkyll eingerichtet wurde.101 Bereits mehr als zehn Jahre zuvor war Mal-medy kommunikationstechnisch im 19. Jahrhundert angekommen. Am 15. August 1862 bekam die Stadt eine Telegraphenstation, die seit Mai 1866 Tag und Nacht geöffnet war.102 Der Kreis Malmedy war also an das Straßennetz und das Telegraphennetz angebunden, die wichtigste Anbindung fehlte je-doch: die an das Eisenbahnnetz. Bereits seit Mitte der 1850er Jahre gab es Pläne für diverse Bahnlinien, die den Kreis berühren sollten, beispielsweise für eine Linie von Paris nach Kob-lenz über St. Vith.103 Diese Pläne wurden jedoch nie in die Tat umgesetzt. Mal verhinderten politische Konstellationen, wie die Einigungskriege, mal man-gelndes Kapital der Eisenbahngesellschaften den Bau einer Eisenbahnlinie.104 Erst im Jahre 1881 wurde der Bau einer Bahnlinie in staatlicher Regie von Prüm über St. Vith und Montjoie nach Aachen-Rothe Erde beschlossen, mit Abzweigungen nach Malmedy, Eupen und Stolberg. Als Gegenleistung für den Bau auf Staatskosten mussten die Kreise den notwendigen Grund und Boden für den Bau der Eisenbahn kostenlos bereitstellen.105 Vier Jahre später wurde die Strecke Aachen-Malmedy in Betrieb genommen, 1887 die Verbin-dung mit St. Vith und von dort aus über Bleialf mit der Linie Köln-Trier und zu guter Letzt im Jahre 1889 die Linie von St. Vith nach Ulflingen in Luxem-burg, außerdem gab es noch eine Verbindung von St. Vith nach Gouvy in Belgien.106 Die Bahnverbindung erfüllte zwar nicht alle in sie gesetzten Hoffnungen, doch trug sie entscheidend zur Besserung der wirtschaftlichen Lage des Krei-

99 Vgl. KAUFMANN II, S. 20f. 100 Vgl. KAUFMANN I, S. 117ff. 101 Vgl. KAUFMANN II, S. 259. 102 Vgl. ebd., S. 262. 103 Vgl. KAUFMANN II, S. 23. 104 Vgl. ebd., S. 24ff. 105 Vgl. ebd., S. 35f. 106 Vgl. ebd., S. 38f.

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ses bei. Die Landwirtschaft profitierte vom erleichterten Zugang zu den Ab-satzmärkten, und das verschlafene St. Vith stieg zu einem Eisenbahnknoten-punkt auf.107 Diese schlechte Verkehrsanbindung machte bis in die 1880er Jahre hinein natürlich die Nachrichtenbeschaffung für jeden Zeitungsredak-teur im Kreis schwer. Es war nicht nur schwierig, aktuelle Informationen von außerhalb zu erhalten, sondern schon Lokalnachrichten liefen Gefahr, bei Er-scheinen einer Zeitung nicht mehr aktuell zu sein, sofern sich ein Ereignis nicht am Erscheinungsort des Blattes selbst zugetragen hatte.

D. DIE PRESSE DES KREISES MALMEDYS Trotz der vielen Probleme – der schlechten Schulbildung, der Zweisprachig-keit, der schwierigen wirtschaftlichen Situation und der durch die schlechte Verkehrsanbindung komplizierten Nachrichtenbeschaffung – gab es im Kreis Malmedy in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine überraschend viel-fältige Presselandschaft. Die erste Zeitung des Kreises Malmedy war das “Korrespondenzblatt des Kreises Malmedy“. Diese 1825 gegründete Zeitung wurde von dem Mal-medyer Drucker Stephan Schmitz herausgeben und erschien zunächst einmal wöchentlich in deutscher und französischer Sprache.108 W. A. Birnbach, ur-sprünglich ein Geldgeber Schmitz’, gab bald nach der Gründung des „Kor-respondenzblatt“ eine eigene französischsprachige Zeitung heraus, die aber auf Druck des Landrats ebenfalls zweisprachig erscheinen musste.109 Das „Korrespondenzblatt“ konnte sich nicht sehr lange halten. 1834 verkaufte Schmitz seine Druckerei an Hubert Scius, der das „Korrespondenzblatt“ drei Jahre später einstellte. Im Kreis Malmedy erschien bis 1848 nur die Zeitung Birnbachs, dann gründe-te Scius ein neues Wochenblatt, „La Semaine“.110 Die „Semaine“ erschien in französischer Sprache und stellte so einen besonderen Bezug zur wallonischen Minderheit im Kreis her, dennoch war das Blatt zunächst gouvernemental eingestellt und betonte lediglich die Belange der wallonischen Kultur und Sprache gegenüber der deutschen und französischen.111 Die „Semaine“ fusio-nierte 1849 mit der Zeitung Birnbachs und blieb bis zum Erscheinen der Do-epgenschen Zeitung 1866 die einzige Zeitung des Kreises. Schriftleiter der „Semaine“ war der gebildete und „federgewandte“ Malmedyer Jurist und Publizist Dr. Arsène de Nouë, der das Blatt bis zu seinem Tod 1904 leitete.112 Nach 1871 änderte das Blatt seinen politischen Kurs: Es machte sich im Kul-turkampf zum Sprachrohr der Zentrumspartei und vertrat die Anliegen der 107 Vgl. ebd., S. 42ff. 108 Vgl. CHRISTMANN, S. 27. 109 Vgl. STOMMEN, S. 17f. 110 Vgl. ebd., S. 18. 111 Vgl. KAUFMANN II, S. 186, sowie CHRISTMANN, S. 29. 112 Vgl. STOMMEN, S. 18., sowie KAUFMANN II, S. 186.

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Wallonen gegenüber der Germanisierungspolitik Bismarcks.113 Dieser Positi-onswechsel zahlte sich für die „Semaine“ aus. Das erwachte politische Inte-resse der Bevölkerung in Malmedy führte zu einer Steigerung der Auflagen-zahlen von 258 im Jahr 1873 auf 800 im Jahre 1885.114 Dabei war die „Semaine“ keineswegs konkurrenzlos. Aufgrund von Streitig-keiten in der Zentrumspartei Malmedys entstand 1881 ein wallonisches Wo-chenblatt mit einer Auflage von ca. 350 Exemplaren unter dem Titel „L’Organe de Malmedy“. Die neue Zeitung war zunächst auf das heftigste mit der „Semaine“ verfeindet und machte ab 1891 unter dem Namen „Petit Jour-nal“ vor allem die Vertretung der kulturellen Belange der Wallonen zu seiner Aufgabe.115

113 Vgl. CHRISTMANN, S. 29. 114 Vgl. KAUFMANN II, S. 186. 115 Vgl. KAUFMANN II, S. 186, sowie STOMMEN, S. 20.

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IV. DAS KREISBLATT FÜR DEN KREIS MALMEDY

A. DAS PRODUKT, DIE PRODUKTION UND ORGANISATION DES KREISBLATTES

Am Dienstag, den 30. Januar 1866 erschien in St. Vith die erste Ausgabe des „Wochenblattes für den Kreis Malmedy“. Auf der Titelseite wandte sich Ver-leger Joseph Doepgen an die Leser und erläuterte, was ihn zur Herausgabe der Zeitung bewogen hatte und wie er sich die inhaltliche Gestaltung des Blattes vorstellte:

„Das längst gefühlte Bedürfnis, daß in der Stadt St. Vith wieder ein Blatt herausgegeben wird ermutigt mich, das „Wochenblatt für den Kreis Malmedy“ herauszugeben und, indem ich solches dem geehrten Publikum empfehle, glaub’ ich auf eine vielseitige Unterstützung hoffen zu dürfen, da das Blatt eines Theils alle amtlichen Bekanntmachungen des Königlichen Landraths-Amtes enthalten wird, ich mich auch befleißigen werde alle sonstigen Publikationen, die für die Kreis-Einsassen von Bedeu-tung und Interesse sind, möglichst prompt abzudrucken und da ich es ferner werde mir angelegen sein lassen, das Blatt durch Besprechung gemeinnütziger Dinge belehrend und durch Ein-flechtung unterhaltsamer Lektüre angenehm zu machen.“116

Zusätzlich rief Doepgen zur Mitarbeit auf und bat um die Einsendung von Artikeln, die gleich ob „zur Belehrung oder Unterhaltung“ mit Dank von der Redaktion entgegen genommen würden.117 Die neue Zeitung umfasste vier Seiten im Format 22x30cm und war bis auf den Anzeigenteil in zweispalti-gem Layout gehalten. Die Artikel im redaktionellen Teil waren ausschließlich in deutscher Sprache und machten das Wochenblatt so zur ersten rein deutschsprachigen Zeitung im Kreis Malmedy. Die Texte wurden mit kleinen Drucktypen gesetzt und die Überschriften zwar fett ein wenig vom Text abge-setzt, doch nur unwesentlich größer als der restliche Text gedruckt ein für das 19. Jahrhundert typisches Layout, das zumindest aus heutiger Sicht das Lesen der Zeitung eher beschwerlich macht. Der Pränumerationspreis betrug ein-schließlich der Stempelsteuer 10 Groschen pro Quartal, bei Bezug durch die Post 12 Groschen und sechs Pfennige. Eine Zeile im dreispaltigen Anzeigen-teil kostete 1 Groschen pro Zeile. Die Zeitung erschien zunächst einmal pro Woche, abgesehen von der allerersten Ausgabe immer am Samstagnachmit-tag.

116 Wochenblatt für den Kreis Malmedy, 30.01.1866. 117 Ebd., 30.01.1866.

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Über die Person des Herausgebers ist wenig bekannt. Fest steht, dass Josef Doepgen aus Zell an der Mosel stammte und eine Druckerei in St. Vith be-trieb.118 Auch über die Druckerei Doepgen lässt sich nur wenig mit Be-stimmtheit sagen, weder aus den benutzten Quellen noch aus der Literatur sind Angaben über Gründung, Umsatz oder der Zahl der Angestellten zu ent-nehmen. Es spricht allerdings viel dafür, dass es sich bei der Druckerei Doep-gen um einen kleinen Familienbetrieb gehandelt hat. Kaufmann schreibt dazu, dass der Verleger "auf schwache finanzielle Füße gestellt war", und be-schreibt das Kreisblatt als Einmannbetrieb, der bis zu Beginn des 20. Jahr-hunderts von Joseph Doepgen und später von seinen Söhnen Peter Josef und Hermann im Alleingang geführt wurde, bevor 1905 zum ersten Mal ein Re-dakteur und Schriftleiter eingestellt wurde.119 Angesichts der dürftigen Infor-mationen kann auch über die Motivation Joseph Doepgens, eine Zeitung zu gründen, nur spekuliert werden. Vermutlich erhoffte er sich von der Zeitung ein zusätzliches Standbein und einen größeren Bekanntheitsgrad im Kreis für seine Druckerei. Außerdem meinte Doepgen, wie aus dem oben zitierten Edi-torial der Erstausgabe hervorgeht, ein gewisses Interesse für eine Zeitung un-ter der Bevölkerung St. Viths feststellen zu können. Da Zeitungen im Kreis Malmedy bislang nur in der wallonischen Kreisstadt erschienen und zumin-dest zweisprachig waren, stieß Doepgen mit einer in St. Vith erscheinenden rein deutschsprachigen Zeitung auf jeden Fall in eine potentielle Marktlücke. Die Auflage der ersten Ausgaben des Wochenblattes ist leider unbekannt.

118 Vgl. KAUFMANN II, S. 186. 119 Vgl. KAUFMANN II, S. 186-187, außerdem ROETHER, S. 16.

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Bereits ein knappes halbes Jahr nach Gründung des Wochenblattes kam es zu dem Schritt, der die Doep-gensche Zeitung für die nächsten 39 Jahre prägen sollte: In der Ausgabe Nummer 22 vom 23. Juni 1866 gab die Expedition des Wochenblattes auf der Titel-seite bekannt, dass die Zei-tung mit Beginn des dritten Quartals am 1. Juli unter dem Titel „Kreisblatt für den Kreis Malmedy“ erscheinen werde.120 Die Zeitung wurde damit, woraus auch in der Ankün-digung der Umbenennung kein Hehl gemacht wurde,121 zum amtlichen Organ der Landratsbehörde und somit Teil der offiziösen Presse. Es gibt in der Literatur und in der Zeitung selbst keine Be-lege dafür, welche Gründe ausschlaggebend für die Umbenennung waren. Aber nichtsdestotrotz finden sich

durchaus plausible Erklärungen dafür, was sowohl die Behörden als auch den Verleger und Herausgeber Doepgen zu diesem Schritt bewogen haben. Für die Behörden gab es gute Gründe, das Wochenblatt zum Kreisblatt zu machen. Es gab im Kreis Malmedy bislang noch kein offiziöses Presseorgan. Bis zum Erscheinen des Wochenblattes war es der in Malmedy erscheinen-den, gouvernemental eingestellten „Semaine“ vorbehalten gewesen, amtliche Bekanntmachungen zu veröffentlichen.122 Die „Semaine“ war bei aller Nähe zur Regierung aber auch das Blatt der wallonischen Bevölkerung und hatte aus Protest gegen die Sprachpolitik des Aachener Regierungspräsidenten

120 Wochenblatt für den Kreis Malmedy, 23.06.1866. 121 Ebd. 23.06.1866. 122 Vgl. KAUFMANN II, S.1866.

Abbildung 2: Titelseite der ersten Ausgabe des Kreisblattes für den Kreis Malmedy vom 7. Juli 1866.

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Kühlwetter drei Jahre zuvor dafür gesorgt, dass der Kreis einen Kandidaten der Opposition in den Landtag gewählt hatte.123 Daher lag es nahe, dass der seit 1865 amtierende Landrat von Broich nach einer Alternative zur „Semai-ne“ für die Veröffentlichung der amtlichen Bekanntmachungen suchte. Hier bot sich nun das Wochenblatt an. Es war neben der „Semaine“ die einzige Zeitung im Kreis Malmedy. Außerdem war es als rein deutschsprachige Zei-tung an die in den Gebieten um St. Vith lebende deutschsprachige Mehrheit adressiert, hatte daher mit den Belangen der wallonischen Minderheit wenig zu tun und unterstützte den Kurs der Regierung. Außerdem dürfte die allge-meine politische Großwetterlage des Jahres 1866 die Entscheidung des Land-rats beeinflusst haben. Gerade in einer Phase, wie unmittelbar vor dem Deutsch-Österreichischen Krieg, musste es im Interesse der Behörden liegen, über ein offiziöses Presseorgan zu verfügen und so eine Möglichkeit zu schaf-fen, die Bevölkerung im Sinne der Regierung zu beeinflussen. Für Doepgen dürften wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend gewesen sein, die Behörden darum zu ersuchen, seine Zeitung zum Kreisblatt zu machen. Als Kreisblatt bestand die Möglichkeit staatlicher Unterstützung und Doepgen erhielt, nachdem seinem Gesuch, seine Zeitung zum Kreisblatt zu ernennen, stattgegeben worden war, jährlich 100 RM für den Abdruck der amtlichen Bekanntmachungen.124 Da die finanzielle Situation des Verlegers immer wie-der angespannt war, blieben die staatlichen Beihilfen ein wichtiger Bestandteil der Finanzierung der Zeitung; noch 1887 wurde dem Kreisblatt ein einmaliger Zuschuss von 400 Mark bewilligt.125 Doepgen hoffte auch durch den Aufstieg zum Kreisblatt mehr Abonnenten und Anzeigenkunden zu gewinnen. In der Ankündigung der Umbenennung wurde damit geworben, das Kreisblatt eigne sich „besonders zu Privat-Anzeigen, welche in demselben große Verbreitung finden“, und es wurde zu „zahlreichem Abonnement“ eingeladen.126 Die erste Ausgabe mit dem neuen Titel „Kreisblatt für den Kreis Malmedy“ erschien am 7. Juli 1866. Abgesehen vom neuen Zeitungskopf änderte sich das äußere Erscheinungsbild der Zeitung nicht. Format und Layout blieben ebenso unverändert wie Kauf- und Anzeigenpreise. Auch die Periodizität än-derte sich zunächst nicht, von dem Unterschied einmal abgesehen, dass das Kreisblatt nun einmal wöchentlich am Samstagmorgen erschien und nicht Samstagnachmittag127 Eine Änderung der Erscheinungsweise nahm Doepgen erst zu Beginn des Jahres 1867 vor: Das Kreisblatt" erschien vom 2. Januar

123 Vgl. DOEPGEN, S. 41. 124 Vgl. CHRISTMANN, S. 31. 125 Regierungspräsident Hoffmann an Landrat von Frühbuß, Schreiben v. 10.05.1887, SAE, Kreis Malmedy, Nr.753. 126 Wochenblatt für den Kreis Malmedy, 23.06.1866. 127 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 07.07.1866.

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1867 an, „mehreren Wünschen und Aufforderungen entsprechend“, zweimal wöchentlich.128 Ansonsten blieb im Blatt alles beim Alten. 1867 sind erstmals Auflagenzahlen des Kreisblattes bekannt. Lepper beziffert die Auflage für dieses Jahr auf 150 Exemplare.129 Diese Zahl scheint auf den ersten Blick äußerst gering zu sein. Bedenkt man aber, dass auch die etablierte Zeitung im Kreis Malmedy, die „Semaine“, 1867 eine Auflage von 150 bis 180 Exemplaren hatte,130 so scheint es, als wäre das Kreisblatt, wenn auch in bescheidenem Rahmen, durchaus erfolgreich gewesen. Dieser Trend bei den Auflagezahlen setzte sich auch die nächsten Jahre fort und 1873 war das Kreisblatt die Zeitung mit der größten Auflage im Kreis Malmedy. Mit 330 Abonnenten lag es deutlich vor der „Semaine“, die 258 Abonnenten hatte.131 In den folgenden Jahren fand die Erfolgsgeschichte des Kreisblattes, was die Auflage anbelangt, jedoch keine Fortsetzung. Die Abonnentenzahlen stagnier-ten und konnten nur langsam mit amtlicher Hilfe gesteigert werden. Die Ursa-chen für diese Stagnation werden im weiteren Verlauf der Arbeit noch disku-tiert. Gesicherte Zahlen zur Auflage des Kreisblattes gibt es erst wieder Mitte der 1880er Jahre: Doepgen selbst beziffert die Zahl seiner Abonnenten im Januar 1884 auf 480 bis 500,132 Kaufmann gibt für das Jahr 1885 492 Abon-nenten an133 und 1889 hatte das Kreisblatt laut eigenen Angaben 570 Abon-nenten.134 Zum Vergleich: Die Abonnementszahlen der „Semaine“ lagen zur gleichen Zeit bei 800 Exemplaren. Weitere Zahlen liegen für den Untersu-chungszeitraum nicht vor. Zu Beginn des Jahres 1874 stellte Doepgen auf ein größeres Format um. Das Kreisblatt erschien vom 1. Januar an im Format 25x36cm, das Layout war nun dreispaltig, der Umfang betrug weiterhin vier Seiten. Gleichzeitig mit der Formatvergrößerung wurde auch der Preis der Zeitung erhöht. Das Kreisblatt kostete nun 10 Groschen pro Quartal, durch die Post bezogen 12½ Groschen. Begründet wurde diese Preiserhöhung in erster Linie mit den „so sehr gestie-genen Papierpreisen“ und den „so hoch gestellten Anforderungen der Arbeits-kräfte“.135 In derselben Mitteilung „an die geehrten Leser des Kreisblattes“ fand sich jedoch auch ein klarer Hinweis auf die wirtschaftlich schwierige Situation der Zeitung: Doepgen verwies explizit auf die „großen Schwierig-keiten und bedeutenden Kosten [...], welche erforderlich waren sowohl um das Blatt zu Gründen, als auch dasselbe bis dato zu erhalten."136 Nach der

128 Ebd., 15.12.1866. 129 Vgl. LEPPER, Politische Strömungen, S. 62. 130 Lepper geht von einer Auflage von 180 Stück aus, Kaufmann von 150. Vgl. ebd., S. 101, sowie KAUFMANN II, S. 186. 131 Vgl. KAUFMANN II, S. 186f. 132 Doepgen an Landrat von Frühbuß, Schreiben v. 26.01.1884, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 133 Vgl. KAUFMANN II, S. 187. 134 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 28.05.1890. 135 Ebd., 20.12.1873. 136 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 20.12.1873.

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Währungsumstellung zum 1. Januar 1876 betrug der Preis 1 Mark pro Quartal und 1,25 Mark bei Postzustellung. Der Anzeigenpreis betrug 10 Pfennig für die vierspaltige Zeile. Außerdem arbeitete Doepgen von Herbst 1879 bis Juni 1882 mit der Agentur H. Bragard-Pietkin zusammen. Diese Agentur erscheint am 27. September 1879 erstmalig im Kopf des Kreisblattes und wird dort als „Agentur für Malmedy und Umgebung“ angegeben.137 Es ist zwar dem Kreis-blatt nicht mit letzter Sicherheit zu entnehmen, wie die Zusammenarbeit mit der Agentur Bragard-Pietkin gestaltet war, man kann aber davon ausgehen, dass diese mit der Annahme von Anzeigen und Artikeln für das Kreisblatt aus dem wallonischen Teil des Kreises betraut war. Am 3. Juni 1882 erscheint die Agentur Bragard-Pietkin das letzte Mal im Kopf des Kreisblatts.138 Es liegt völlig im Dunkeln, ob dies gleichbedeutend war mit der Einstellung der Zusammenarbeit zwischen Doepgen und Bragard-Pietkin. Wenn dem so war, ist es nicht mehr zu klären, warum die Zusam-menarbeit beendet wurde. Man kann nur darüber spekulieren, ob es Mei-nungsverschiedenheiten zwischen der Redaktion und der Agentur gegeben hat oder sich die Kooperation für eine der beiden Parteien schlichtweg nicht ren-tierte. Die Agentur verschwand so kommentarlos aus dem Kopf des Kreisblat-tes wie sie eingefügt worden war. Betrachtet man das Kreisblatt für den Kreis Malmedy, so fällt auf, dass die Zeitung in drei, nicht immer explizit von einander getrennte, übergreifende Ressorts geteilt ist: Die meist auf der ersten Seite veröffentlichten amtlichen Bekanntmachungen, einen redaktionellen Teil im Innenteil und die auf der letzten Seite gedruckten Anzeigen, die über den gesamten Untersu-chungszeitraum gesehen den meisten Platz in der Zeitung einnahmen. Durch-schnittlich betrug der Anteil der Anzeigen am Kreisblatt 59,3%. Amtliche Bekanntmachungen und redaktionelle Beiträge hatten dagegen einen deutlich geringeren Anteil von durchschnittlich 12,74% bzw. 27,31%. Dabei ist festzu-stellen, dass die Anzeigen vor allem in der ersten Hälfte der 1870er Jahre die Zeitung dominierten, den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung 1873, als Inserate mit 76,69% mehr als drei Viertel des Kreisblattes ausmachten. Dies änderte sich erst im Laufe des folgenden Jahrzehnts, als der redaktionelle Teil der Zeitung ausgebaut wurde. Ende der 1880er Jahre stieg der Anteil an re-daktionellen Beiträgen im Kreisblatt regelmäßig auf über 40%, in den Jahren zuvor hatte ihr Anteil meist nur zwischen 11 und 15% betragen. Der Anteil der amtlichen Bekanntmachungen blieb über den gesamten Untersuchungs-zeitraum gesehen mit am konstantesten, er lag, von vereinzelten Ausreißern nach oben abgesehen bei gut 20%, meistens ohne größere Schwankungen zwischen 10 und 15%. Allerdings ist auch hier in den 1880er Jahren eine Ver-änderung festzustellen: Es wurden deutlich weniger amtliche Bekanntma-

137 Ebd., 27.09.1879. 138 Ebd., 03.06.1882.

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chungen im Kreisblatt abgedruckt. 1890 lag ihr Anteil an der Zeitung nur noch bei 7,85%. Die Publikation amtlicher Bekanntmachungen beschränkte sich jedoch nicht nur auf diesen Teil des Kreisblattes. In dem als „amtliche Bekanntmachungen“ gekennzeichneten Teil der Zeitung fanden sich zwar die Beschlüsse kommunaler und regionaler Behörden und Kammern wieder, aber auch der Anzeigenteil enthielt amtliche Anzeigen, beispielsweise kündigten Förster hier Holz- und Lohverkäufe an, Notare gaben Versteigerungstermine bekannt oder die Bürgermeister schrieben hier öffentliche Aufträge aus. Auch im redaktionellen Teil fanden sich amtliche Verlautbarungen, wenn zum Bei-spiel die in der „Provinzial-Correspondenz“ bzw. ab 1882 in den „Neuesten Mittheilungen“ veröffentlichten Reden von Kaiser oder Reichskanzler ge-druckt wurden, doch dazu später mehr.

Abbildung 3: Verteilung der Ressorts im Kreisblatt

1867 1870 1871 1872 1873 1874 1876 1882 1883 1885 1887 1888 189005

101520253035404550556065707580

RedaktionellesAmtliche Bekanntma -chungenAnzeigen

Jahr

Pro

zent

Eine Anmerkung zur Rolle der amtlichen Bekanntmachungen im Kreisblatt ist noch notwendig: Blätter, die sich dem „Genre“ der Dokumentation, also der Wiedergabe originaler Texte, verschrieben hatten, genießen einen notorisch schlechten Ruf, dies trifft insbesondere auf die Kreisblätter zu. Man darf aber in diesem Zusammenhang auf gar keinen Fall vergessen, das bereits seit der frühen Neuzeit amtliche Bekanntmachungen sowohl für die Obrigkeit als auch für die Leserschaft von großer Bedeutung waren.139

139 Vgl. STÖBER R., Pressegeschichte, S. 175.

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V. DER REDAKTIONELLE TEIL DES KREISBLATTES

A. ALLGEMEINES Im redaktionellen Teil fällt es schwer, Ressorts oder Rubriken im heutigen Sinne zu erkennen. Zu Wochenblattzeiten ist dieser Teil noch recht klar ge-gliedert in einen Leitartikel oder einen Fortsetzungsroman, die Rubriken „Haus- und Landwirtschaft“, „Vermischtes“, „Humoristisches“, „Denksprü-che fürs Leben“ und „Gedichte“. Von diesen Rubriken hielten sich nur die „Haus- und Landwirtschaft“140 und „Vermischtes“. Die Rubrik „Vermischtes“ enthielt dabei nicht nur Meldungen über Kuriositäten, Gesellschaftliches usw., sondern häufig auch die Lokalnachrichten. Erst 1879 wurde eine weitere Rubrik eingeführt, die „Rundschau“ hieß. Dort erschienen politische Nachrichten, die ab Mitte August 1879 unter politisch-geographischen Gesichtspunkten gruppiert wurden, so dass Unterrubriken wie „Deutsches Reich“, „Frankreich“, „Österreich-Ungarn“ oder „Großbritannien und Irland“ entstanden. Der Name „Rundschau“ verschwand zwar sehr schnell wieder aus dem Kreisblatt, die Rubrik wurde aber in der oben geschil-derten Form beibehalten, bis sie von Juli 1884 an durch die Rubrik „Politische Nachrichten“ ersetzt wurde. Damit entfiel auch die geographische Sortierung der Nachrichten. Zusätzlich zu diesen beiden gab es noch die unregelmäßig erscheinende Rubrik „Parlamentarisches“, in der über die Verhandlungen im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus berichtet wurde. Um die Gewichtung der unterschiedlichen Themen, die in der Berichterstat-tung des Kreisblattes eine Rolle spielten, für diese Arbeit feststellen zu kön-nen, werden für den redaktionellen Teil übergeordnete Themengruppen durch den Autor eingeführt, denen die einzelnen Artikel und Meldungen bei der Er-fassung zugeordnet werden. Sofern keine neuen Rubriken in der Zeitung eine zusätzliche Erfassungskategorie notwendig machen, handelt es sich bei den übergeordneten Themengruppen um die folgenden Kategorien: − "Politische Themen", in der sämtliche Berichte aus den bearbeiteten Jahr-gängen zur Innen- und Außenpolitik erfasst werden. − "Lokales und Regionales", der Berichte und Meldungen aus dem Kreis Malmedy, den benachbarten Kreisen Prüm, Montjoie141, Eupen, Schleiden und Bitburg sowie der Stadt Aachen und dem unmittelbar an den Kreis Mal-medy grenzenden belgischen und luxemburgischen Grenzgebiet zugeordnet werden.

140 Diese Rubrik erschien oft auch nur unter dem Namen „Landwirtschaftliches“. 141 Hierbei handelt es sich um den Kreis Monschau. Der Name Monschau wurde erst 1918 ein-geführt, weshalb in dieser Arbeit für Stadt und Kreis ausschließlich die vor 1918 übliche Be-zeichnung Montjoie verwendet wird.

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− "Wirtschaft", in dieser Kategorie werden alle Meldungen zu wirtschaftli-chen Themen erfasst. − "Landwirtschaftliche Themen" − "Vermischtes", in dieser Rubrik werden Meldungen über Kuriositäten sowie das, was gemeinhin als Klatsch und Tratsch bekannt ist, eingeordnet. − "Fortsetzungsromane und Gedichte", dieser letzten Kategorie werden im Kreisblatt abgedruckte Romane, Gedichte sowie Denksprüche und Ähnliches zugeordnet. Leider ist es nicht immer leicht aus den Daten eindeutige Tendenzen, was die Gewichtung der Ressorts anbelangt, herauszulesen. Klare Aussagen sind kaum zu tätigen. Für die Wirtschaft lässt sich beispielsweise eine eindeutige Feststellung treffen: Sie hat während des gesamten Untersuchungszeitraums kaum eine Rolle gespielt. 1867 lag der Anteil von wirtschaftlichen Themen im Kreisblatt bei 1,6%, 1876 war er auf fast drei Prozent angewachsen, in den 1880er Jahren verschwand die Wirtschaft fast völlig aus der Berichterstattung. Im Dreikaiserjahr 1888 machten Wirtschaftsthemen nicht einmal 0,2% des redaktionellen Teils des Kreisblattes aus. Der Wirtschaftsteil bestand in der Regel nur aus der Veröffentlichung von Frucht- und Getreidepreisen im An-zeigenteil. Dieser geringe Stellenwert von wirtschaftlichen Themen im Kreis-blatt ist nicht besonders verwunderlich. Der Wirtschaftsteil war allgemein ein „verspätetes Ressort“ in der deutschen Presselandlandschaft, das sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts richtig entwickelte,142 warum sollte er dann ausgerechnet in einer kleinen Zeitung an der Peripherie des Reiches be-sonders ausgeprägt sein? Auch in der heutigen Zeit wird die Lokalpresse in ländlichen Räumen stark von der örtlichen Lebenswelt geprägt.143 Und für eben diese örtliche Lebenswelt, in der das Kreisblatt erschien, nämlich dem in höchstem Maße agrarisch geprägten St. Vither Land im späten 19. Jahrhun-dert, war der Abdruck von Getreidepreisen und eine umfangreiche Berichter-stattung über landwirtschaftliche Themen von ungleich größerer Bedeutung als etwa eine umfassende Analyse des „Gründercrashs“. Wie bereits angedeutet, beschäftigte sich das Kreisblatt regelmäßig und aus-führlich mit landwirtschaftlichen Themen. Gerade in den ersten Jahren der Zeitung waren die in den Rubriken „Landwirtschaftliches“ oder „Haus- und Landwirtschaft“ abgedruckten Abhandlungen über die Verbesserung von Weiden und Wiesen oder Viehzucht die Artikel, die in den einzelnen Ausga-ben den meisten Platz einnahmen. Auf die Jahrgänge gesehen war der Anteil der landwirtschaftlichen Themen im Kreisblatt schwankend. Vor der Annah-me des Kreisblatttitels machten sie über 33% des redaktionellen Teils aus, 1867 sank der Anteil auf 15%, 1870 lag er bei 25% und pendelte sich bis in die zweite Hälfte der 1870er bei etwa 15% ein. Bemerkenswert ist, dass in 142 Vgl. STÖBER R., Pressegeschichte, S. 177f. 143 Vgl. HERRMANN C., Im Dienste der örtlichen Lebenswelt. Lokale Presse im ländlichen Raum, Opladen, 1993, S. 26 und S. 245ff.

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den 1880ern ein deutlicher Rückgang der Berichterstattung über landwirt-schaftliche Themen festzustellen ist. 1882 befassten sich 3,63% der Berichte im Kreisblatt mit Landwirtschaft, nach einem kurzen Anstieg auf 6,37% im folgenden Jahr sank der Anteil rapide ab. 1888 machte die Landwirtschaft nur 0,51% des redaktionellen Teils aus.

Die Gründe für den anfänglich hohen Stellenwert der landwirtschaftlichen Berichterstattung liegen auf der Hand. Hier passte sich das Kreisblatt den ört-lichen Gegebenheiten an. Der Leserkreis des Blattes bestand nun einmal aus der Landbevölkerung des Kreises Malmedy und für diese Leser war die Be-richterstattung über landwirtschaftliche Themen von großer Bedeutung. Liest man das Werk Kaufmanns, so kann man ersehen, welch einen Stellenwert die Verbesserung der Landwirtschaft für die Bevölkerung des Grenzkreises hat-te.144 Wenn das Kreisblatt überleben wollte, musste es auf die Interessen sei-ner Leser eingehen, und für die bäuerliche Bevölkerung im deutschsprachigen Teil des Kreises waren Informationen über Fortschritte und Entwicklungen im landwirtschaftlichen Bereich eine Frage von existenzieller Bedeutung. Dieses Marktsegment musste bedient werden und dies tat das Kreisblatt in den ersten rund 15 Jahren seines Bestehens, indem es über neue Düngungsmethoden, die richtige Anlage von Weißdornhecken zum Schutz von Wiesen und die Be-kämpfung von Viehseuchen berichtete. Außerdem bot es durch den Abdruck

144 Vgl. KAUFMANN II, S. 71ff. sowie 108ff.

Abbildung 4: Entwicklung der Berichterstattung über landwirtschaftliche Themen im Kreis-blatt

1867 1870 1871 1872 1873 1874 1876 1882 1883 18850

2,55

7,510

12,515

17,520

22,525

27,530

32,535

15

25,1

14,68 14,94

32,59

15,68

10,12

3,636,37

1,9

Anteil der landwirtschaftlichen Themen in %

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der Berichte und Protokolle der Lokalabteilung oder des 1879 gegründeten „Buttervereins“ den landwirtschaftlichen Vereinen des Kreises eine Plattform und trug auf diese Art mit dazu bei, neue Methoden und Techniken auf dem landwirtschaftlichen Sektor im nach wie vor abgeschiedenen und rückständi-gen Kreis Malmedy bekannt zu machen. Es bleibt natürlich die Frage, warum in den 1880er Jahren nur noch wenig über die Landwirtschaft berichtet wurde. Hierauf eine Antwort zugeben ist kein leichtes Unterfangen, denn die Landwirtschaft war auch in den 1880er der wichtigste Erwerbszweig im Kreis Malmedy. Zwar setzten Ende der 70er Jahre umfangreiche Maßnahmen zur Bodenverbesserung ein, die Tätigkeit des Buttervereins begann Wirkung zu zeigen, und mit der Erbauung der Venn-bahn von 1884 an erhielt der Kreis einen Modernisierungsschub. Dennoch dürfte das Interesse an landwirtschaftlichen Themen in der Kreisbevölkerung, besonders angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation der Landwir-te in der Notstandszeit 1882/83, weiterhin bestanden haben. Tatsächlich steigt der Anteil der Landwirtschaft 1883 auch noch einmal an, was jedoch nicht über das rapide Absinken auf unter 1% am Ende des Jahrzehnts hinweg täu-schen kann. Ob dies nun der schlechten wirtschaftlichen Lage der Landwirte oder einem generellen Wandel im Kreis Malmedy geschuldet ist, kann an die-ser Stelle nicht mit letzter Sicherheit schlüssig beantwortet werden. In etwa zeitgleich mit dem Rückgang der landwirtschaftlichen Berichte stieg der Anteil der vermischten Nachrichten im Kreisblatt. Dieses Ressort war während des gesamten Untersuchungszeitraums Bestandteil des redaktionel-len Teils der Zeitung, wenn auch mit wechselndem Umfang. 1867 waren 37% der im Kreisblatt veröffentlichten Nachrichten dem Ressort „Vermischtes“ zuzurechnen. Dieser Anteil sank jedoch bis 1871 auf 8,33%, stieg in den fol-genden Jahren wieder an und pendelte sich ab 1874 bei Werten von gut 30% ein. Von 1885 an ist jedoch ein deutlicher Anstieg der vermischten Nachrich-ten zu verzeichnen, von 41,59% über 50% im Jahre 1888, bis das Ressort „Vermischtes“ 1890 über 60% des redaktionellen Teils des Kreisblattes aus-machte. Auch diese Tendenz ist nur schwer zu erklären. Es ist zwar nur eine Spekula-tion, eine mögliche Erklärung wäre jedoch folgende: Der Anstieg an ver-mischten Nachrichten setzt erst mit oder sogar nach der Erbauung der Venn-bahn ein. Die Eisenbahn ermöglichte die zuvor mehr als beschwerliche Fahrt über das Hohe Venn nach Aachen und in andere Städte und brachte so „ein Stück Welt“ ins St. Vither Land, sie sorgte für eine Erweiterung und Verdich-tung der Kommunikation.145 St. Vith entwickelte sich sehr schnell nach dem Anschluss an das Eisenbahnnetz 1887 zu einem Eisenbahnknotenpunkt und hatte einen zum großen Teil durch Bahnbeamte getragenen Bevölkerungszu-

145 Vgl. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 221.

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wachs zu verzeichnen.146 Der Anschluss an das Zentrum Aachen und die langsame Änderung der Bevölkerungsstruktur legen die Vermutung nahe, dass auch ein größeres Interesse an „städtischen“ Themen unter den Lesern des Kreisblattes entstand, worauf Doepgen mit einem Ausbau des Unterhal-tungsressorts reagierte. Leider bedürfte es einer Ausdehnung des Untersu-chungszeitraums oder genauerer Quellen zur Rezeption des Kreisblattes, um diese These zur erhärten oder zu widerlegen. Zum Abschluss dieses Kapitels sei noch einmal kurz auf den Anteil, den die politische Berichterstattung und die Lokalnachrichten im Kreisblatt hatten, hingewiesen. Dies soll sich aber auf einen kurzen quantitativen Überblick be-schränken, da diese beiden Ressorts in den folgenden Kapiteln noch ausführ-lich behandelt werden. Wie auch die vermischten Nachrichten spielte die politische Berichterstattung während des gesamten Berichtszeitraums eine Rolle, auch ihre Gewichtung war schwankend. 1867 gehörten 32,8% des redaktionellen Teils zum Ressort Politik, 1870 waren es sogar über 56%, Mitte der 1870er Jahre war dieser An-teil auf 22,96% gesunken. Er stieg jedoch wieder bis auf mehr als 50% im Jahre 1882. In den folgenden Jahren pendelte sich der Anteil jedoch bei Wer-ten um die 30% ein, 1887 stieg er noch einmal auf über 40%, bevor er bis 1890 auf 11,16% absackte. Der Anteil der Artikel und Meldungen über lokale und regionale Themen war ebenfalls sehr unterschiedlich. 1867 hatten Lokal-meldungen einen Anteil von 7,2% am redaktionellen Teil, im Jahre 1871 wa-ren es 14,68%, 1872/73 waren es etwas unter 10%, ehe 1876 der Anteil wie-der auf mehr als 12% stieg. 1882 hatten nur 7,66% der Artikel und Meldun-gen im Kreisblatt einen lokalen Bezug, im Jahr darauf mit 17,78% mehr als doppelt so viele, der Anteil ging zwar in den nächsten Jahren zunächst noch einmal zurück, stieg jedoch wieder auf 14,3% im Jahre 1890.

B. DIE POLITISCHE BERICHTERSTATTUNG DES KREISBLATTES

Wie bereits erwähnt, war die Zeitung Doepgens seit Juli 1866 zu einem Teil des offiziösen Pressewesens geworden. Damit fiel dem Blatt nicht nur die Aufgabe zu, amtliche Publikationen zu veröffentlichen, sondern auch Politik im Sinne der preußischen Staatsregierung zu vermitteln und zu vertreten. Ge-rade in dieser Funktion ist das Kreisblatt hart kritisiert worden. Kaufmann schreibt, die Zeitung sei politisch bedeutungslos gewesen und habe die Politik

146 Vgl. KAUFMANN II, S. 42-43.

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der Regierung insbesondere während des Kulturkampfs nicht den Ansprüchen entsprechend vertreten können.147 Abbildung 5: Entwicklung der politischen Berichterstattung im Kreisblatt

1867 1870 1871 1872 1873 1874 1876 1882 1883 1885 1887 1888 18900

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

32,8

56,86 56,35

34,8532,59

22,7 22,96

50,07

29,4231,11

41,42

34,33

11,16

Anteil der politischen Berichterstattung in %

Diese Beurteilung durch den Chronisten des Kreises Malmedy wirft natürlich die Frage nach der politischen Linie des von Doepgen herausgegebenen Blat-tes auf. Da die Zeitung ein Einmannbetrieb war, stellt sich bei der Frage nach der politischen Linie der Zeitung auch die Frage nach der politischen Einstel-lung des Herausgebers. Es ist bereits mehrfach erwähnt worden, dass zur Per-son Joseph Doepgens nur sehr wenig bekannt ist, deshalb kann eine Antwort auf die Frage nach der politischen Orientierung Doepgens nur in den Tenden-zen in seiner Zeitung gefunden werden. Hierfür kommt lediglich die kurze Phase vor Annahme der Kreisblattfunktion in Frage, da das Blatt zu dieser Zeit höchstwahrscheinlich recht unabhängig von den Behörden geführt wurde, die durch das Wochenblatt vertreten Positionen also denen Doepgens entspro-chen haben dürften. War die politische Berichterstattung zu Wochenblattzei-ten eher gering, so lassen sich trotzdem recht eindeutige Tendenzen feststel-len: So druckte das Wochenblatt am 16. Juni 1866 das Wahlprogramm der Nationalliberalen Partei.148 Es war das einzige Wahlprogramm, das im Wo-chenblatt abgedruckt wurde. Auch ein Blick auf die Informationsquellen Do-

147 Vgl. KAUFMANN II, S. 186f. 148 Wochenblatt für den Kreis Malmedy, 16.06.1866.

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epgens legt die Vermutung nahe, dass er dem rechten Flügel der Liberalen zuneigte. Doepgen bezog, wie die anderen Zeitungsverleger der Region, seine überregionalen Nachrichten aus den reichsdeutschen Zeitungen.149 Im Wo-chenblatt waren 29 Artikel als aus anderen Zeitungen abgedruckt kenntlich gemacht. Von diesen Artikeln stammten fast zwei Drittel aus nationalliberalen oder offiziösen Publikationen, die meisten aus der nationalliberalen „Kölni-schen Zeitung“.150 Auch die soziale Position Doepgens macht es wahrscheinlich, dass er einem Flügel der Liberalen nahe stand. Als Unternehmer gehörte er zur lokalen Eli-te,151 den Honoratioren St. Viths, oder strebte diese Zugehörigkeit zumindest an. Dabei handelte es sich um genau die Bevölkerungsschicht, aus denen sich die Liberalen, auch in ländlichen Gebieten wie dem St. Vither Land, rekrutier-ten und deren Interessen sie primär vertraten. Man kann also auf Grund dieser Indizien Doepgen eine liberale und regie-rungsfreundliche Einstellung attestieren. Dies ist nicht allzu verwunderlich, schließlich waren einerseits die Liberalen bis zum Beginn des Kulturkampfs die stärkste politische Kraft im Kreis Malmedy,152 außerdem schlossen sich in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die Liberalen mit den Gouvernementalen im Wahlkreis Malmedy-Montjoie-Schleiden zu einem Bündnis gegen die Kleri-kalen zusammen.153 Darauf, dass Doepgen mit der Politik der Regierung sym-pathisiert haben muss, weist zusätzlich die Tatsache hin, dass es dem Wo-chenblatt erlaubt war, amtliche Bekanntmachungen abzudrucken. Nach der Reorganisation der Provinzpresse in Preußen zu Beginn der 1860er Jahre war, wie bereits ausgeführt, die Veröffentlichung von amtlichen Be-kanntmachungen regierungsfreundlichen Zeitungen vorbehalten. Auch in den Artikeln ist eine entsprechende Tendenz festzustellen. Vor allem nach Beginn des Konflikts zwischen Preußen und Österreich kommt die regierungsfreund-liche, pro-preußische Einstellung des Wochenblattes klar zum Vorschein. So wird beispielsweise in dem bereits erwähnten Vergleich zwischen der öster-reichischen und der preußischen Armee vor allem die Überlegenheit der Preu-ßen herausgestellt: 149 Vgl. CHRISTMANN, S. 38. 150 Die „Kölnische Zeitung“ war ursprünglich ein liberal-konstitutionelles Blatt, das bereits vor 1848 zu den erfolgreichsten deutschen Zeitungen gehörte und sich den Nationalliberalen an-schloss. Vgl. WILKE, Mediengeschichte, S. 228 und S. 262. 151 Vgl. SPERBER J., Roman Catholic religious identity in Rhineland-Westphalia, 1800-70: quantitative examples and some political implications, in: Social History, 1982, 7, S. 305-318. Sperber hat in diesem Aufsatz die Volksfrömmigkeit und die politische und religiöse Orientie-rung der einzelnen Bevölkerungsschichten im nahen Kreis Schleiden, der in seiner Sozialstruk-tur der St.Vither Gegend nicht unähnlich ist, untersucht. Er definiert als den lokalen Eliten zugehörig Beamte, Lokalpolitiker, Großgrundbesitzer, Industrielle und Händler. Diese Ein-teilung kann sicherlich für die St. Vither Gegend übernommen werden. Aus diesem Grund wird Doepgen hier der lokalen Elite zugerechnet. 152 Vgl. DOEPGEN, S. 41. 153 Vgl. LEPPER, S. 171f.

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„Die Organisation der preußischen Armee hat ein Heer geschaf-fen im welchem alle Klassen der Gesellschaft vertreten sind, so daß die Intelligenz eine hervorstechende Eigenschaft desselben ist, in Oesterreich gilt zwar auch die allgemeine Wehrpflicht, doch finden gesetzlich fixirte Exemptionen statt [...]. Hierdurch bleibt allein die niedere Gesellschaftsklasse als Heeresmasse zu-rück undurchdrungen von Individuen eines höheren Bil-dungsgrades, welcher allein im Stande wäre, die Selbsthätigkeit der Masse anzuregen. Rechnet man noch hinzu, daß die Volks-bildung in Oesterreich auf einer sehr niedrigen, jedenfalls nied-rigeren Stufen steht, als in Preußen, so kann es nicht wunderbar erscheinen, wenn die [...] militärische Tugend der Findigkeit in der preußischen Armee weit stärker vorhanden ist, als in der ös-terreichischen.“154

In einer Meldung über eine Schlägerei zwischen Sachsen und Berlinern in einem Zug nach Leipzig werden die mit Österreich verbündeten Sachsen, in Anspielung auf den sächsischen Minister und späteren österreichischen Kanz-ler Beust, als „kleinmächtige Beustler“ bezeichnet.155 Die im Wochenblatt vertretene politische Haltung war eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Ernennung der Zeitung zum amtlichen Kreisblatt. Im ersten Halbjahr, nachdem aus dem Wochenblatt das Kreisblatt geworden war, verschob sich die Gewichtung im Kreisblatt eindeutig zugunsten der Po-litik. 85 von 205 Artikeln und Meldungen fielen in den Bereich Politisches. Die Hauptursache für diese Veränderung waren der Deutsch-Österreichische Krieg und seine Folgen, die die Berichterstattung bis weit in den Oktober hin-ein dominierten. Die Nachrichten über den Krieg und seine unmittelbaren Folgen machten insgesamt über 40% des redaktionellen Teils aus und fast 65 % des politischen Bereichs. Die verstärkte Beschäftigung mit politischen Themen ging einher mit stark verbesserten Informationsmöglichkeiten. Als Redakteur des Kreisblatts wurde Doepgen mit den offiziösen Korrespondenzen der Regierung versorgt. Doep-gen machte von dieser Möglichkeit regen Gebrauch. Von den Artikeln aus dem Bereich Politik, bei denen die Informationsquelle angegeben ist, stam-men 83% aus offiziösen Quellen, die meisten davon aus der „Provinzial-Correpondenz“ des Innenministeriums. Die Möglichkeit, auf die offiziösen Quellen zugreifen zu können, beschleunigte den Informationsfluss und er-möglichte es Doepgen, umfangreicher über politische Ereignisse zu berichten, brachte aber als logische Konsequenz das Kreisblatt nahezu vollends auf Re-gierungskurs. Zwar klang vereinzelt auch noch die liberale Einstellung des Herausgebers im Blatt an, etwa am Schluss eines am 21. Juli abgedruckten Artikel aus dem „Grenzboten“, in dem zaghaft die Hoffnung auf innenpoliti- 154 Wochenblatt für den Kreis Malmedy, 19.05.1866. 155 Ebd., 30.06.1866.

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sche Veränderungen in Preußen in Richtung eines egalitären Staates geäußert wurde.156 Ansonsten war die Berichterstattung, wie von einem offiziösen Presseorgan nicht anders zu erwarten, klar auf Regierungslinie. Die Annexion der norddeutschen Kriegsgegner Preußens und Hessen-Nassaus wurde ge-rechtfertigt, da diese Staaten auf Grund ihrer Lage zwischen den bisher ge-trennten Teilen Preußens „bei einer feindlichen oder unsicheren Stellung den Aufgaben unserer Politik die erheblichsten Hindernisse bereiten und einen Heerd gefährlicher Wühlereien gegen Preußen bilden könnten.“157 Der Krieg wurde gerechtfertigt, da er nicht zur Eroberung neuer Provinzen, sondern zwecks eines höheren Ziels, der „Lösung der deutschen Frage in nati-onalem Geist und Sinn“ geführt worden sei.158 Der preußische Sieg wurde als Erfolg für die nationale Sache gefeiert, da er „das Hinderniß, welches alle deutsche Entwickelung gelähmt“ habe, „Österreichs Machtstellung in Deutschland und sein Widerstreben gegen Preußens Einfluß“ beseitigt hat-te.159 Außerdem schlug sich Doepgen in der Frage des Indemnitätsgesetzes und der Betrachtung des Verfassungskonflikts ganz auf die Seite der Regie-rung. Am 15. September 1866 schrieb das Kreisblatt:

„Die düsteren Bilder von der „traurigen Lage des Landes“, die Anklagen gegen die Regierung wegen Verfassungs-Verletzung[...] zerfallen in Nichts vor der einfachen Thatsache, daß es nur eines einzigen patriotischen Beschlusses von Seiten des Abgeordneten Hauses bedurfte, um die Finanzwirthschaft des Staates und die Thätigkeit der Landesvertretung wieder in die regelgerechte Bahn zu bringen. Nach vierjährigen harten Kämpfen [...] steht die Regierung mit dem guten Bewußtsein da, daß sie Gesetz und Verfassung erhalten[...] hat. Das Indemni-tätsgesetz bildet die natürlichste Grundlage für das gute Einver-nehmen zwischen Regierung und Abgeordnetenhaus, weil die Meinungsverschiedenheiten bei Feststellung des Staats-haushaltes zur Quelle jener Zerwürfnisse wurden, durch welche jede fruchtbare Thätigkeit der Landesvertretung ins Stocken kam.“160

156 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 21.07.1866: „[...] Die Vorurtheile des Standes und ein-zelner Berufsklassen schwinden, wärmer drückt ein Nachbar dem anderen die Hand, mitten unter den schrecklichen Leidensszenen erweitern die milden Empfindungen des Mitleids und der Menschliebe das Herz. Wer so Großes durchgelebt, erhält einen an deren Maßstab für Beurtheilung der Erdendinge, und der Patriotismus [...] macht das politische Urtheil freier und größer. Dieser Krieg wird auch im Inneren Preußens der Beginn eines neuen politischen Lebens werden. Die aus dem Felde zurückkehren, und die in der Heimath die gewaltigen Tage dur-chleben, sie alle lassen auf den blutgetränkten Schlachtfeldern viel von ihren Vorurtheilen zurück.“ 157 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 25.08.1866. 158 Ebd., 08.09.1866. 159 Ebd., 08.09.1866. 160 Ebd., 15.09.1866.

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Trotz dieser regierungstreuen Berichterstattung gab es in der Leserschaft of-fenbar Zweifel an Doepgens pro-preußischer Einstellung und den Verdacht, er würde versuchen, an den im Blatt veröffentlichten Aufrufen zur Versorgung der Verwundeten zu verdienen. Am 25. August erschien im Anzeigenteil des Kreisblatte“ eine mit „S“ unterzeichnete Anfrage an die Redaktion, ob es in Deutschland ein zweites Blatt gäbe, dass „sich für einen Aufruf zum Besten unserer verwundeten und erkrankten Krieger Insertions-Gebühren bezahlen lässt?“161 Es lässt sich leider nicht rekonstruieren, wer sich hinter dem Kürzel „S“ verbirgt und ob es mit den Vorwürfen etwas auf sich hatte. Das Kreisblatt wies den Vorwurf auf jeden Fall in der folgenden Ausgabe entschieden zu-rück162 und die Angelegenheit kam zumindest im Blatt selbst nicht mehr zur Sprache. Im folgenden Jahr verfestigte sich die gouvernementale Haltung des Kreis-blattes. Das Jahr 1867 war im Kreis Malmedy ein „Superwahljahr“. Es wur-den nicht nur der konstituierende Reichstag und der Reichstag des Norddeut-schen Bundes, sondern auch das Abgeordnetenhaus neu gewählt, hinzu kamen im Kreis Malmedy noch Nachwahlen, da die gewählten Kandidaten zurück-traten oder das Mandat eines anderen Wahlkreises, in dem sie ebenfalls kan-didiert hatten, annahmen. Aufgabe des Kreisblattes war es, als offiziöses Pres-seorgan im Kreis in den Wahlkämpfen Stellung zu Gunsten der regierungs-freundlichen Parteien zu nehmen und für die Kandidaten der Regierung einzu-treten. Die Berichterstattung über die Wahlen machte knapp ein Drittel des politischen Teils des Kreisblattes aus. Nahezu sämtliche Berichte über die Wahlkämpfe des Jahres 1867 stammten aus der „Provinzial-Correspondenz“ des Innenministeriums. Das Kreisblatt brachte daher zum Ausdruck, was die preußische Regierung von den Wählern erwartete: nämlich „solche Männer in den Reichstag zu wählen, von denen ein Zusammenwirken mit dem König und seinen Räthen zu erwarten ist.“163 In demselben Artikel wurden die Wähler ermahnt, „daß sie nicht vielleicht wider ihren Willen Leute wählen, die der Regierung des Königs auf dem Reichstage neue Schwierigkeiten bereiten.“164 Außerdem wurde auch stark an die royalis-tischen Gefühle der Bevölkerung appelliert, da die Regierung erwartete, dass „das Volk seine Liebe und sein Vertrauen zu Sr. Maj. bei den Wahlen von neuem kräftig betätigen wird.“165 Das Kreisblatt wurde nicht müde, den Wählern mittels der „Provinzial-Correspondenz“ zu erklären, wie sie sich wahltaktisch zu verhalten hatten, um für das „richtige“ Wahlergebnis zu sorgen und der Opposition keine Chance zu lassen. Es rief dazu auf, bei den Wahlen fest zusammenzuhalten und alle

161 Ebd., 25.08.1866. 162 Ebd., 01.09.1866. 163 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 23.01.1867. 164 Ebd., 23.01.1867. 165 Ebd., 23.01.1867.

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Stimmen auf einen (regierungsfreundlichen) Kandidaten zu vereinen. Es rechnete vor, wie durch Stimmenverteilung auf mehrere gouvernementale Kandidaten die Opposition bevorzugt würde, und riet daher allen Wählern, „die den König unterstützen wollen“, sich „an Männer des Vertrauens“ zu wenden, um zu erfahren, „wer der Wahlkandidat für die königliche Sache ist.“166 Wahlagitation mit regionalem Bezug fand dagegen meist im Anzeigenteil des Kreisblattes statt. Hier riefen am 6. Februar „mehrere Wahlmänner“ zur Wahl des Regierungskandidaten Eduard Simson auf, der wegen seiner „patrioti-schen Gesinnung, Verfassungstreue, parlamentarischen Erfahrung und Bered-samkeit“ zur Wahl „ernstlich zu empfehlen“ sei,167 und in der darauf folgen-den Ausgabe erklärte die Gemeinde Bütgenbach, bereits drei Tage vor der Wahl zum konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes ihre Ent-scheidung für Simson.168 Lokale Animositäten kamen in diesen Anzeigen ebenfalls zum Vorschein. So hieß es in einem Aufruf zur Wahl Simsons:

„Nachdem der erste Norddeutsche Reichstag gesprochen hat und Dr. Sim-son zu seinem Präsidenten und mithin zu dem ersten Manne Deutschlands gemacht hat, sollte man kaum glauben daß die selbe Partei, welche damals seine Wahl vereitelt hat, auch jetzt noch gegen denselben aufzutreten wagt durch Aufstellung des Dr. jur. Bock. Zu solchem Experimente mögen sich die weltberühmten Monjauer noch gebrauchen lassen. Der Kreis Malmedy aber wird wie ein Mann Dr. Simson hoch halten weil ihm an der gemeinsa-men deutschen Sache gelegen ist, welche erhaben steht über alle Parteizwe-cke.“169

Zum Teil steckte auch der Landrat hinter derartigen Inseraten. Am 21. August 1867 antwortete ein „dankbarer und sich der ungeheueren, besonders für In-dustrie, Handel und Gewerbe überaus großen Wichtigkeit des bevorstehenden Reichstages bewusster Wähler“170 im Kreisblatt auf die Behauptung der Köl-ner Blätter, die erneute Kandidatur Simsons im Wahlkreis Malmedy-Montjoie-Schleiden sei aussichtslos, und hob die „geschichtliche Bedeutung“ der Person Simson hervor. Außerdem wies derselbe „Wähler“ darauf hin, dass es eine „Ehrensache und eine Pflicht der Dankbarkeit“ sei, „einem solchen Manne einen neuen Beweis des Vertrauens zu gewähren.“171 Dank der Re-cherchen Leppers ist bekannt, dass sich hinter diesem „Wähler“ der Landrat

166 Ebd., 30.01.1867. 167 Ebd., 06.02.1867. 168 Ebd., 09.02.1867. Die Anzeige lautet wörtlich „Bütgenbach wählt Professor Dr. Simson aus Königsberg zum Norddeutschen Parlament.“ Es ist nicht zu ermitteln, wer diese Anzeige auf-gegeben hat, auf alle Fälle war sie nicht zu voreilig, denn Simson erhielt in Bütgenbach tatsächlich 174 von 201 abgegebenen Stimmen. Vgl. LEPPER, S. 178. 169 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 24.08.1867. 170 Ebd., 21.08.1867. 171 Ebd., 21.08.1867.

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von Broich verbarg.172 Eine Episode, die zeigt, wie sehr die Behörden sich bemühten, das Kreisblatt als Sprachrohr zu benutzen, ohne sich dabei selbst zu exponieren. Im redaktionellen Teil sind dagegen nur äußerst selten Stellungnahmen zu den Wahlen zu finden, die nicht einer offiziösen Korrespondenz oder einer über-regionalen Zeitung entstammen. Eine Ausnahme von dieser Regel stellt die Interpretation des Wahlergebnises der Februarwahlen 1867 dar, als das Kreis-blatt die Mehrheit für Simson im Kreis Malmedy als Zeichen dafür wertete, dass „die Bevölkerung dieses Kreises an ihrem bewährten Abgeordneten fest-gehalten und sich nicht durch die Wahlmanöver und Beeinflussungen einer auf einmal aufgetretenen Partei hat verleiten lassen.“173 Neben dieser Spitze gegen die Klerikalen nahm das Kreisblatt nur noch ein-mal anlässlich der Wahlen im Jahre 1867 selbst Stellung, als es darum ging, einem Artikel aus dem katholische „Echo der Gegenwart“ entgegenzutreten. In diesem Artikel wurden die Wähler aufgerufen, bei den notwendig gewor-denen Nachwahlen, Simson hatte das Mandat abgelehnt,174 für den erneut kan-didierenden Kandidaten der Klerikalen Bock zu stimmen und nicht lokale über höhere Interessen, wie die freiheitliche Entwicklung der Bundesverfas-sung oder Verminderung von Militär- und Steuerlasten, zu stellen.175 Doepgen hielt dem entgegen, dass der gouvernementale Kandidat Engel als „Mann von liberalen Gesinnungen und großen Geistesgaben“ bekannt sei und hielt es „unter unserer Würde ein Wort darüber zu verlieren als suche man Dr. Engel wegen untergeordneten Eisenbahnprojekten in den Reichstag zu bringen.“176

Außerdem warf er dem „Echo der Gegenwart“ vor, „selbst untergeordnete Parteizwecke“ zu verfolgen, die „man hinter liberalen Redensarten zu bemän-teln sucht“, und behauptete, dass Bock „in den drei Kreisen eine unbekannte und vollständig ignorirte Persönlichkeit“ sei.177

Die wenigen selbst recherchierten Artikel ließen ein großes Manko des Kreis-blattes deutlich zu Tage treten: das Problem, dass es sich beim Kreisblatt um einen auf schwacher wirtschaftlicher Grundlage stehenden Einmannbetrieb handelte. Doepgen war nicht in der Lage, selbstständig Artikel zu produzie-ren, sondern druckte das, was in den ihm zugänglichen Korrespondenzen stand, oder ihm genehmes eingesandtes Material. Trotzdem lässt sich alles in allem feststellen, dass sich das Wochenblatt mit der Annahme des Kreisblatttitels bereitwillig zum Sprachrohr der Regierung

172 Vgl. LEPPER, S. 201. 173 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 23.02.1867. 174 Simson hatte sich entschlossen, das Mandat in seinem Heimatwahlkreis Frankfurt/Oder anzunehmen. Vgl. LEPPER, S. 223. 175 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 25.09.1867. 176 Ebd., 25.09.1867. 177 Ebd., 25.09.1867.

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machen ließ, ein Kurs, der, wie oben dargestellt, auch der politischen Einstel-lung seines Herausgebers entsprochen haben dürfte. Es bleibt natürlich die Frage, ob die politische Berichterstattung des Kreisblat-tes Einfluss auf die Wahlentscheidungen im Kreis Malmedy hatte. Dazu sind folgende Punkte anzumerken: Zunächst einmal war es keineswegs so, dass die politischen Berichte im Kreisblatt immer im Vordergrund standen. Beispiels-weise stellte kurz vor den Wahlen zum konstituierenden Reichstag des Nord-deutschen Bundes im Februar der Ausbruch der Rinderpest in den Nieder-landen und in der Rheinprovinz178 die Wahlberichterstattung in den Schatten. Auch im weiteren Verlauf des Jahres spielten immer wieder Themen wie die Aufforstung der Eifelkreise des Regierungsbezirks Trier179 oder die General-versammlung der Local-Abtheilung Malmedy-St. Vith des landwirthschaftli-chen Vereins für Rheinpreußen,180 eine größere Rolle als die Berichte über die Wahlen. Hier zeigt sich wieder der Einfluss der lokalen Lebenswelt auf die Gestaltung der Zeitung. Der Ausbruch der Rinderpest etwa war für die meis-ten Bewohner des St. Vither Landes von größerer unmittelbarer Bedeutung als die Reichstagswahlen, dementsprechend setzte auch das Kreisblatt seine Prio-ritäten. Trotzdem kann man die Wahlagitation im Kreisblatt nicht einfach als unbe-deutend bezeichnen. Die Berichte aus der „Provinzial-Correspondenz“ und vor allem die Wahlaufrufe im Anzeigenteil blieben nicht ganz ohne Wirkung. Lepper spricht angesichts der Anzeigen zugunsten Simsons von einer Presse-kampagne für den Regierungskandidaten vor den Nachwahlen im August 1867.181 Und der Kreis Malmedy wählte gouvernemental, bei den Nachwahlen beispielsweise erhielt Simson 85,9% der Stimmen.182 Das Kreisblatt dürfte an den guten Ergebnissen für das Regierungslager insofern einen Anteil gehabt haben, als es eindeutig die Position der Regierung vertrat und zudem die ein-zige Zeitung gewesen sein dürfte, die von der Landbevölkerung des Kreises Malmedy gelesen wurde. Sicherlich war seine Auflage mit 150 Abonnenten gering, dafür dürfte es im deutschsprachigen Teil des Kreises eine Monopol-stellung innegehabt haben. Die französischsprachige „Semaine“ richtete sich an die in Malmedy und Umgebung lebenden Wallonen und die Zahl der Kreisbewohner, die eine auswärtige Zeitung bezogen, war mit Sicherheit überschaubar. Allerdings muss man hier relativierend anmerken, dass die Erfolge der Gou-vernementalen im Kreis Malmedy bei den Wahlen 1867 nicht zuletzt dem Fakt geschuldet waren, dass sich die Geistlichkeit des Kreises einer Wahlagi-

178 Ebd., 02.02.1867. 179 Ebd., 02.03.1867. 180 Ebd., 06.03.1867. 181 Vgl. LEPPER, S. 201. 182 Vgl. ebd., S. 204.

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tation enthielt und die Wahlbeteiligung sehr gering war.183 Gegen ein ent-schiedenes Eingreifen der Geistlichkeit in Wahlkampf hätten die regie-rungstreuen Kräfte wohl kaum eine Chance gehabt.

C. DAS VERHALTEN DES KREISBLATTES WÄHREND DES KULTURKAMPFS In der älteren Literatur über die Presse des Kreises Malmedy ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass das Kreisblatt während des Kulturkampfs nicht in der Lage gewesen sei, die Regierungspolitik zu unterstützen184 bzw. sich einer besonders betonten Stellungnahme enthalten habe.185 Erst Roether hat in ihrer Arbeit herausgearbeitet, dass das Kreisblatt während des Kultur-kampfs sehr wohl Stellung bezog, und zwar eindeutig zugunsten der Regie-rung.186 Dies ist nicht sonderlich überraschend, denn man kann es nur immer wieder betonen: Das Kreisblatt hatte die Aufgabe, die Politik der preußischen Staatsregierung zu vertreten. Doepgen hatte kaum eine andere Möglichkeit, als den Wünschen der Behörden, konkret des Landrats, nachzukommen, der, wie im nächsten Kapitel noch ausgeführt wird, massiv Einfluss auf den Inhalt des Kreisblattes nahm. Der Landrat verfügte über genügend Druckmittel ge-genüber dem Kreisblatt, die vom Anzeigenentzug über die Einstellung der finanziellen Unterstützung bis hin zum Entzug des Kreisblatttitels reichten.187 Jede dieser Möglichkeiten hätte Doepgen in größte finanzielle Schwierigkei-ten gestürzt und wäre vermutlich das Ende des Kreisblattes gewesen. Trotz dieser recht klaren Ausgangslage ist es notwendig, sich mit zwei Aspek-ten der Berichterstattung des Kreisblattes über den Kulturkampf noch einmal näher zu befassen. Stommen schreibt, das Kreisblatt habe im Kulturkampf seine katholische Herkunft nicht verleugnet. Dies wirft natürlich die Frage auf, ob sich im Kreisblatt nicht vielleicht doch der Regierungspolitik wider-sprechende Tendenzen feststellen lassen und ob für Doepgen ein Loyalitäts-konflikt zwischen seiner politischen und seiner religiösen Überzeugung be-stand. Außerdem muss auch dem von Kaufmann geäußerten Vorwurf nachge-gangen werden, der Landrat habe während der Zeit des kirchenpolitischen Konflikts auf Unterstützung durch das Kreisblatt verzichten müssen. Zum ersten Punkt ist festzuhalten, dass die Aussage, das Kreisblatt habe seine katholische Herkunft nicht verleugnet, durchaus zutreffend ist. So kündigte zum Beispiel der Vikar Cremer am 26. Juni 1872 in einer Anzeige an, dass eine Prozession nach Heimbach am 7. Juli wie geplant stattfinden würde,188 am 21. September veröffentlichte das Kreisblatt einen Spendenaufruf zur Er- 183 Vgl. LEPPER, S. 202. 184 Vgl. KAUFMANN II, S. 186. 185 Vgl. STOMMEN, S. 20. 186 Vgl. ROETHER, S. 37ff. Siehe Teil 3 dieser Arbeit. 187 Vgl. STÖBER G., Pressepolitik, S. 47. 188 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 26.06.1872.

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haltung der Liebfrauenkirche in Trier.189 Am meisten hervor stach aber ein eingesandter Artikel über den Besuch des Weihbischofs Baudri aus Köln in St. Vith, in dem es heißt:

„[...] Der Herr Weihbischof sprach der vor dem Pfarrhause ver-sammelten Menge seinen innigsten Dank aus [...], und bemerkte dabei, daß es ihm [...] zur größten Freude gereiche, gegenüber den feindseligen Bestrebungen gegen die kath. Kirche solche Äußerungen echt kath. Gesinnung wahrzunehmen, ermahnte zum treuen Festhalten an den Grundsätzen der Kirche und ert-heilte der ganzen Versammlung den bischöflichen Segen. Es wurde hierauf in recht angebrachter Weise das Lied „Wir sind im wahren Christenthum“ [...] gesungen. Der hochw. Herr Bi-schof wiederholte seinen [...] Dank nochmals, forderte die An-wesenden auf mit ihm einzustimmen in ein dreimaliges „Lebe-hoch“ auf das hartbedrängte Oberhaupt der kath. Kirche, Papst Pius IX., und gab dadurch der Feierlichkeit einen würdigen Schluß. [...]“190

Es ist etwas überraschend, dass im Kreisblatt ein derartiger Artikel zu finden ist, der sehr wohlwollend über kirchliche Angelegenheiten berichtet. Man mag einwenden, dass es sich um einen eingesandten Artikel handelt. Nur ent-sprachen derartige Einsendungen weniger den Leserbriefen in heutigen Zei-tungen als dem, was an Artikeln durch freie Mitarbeiter produziert wird, au-ßerdem hätte Doepgen auf den Abdruck des Artikels auch verzichten können. Es würde allerdings zu weit gehen, dem Herausgeber des Kreisblattes auf die-ser Basis Sympathien für das Zentrum zu unterstellen. Wie im vorangegangen Kapitel dargestellt, sympathisierte Dopegen mit den Nationalliberalen, den Hauptträgern des Kulturkampfs, und hatte bereits 1867, als die Linien des kir-chenpolitischen Konflikts schon erkennbar waren, eine antiklerikale Politik mitgetragen. Daran hatte sich auch nach der Reichsgründung und dem Aus-bruch des Kulturkampfs nichts geändert. Wenn im Kreisblatt Artikel abge-druckt wurden, die politische Stellungnahmen enthielten, war die vertretene Meinung eindeutig und einseitig auf Seiten der Regierung. So wurden zum Beispiel die Jesuiten als „Reichsfeinde“ porträtiert und es wurde dargelegt, dass es der Sinn und Zweck des Jesuitengesetzes sei, „die Störung des Reichs-friedens durch die einzelnen Mitglieder des Jesuitenordens unmöglich zu ma-chen.“191 Außerdem wurde auch gegen weitere vermeintliche „Reichsfeinde“ wie Elsaß-Lothringer192 oder Sozialisten193 polemisiert. Das Hauptangriffsziel 189 Ebd., 21.09.1872. 190 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 06.07.1872. 191 Ebd., 04.09.1872. 192 Am 11. Februar 1874 erschien im Kreisblatt ein Artikel „Die Wahlen in Elsaß-Lothringen“, die „durchweg in entschieden reichsfeindlicher Richtung ausgefallen“ waren. Dies wurde mit der „festen Verbindung der Ultramontanen mit der politisch französischen Partei“ begründet. Die Idee der „schwarzen Internationalen“ wurde in dem Artikel mehr als nur angedeutet,

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blieben jedoch die „Ultramontanen“. Besonders das Attentat eines Katholiken auf Bismarck am 13. Juli 1874 in Bad Kissingen bot Anlass zu scharfen Atta-cken gegen den politischen Katholizismus. Das Kreisblatt berichtete detailliert über das Attentat und druckte in der Folgezeit Artikel, in denen ein hartes Vorgehen gegen katholische Vereine und Zeitungen gefordert und die reichs-feindliche Gesinnung der Ultramontanen hervorgehoben wurde.194

Wie passt nun die durchaus wohlwollende Berichterstattung über kirchliche Belange im regionalen Zusammenhang mit der Polemik gegen den politischen Katholizismus zusammen? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig sich die Situation Doepgens noch einmal vor Augen zu halten. Doepgen war, was sein politisches Verhalten während der Kulturkampfzeit anbelangt, einem Loyalitätskonflikt ausgesetzt, standen doch seine politische Überzeugung als Nationalliberaler und seine religiöse Überzeugung als Katholik hier in direk-ter Konkurrenz zueinander. Sowohl der liberale Nationalismus als Kultur-kampfträger als auch der Katholizismus schufen konkurrierende, aber de-ckungsgleiche Identifikationsobjekte. Die Einheit der Kirche konkurrierte mit der Einheit der Nation, der Papst mit dem Kaiser; beide Ideologien, die libera-le wie auch die katholische, traten als in sich geschlossene Deutungssysteme auf. Dies führte dazu, dass sich die Katholiken während des Kulturkampfs gleich strukturierten, aber gegensätzlich angeordneten Loyalitätsanforderun-

schließlich hätten die Ultramontanen nachweislich „in Deutschland und zugleich in Frankreich und von Rom aus alles daran gesetzt, um die eifrigen französisch gesinnten von der Politik der Wahlenthaltung abzuwenden und zu positiv feindlichen Wahlen zu bestimmen. Bei dem Ein-fluß, welchen die ultramontane Partei in Frankreich zur Zeit besitzt, und bei der engen Verbin-dung ihrer augenblicklichen Interessen mit dem nationalen Fanatismus gegen Deutschland konnte es nicht fehlen, daß das neue Losungswort ohne Weiteres zur Geltung gelangte. Von diesem Augenblick an setzte die katholische Geistlichkeit in den Reichslanden ihren gesamm-ten Einfluß in Stadt und Land daran, um die Volksmassen für den Wahlfeldzug gegen das Deutsche Reich zu erregen [...]“. Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 11.02.1874. 193 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 07.10.1874. 194 Über das Attentat auf Bismarck wurde erstmals am 18. Juli 1874 auf eineinhalb Seiten de-tailliert berichtet. Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 18.07.1874. Eine Woche später wurde in dem Artikel „Das öffentliche Urtheil über den Mordanfall auf den Reichskanzler“ der „verder-bliche Einfluß des ultramontanen Treibens, durch welchen die rohen Massen der katholischen Bevölkerung zur Auflehnung gegen die Staatsobrigkeit und wilde Naturen zu frevelhafter Ge-waltsamkeit verleitet werden“, angeprangert. Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 25.07.1874. In der nächsten Ausgabe hieß es angesichts des Kissinger Attentats, dass „alle aufrichtigen Vater-landsfreunde“ nur wünschen könnten, „daß es der Staatsobrigkeit gelingen möge durch strenge Handhabung der Gesetze dem verwerflichen Treiben der ultramontanen Blätter und Vereine heilsame Schranken zu setzen.“, Kreisblatt für den Kreisblatt, 29.07.1874. Und am 5. August wurde der ultramontanen Presse vorgeworfen eine Haltung einzunehmen, die „unmittelbar von den Eingebungen der geistlichen Oberen bestimmt wird,“ und die „bei Gelegenheit des Kissin-ger Mordanfalls einen Geist offenbart hat, welcher nicht bloß die Pflichten der Vaterlandsliebe, sondern eben so sehr die Anforderungen sittlichen und religiösen Ernstes verleugnet.“ Kreis-blatt für den Kreis Malmedy, 05.08.1874.

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gen ausgesetzt sahen.195 Bei Doepgen als Verleger einer offiziösen Zeitung kam, wie bereits ausgeführt, noch eine gewisse wirtschaftliche Abhängigkeit hinzu. Darüber, wie Doepgen dieses Dilemma löste, verspricht ein Artikel des Kreis-blatts vom 21. Januar 1874 Aufschluss. In diesem Artikel verteidigte sich ein Pfarrer aus dem Kreis Adenau, der den ehemaligen Kanonikus Dr. Künzer gewählt hatte, gegen einen Angriff der „Kölnischen Volkszeitung“, kritisierte das Zentrum und machte die Gründung der Zentrumsfraktion für die Maige-setze und den Schaden an der Kirche verantwortlich, außerdem rief er dazu auf, einen Mann zu wählen, der „kirchlich und patriotisch zugleich gesinnt ist.“196 Adenau bildete mit Cochem und Zell einen Wahlkreis und Joseph Doepgen stammte aus Zell, es ist deshalb gut möglich, dass dieser Artikel nicht aus der „Provinzial-Correspondenz“ kam, sondern der Redaktion des Kreisblatts di-rekt aus dem betreffenden Kreis zuging. Aus diesem Grund liegt es nahe, dass hier durch den betroffenen Pfarrer Pesch auch die politische Einstellung Do-epgens zum Kulturkampf zum Ausdruck gebracht wurde. Dies würde auch erklären, wie Doepgen den Loyalitätskonflikt zwischen politischer und religi-öser Überzeugung für sich löste. Er wollte Kirche und Staat gegenüber loyal sein. Die Gründung des Zentrums war für ihn ein staatsfeindlicher Akt, der für die staatlichen Maßnahmen gegen die katholische Kirche verantwortlich war. Das Zentrum war nach dieser Logik auch der Kirche gegenüber illoyal, da diese nur durch die vermeintliche Staatsfeindlichkeit des Zentrums in Schwierigkeiten geraten war. Diese Position bot die Möglichkeit gegen das Zentrum zu polemisieren, ohne dabei als „guter Katholik“ in Gewissens- oder Loyalitätskonflikte zu geraten. Bleibt also noch die Aussage Kaufmanns, das Kreisblatt habe sich, als es im Kulturkampf darum ging, die Politik der Regierung zu vertreten, als unzu-länglich erwiesen. Nun hatte die amtliche Zeitung aber, wie wir gesehen ha-ben, die Regierungspolitik offensiv unterstützt. Auch sah sich Doepgen hefti-ger Kritik wegen seiner Berichterstattung über den Kulturkampf ausgesetzt. Am 2. November 1872 druckte er im Kreisblatt einen Artikel aus der in Bonn erscheinenden „Deutschen Reichs-Zeitung“ nach, in dem der Nationallibera-len Partei von Malmedy aus vorgeworfen wurde, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um „unserer guten Wallonie den Fond katholischer Religion, den sie, 195 Vgl. MERGEL Th., Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rhein-land 1794-1914, Göttingen, 1994, S. 254f. 196 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 21.01.1874. „Die Bildung der Centrumsfraktion war ein gewaltiger politischer Fehler – zu großem Schaden für die Kirche und wer das jetzt noch nicht einsieht [...], der muß völlig blind sein. Wir hätten die Maigesetze nicht, wenn immer nur sol-che Männer gewählt worden wären, die treu zum Staate wie zur Kirche halten. [...] Die Stellen der h[eiligen] Schrift, welche zum Gehorsam gegen den Staat und zur Unterthanentreue [...] ermahnen, sind eben so wichtig, wie die übrigen; sie verpflichten in demselben Maße wie alle anderen. [...].

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Gott sei Dank! noch besitzt, so schnell und sicher als möglich zu rauben“, und dem Kreisblatt unterstellt wurde, dass es “in Folge seiner offenen Feindselig-keit gegen die Kirche selbst die Bauern nicht mehr lesen wollen, obgleich sie es ohne alle Mühe haben können.“197

Das Problem lag eher in der Aktualität und dem Umfang der Berichterstattung begründet. Über das 1872 erlassene Jesuitengesetz wurde etwa erst vier Mo-nate nach seiner Verabschiedung umfassend im Kreisblatt berichtet. Auf dem Höhepunkt der Kulturkampfgesetzgebung 1873 zog es das Kreisblatt vor, eine Artikelserie über die schwierige wirtschaftliche Situation der Landwirtschaft zu bringen.198 Die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen waren in der Be-richterstattung nur latent vorhanden und beispielsweise 1873 kaum einmal explizit thematisiert. Die Maigesetze wurden nur indirekt in einem Parla-mentsbericht erwähnt.199 Wenn die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche zum Ausdruck kam, dann nur in einzelnen Passagen der im Kreisblatt abgedruckten Mitschriften von Reden aus den Parlamenten. Ansonsten kam der Kulturkampf 1873 in 105 Ausgaben nur zweimal eindeutig zur Sprache. Auch die Landtagswahlen 1873 fanden kaum Niederschlag im Kreisblatt. Da-bei wäre es gerade im Umfeld dieser Wahlen angebracht gewesen, die Regie-rungspolitik offensiv zu vertreten: Der Fraktionsvorsitzende des Zentrums und Abgeordnete des Wahlkreises von Savigny besuchte im August auf einer Wahlkampfreise den Kreis Malmedy, die „Semaine“ torpedierte erfolgreich die Aufstellung des St. Vither Gutsbesitzers Stephan Mattonet als Kandidat der „regierungsfreundlichen Partei“200 und beharkte sich massiv mit dem Landrat Freiherr von Broich.201 Im Kreisblatt fanden sich allerdings nur zwei Wahlaufrufe für Mattonet,202

eine Stellungnahme der Lokalabteilung des landwirtschaftlichen Vereins,203

ein aus der „Provinzial-Correspondenz“ stammender Wahlaufruf der Regie-rung „mit vereinten Kräften und in vertrauensvollem Anschluß an die leitende Politik zur Befestigung der deutschen Einheit und zur Kräftigung der gesetzli-chen Staatsgewalt mitzuwirken“,204 die Aufstellung der Kandidaten der libera-len Partei205 und ein weiterer Artikel aus der „Provinzial-Correspondenz“ über das Ergebnis der Wahlen.206 Ganze sechs Artikel zu diesem brisanten Thema, nicht einmal die Wahlergebnisse für den Kreis Malmedy oder den Wahlkreis, wurden abgedruckt.

197 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 02.11.1872. 198 Ebd., 13.08.1873-23.08.1873. 199 Ebd., 24.05.1873. 200 Vgl. LEPPER, S. 377-379. 201 Vgl. KAUFMANN II, S. 14. 202 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 12.04.1872 und 03.05.1873. 203 Ebd., 18.10.1873. 204 Ebd., 02.08.1873. 205 Ebd., 25.10.1873. 206 Ebd., 12.10.1873.

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Angesichts des offensiven Wahlkampfs der Klerikalen und der offensichtli-chen Zurückhaltung des Kreisblattes zu den heiklen Themen Kulturkampfge-setzgebung und Landtagswahlen ist Kaufmanns Feststellung, der Landrat ha-be, als es im Kulturkampf darauf angekommen sei, die Regierungspolitik durch eine deutschsprachige Zeitung zu vertreten, auf Unterstützung durch das Kreisblatt weitgehend verzichten müssen,207 durchaus nachvollziehbar. Man darf aber auch nicht vergessen, dass Doepgen nach 1873 durchaus umfang-reich über den kirchenpolitischen Konflikt berichtete: Schon 1874 fanden sich in 103 Ausgaben 31 Artikel, in denen zum Kulturkampf Stellung bezogen wurde, zusätzlich kam das Thema in den oft abgedruckten Reden aus dem Parlament zur Sprache. Allerdings ist die Möglichkeit, dass dieser Anstieg auf verstärkte Einflussnahme der Behörden zurückzuführen ist, nicht von der Hand zu weisen. Die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen hatten sich im Laufe des Jahres 1873, auch im Kreis Malmedy, erheblich verschärft. Die „Semaine“ hatte den Landrat von Broich als „Ratiborkatholiken“ angegriffen und sich klar auf die Seite des Zentrums gestellt. Auch die Geistlichen des Kreises griffen bereits seit 1871 massiv in die Wahlkämpfe ein,208 während sich das Kreisblatt nicht mit politischen Themen beschäftigte. Es war daher für den Landrat notwendig, ein Gegengewicht zur „Semaine“ zu schaffen. Hierfür bot sich das Kreisblatt nicht nur an, es war seine Aufgabe. Es er-scheint daher sehr wahrscheinlich, dass von Broich auf Doepgen eingewirkt hat, die Politik der Regierung wieder offensiver zu vertreten. Man kommt nicht umhin, noch einige weitere Anmerkungen zu den mögli-chen Gründen der Zurückhaltung des Kreisblattes zu den politischen Kontro-versen des Jahres 1873 zu machen. Die Situation des Kreisblattes und seines Verlegers war seit Beginn des Kulturkampfs nicht gerade rosig. Zwar war das Kreisblatt mit 330 Abonnenten 1873 die auflagenstärkste Zeitung im Kreis Malmedy, finanziell war seine Lage aber dennoch schwierig und die politisch auf Zentrumskurs eingeschwenkte „Semaine“ schickte sich an das Kreisblatt bei den Auflagenzahlen zu überholen. Zusätzlich hatte das Blatt damit zu kämpfen, dass es eine politische Position vertrat, die im Kreis bei weitem nicht mehrheitsfähig war. Eine zu offensive Stellungnahme zugunsten der Regierung anlässlich der Landtagswahl etwa hätte sehr wahrscheinlich zu ei-nem offenen Konflikt mit der Geistlichkeit des Kreises geführt. In ländlichen Regionen war man im Allgemeinen unmittelbarer religiös als in städtischen Regionen, dementsprechend stark war auch die Stellung der Priester; der Kul-turkampf verfestigte und intensivierte den traditionellen Glauben zusätzlich.209 Ein offener Konflikt mit der Geistlichkeit wäre daher mit Sicherheit nicht ge-rade verkaufsfördernd für das Kreisblatt gewesen. Insofern ist es durchaus 207 Vgl. KAUFMANN II, S. 186. 208 Lepper berichtet schon bei den Reichstagswahlen 1871 von einer bis dahin nicht gekannten Einmischung der Geistlichkeit im Kreis Malmedy in den Wahlkampf. Vgl. LEPPER, S. 288. 209 Vgl. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte, Bd. 1, S. 221-222.

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möglich, dass Doepgen das unangenehme Thema Kulturkampf erst einmal vermied, obwohl er durch die Versorgung mit offiziösen Korrespondenzen sicher in der Lage gewesen wäre, umfassender über das Thema zu berichten. Hinzu kam, dass die Leser des Kreisblattes an einer umfangreichen politi-schen Berichterstattung nicht interessiert waren. Wie für die meisten Men-schen auf dem Lande in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren für sie lokale Interessen von ungleich größerer Bedeutung als Ideen oder Prinzi-pien.210 Was diese lokalen Interessen darstellten, wird in einer Leserzuschrift deutlich, die das Kreisblatt nach dem oben erwähnten Angriff durch die Bon-ner Reichszeitung erhielt, in der es hieß:

„Herr Redakteur! Angesichts des in Ihrem geschätzten Blatte mitgetheilten Auszuges aus der Bonner Reichszeitung sehen wir uns veranlaßt Sie höflichst zu ersuchen, solche hämische Ver-dächtigungen nicht zu beachten, da dieselben gar zu sehr das Gepräge jener durch ihren verwendungslosen Thatendrang längst bekannten Persönlichkeit, deren Spur nur Krebse folgen können. Fahren Sie vielmehr fort in der Mittheilung volks- und landwirthschaftlicher Artikel, die uns weit mehr zusagen, als lee-res Stroh dreschen.“211

Der Wunsch der Leser war damit eindeutig artikuliert. Ihnen war es wichtiger, über volks- und landwirtschaftliche Themen, die für sie von unmittelbarem Interesse waren, informiert zu werden, als sich mit entfernten politischen Sachverhalten auseinanderzusetzen. Indem Doepgen kontroverse Themen wie die kirchenpolitischen Konflikte zunächst nachrangig behandelte und sich stattdessen verstärkt auf Berichte über Agrarthemen konzentrierte, kam er nur den Interessen und Bedürfnissen seiner Leser entgegen. Um die Frage, ob der Vorwurf Kaufmanns, das Kreisblatt sei keine Hilfe da-bei gewesen, die Politik der Regierung zu vertreten, zutrifft, sei hier folgendes gesagt: Es ist richtig, dass das Kreisblatt sich 1873 für den Geschmack des Landrats zu sehr bedeckt hielt und auch später meist nur unregelmäßig über kirchenpolitische Themen berichtete. Es ist jedoch ebenso zweifelhaft, ob das Kreisblatt wirklich hätte anders berichten können und ob eine solche Bericht-erstattung etwas bewirkt hätte. Gegen die Stimmen der Pfarrer des Kreises hätte Doepgens Zeitung auf verlorenem Posten gestanden und sich vermut-lich, wie oben ausgeführt, selbst geschadet. Zudem hatte die Leserschaft des Kreisblattes bestenfalls ein geringes Interesse an derartigen Themen. Alles in allem bleibt der Vorwurf zwar grundsätzlich nachvollziehbar, scheint jedoch in gewisser Weise zu hohe Anforderungen an das Kreisblatt zu stellen, die es nicht erfüllen konnte.

210 Vgl. Ebd., S. 220. 211 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 16.11.1872.

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D. DAS KREISBLATT UND DIE NEUORGANISATION DER REGIERUNGSPRESSE VON 1882

Zu Beginn der 1880er Jahre war die Popularität Bismarcks in Deutschland an einem Tiefpunkt angelangt. Die Reichstagswahlen im Oktober 1881 hatten deutlich gezeigt, dass es für die Politik des Reichskanzlers keine Mehrheit mehr gab. Allen Wahlbeeinflussungen zum Trotz hatten Konservative und Nationalliberale mehr als die Hälfte ihrer Sitze verloren und Bismarck sah sich einer negativen Mehrheit im Reichstag gegenüber.212 Bereits in den Jahren zuvor hatte er seine Politik neu ausgerichtet: 1878/79 hatte Bismarck mit den Liberalen gebrochen und liberale Minister durch kon-servative ersetzt. Außerdem wurde noch vor den Reichstagswahlen 1881 In-nenminister Botho von Eulenburg durch Robert von Puttkammer abgelöst.213 Nachdem er die Verhältnisse im Kabinett in seinem Sinne geregelt hatte, un-ternahm der Reichskanzler einen neuen Anlauf, die öffentliche Meinung wie-der zu gewinnen. Im Winter 1881/82 schufen er und der gerade berufene In-nenminister eine geheime „neue Presseorganisation“, die, finanziert aus dem „Welfenfonds“214, dafür sorgen sollte, dass die Regierung ihren Einfluss auf die Provinzpresse erweitern konnte. Das Kernstück dieses Unternehmens war eine neue Korrespondenz, die „Neuesten Mittheilungen“, welche die „Provin-zial-Correspondenz“ ersetzen sollte.215 Bevor nun die Auswirkungen der „neuen Presseorganisation“ auf das Kreis-blatt behandelt werden, ist es notwendig, sich die Struktur dieser Organisation noch einmal genauer anzusehen. Die neue Korrespondenz sollte im Gegensatz zur offen organisierten „Provinzial-Correspondenz“ nach außen das Bild einer kleinen privaten Korrespondenz abgeben, während sich die Geschäfte und Verteilung im Verborgenen abspielten. Um die Geheimhaltung zu gewähr-leisten, wurde eine verschachtelte Organisation geschaffen, die aus einer zent-ralen und einer dezentralen Komponente bestand. Die zentrale Komponente waren die „Neuesten Mittheilungen“ und ihre Oberaufsicht, die als Privatun-ternehmen auftraten, tatsächlich aber dem Innenministerium unterstanden. Der dezentrale Teil bestand aus Vertrauensleuten, deren Aufgabe es war, den fraglichen Zeitungen, sprich den Kreisblättern, die neue Korrespondenz zu vermitteln, die Zeitungen zu kontrollieren und Parteigänger der Regierung

212 Vgl. GALL L., Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt am Main, Wien, Berlin, 1980, S. 606-613. 213 Vgl. PFLANZE O., Bismarck and the Development of Germany. Vol. 3: The Period of For-tification, 1880-1898, Princeton, 1990, S. 32-41. 214 Der „Welfenfonds“ war das 1866 konfiszierte Vermögen des hannoverschen Königshaus, das von Bismarck größten Teils dazu verwendet wurde die Presse in Preußen und im Deutschen Reich zu seinen Gunsten zu beeinflussen. 215 Vgl. STÖBER R., Bismarcks geheime Presseorganisation von 1882, in: Historische Zeit-schrift, 1996, 262, S. 423-423-451, sowie ebd., S. 424-427.

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dazu zu bringen, diese Blätter materiell zu unterstützen.216 Die „Neuesten Mittheilungen“ gingen den Zeitungen nicht direkt zu, sondern wurden in ver-schlossenen Umschlägen der Vertrauensperson zugeschickt und sollten von dieser für die lokalen Verhältnisse umgeschrieben werden.217 Bei der materi-ellen Unterstützung der Zeitungen sollte der wichtigste Ansatzpunkt die Vergabe von Inseraten sein.218 Wie aber wirkte sich die Reorganisation auf das Kreisblatt aus? Die damali-gen Vorgänge lassen sich gut rekonstruieren, da ein großer Teil der betreffen-den Behördenberichte, im Gegensatz zu vielen anderen Akten des Kreises Malmedy, den Zweiten Weltkrieg überdauert hat und im Staatsarchiv Eupen zugänglich ist. Aus diesen Akten lässt sich schließen, dass der seit 1876 am-tierende Landrat, Freiherr Bernhard von der Heydt, der Vertrauensmann der Regierung für das Kreisblatt war, aus dessen Händen Doepgen die Artikel der „Neuesten Mittheilungen“erhielt.219 In der Literatur ist bisher davon ausge-gangen worden, dass Doepgen sich 1882 weigerte, die „Politische Korrespon-denz“220 des Innenministeriums zu drucken, da sie nicht dem Verständnis der Kreisbewohner angepasst war.221 Dies ist etwas erstaunlich, da es, wie oben dargelegt wurde, Aufgabe der Vertrauensperson war, die Korrespondenz ent-sprechend umzuarbeiten. Es findet sich in den vorhandenen Akten auch nichts, kein Hinweis auf eine Verweigerung Doepgens. Im Gegenteil: Von der Heydt berichtete am 5. Juni 1882 dem Aachener Regierungspräsidenten Hoffmann, dass „Doepgen sich hiermit erklärt hat die zu erwartende politi-sche Correspondenz u. sonstige Nachrichten behufs Aufnahme in das Kreis-blatt aus meinen Händen entgegen zu nehmen.“222 Und Doepgen druckte die ihm durch den Landrat zugesandten Artikel auch anstandslos ab.223 Das Ein-zige, was Doepgen Probleme bereitete, war der Umfang der Artikel. 1884 schrieb der Verleger des Kreisblattes an den Landratsamtsverwalter Oswald von Frühbuß, dass er den Wünschen des Ministers gerne nachkomme, die Be-richte müssten aber „in Kürzung – kurzgefaßt – erscheinen, weil anderenfalls

216 Vgl. ebd., S. 427-431. 217 Vgl. STÖBER, Geheime Presseorganisation, S. 432. 218 Vgl. ebd., S. 430. 219 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 05.06.1882, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 220 Es ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um die „Neuesten Mittheilungen“ handelt. In den Schriftstücken des Staatsarchiv Eupen wird der Begriff „Politische Korrespondenz“ als Synonym für die „Neuesten Mittheilungen“ verwandt. Wegen der Geheimhaltung, der ge-schickten Verwischung aller Spuren durch den Diplomaten Julius Eckhardt und der Archivpoli-tik der DDR ist die Reorganisation der Regierungspresse von 1882 erst in den 1990er Jahren entsprechend erkannt und gewürdigt worden. Vgl. STÖBER R., Geheime Presseorganisation, S. 424. 221 Vgl. KAUFMANN II, S. 187. 222 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 05.06.1882, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 223 Von der Heydt an Hoffmann, Fragebogen v. 13.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. „[...] die Artikel der „Neuesten Mittheilungen“ gelangen vorbehaltlos zum Abdruck. [...]“

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das Material nicht zu bewältigen wäre.“224 Auch davon, dass es mit Doepgen über die Umarbeitung der Artikel für das Verständnis der Bevölkerung zu Konflikten kam, ist in den Akten keine Rede. Dies schien, wie von den Initia-toren der neuen Presseorganisation vorgesehen, Sache der Vertrauensperson, also des Landrats, zu sein, jedenfalls gab zumindest von der Heydt in einem Schreiben an die Regierung in Aachen einen Bericht, inwieweit er persönlich den Inhalt der Nachrichten mit gestaltete:

„[...] Meine persönliche Thätigkeit bei Sichtung des Inhalts der Nachrichten hat sich darauf beschränkt, diejenigen Artikel aus-zuwählen und zum Abdruck bringen zulassen, welche nicht von ausschließlichem Interesse für andere Gegenden der Monarchie oder auch sonst für den diesseitigen Leserkreis ohne Bedenken waren. Einer folgenden Umarbeitung von nicht ganz für die hie-sigen Verhältnisse zutreffenden Artikel habe ich geglaubt nicht entfalten zu sollen, [da] die redactionelle Thätigkeit eines Land-raths in einigen Kreisen zu leicht erkannt wird und dann gar leicht zu unliebsamer Polemik in der Oppositionspresse führt. Nur hinsichtlich der vor der Wahl mitgetheilten Broschüren habe ich selbst zur Feder gegriffen.“225

Davon, dass sich der Herausgeber des Kreisblattes quergestellt hätte, findet sich keine Spur. Zwar wies der Landrat auf die Schwierigkeit hin, „in den po-litischen Artikeln dem weniger gebildeten Landmann verständlich zu blei-ben“226, dies geschah jedoch in einem ganz anderen Zusammenhang. Das Ein-zige, was den Abdruck der „Neuesten Mittheilungen“ einschränkte, war der durch die für das Kreisblatt überlebensnotwendigen Anzeigen begrenzte Raum im Blatt.227 Wie aber kommt es dann zu der in der Literatur bislang vertretenen These, Doepgen habe sich geweigert, die „Neuesten Mittheilungen“ in sein Blatt auf-zunehmen? Die Behauptung findet sich erstmals bei Kaufmann, der sich auf einen Landratsbericht von 1882 beruft.228 Es besteht natürlich die Möglich-keit, dass der 1944 bei einem Luftangriff ums Leben gekommene ehemalige Landrat Zugang zu mittlerweile verschollenen Quellen hatte. Da viele Akten des Landratsamts Malmedy während des Zweiten Weltkriegs verloren gegan-gen sind, kann diese Möglichkeit nicht vollständig ausgeschlossen werden. Allerdings ist es auch schwer, diese durchaus plausible Erklärung für Kauf-manns Aussage zu verifizieren, und es gibt gute Gründe skeptisch zu bleiben. Die erhaltenen Akten sprechen eine andere Sprache, neben den oben aufgeführten Punkten geben sie sehr gut darüber Aufschluss, wie abhängig

224 Doepgen an von Frühbuß, Schreiben v. 06.02.1884, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 225 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 14.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 226 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 21.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 227 Von Frühbuß an Hoffmann, Fragebogen v. 02.02.1884, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753.. 228 Vgl. KAUFMANN II, S. 186f.

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Doepgen von den Behörden war. Immer wieder setzte sich von der Heydt da-für ein, dass dem Verleger des Kreisblattes staatliche Subventionen zugute kommen sollten, weil er fürchtete, „daß g.[enannter] Doepgen ohne fortwäh-rende Beihülfen immer mehr in Schulden und Abhängigkeit geräth und schließlich sogar den Betrieb einstellen muß.“229 Jemand in einer derart prekären Situation stößt keinen potentiellen Geldgeber vor den Kopf. Eine Weigerung Doepgens, offiziöse Korrespondenzen in die Zeitung aufzunehmen, wirkt zudem vor der Aussage des Landrats, er verfüge „ausschließlich und ganz über den politischen Theil des Blattes [...]“,230 kaum vorstellbar. Im Gegenteil: Hier findet sich eine Bestätigung für den Verdacht, dass die politische Berichterstattung des Kreisblattes voll und ganz in der Hand der Behörden lag. Eine Zeitung, die so abhängig war und die in einem so großen Maße dem Einfluss der Behörden unterlag, kann sich nicht gegen die Aufnahme offiziöser Korrespondenzen gesperrt haben. Die „Neuesten Mittheilungen“ wurden in das Kreisblatt aufgenommen. Teil-weise lassen sich die Artikel aller Geheimhaltung zum Trotz sogar erkennen. Die von der Regierung für besonders wichtig erachteten Artikel waren mit einem Kreuz gekennzeichnet231 und Doepgen druckte dieses Kennzeichen immer wieder mit ab. Diese neue Korrespondenz sorgte auch für eine Verän-derung in der Zeitung. Der Anteil des redaktionellen Teils war 1882 mit fast 44% so hoch wie nie zuvor in der Geschichte des Kreisblattes. Politische Themen wurden 745 Mal im Kreisblatt behandelt, auch dies war ein neuer Spitzenwert für das Kreisblatt. Inhaltlich blieb die gouvernementale Ausrich-tung des Blattes bestehen, nur der Fokus der Attacken verschob sich langsam weg vom Zentrum auf die Sozialdemokratie. Abbildung 6: Überschrift eines gekennzeichneten Artikels aus den "Neuesten

Mittheilungen" im Kreisblatt vom 27. Oktober 1888.

229 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben, v. 21.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 230 Von der Heydt an Hoffmann Fragebogen, v. 13.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 231 Vgl. STÖBER R., Geheime Presseorganisation, S. 438.

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Der Landrat zeigte sich daher auch zufrieden mit der neuen Korrespondenz und meldete der Regierung, diese habe zwar nicht zu einer größeren Verbrei-tung des Blattes geführt, aber dennoch „wesentlich dazu beigetragen den Le-ser über die Absichten der Staatsregierung aus erster Hand zu unterrichten“ und stellte zusammenfassend fest: „Form und Inhalt der Correspondenz haben sich als zweckmäßig bewährt.“232 Trotz dieser positiven Gesamtein-schätzung des Landrats gab es durchaus Probleme. Von der Heydt beklagte im August 1882, dass sich die „Neuesten Mittheilungen“ gegen die Liberalen richteten, die im Kreis Malmedy zum ei-nen kaum vertreten waren und zum anderen nach wie vor gemeinsam mit den Konservativen ein regierungstreues Bündnis gegen die Klerikalen bildeten. Der Landrat verzichtete daher auf die Veröffentlichung der besonders scharf gegen den Liberalismus gerichteten Artikel, um eine Spaltung des gouverne-mentalen Lagers im Kreis zu vermeiden.233 Die größten Sorgen bereiteten dem Landrat jedoch die geringe Verbreitung des Kreisblattes und die Beschränkung der Leserschaft auf den deutschspra-chigen Teil des Kreises. Er wies auf die besondere Schwierigkeit hin, dass „ein großer Teil der intelligenten Bevölkerung in der Kreisstadt oder im wal-lonischen wohnt und schon wegen der Sprache nicht das in St. Vith er-scheinende amtliche Kreisblatt, sondern nur die in Malmedy erscheinenden in französischer Sprache redigirten Lokalblätter liest.“234

Das Kreisblatt dagegen wurde laut von der Heydt meistens nur von Landleu-ten gelesen, „welche an politischen Abhandlungen kein Interesse haben“235 und für die die Bedeutung des Kreisblattes hauptsächlich in den Annoncen lag. Deshalb konnte der Landrat nicht feststellen, „daß auch die neuerlich dem Kreisblatt übermittelten politischen Artikel [...] in der weniger intelligenten Landbevölkerung des deutschen Theils mit ebenso viel Aufmerksamkeit und 232 Von der Heydt an Hoffmann, Fragebogen v. 13.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 233 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 07.08.1882, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 234 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 14.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 235 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 07.08.1882, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753.

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Verständnis gelesen worden wären, wie kleine Lokalgeschichtchen [...]“.236 Außerdem beklagte von der Heydt, dass das Erscheinen den Kreisblattes im 21 Kilometer von der Kreisstadt entfernten St. Vith die rechtzeitige Aufnahme der amtlichen Nachrichten und auch eine „in diesem Falle besonders unent-behrlich persönliche Fürsorge seitens des Landraths“ erschwert werde.237 All dies belastete das Verhältnis zwischen den Behörden und dem Herausge-ber des Kreisblattes, vor allem, weil Landrat von der Heydt keine allzu hohe Meinung von Doepgen hatte. Als die „Neuesten Mittheilungen“ nicht für die Verbesserung des Kreisblattes sorgten, teilte er der Regierung in Aachen mit:

„[...]Wenn trotzdem keine Hebung des Blattes zu verspüren ist, so kann dies gewiß nicht auf diese Mittheilungen zurückgeführt werden. Der Verleger des Blattes [...] ist nicht die geeignete Per-sönlichkeit auch nur ein kleines Blatt zu redigiren. Er besitzt ein zu großes Phlegma um sich auch nur einigermaßen Mühe zu ge-ben selber zur Hebung seines Blattes beizutragen und seinen Le-sern auch nur etwas unterhaltendes zu bringen. Seine ganze Thä-tigkeit beschränkt sich darauf ihm vorgeschriebene oder geliefer-te Artikel abzudrucken. Dies ist hier allgemein bekannt und er-klärt [...] auch die geringe Zahl der Abonnenten.“238

Vor dem Hintergrund dieses vernichtenden Urteils ist es nicht weiter verwun-derlich, dass von der Heydt damit liebäugelte, ein in Malmedy erscheinendes zweisprachiges Blatt nach Beendigung des Kulturkampfs für amtliche Zwecke zu nutzen.239 Dabei dürfte er aber nicht, wie von Kaufmann kolportiert wird, an eine Neugründung gedacht haben, sondern an eines der bestehenden Mal-medyer Blätter. Denn er wies den Regierungspräsidenten darauf hin, dass „wenigstens das gemäßigtere clerikale Organ würde, abgesehen von Artikeln in Sachen des kirchenpolitischen Streits [...], das Material der Neuesten Nach-richten ebensogut aufnehmen und verwerthen können wie das Kreisblatt.“240

Aber auch nach Beilegung des Kulturkampfs wurden die Gedankenspiele von der Heydts nicht verwirklicht und die Zeitung Doepgens blieb weiterhin das amtliche Kreisblatt im Kreis Malmedy. Abschließend seien noch einige Be-merkungen zur Kritik des Landrats am Kreisblatt und seinem Verleger gestat-tet. Es gibt wenige Gründe dafür, die Vorwürfe von der Heydts anzuzweifeln. Wie bereits in den vorherigen Kapiteln beschrieben wurde, bestand der redak-tionelle Teil des Kreisblattes meist aus übernommenen und eingesandten Ar-

236 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 21.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 237 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 21.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 238 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 29.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 239 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 21.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 240 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 14.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. Es geht aus den Akten leider nicht hervor, welche der beiden Malmedyer Zeitungen hier gemeint ist.

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tikeln, viel mehr war von einem Einmannbetrieb auch nicht zu erwarten. Ob ein engagierterer Verleger als Doepgen daran etwas hätte ändern können, ist mehr als fraglich, allein wegen der schlechten Verkehrsverbindungen im St. Vither Land und den daher erschwerten Kommunikationsbedingungen. Auch die Klagen des Landrats über das mangelnde Interesse der Landbevöl-kerung an politischen Themen sind sicher zutreffend. Es ist allerdings in die-ser Arbeit schon mehrfach auf die Bedeutung des lokalen Umfelds für die Zei-tung und die Zeitungsrezeption hingewiesen worden. Hier machte auch der Kreis Malmedy keine Ausnahme. Der Landrat hatte ganz richtig erkannt, dass die Bedeutung des Kreisblattes für die Masse der Landbevölkerung in den Annoncen lag. Hier stand einfach das direkte Interesse, über Markttermine oder etwa Holzauktionen informiert zu sein, vor dem Bedürfnis, etwas über die nach wie vor weit entfernte große Politik zu lesen. Wenn darum nun die Anzeigen im Kreisblatt mehr beachtet wurden als der Politikteil, so ist dies alles andere als verwunderlich. Man sollte sich daher auch hüten, mit von au-ßen angelegten Maßstäben das Kreisblatt zu beurteilen. Carolin Herrmann weist darauf hin, dass ein derartiges Vorgehen ein Verständnis des Lokalen vielfach verhindert hat.241 Es ist aus diesem Grund eine zu große Vereinfa-chung das Kreisblatt, trotz seines bestenfalls mittelmäßigen Inhalts, wie von Kaufmann geschehen, als bedeutungsloses Anzeigenblatt zu qualifizieren. Stöber merkt richtig an, dass auch die kleinen Kreisblätter einen wichtigen Beitrag zum sozialen Wandel auf dem Lande geleistet haben.242 Genauso ist es eine nicht weniger große Vereinfachung, dem Kreisblatt eine politische Bedeutung abzusprechen. Mit der „Provinzial-Correspondenz“ und später den „Neuesten Mittheilungen“ berichtete das Kreisblatt über die Reden und Ver-lautbarungen von Kaiser, Reichskanzler und Ministern. Gerade diese Doku-mentation besaß bis ins 20. Jahrhundert hinein eine zentrale Funktion für die Politikvermittlung.243 Auch wenn der Landrat schreibt, dass die gebildeten Bewohner des Kreises oft auf auswärtige Zeitungen zurückgriffen,244 kann man davon ausgehen, dass das Kreisblatt unter der einfachen deutschsprachigen Landbevölkerung nahezu ein Monopol hatte. Gerade diese Bevölkerungskreise dürften durch die Berichterstattung im Kreisblatt, egal, was für eine Qualität diese hatte, mit der großen Politik stärker in Berührung gekommen sein als jemals zuvor. Hierin lag auch die politische Bedeutung des Kreisblattes, dass es einer Bevölke-rungsschicht Zugang zu politischen Themen ermöglichte, die zuvor davon ausgeschlossen war.

241 Vgl. HERRMANN, Lokale Presse, S. 11. 242 Vgl. STÖBER R., Pressegeschichte, S. 215. 243 Vgl. ebd., S. 176. 244 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 07.08.1882, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753.

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E. DIE BERICHTERSTATTUNG ÜBER LOKALE THEMEN Jürgen Wilke hat einmal geurteilt, dass Zeitungen in Deutschland anfänglich

kein Raum lokaler Kommunikation waren.245 Diese Feststellung lässt sich auch auf das Kreisblatt für den Kreis Malmedy übertragen. In den Anfangs-jahren des Blattes wurden lokale Themen nur sporadisch behandelt. Im Grün-dungsjahr 1866 befassten sich ganze 16 von mehr als 300 Artikeln mit Ereig-nissen aus dem Kreis Malmedy und Umgebung. Selbst 1876, als der Anteil der Lokalnachrichten bei mehr als 12 Prozent lag, bedeutete dies gerade ein-mal 52 Meldungen in 104 Ausgaben. Wie bereits erwähnt, erschienen die Lokalmeldungen zumeist in der Rubrik „Vermischtes“ und waren nur wenige Zeilen lang. Ausnahmen, wie der Be-richt über eine „zu Ehren der hiesigen Krieger veranstaltete Dankes- und Sie-gesfeier“ in St. Vith am 15. August 1871, als das Kreisblatt ausführlich in ei-nem 89 Zeilen langen Artikel berichtete, waren selten.246 Der Regelfall bei

245 WILKE J., Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstu-die zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft, Berlin, New York, 1984, S. 149. 246 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 19.08.1871.

Abbildung 7: Entwicklung der Lokalberichterstattung im Kreis-blatt

1867 1870 1871 1872 1873 1874 1876 1882 1883 1885 1887 1888 18900

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Entwicklung der Lokalberichterstattung

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den Lokalnachrichten waren kurze, maximal zwanzig Zeilen lange Meldun-gen, die oft nur einen aus heutiger Sicht banalen Inhalt hatten, wie etwa im Februar 1866, als vermeldetet wurde, dass in den Wäldern um St. Vith ein 200 Pfund schweres Wildschwein erlegt worden war.247 Auffällig ist außerdem, dass sich die Berichterstattung weitgehend auf das St. Vither Land beschränkte, der wallonische Teil des Kreises tauchte fast gar nicht auf. Dies lässt sich zum Beispiel an der Berichterstattung über die Sie-gesfeiern 1871 feststellen. Im Kreisblatt wurde nur über Feste im deutsch-sprachigen Gebiet berichtet,248 obwohl laut Kaufmann in der preußischen Wallonie ebenfalls Jubelstimmung herrschte.249 Ein weiterer Punkt, der ins Auge fällt, ist, dass auch die Lokalmeldungen häu-fig aus anderen Quellen übernommen wurden. Noch im Jahre 1882 übernahm das Kreisblatt die Meldungen, dass der Staat bereit sei, dem Kreis für den zum Bau der geplanten Eisenbahnstrecke notwendigen Grunderwerb finanzielle Unterstützung zu gewähren, aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem „Prümer Intelligenzblatt“.250 Auch die Meldung über die Bewilligung der für den Ei-senbahnbau nötigen Gelder ging nicht etwa auf ein Telegramm oder Ähnli-ches zurück, sondern auf eine Notiz des „Montjoier Stadt- und Landboten“.251 Hinzu kam, dass selbst die Lokalnachrichten im Kreisblatt nicht sonderlich aktuell waren. So wurde der oben erwähnte Artikel über die Siegesfeier in Bütgenbach von 1871 erst knapp zwei Wochen nach der Feier im Kreisblatt gedruckt. Ab Mitte der 70er Jahre kamen hin und wieder die Auswirkungen der Politik auf das lokale Umfeld im Kreisblatt zum Vorschein. Im Frühjahr 1876 hatte der klerikale Abgeordnete des Kreises Heinrich Franssen im Abgeordneten-haus eine Rede gehalten, in der er sich gänzlich uninformiert über die Ver-hältnisse im Kreis gezeigt und zudem der wallonischen Bevölkerung fehlen-den Patriotismus vorgeworfen hatte.252 Diese Affäre wurde vom Kreisblatt genüsslich aufgegriffen. Am 8. April wurde in einem eingesandten Artikel über die Rede Franssens berichtet, die als „non plus ultra arroganter Dumm-heit und blühenden Unsinns“ bezeichnet wurde. Franssen wurde nahegelegt, die Verhältnisse im Kreis Malmedy damit zu umschreiben, dass er dort ge- 247 Wochenblatt für den Kreis Malmedy, 24.02.1866. 248 So etwa über die Siegesfeier in Bütgenbach. Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 01.07.1871. 249 Vgl. KAUFMANN II, S. 226. 250 Es handelt sich hierbei um zwei Meldungen, die am 1. und am 4. Februar 1882 im Kreisblatt erschienen. Bei beiden Meldungen ist Prüm als Ort der Meldung angegeben. Bei der Meldung vom 4. Februar findet sich die Quellenangabe „Pr. Int.-Bl“, die Meldung vom 1. Februar ist ohne Quellenangabe. Da jedoch in der nachfolgenden Meldung direkt auf diese Meldung vom 1. Februar Bezug genommen wird, liegt die Vermutung nahe, dass beide Nachrichten ein und derselben Quelle entstammen. Vgl. Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 01.02.1882; Ebd., 04.02.1882. 251 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 18.03.1882. 252 Vgl. KAUFMANN II, S. 192f.

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wählt worden sei, so würden die restlichen Parlamentarier am besten wissen, woran sie seien. Abschließend wurde festgestellt, „für Franssen ist Schweigen nicht Gold, sondern Diamant und Reden nicht Silber, sondern Blech.“253 Der Abdruck dieses Artikels war ein teures Vergnügen für Doepgen, denn er wurde für den Abdruck des Artikels am 7. Juni 1876 vom Aachener Zuchtpo-lizeigericht wegen Beleidigung Franssens zu einer Geldstrafe von 20 Mark verurteilt.254 Dies hinderte Doepgen jedoch nicht, die Affäre weiter im Kreis-blatt zu thematisieren. Mit Genugtuung informierte das Kreisblatt seine Leser über einen Streit der „Semaine“ mit der „Deutschen Reichszeitung“ und schlug der „Semaine“ vor, einen neuen ultramontanen Kandidaten dazu zu verpflichten, im Parlament nur mit „Ja“ und „Nein“ zu antworten.255 Auch Franssen selbst wurde im Kreisblatt weiter heftig attackiert. In einem Artikel des späteren Bürgermeisters von Reuland Hennes, der auch den ersten Artikel gegen Franssen verfasst hatte, hieß es nach dem Gerichtsurteil gegen Doep-gen:

„Recht so, Strafe muß sein. Mag auch der Kreisstand von Mal-medy die Resolution gefaßt und an Franssen abgesendet haben, daß er über die Verhältnisse im Kreis Malmedy die Unwahrheit gesagt habe mit der Aufforderung seine Rede zu rektifizieren, – was kümmert das den großen Geist des Franssen? Und wir, im Glauben an ihn, behaupten steif und fest, daß seine Rede statt eines „non plus ultra arroganter Dummheit und blühenden Un-sinns“ viel mehr ein Ausfluß tiefer Weisheit und meisterhaften Styls war. Und wie kann ein vollends simpler Bewohner des Kreises Malmedy, der „in Kultur und Civilisation ein paar Jahr-hunderte zurück ist und nicht einmal Deutsch versteht“, sich er-dreisten und die Rede dieses gewichtigen Mannes zu kriti-sieren!“256

Das Thema blieb angesichts der Wahlen im Herbst weiter aktuell. Franssen wurde vom Kreisblatt vor allem deshalb angegriffen, da er dem Kreis Mal-medy starke Sympathien für Frankreich unterstellt hatte.257 Die Abneigung gegen den Abgeordneten ging so weit, dass das Kreisblatt sogar die hoff-

253 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 08.04.1876. 254 Ebd., 14.06.1876. 255 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 13.05.1876. 256 Ebd., 14.06.1876. 257 Ebd., 16.09.1876: „[...] wie aber kann sich ein Abgeordneter unterstehen, seinen eigenen Wählern Sympathien für den Erbfeind Deutschlands vorzuwerfen! Er schreit in’s Land hinein, wir besäßen keinen Patriotismus, und wenn wir das nicht als Beleidigung, nicht als Unwahrheit und nicht als Verleumdung, sondern einfach nur als Dummheit bezeichnen, denunciert derselbe Mann uns beim Staats-Prokurator, und wir werden bestraft! Derselbe, der sich nicht entblödet, den eigenen Wahlkreis als franzosenfreundlich zu bezeichnen, ist selbst so „sensible“ daß er wegen eines einfachen Artikels in einem einfachen Blatte, wo gegen seine Rede protestiert wird, Strafantrag stellt! [...]“.

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nungslose Lage der Liberalen im Kreis Malmedy eingestand und in Richtung der „Semaine“ darum bat, wenigstens einen Kandidaten zu wählen, dessen man sich nicht zu schämen brauche.258

Lokalkolorit fand sich ebenfalls in den zahlreichen Auseinandersetzungen mit anderen Zeitungen, vor allem mit der „Semaine“. Diese Auseinandersetzun-gen waren teilweise eher harmloser Natur, wie etwa 1870, als es in Bezug auf die Streckenführung der zu bauenden Bahnlinie Differenzen zwischen Mal-medy und St. Vith gab, und das Kreisblatt in Anspielung auf die „Semaine“ ironisch darum bat, „uns St. Vither nicht ganz bei Seite zu lassen.“259 Während der Kulturkampfzeit wurden diese Fehden heftiger. So hatte es bei-spielsweise anlässlich der Stadtratswahlen in St. Vith im Dezember offenbar heftige Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der liberalen und der Zentrumspartei gegeben.260 Kurz darauf wurde in der Nähe von St. Vith die Leiche eines ermordeten Kindes aufgefunden.261 Die „Semaine“ stellte dieses Verbrechen in einen Zusammenhang mit dem Liberalismus und der liberalen Wahlbewegung zur St. Vither Stadtratswahl, was eine entsprechende Replik des Kreisblatts nach sich zog, in der es hieß:

„Es beweist gedachter Artikel der Semaine einmal mehr wie ihr und ihren Gesinnungsgenossen alle Mittel gut sind, den reichs-getreuen Liberalismus zu verdächtigen. Im übrigen darf sich die Semaine beruhigen, in St. Vith ist man nicht ein wenig katho-lisch, sonder gut katholisch und eben deßhalb nicht ultramontan, man weiß zu unterscheiden zwischen der Religion Christi, die ein hochwürdiger Pfarrer lehrt und dem Jesuitismus.“262

Die „Semaine“ konterte dies offenbar mit der Feststellung, dass katholisch und ultramontan synonym seien, was das Kreisblatt am ersten Januar zu fol-gender Stellungnahme veranlasste:

„[...] Wir, die wir nicht ultramontan sind, glauben aber katho-lisch zu sein und zwar gute Katholiken, weil wir in der Lehre Christi gelehrt worden sind und stets in Friede und Eintracht mit unserer Pfarrgeistlichkeit gelebt haben und auch sterben werden. [...] fragt man nach dem Zwecke [des Ultramontanismus], so ist er weltbekannt. Zweck ist die geistige und weltliche Macht an

258 Ebd., 16.09.1876: „[...] Wir versichern dagegen der „Semaine“, daß wir uns über die Situa-tion durchaus keiner Illusion hingeben, wir wissen, daß die Liberalen im Kreis Malmedy sich sowohl bei den Abgeordneten- als auch bei den Reichstags-Wahlen in verschwindender Mino-rität befinden, – darum ist es uns doch durchaus nicht gleichgültig, ob ein Mann gewählt wird, der sich darin gefällt seinen eigenen Wahlkreis mit Fußtritten zu regalieren. Soll und muß ein Clerikaler gewählt werden, so können auch die Liberalen nur wünschen, es sei ein Mann, über dessen Auftreten sich der Kreis nicht zu schämen nötig hat [...]“. 259 Ebd., 08.01.1870. 260 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 04.12.1875. 261 Ebd., 11.12.1875. 262 Ebd., 18.12.1875.

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sich zu reißen um über Kaiser, Könige und Völker zu dominie-ren. [...] Was hatte die Bonner Reichszeitung und nach ihr die Semaine sich um die St. Vither Stadtrathswahlen zu kümmern, wenn sie nicht andere Zwecke verfolgte. [...] Wir werden uns daher durch diese herbeigesuchten Zankäpfel nicht beirren las-sen , wir werden vor wie nach „dem Kaiser geben, was des Kai-sers ist und Gott was Gottes ist“ und mithin der Obrigkeit wie der Pfarrgeistlichkeit folgen [...].“263

Diese Episode ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen war es selten, dass sich eine Auseinandersetzung mit der „Semaine“ derart kontinuierlich über mehrere Ausgaben im Blatt hielt und lokalen Differenzen während des Kulturkampfs im Kreisblatt derart umfangreich behandelt wurden. Zudem wurden hier auch die Prioritäten, die das Kreisblatt in seiner Berichterstattung setzte, deutlich. Es war wichtiger, die „richtige“ Meinung zu vertreten, als umfassend über Ereignisse zu berichten. Das Ergebnis der Stadtratswahl in St. Vith war dem Kreisblatt gerade eine fünfzeilige Meldung wert, der Fund der Kinderleiche ebenfalls, auch die Verhaftung von Mutter und Vater des ermor-deten Kindes nahm im Kreisblatt nicht mehr als vier Zeilen Raum ein.264 Die Debatte mit der „Semaine“ umfasste dagegen durchweg Artikel von mehr als 30 Zeilen. Auch die Landratswahlen von 1878 führten zu einer heftigen Auseinanderset-zung zwischen den beiden im Kreis erscheinenden Zeitungen. Auslöser waren Unstimmigkeiten bei der Wahl, die der aus Rocherath stammende Landge-richtsreferendar Dr. Knaus gegen den kommissarischen Landrat von der Heydt gewann. Da jedoch Zweifel an der Wählbarkeit Knaus bestanden, lie-ßen die Anhänger von der Heydts die Bitte an die Regierung ins Protokoll aufnehmen, den kommissarischen Landrat endgültig zu berufen.265 Dies wiederum stieß auf das Missfallen der Mehrheit des Kreistags und der „Semaine“. Das Kreisblatt diente in der Folge als publizistische Plattform der Anhänger von der Heydts. Am 20.04.1878 wurde im Kreisblatt dem Heraus-geber der „Semaine“ der Vorwurf gemacht, er würde konfuse und befangene Ansichten vertreten und sich zum „Scribifax“ einer Partei hergeben, mit der er eigentlich nichts weiter als „die charakteristischen Merkmale der Menscheit“ gemeinsam haben sollte.266 Der Herausgeber der „Semaine“ de Nouë vermute-te hinter diesem Artikel fälschlicherweise den bereits erwähnten Bürgermeis-ter Hennes, der sich mit einem derben Rundumschlag im Kreisblatt revan-

263 Ebd., 01.01.1876. 264 Ebd., 15.12.1875. 265 Vgl. KAUFMANN II, S. 16. Es bestanden außerdem bei den Anhängern von der Heydts auch Vorbehalte gegen Knaus als sozialen Aufsteiger. Vgl. hierzu t ROMEYK H., Die leiten-den staatlichen und kommunalen Verwaltungsbeamten der Rheinprovinz 1816-1945, Düssel-dorf, 1994, S. 181f. 266 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 20.04.1878.

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chierte. Hennes bezeichnete de Nouë als „Harlequin“ einer Partei aus „römi-schen und belgischen Doctoren“ und die „Semaine“ als aus einem Stoff ge-macht, der „weniger die Eigenschaft hat sich schnell in Staub zu verwandeln, als vielmehr unangenehm für die Nase zu sein.“267 Auf diesen alles andere als sachlichen Angriff reagierte die „Semaine“ ent-sprechend und die Angelegenheit köchelte zumindest im Kreisblatt noch eini-ge Zeit weiter.268 Selbst ein Jahr später, als auch die „Semaine“ von der Heydt akzeptiert und sich wohlwollend über seine Amtseinführung geäußert hatte, stichelte das Kreisblatt, es sei zweifelhaft, ob alles auch so gekommen wäre, „ohne die von der „Semaine“ angegriffene Minorität[...]“.269 Insgesamt blieb die Lokalberichterstattung im Kreisblatt trotzdem bis weit in die 70er Jahre hinein ein vernachlässigtes Gebiet. Der Bezug des Blattes zu seiner direkten Umgebung bestand weniger in Meldungen über Ereignisse, die sich am Ort zugetragen hatten, als in den umfangreichen Berichten über Landwirtschaft, den Anzeigen für Holz- und Lohverkäufe, den amtlichen Be-kanntmachungen oder dem Abdruck der Protokolle der Lokalabteilung des Landwirtschaftlichen Vereins für Rheinpreußen. Dies änderte sich erst in den 1880er Jahren. Beispielsweise wurden seit Okto-ber 1880 regelmäßig die heimatkundlichen Aufsätze des Kreisschulinspektors Dr. Quirin Esser abgedruckt.270 Auch wurden die Berichte über die einzelnen Ereignisse umfangreicher, wie etwa ein über 130 Zeilen gehender Artikel über den Besuch des Landwirtschaftsministers in Bütgenbach, in dem detailliert die Sorgen des Kreises bezüglich der Boden- und Klimaverhältnisse und der problematischen Finanzierung der Grundstücke für den Eisenbahnbau darge-legt wurden.271 Alles in allem lässt sich feststellen, dass Doepgen in den 1880er Jahren lokale und regionale Themen ins Blatt hob. 1882 berichtete das Kreisblatt 114 Mal über lokale Ereignisse, mehr als doppelt so häufig wie 1876, und 1890 fanden lokale Themen 141 Mal Eingang in die Zeitung. Vor allem der Bau der Venn-nbahn und seine Begleitumstände wurden im Kreisblatt immer wieder aufge-griffen. Zwar griff das Kreisblatt auch immer noch recht häufig auf Berichte

267 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 01.05.1878. 268 So gab sich etwa der Gutsbesitzer und spätere Landrat Oswald von Frühbuß im Kreisblatt als Verfasser des Artikels vom 20.04.1878 zu erkennen und Hennes verfolgte weiterhin seine Privatfehde mit de Nouë, den er als „Ferkelstecher“ bezeichnete. Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 04.05.1878; sowie ebd., 11.05.1878. 269 Ebd., 23.07.1879. 270 Der erste Beitrag Essers erschien am 30.10.1880 im Kreisblatt. Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 30.10.1880. Esser war seit 1879 Kreisschulinspektor in Malmedy. Er war einer der Vorkämpfer der Durchsetzung der deutschen Sprache an der Volksschulen der Wallonie, was zu erheblicher Beunruhigung unter der Bevölkerung führte, und lag auf Grund seiner gouver-nementalen Einstellung häufig im Konflikt mit der katholischen Geistlichkeit des Kreises. Vgl. KAUFMANN II, S. 49-53. 271 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 16.08.1882.

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anderer Zeitungen zurück, wie etwa bei der Eröffnung der Strecke Aachen-Montjoie am 1. Juli 1885, als das Kreisblatt einen mehrspaltigen Artikel aus dem „Echo der Gegenwart“ nachdruckte,272 nahm aber nun auch Stellung zu Ereignissen vor Ort. Am 12. Dezember, elf Tage nach der Eröffnung der Stre-cke nach Malmedy, schrieb das Kreisblatt über die Verzögerung des Weiter-baus der Vennbahn nach St. Vith:

„[...] wo allein die Festlegung der Trace drei volle Jahre bean-sprucht hat, wo der Grunderwerb seit Monaten beendet sein könnte und wo in dieser Beziehung seit Monaten nichts gesche-hen ist, da kann der grundlose Grunderwerbs-Grund noch Jahre lang angeführt und ausgenutzt werden. Unterdessen bleibt die Eröffnung der Strecke Weismes-St. Vith-Ulflingen in unab-sehbarer Ferne. – Der Bau der Bahn kann innerhalb von zwei Jahren nicht vollendet sein. Drei Jahre seit dem die hohe Landes-Vertretung die Mittel zu dem Bau einer Culturbahn durch die Eifel bewilligte. Nach den Motiven des betr. Gesetzes sollte die Bahn sofort gebaut werden, die nothdürftigen Eifelbewohner sollten dabei Lohn und Brod finden. Drei Jahre sind verstrichen, wo bleiben die Bahn, wo die Arbeit, wo das Brod? [...]“273

Neben der Berichterstattung über den Bau der Eisenbahnen griff das Kreis-blatt in der zweiten Hälfte der 80er Jahre immer mehr lokale Themen auf. Mit der Abschaffung der Kreisstände 1888 begann das Kreisblatt regelmäßig über die Sitzungen und Beschlüsse des Kreistags zu berichten. Auch die letzte Sit-zung der Kreisstände im März 1888 wurde umfassend gewürdigt.274 Das Vereinswesen im Kreis wurde zum Thema für das Kreisblatt. Berichte, wie über das Vereinsjubiläum des Cäcilien-Gesang- und Musikvereins Burg-Reuland, erschienen im Kreisblatt,275 über die Gründung des Kriegervereins St. Vith wurde berichtet276 und auch über die Aktivitäten dieses Vereins.277 Zur Gründung des Verschönerungsvereins St. Vith wurde in einem an das Kreis-blatt gesandten Artikel aufgerufen,278 ebenso wurde ausführlich über die Gründung des Eifelvereins Bericht erstattet.279

Außerdem machte sich auch im Kreisblatt bemerkbar, dass der Kreis nach dem Bau der Vennbahn immer mehr zusammenwuchs. Die Lokalberichter-

272 Ebd., 04.07.1885. 273 Ebd., 12.12.1885. 274 Ebd., 10.03.1888. 275 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 06.01.1886. 276 Ebd., 04.04.1888. 277 Am 11. Juni 1888 berichtete das Kreisblatt beispielsweise ausführlich in einem halbseitigen Artikel über einen Ausflug des Kriegervereins zum Prümerberg. Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 13.06.1888. 278 Ebd., 07.04.1888. 279 Ebd., 30.05.1888.

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stattung griff nun auch auf den wallonischen Teil aus. So war es dem Kreis-blatt 1886 immerhin eine Meldung wert, dass der Malmedyer Gesangverein „Union Wallon“ bei einem Wettbewerb in Verviers den ersten Platz belegt hatte.280 Als im Frühjahr 1888 Wilhelm I. starb, berichtete das Kreisblatt auch über die Trauerfeiern in der Wallonie281 und im September desselben Jahres druckte es einen detaillierten Artikel aus dem „Organe de Malmedy“ über den Tourismus in der Kreisstadt nach.282 Außerdem fand auch die Berichterstat-tung über landwirtschaftliche Themen Eingang in die Lokalberichterstattung. Wo Doepgen früher einfach Protokolle der Sitzungen der landwirtschaftlichen Vereine abgedruckt hatte, erschienen nun eingesandte Berichte, so zum Bei-spiel von der Generalversammlung des Bienenzuchtvereins Elsenborn im Jah-re 1890..283

Was nach wie vor blieb, war die Tatsache, dass bei der Berichterstattung häu-fig auf fremde Quellen zurückgegriffen wurde. Ebenso blieben die Reibereien mit anderen Zeitungen. Allerdings verloren diese ihren Charakter erbitterter Kulturkampfdebatten. Als Doepgen im Dezember 1887 der „Aachener Volks-zeitung“, die sich über die Berichterstattung des Kreisblattes anlässlich der Inbetriebnahme der Eisenbahn nach St. Vith lustig gemacht hatte, nahe legte, sie solle sich besser in „Aachener Domgrafen Zeitung“ umbenennen,284 traten die alten Konfliktlinien noch einmal zu Tage. Ansonsten war nicht mehr die „Semaine“, sondern die in Aachen erscheinende „St. Vither Zeitung“ der Hauptgegner für Doepgen und es ging nicht mehr um ideologische Auseinan-dersetzungen, sondern darum, dass sich das Kreisblatt unliebsamer Konkur-renz ausgesetzt sah. Der Streit zwischen den beiden Blättern lässt sich hier leider nicht mehr genau rekonstruieren, fest steht aber, dass die „St. Vither Zeitung“ dem Kreisblatt Leser abspenstig machte, auch wenn diese angeblich recht schnell wieder zurückkamen.285 Unter dem Strich bleibt natürlich die Frage, wie diese Entwicklung von sporadischer, oft nur auf Dokumentation beruhender Lokalberichterstattung zu einer umfassenderen wirklichen Be-richterstattung zu erklären ist. Der geringe Stellenwert, den lokale Themen bis weit in die 70er Jahre hinein im Kreisblatt hatten, ist relativ einfach zu erklären. Zum einen war in einer Landgemeinde wie St. Vith vor dem Ausgreifen der Industrialisierung, die mündliche Rede nach wie vor das vorherrschende Kommunikations- und In-formationsmittel.286 Die Bevölkerung konnte sich über informelle Kommuni-

280 Ebd., 28.07.1886. 281 Ebd., 24.03.1888. 282 Ebd., 08.03.1888. 283 Ebd., 14.06.1890. 284 Ebd., 07.12.1887. 285 Ebd., 28.05.1890. 286 Vgl. NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1., S. 221.

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kationskanäle in der Kirche, auf dem Markt, in den Gassen oder in Gaststätten über ihre Naherfahrungswelt informieren.287 Dies prägte das Kreisblatt und seine Berichterstattung. Auf der einen Seite machte sie es erst möglich, dass eine Zeitung als Einmannbetrieb bestehen konnte. Die überregionalen Nachrichten konnten aus Korrespondenzen und reichsdeutschen Tageszeitungen bezogen werden und für die Beschaffung der Lokalnachrichten wurden keine Redakteure benötigt. Auf Grund des über-schaubaren Kommunikationsraumes, der Enge der gesellschaftlichen Bezie-hungen und des transparenten gesellschaftlichen Geschehens reichte es völlig aus, wenn der Nachrichten sammelnde Redakteur die oben aufgezählten mündlichen Kommunikationswege nutzte und einfach zuhörte. Nur in vom Erscheinungsort weit entfernten Orten wurden wechselnde Personen als In-formanten benötigt.288 Auf der anderen Seite machte diese Situation eine Lokalberichterstattung in gewisser Weise obsolet. Eine Nachricht, die am Montag auf dem Markt be-kannt war, brauchte am Mittwoch nicht in der Zeitung stehen. Daher bestand, solange die lokale Lebenswelt so überschaubar war, dass die mündlichen In-formationskanäle adäquat funktionierten, an einer umfassenden Berichterstat-tung über lokale Themen kein Bedarf. Für die Bevölkerung und ihre alltägli-che Lebenswelt waren die bereits zitierten „land- und volkswirtschaftlichen Aufsätze“ des Kreisblattes, die amtlichen Bekanntmachungen sowie die abge-druckten Protokolle der Sitzungen der landwirtschaftlichen Vereine von grö-ßerer Bedeutung. Man darf in diesem Zusammenhang auch die schlechten Verkehrsverhältnisse nicht außer Acht lassen. Noch 1882 klagte der Landrat über die Schwierigkei-ten, die ihm zugesandten „Neuesten Mittheilungen“ so rechtzeitig in das von seinem Amtssitz 21 Kilometer entfernte St. Vith zu schaffen, dass sie von Doepgen noch in das Kreisblatt aufgenommen werden konnten.289 Es ist leicht vorstellbar, wie schwer es gewesen sein muss, eine Nachricht aus einer der kleinen Landgemeinden des Kreises rechtzeitig zum Erscheinungsort des Kreisblattes zu bringen, zumal die Nachrichten spätestens zwei Tage vor Er-scheinen der jeweiligen Ausgabe bei Doepgen eingegangen sein mussten.290 Zu guter Letzt kam noch das zumindest durch von der Heydt beklagte Phleg-ma Doepgens hinzu, der sich nur allzu gerne darauf beschränkte, das zu dru-cken, was ihm von den einzelnen Bürgermeistern, den Kreisangestellten und landwirtschaftlichen Vereinen zuging.291 Damit wären die Gründe für die untergeordnete Rolle der Lokalberichterstat-tung in den ersten Jahren des Kreisblattes erklärt, aber wie kam es zum Aus-

287 Vgl. STÖBER R., Pressegeschichte, S. 191. 288 Vgl. CHRISTMANN, S. 38. 289 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 21.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 290 Von Frühbuß an Hoffmann, Fragebogen v. 02.02.1884, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 291 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 21.01.1883, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753.

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bau des Lokalteils in den 80er Jahren? Eine Erklärung ist natürlich die Verän-derung, die der Kreis zur Mitte des Jahrzehnts durch den Bau der Eisenbahn erfuhr. Die Abgeschiedenheit schwand, es gab verstärkten Zuzug von außer-halb, die Gesellschaft änderte sich und durch die unübersichtlicher geworde-nen Verhältnisse bestand auf einmal Bedarf an einer umfangreicheren Lokal-berichterstattung. Diese Erklärung lässt jedoch außer Acht, dass sich die Ver-hältnisse nur langsam änderten, der Wandel St. Viths zur Eisenbahnerstadt kommt erst in den 90er Jahren wirklich zum Tragen. Der Hauptgrund für den Anstieg der lokalen Berichterstattung dürfte ein Pro-dukt der Presseorganisation von 1882 sein. Die zuständigen Stellen in Berlin waren nicht nur an einer neuen Korrespondenz interessiert, sondern auch an einer größeren regionalen Verbreitung der durch die „Neusten Mittheilungen“ belieferten Zeitungen. Sie hatten richtig erkannt, dass die Basis für eine grö-ßere Verbreitung eine gute Lokalberichterstattung war. Dementsprechend wurden die Vertrauenspersonen der jeweiligen Blätter damit beauftragt, dem Verleger zu helfen, ein gut funktionierendes Netz örtlicher Korrespondenten aufzubauen.292 Dass dies auch für das Kreisblatt für den Kreis Malmedy der Fall war, lässt sich unschwer aus den Schreiben des Landrats erkennen. Er erklärte sich, als im Juni 1882 die „neue Presseorganisation“ eingeleitet wurde, bereit, „den Aachener Generalanzeiger u. sonstige mir zugänglichen Blätter dem Kreis-blatt zuzuführen.“293 Dass der Landrat die häufigere Berichterstattung über lokale Themen veranlasste, bestätigt auch das Schreiben von der Heydts an den Regierungspräsidenten vom 7. August 1882. Der Landrat teilte mit, er habe dafür gesorgt, dass dem „Leserkreis des Kreisblattes alle Neuigkeiten zugänglich gemacht werden, welche sich hier im Kreise zugetragen haben, oder in anderen Lokalblättern vermerkt sind [...].“294 Diese Aussage erklärt auch die Tatsache, dass im Kreisblatt auch bei lokalen Themen häufig andere Zeitungen als Quellen angegeben sind. Es ist bereits mehrfach erwähnt worden, dass Doepgen mit Vorliebe nur vorgeschriebene und gelieferte Artikel druckte, dies galt für die offiziösen Korrespondenzen offenbar genauso wie für den Lokalteil. Vermutlich war der Verleger des Kreisblattes entweder nicht bereit oder nicht in der Lage, auch im lokalen Be-reich eigenständig zu recherchieren, genauer gesagt, zuzuhören. Das würde neben dem hohen Anteil fremder Quellen in der Lokalberichterstattung auch den Vorwurf des Landrats erklären, Doepgen würde sich zu wenig Mühe ge-ben, selber zur Hebung seines Blattes beizutragen.

292 Vgl. STÖBER R., Geheime Presseorganisation, S. 432. 293 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 05.06.1882, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753. 294 Von der Heydt an Hoffmann, Schreiben v. 07.08.1882, SAE, Kreis Malmedy, Nr. 753.

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VI. DER ANZEIGENTEIL DES KREISBLATTES Wie bereits erwähnt, nahmen die Anzeigen im Kreisblatt den größten Raum ein. Grund genug, sich einen Überblick zu verschaffen, wer im Kreisblatt in-serierte. Dazu sind die Anzeigen aus ausgewählten Jahrgängen des Kreisblat-tes erfasst und verschiedenen Inserentengruppen zugeordnet worden. Diese Gruppen sind folgendermaßen eingeteilt:

− amtliche Anzeigen: Hierzu gehören alle Inserate, die von den Bür-germeistern, Forstbeamten und den sonstigen Beamten und staatli-chen Stellen aufgegeben wurden. Dies umfasst beispielsweise die Ankündigungen von Märkten in den Gemeinden des Kreises, die An-kündigung von öffentlichen Verkäufen, etwa von Holz oder Lohe, Stellenausschreibungen, die Ausschreibung von Bauarbeiten oder die Ankündigung von Wahlterminen.

− Privatanzeigen: Dieser Punkt umfasst die von Privatpersonen geschal-teten Anzeigen, wie etwa Privatverkäufe, Geburts-, Heirats- und To-desanzeigen etc.

− Anzeigen der lokalen Unternehmen: Hier wurden die Anzeigen der Unternehmen aus dem Kreis Malmedy und den angrenzenden Regio-nen sowie der Stadt Aachen erfasst. Diese Rubrik beinhaltet sowohl Werbung der Unternehmen für ihre Produkte oder Geschäfte als auch Stellenanzeigen.

− Anzeigen überregionaler Unternehmen: Unter diesen Punkt fallen die Inserate von Unternehmen, die nicht aus dem Kreis Malmedy und den angrenzenden Gebieten kamen, wie etwa reichsweit agierende Versi-cherungen oder Anzeigenexpeditionen.

− Landwirtschaftliche Vereine: Darunter fallen die Inserate etwa der Lokalabteilung oder des Buttervereins.

− Kirchliche Anzeigen: Anzeigen, die von kirchlichen Stellen geschaltet wurden, wie etwa die Ankündigung von Prozessionen.

− Vereine: In dieser Rubrik werden die Anzeigen aller nicht landwirt-schaftlichen Vereine erfasst, zum Beispiel Schützen- oder Kriegerver-eine.

− Eigenwerbung: Alle Anzeigen der Druckerei Doepgen. − Sonstige Anzeigen: Alle Inserate, die nicht einer der oben genannten

Gruppen zuzuordnen sind, wie etwa Wahlaufrufe. Die meisten im Wochenblatt vor Annahme des Kreisblatttitels geschalteten Anzeigen waren Privatanzeigen, in denen häufig landwirtschaftliche Güter und Haus- und Nutztiere zum Verkauf angeboten wurden oder der Verkauf von Heu oder Holz und Lohe angekündigt wurde, mit einem Anteil von knapp 30%. Einen fast genauso großen Anteil am Anzeigenaufkommen des Wo-

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chenblattes hatten die amtlichen Anzeigen. Oft handelte es sich dabei um An-kündigungen von Immobilien- und Grundstücksverkäufen durch den Notar Brabender oder die Gemeinden. Lokale Unternehmen inserierten kaum im Wochenblatt wenn man von Doepgens eigener Druckerei und Buchhandlung, die für gut 10% des Anzeigenaufkommens sorgte, einmal absieht, beträgt ihr Anteil an den Anzeigen gerade einmal 2,7%. Dies ist wahrscheinlich dem

Umstand geschuldet, dass es in der wirtschaftlich schwachen St. Vither Ge-gend kaum Unternehmen gab, für die sich regelmäßige Anzeigen rentiert hät-ten. Die Unternehmen, die am häufigsten im „Wochenblatt“ inserierten, waren Unternehmen, die ihren Sitz nicht im Kreis Malmedy hatten, es waren Versi-cherungsgesellschaften. Besonders Vieh-, Hagel- und Feuerversicherungen nutzten die Zeitung, um für ihre Policen zu werben und sorgten so für immer-hin 5,4% des Anzeigenaufkommens. Der Rest des Anzeigenteils setzte sich aus privaten Stellenanzeigen, den Ankündigungen der Jahrmärkte in der Um-gebung, den Fruchtpreisen, den Geldkursen sowie gelegentlichen Ankündi-gungen und Aufrufen von Vereinen zusammen. Nach der Annahme des Kreisblatttitels gingen die Anzeigen zurück und machten im Zeitraum Juli bis Dezember 1866 nur noch 36% der Zeitung aus. Insgesamt war ein Anzeigenrückgang um 21,5% festzustellen, der jedoch, von den erwähnten Beispielen abgesehen, keine großen Auswirkungen auf die Verteilung des Anzeigenaufkommens hatte. Über die Gründe für den Rückgang des Anzeigengeschäfts des Kreisblatts lässt sich nur spekulieren. Denkbar wäre es, dass wegen der unsicheren politi-schen Situation potentielle Inserenten ihr Geld lieber zusammenhielten. Ge-gen diese These spricht jedoch die kurze Dauer des Deutsch-Österreichischen Krieges und die verstärkte Werbung der lokalen Unternehmer im Blatt, deren Anteil um 5,4% auf mehr als 12% stieg. Wahrscheinlicher erscheint die Ver-mutung, dass die nach wie vor neue Doepgen’sche Zeitung sich erst noch als Anzeigenplattform bei ihren Kunden etablieren musste. Dies schien im folgenden Jahr zu gelingen. 1867 wurden im Kreisblatt 1132 Anzeigen geschaltet, fast dreimal soviel wie 1866 in Wochenblatt und Kreis-blatt zusammen. Damit machten die Anzeigen fast 62% der Zeitung aus. Vor allem die lokale Wirtschaft entdeckte das „Kreisblatt“ als Werbemöglichkeit. Hatten 1866 Unternehmer aus der Region in „Wochen-„ und „Kreisblatt“ ins-gesamt 34 Anzeigen geschaltet, waren es 1867 211 Inserate. Die Anzeigen überregionaler Unternehmen nahmen um mehr als das Zehnfache zu. Alle Teilbereiche des Anzeigengeschäfts verzeichneten Zuwachsraten von zum Teil mehreren 100 Prozent. An der Spitze lagen die amtlichen Anzeigen ein-schließlich der Inserate der Notare mit 34,09%, es folgten die lokalen Unter-nehmer mit einem Anteil von 18,64% vor den Privatanzeigen mit 15%. Der Anteil der Eigenwerbung Doepgens ging gleichzeitig auf 13,5% zurück. In wirtschaftlicher Hinsicht dürfte angesichts der enormen Steigerung des An-zeigenaufkommens die neue Erscheinungsweise also eine spürbare Verbesse-

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rung gebracht haben. Die amtlichen Anzeigen hatten auch bis Mitte der 1870er Jahre den größten Anteil am Anzeigenaufkommen im Kreisblatt. Nur 1871 nahmen die Anzeigen der lokalen und regionalen Unternehmen mit ei-nem Anteil von 33,31% gegenüber 28,3% amtlicher Anzeigen mehr Raum im Kreisblatt ein. Der hohe Anteil der Behörden an den Inseraten im Kreisblatt macht noch einmal die wirtschaftliche Abhängigkeit Doepgens deutlich. Er ist auch in anderer Hinsicht von großer Wichtigkeit. In dieser Arbeit ist die Aussage des Landrats von der Heydt, die Bedeutung des Kreisblattes für die Masse der Leser habe in den Annoncen und amtlichen Mitteilungen gelegen, mehrmals zitiert worden. Hier hatten gerade die amtlichen Anzeigen, die Ankündigung von Holzauktionen, Viehmärkten, etc. eine besondere Bedeutung. Dadurch, dass das Kreisblatt etwa bei Behörden oder in Gaststätten auslag,295 bot es ge-rade für die Landbevölkerung eine wichtige Möglichkeit, sich über die ge-nannten Termine zu informieren, auch wenn sie in weiter entfernten Teilen des Kreises stattfanden. Gerade für diese Bevölkerungsschichten dürfte eine solche der Hauptgrund für die Lektüre des Kreisblattes gewesen sein. Trotz alledem ist von 1874 an ein Rückgang der amtlichen Inserate festzustellen. Ihr Anteil sank von 29% im Jahr 1874 auf 11,98% 1883. Zwar war in den folgen-den Jahren noch einmal ein leichter Anstieg der behördlichen Anzeigen zu verzeichnen, das alte Niveau wurde aber nicht mehr erreicht. 1890 lag der Anteil der amtlichen Anzeigen bei 15,2%. Relativ konstant entwickelte sich dagegen das Anzeigenvolumen der lokalen Unternehmen. Ihr Anteil pendelte sich von 1871 an bei Werten um 30% ein. Die einzige Ausnahme stellt hier das Jahr 1883 dar, als die Inserate der loka-len Unternehmen auf 23% absackten. Dieser Einbruch dürfte wahrscheinlich mit der 1882/83 über die Westeifel hereingebrochenen Hungersnot zu erklä-ren sein, die logischerweise gravierende Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation im Kreis Malmedy hatte. Von diesem Ausreißer abgesehen, blieb der Anteil jedoch konstant. In absoluten Zahlen nahmen die Anzeigen der ört-lichen Unternehmer sogar noch zu. 1873 hatten Unternehmen aus dem Kreis Malmedy und den umliegenden Gebieten 447-mal im Kreisblatt inseriert, 1887 waren es 639 Inserate. Über die Gründe für diese Entwicklung lassen sich leider keine absolut sicheren Schlüsse ziehen. Wahrscheinlich war es ein-fach an dem, dass die Unternehmer vor Ort das Kreisblatt als Werbeplattform entdeckten und es darum auch für sich zu nutzen versuchten. Der Anzeigenanteil der überregionalen Unternehmen entwickelte sich dage-gen schwankend. Zwar lag ihr Anteil 1870 bei mehr als 22%. Er sank aller-dings bis auf 8,18% im Jahr 1873, um dann bis 1890 auf 26,1% anzusteigen. 295 Die Kreisblätter lagen allgemein öffentlich aus, das Kreisblatt für den Kreis Malmedy bildete hier keine Ausnahme. Auch in der Zeitung selbst finden sich Hinweise darauf, dass die Zeitung in Ortschaften des Kreises auslag. So wies Doepgen noch 1890 daraufhin, dass das Kreisblatt in Burg-Reuland ausläge. Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 05.11.1890.

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Diese Schwankungen sind insofern merkwürdig, da sich bereits 1870 im Blatt verstärkt Inserate von Anzeigenexpeditionen, wie zum Beispiel der Anzeigen-agentur Rudolph Mosse, finden, was darauf hindeutet, dass Doepgen das An-zeigengeschäft durch die Zusammenarbeit mit den entsprechenden Agenturen, die ihm Anzeigen von überregional agierenden Unternehmen vermittelten, etwas professioneller betrieb. Wiederum recht konstant entwickelte sich das Aufkommen der Privatanzei-gen. Es lag ab 1872 meist bei 15 bis 20% des Anzeigenaufkommens eines Jahrgangs. Kaum eine Rolle spielten dagegen die Anzeigen von Vereinen, kirchlichen Institutionen oder landwirtschaftlichen Vereine, die kaum einmal mehr als jeweils 3% der Anzeigen eines Jahrgangs ausmachten. Einige interessante Aspekte fallen bei der Betrachtung der Anzeigen ins Au-ge. Bei den Inseraten der überregional agierenden Unternehmen lässt sich im Laufe der Zeit eine Veränderung in Bezug auf die beworbenen Produkte attes-tieren. Waren es zu Beginn des Untersuchungszeitraums fast ausschließlich Vieh-, Hagel- oder Feuerversicherungen, die im Kreisblatt inserierten, so ka-men im Laufe der Zeit immer mehr Anzeigen für landwirtschaftliche Maschi-nen oder Nähmaschinen, aber auch Unterhaltungsliteratur, Bettenlager, Spielwaren in der Vorweihnachtszeit, Kakao, Tabak und sogar andere Zeitun-gen296 hinzu. Auch bei den Anzeigen der lokalen Unternehmen lässt sich eine Veränderung feststellen. Anfangs waren es meist nur kurze Stellenangebote, Geschäftser-öffnungen oder -verlegungen, die im Kreisblatt angekündigt wurden. Dies veränderte sich dahingehend, dass die Unternehmer ernsthaft damit ihre Ge-schäfte bewarben, indem sie sich zum Beispiel als Alleinvertreter für diverse Produkte anpriesen oder mit bekannten und besonderen Aktionen warben, wie die Witwe H. Gilson, die rechtzeitig zur Weihnachtszeit die Eröffnung ihrer „bekannten St. Nicolaus & Weihnachtsaustellung“297 ankündigte. Auch änder-ten sich die Produkte, die beworben wurden. Handelte es sich zunächst meis-tens um Dachziegel, Holz oder landwirtschaftliches Gerät, wurden mit der Zeit auch mehr Konsumgüter und Genussmittel beworben. Man muss hier einschränkend anmerken, dass es zeitlich nicht möglich war, in dieser Arbeit statistisch zu überprüfen, wie stark diese Veränderungen ob-jektiv waren, denn auch 1890 wurden im Kreisblatt genügend Anzeigen von Viehversicherungen oder für Holzauktionen geschaltet. Trotzdem sind diese Veränderungen der gewerblichen Anzeigen mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Fingerzeig darauf, dass in den Kreis modernere Sachgüter und damit auch „städtischere“ Verhaltensweisen vordringen. Dies genauer zu untersuchen, würde aber zu sehr vom Gegenstand dieser Arbeit abweichen.

296 1890 fand sich im Kreisblatt beispielsweise immer wieder Werbung für die „Berliner Neu-esten Nachrichten“ und die „Berliner Zeitung“ oder das „Echo der Gegenwart“. 297 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 29.11.1890.

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Ein anderer nicht uninteressanter Aspekt ist, dass sich unter den Privatanzei-gen immer wieder Inserate finden, die heutzutage unter den Leserbriefen einer Zeitung zu finden wären. So musste sich Doepgen beispielsweise 1866 im Anzeigenteil die Frage gefallen lassen, ob es in Deutschland ein zweites Blatt gäbe, dass „sich für einen Aufruf zum Besten unserer verwundeten und er-krankten Krieger Insertions-Gebühren bezahlen lässt?“298 Das wurde in der nächsten Ausgabe prompt verneint.299 Auch ein Streit über einen auf einer Kaisergeburtstagsfeier im Kreis ausgebrachten Toast fand öffentlich im An-zeigenteil des Kreisblattes statt.300 Neben derartigen Auseinandersetzungen fanden sich häufig Zuschriften, in denen davor gewarnt wurde, Personen Geld zu leihen oder öffentlich ausgesprochene Beleidigungen zurückgenommen wurden. Eine weiterer Aspekt ist die geographische Einordnung der von Privatleuten oder lokalen und regionalen Unternehmen geschalteten Anzeigen. Es ist na-türlich interessant zu wissen, ob auch Kunden aus den an den Kreis Malmedy angrenzenden Regionen im Kreisblatt inserierten. Um dieser Frage nachzuge-hen, sind stichprobenartig die Inserate von Privatleuten und lokalen und regi-onalen Unternehmen aus fünf Jahrgängen301 des Kreisblattes unter geographi-schen Gesichtspunkten erfasst worden. Bei diesen Stichproben ergab sich folgendes Bild: Der überwiegende Teil der Anzeigen aus den beiden oben genannten Gruppen wurde von Personen oder Unternehmen aus dem Kreis Malmedy in Auftrag gegeben. Ihr Anteil betrug in allen hierfür herangezogenen Jahrgängen nie weniger als 73%. Dement-sprechend gering war natürliche der Anteil von Anzeigenkunden aus den be-nachbarten Regionen. Dies macht es natürlich schwer, eindeutige Tendenzen herauszufiltern, zumal bei dem geringen Aufkommen oft ein einziger Anzei-genkunde, der im Kreisblatt über mehrere Wochen hinweg inserierte, das Bild entsprechend verzerrt. Dennoch lassen sich zumindest einige Trends erahnen. Zum Beispiel ging der Anteil von Anzeigen aus dem benachbarten Ausland im Laufe des Untersu-chungszeitraums zurück. 1870 machten die Anzeigen aus Belgien 6,25% aus und die aus Luxemburg 5,73%. 1880 hatte sich dieser Anteil mit 3,67% bzw. 2,82% nahezu halbiert und noch einmal zehn Jahre später machten Inserate aus Luxemburg und Belgien jeweils nur noch 0,49% aus. Eine Ursache für diesen Rückgang könnte die Abkehr des Deutschen Reiches vom Freihandel nach 1879 sein. Die höheren Zölle erschwerten mit Sicherheit den Handel über die Grenze und könnten dafür gesorgt haben, dass es sich für

298 Kreisblatt, 25.08.1866. 299 Ebd., 01.09.1866. 300 Ebd., 06.04.1878 und 13.04.1878. 301 Es handelt sich hierbei um die Jahre 1870, 1875, 1885 und 1890. Da es sich nur um Stich-proben handelt, sind lediglich die Anzeigen aus den Monaten mit 31 Tagen erfasst worden.

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potentielle Kunden aus den belgischen oder luxemburgischen Grenzorten nicht mehr lohnte, im Kreisblatt zu inserieren. Eine weitere, nicht uninteressante Tendenz ist, dass sich in den frühen Jahr-gängen kaum Anzeigen aus dem Kreis Eupen im Blatt finden. Noch im Jahr 1880 kamen nicht einmal ein Prozent der hier untersuchten Anzeigen aus dem nördlichen Nachbarkreis. Dies änderte sich aber im Laufe der 80er Jahre und 1890 war der Anteil der Anzeigen aus dem Kreis Eupen mehr als vier Prozent gewachsen. Tabelle 1: Regionale Verteilung des Anzeigenaufkommens im Kreisblatt

Die Gründe für diese Entwicklung liegen auf der Hand. Vor dem Bau der Vennbahn Mitte der 80er Jahre stellte das beide Kreise voneinander trennende Hochmoorgebiet des Hohen Venns eine nur beschwerlich zu überwindende natürliche Barriere dar, die jeden Austausch zwischen den beiden Kreisen er-schwerte. Erst nachdem die beiden Kreise durch die Eisenbahn miteinander verbunden waren, war ein engerer Austausch möglich und es wurde auch für die Eupener attraktiv, im Kreisblatt zu inserieren. Das Gros der von nicht aus dem Kreis Malmedy, aber den umliegenden Regi-onen stammenden Inserenten aufgegebenen Anzeigen verteilte sich auf die Stadt Aachen sowie die nahe am Kreis Malmedy gelegenen Kreise Prüm, Montjoie, Schleiden und Bitburg. Unter dieser Gruppe ist es aber nahezu un-möglich, konstante Entwicklungen auszumachen, dafür sind die Schwankun-gen zu groß. Inserate aus dem Kreis Schleiden etwa waren 1875 überhaupt nicht vertreten, machten zehn Jahre fast 13% der untersuchten Inserate aus und fielen 1890 wieder auf knapp ein Prozent. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den benachbarten Eifelkreisen um Regionen handelte, die mit ähnlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten wie der Kreis Malmedy, ist es nicht verwunderlich, dass sich

1870 1875 1880 1885 1890

Kreis Malmedy 73,44% 78,44% 82,49% 75,32% 78,80%Kreis Montjoie 0 2,59% 1,13% 4,47% 2,49%Kreis Schleiden 2,60% 0 0,85% 12,77% 0,99%Kreis Prüm 6,77% 2,59% 1,20% 2,13% 1,50%Kreis Bitburg 0 1,20% 1,41% 0,43% 0Kreis Eupen 1,04% 0,20% 0,56% 1,28% 0,75%Stadt u. Kreis Aachen 3,13% 4,99% 3,67% 2,55% 5,74%Sonstige Eifel 0 0 0,56% 0,21% 4,49%Belgien 6,25% 3,19% 3,67% 3,62% 0,49%Luxemburg 5,73% 5,19% 2,82% 0 0,49%

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hier so große Schwankungen feststellen lassen. Die dortigen Unternehmen waren vermutlich finanziell genug damit in Anspruch genommen, in örtlichen Blättern zu inserieren und warben nur in Ausnahmefällen in Zeitungen außer-halb ihres Heimatkreises. Die schlechte Verkehrssituation dürfte sicherlich auch für diese Unternehmen gegen Werbung im Kreisblatt für den Kreis Malmedy gesprochen haben. Außerdem kommt hier das oben angesprochene Problem, die Verzerrung durch die kontinuierliche Anzeigenschaltung einzelner Inserenten, zum Tra-gen. Der hohe Anteil von Anzeigen aus dem Kreis Schleiden 1885, war letzt-lich auf die Inserate eines Unternehmens aus Hellenthal zurückzuführen, das in diesem Jahr sehr intensiv im Kreisblatt warb. In den anderen Jahren fielen diese Anzeigen ersatzlos fort und der Anteil sank entsprechend. Die einzige Ausnahme in dieser Gruppe stellen die Anzeigen aus Aachen dar. Ihr Anteil entwickelte sich vergleichsweise kontinuierlich, wenn auch mit Schwankun-gen von 2,55% bis 5,74%. Bei all diesen Überlegungen muss jedoch angemerkt werden, dass es sich bei den hier angegeben Zahlen um Stichproben handelt, aus denen sich zwar ein „Anfangsverdacht“ begründen lässt, der aber zur Erhärtung genauere empiri-sche Daten benötigt. Nichtsdestotrotz lässt sich sagen, dass das Kreisblatt An-zeigenplattform für die Behörden, Unternehmen und Privatleute des Kreises Malmedy war, die für Inserenten aus den benachbarten Regionen offensicht-lich nur untergeordnete Bedeutung hatte.

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VII. FAZIT Was sind nun die Resultate der Untersuchung des Kreisblattes für den Kreis Malmedy von seiner Gründung 1866 bis zum Jahr 1890? Das Aussehen der Zeitung hatte sich vor allem durch die Formatvergrößerung zu Beginn des Jahres 1874 verändert, damit einher ging auch die Umstellung auf ein dreispaltiges Layout. Trotz dieser Änderungen blieb das eng gedruck-te, wenig leserfreundliche Schriftbild erhalten. Unverändert blieb die Tatsa-che, dass bis auf die Leitartikel vom Text abgesetzte Überschriften fast völlig fehlten. Eine etwas klarere Trennung der einzelnen Ressorts erfolgte erst ab Mitte der 70er Jahre, zunächst durch die politisch-geographische Anordnung der Mel-dungen, dann durch die Einführung der Rubrik „Politische Nachrichten“ ne-ben den bestehenden Rubriken „Vermischtes“ und „Landwirtschaftliches“. Damit war das Kreisblatt von einer Ressorttrennung, wie man sie heutzutage von Zeitungen gewohnt ist, noch weit entfernt. Aber dieses Layout war ty-pisch für Zeitungen des 19. Jahrhunderts und das Kreisblatt stellte hier keine Ausnahme dar. Absolut unverändert blieb die Redaktion des Kreisblattes. Über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg bestand sie ausschließlich aus dem Verleger und Herausgeber Joseph Doepgen, der das Blatt im Alleingang betrieb. Dieser Einmannbetrieb hatte selbstverständlich Auswirkungen auf das Blatt und sei-ne Qualität, die vollständig davon abhing, was der Verleger bereit war, in die Zeitung an Geld und Mühe zu investieren. Im Falle des Kreisblattes waren diese Auswirkungen eher negativer Natur, da Doepgen nicht bereit war mehr zu tun, als die ihm durch offiziöse Korrespondenzen zugesandten oder sonst eingesandten Artikel und Annoncen abzudrucken. Man muss allerdings zur Verteidigung Doepgens sagen, dass es ihm aus fi-nanziellen Gründen nicht möglich war, einen professionellen Redakteur ein-zustellen. Außerdem musste er sich nicht nur um das Kreisblatt kümmern, sondern auch um das finanzielle Überleben seiner Druckerei. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Doepgen sich auf den Abdruck angelieferter Artikel beschränkte. Für eigene Recherchen fehlte die Zeit, und wie ein heutiger Journalist selbst zum Ereignis zu gehen war allein schon auf Grund der Ver-kehrsverhältnisse in der Westeifel zwischen 1866 und 1890 utopisch. Doep-gen war daher auch in erhöhtem Maße auf das angewiesen, was ihm an Arti-keln geliefert wurde. Dies darf vor allem angesichts des Vorwurfs des Land-rats von der Heydt, Doepgen würde sich nicht genug Mühe geben, zur Ver-besserung seiner Zeitung beizutragen, nicht vergessen werden. Zumal der Herausgeber der Kreisblattes in dieser Hinsicht kein Einzelfall war. Es gab genügend Verleger von Zeitungen wie dem Kreisblatt, die sich darauf be-

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schränkten, vorgefertigte Artikel zu drucken und die Subventionen der Regie-rung kassierten, ohne sich um die Verbesserung ihres Blattes zu kümmern.302 Dies schlug sich auch bei der Gewichtung der Ressorts nieder. Hier dominier-ten ganz klar Anzeigen, trotz einer Belebung des redaktionellen Teils in den 1880er Jahren. Dies hatte folgende Gründe: Die Inserate brachten Geld in die

Kasse des chronisch klammen Doepgens, sie wurden angeliefert, brauchten daher keine große Bearbeitung und waren der Hauptgrund für die Bewohner des Kreises, das Blatt zu lesen. Boten Anzeigen doch eine auch für die einfa-che Landbevölkerung wichtige Informationsquelle. Die Auflageentwicklung des Blattes war in den ersten Jahren des Kreisblattes ein Erfolg. Anfang der 1870er Jahre war es sogar die Zeitung mit den meisten Abonnenten im Kreis. Dieser Erfolg dürfte darin begründet sein, dass das Kreisblatt in eine Marktlücke gestoßen war. Es war die erste und lange Zeit einzige rein deutschsprachige Zeitung im Kreis Malmedy. Mit den amtlichen Bekanntmachungen und den Anzeigen bot es einen Zugang zu Informationen in der Muttersprache von zwei Dritteln der Kreisbewohner, der zuvor so nicht bestanden hatte. Dass sich die Abonnentenzahl mit 330 im Jahr 1873 eher be-scheiden ausnimmt, lag daran, dass der Markt für eine Zeitung im Kreis Mal-medy schlicht und ergreifend begrenzt war. Schon in den einleitenden Kapi-teln ist auf die zum Teil schlechte Schulbildung der Landbevölkerung und die schwierige wirtschaftliche Situation im Kreis hingewiesen worden. Ein großer Teil der Bevölkerung des Kreises, insbesondere in den deutschsprachigen Ge-bieten, bestand aus einfachen Bauern und Landarbeitern, die keine gute Schulbildung genossen hatten und weder die Zeit hatten, eine Zeitung zu le-sen, noch das Geld, ein Abonnement zu finanzieren. Es ist daher durchaus als Erfolg zu werten, dass sich das Kreisblatt in weniger als einem Jahrzehnt so gut etablieren konnte. Die Stagnation der Abonnementszahlen ab 1873 ist vor allem im Zusammen-hang mit der politischen Linie des Kreisblattes zu sehen. Das Kreisblatt ver-trat während des Kulturkampfs die Position der Regierung, was es in Opposi-tion zur überwältigenden Mehrheit der fast ausschließlich katholischen Kreis-bevölkerung brachte – ein Faktor, der neben dem ohnehin schon begrenzten Markt – einen weiteren Anstieg der Auflage verhinderte. Inhaltlich fuhr das Kreisblatt ganz klar einen gouvernementalen Kurs, wie es von einem offiziösen Blatt nicht anders zu erwarten war. Trotz aller im Kreis-blatt befindlichen Hinweise und Belege für die religiöse Überzeugung des Katholiken Josef Doepgen behielt das Blatt seine politische Einstellung auch zu Kulturkampfzeiten bei und, wie wir gesehen haben, entsprach dieser Kurs auch der politischen Einstellung seines Herausgebers. Die einzige wesentliche Änderung in der politischen Linie des Kreisblattes war, dass die Sozialdemo-kraten das Zentrum in den 80er Jahren als Gegenstand negativer Berichterstat-

302 Vgl. STÖBER R., Geheime Presseorganisation, S. 446.

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tung mehr und mehr ablösten. Einseitige Berichterstattung war aber nicht nur auf das offiziöse Pressewesen beschränkt. Da die Presse in Deutschland vor dem Inkrafttreten des Reichspressegesetzes 1874 ihre Meinung nicht frei äu-ßern konnte, hatte Parteilichkeit im 19. Jahrhundert einen höheren Stellen-wert, als objektive Berichterstattung.303 Das Kreisblatt war also auch in dieser Hinsicht ein typisches Produkt seiner Zeit. Unabhängig davon war sein Einfluss auf die Meinungsbildung im Kreis Mal-medy, wie wir gesehen haben, eher gering. Zwar hatte es im deutschsprachi-gen Teil eine monopolartige Stellung, es wurde allerdings hauptsächlich we-gen der amtlichen Bekanntmachungen und der Anzeigen gelesen, während der politische Teil weniger Beachtung durch die Leserschaft fand. Eine Aufwertung erfuhr im Laufe der Zeit die Lokalberichterstattung. Diese Veränderung war in erster Linie den Bemühungen seitens der Behörden zu verdanken, da man im Zuge der Reorganisation der Regierungspresse erkannt hatte, dass eine gute Lokalberichterstattung von großer Bedeutung für den Erfolg einer Zeitung war. Hinzu kam, dass durch den Bau der Vennbahn der Kreis enger zusammenwuchs und es leichter wurde, Informationen aus den anderen Regionen des Kreises zu erlangen. Dennoch spielten die Lokalnach-richten lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Dies war jedoch auch den Verhältnissen im Kreis Malmedy geschuldet, die lange so überschaubar blie-ben, dass die traditionellen mündlichen Kommunikationskanäle eine Lokalbe-richterstattung weitgehend überflüssig machten. Solange diese Verhältnisse unverändert blieben, fand die lokale Lebenswelt ihren Niederschlag im Blatt durch die umfangreichen Berichte über die Landwirtschaft, von der die meis-ten Kreisbewohner lebten. Trotzdem lassen sich lokale Entwicklungen im Kreisblatt zumindest erahnen. Zum Beispiel der Rückgang der Berichterstattung über landwirtschaftliche Themen und der gleichzeitige Anstieg von vermischten Nachrichten und die umfangreichere Lokalberichterstattung in den 1880er Jahren deuten darauf hin, dass mit dem Bau der Eisenbahn allmählich auch städtische Lebensfor-men in den Kreis eindrangen. War doch gerade die Lokalberichterstattung etwas, was zunächst in den Ballungsräumen entstand und dann auf dem Lande nachgeahmt wurde.304 Wie lässt sich nun das Kreisblatt angesichts dieser Untersuchungsergebnisse abschließend bewerten? Um dem Kreisblatt gerecht zu werden, muss man den historischen und regionalen Kontext berücksichtigen. Es war, wie wir gesehen haben, in vieler Hinsicht ein typisches Produkt seiner Zeit. Das eng gedruckte Layout und die Parteilichkeit waren typisch für Zeitungen des 19. Jahrhun-derts. Die Dokumentation, also der Abdruck von amtlichen Bekanntmachun-gen und Parlamentsberichten, war typisch für die Kreisblätter im Preußen des

303 Vgl. STÖBER R., Pressegeschichte, S. 170. 304 Vgl. ebd., Pressegeschichte, S. 192.

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19. Jahrhunderts. Was die Abhängigkeit von Korrespondenzen und überregio-nalen Tageszeitungen für die politische Berichterstattung anbelangt, unter-schied sich das Kreisblatt nicht von den anderen Zeitungen im Kreis Mal-medy.305 Man muss sicherlich feststellen, dass die journalistischen Inhalte des Kreis-blattes bestenfalls mittelmäßig waren, dass es in erster Linie ein Anzeigenblatt und sein Einfluss auf die politische Meinung seiner Leser gering war. Trotz-dem würde man dem Kreisblatt nicht gerecht, wenn man es als bedeutungslo-ses Anzeigenblatt beurteilen würde. Es war eine Zeitung, die an der Peripherie Preußens in einem abgelegenen, ärmlichen Grenzkreis erschien und von einer einzigen Person produziert wurde, die um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfte. Dies soll nicht überheblich klingen, aber von einer solchen Zeitung konnte man weder journalistische Höchstleistungen noch einen großen politi-schen Einfluss erwarten. Die Bedeutung des Kreisblattes lag auf einem anderen Gebiet. Es war durch den Abdruck der amtlichen Bekanntmachungen, der Annoncen und der Markttermine eine neue, bisher nicht existente Informationsquelle für die Be-völkerung des Kreises. So ermöglichte das Kreisblatt den Einwohnern des Kreises, über Termine aus dem ganzen Kreis und nicht nur in den jeweiligen Ortschaften informiert zu sein. Außerdem stellte es durch den Druck von überregionalen Meldungen und Parlamentsberichten auch für die einfache Landbevölkerung des Kreises eine Beziehung zur Politik, zum Nationalen und zur städtischen Welt und Kultur her. Wie wenig oder wie sehr diese Meldungen auch beachtet worden sein mögen, hier lag die große Bedeutung des Kreisblattes: Es war ein Zugang zur Welt außerhalb des unmittelbaren lokalen Umfelds und trug so seinen Teil dazu bei, der Bevölkerung des Kreises Malmedy Anschluss an die moderne Gesell-schaft zu verschaffen.

305 Vgl. CHRISTMANN, S. 38.

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VIII. ANHANG

Tabelle 2: Anteile der einzelnen Rubriken am redaktionellen Teil der Kreisblat-

tes.

Politik

Landwirtschaft

Kirchliches

Vermischtes

Lokales

Fortsetzungsromane/Gedichte

Wirtschaft

186732,80% 15,00% 1,60% 37,00% 7,20% 4,80% 1,60%

164 75 8 185 36 24 8

187056,85% 25,10% 0,00% 10,98% 7,45% 3,53% 0,00%

145 64 0 28 19 9 0

187156,35% 13,49% 1,59% 8,53% 14,68% 3,57% 1,59%

142 34 4 21 37 9 4

187234,85% 14,94% 3,59% 21,99% 9,13% 7,47% 7,88%

84 36 9 53 22 18 19

1873 32,59% 32,59% 0,89% 19,64% 9,38% 2,68% 2,23%73 73 2 44 21 6 5

1874 22,70% 15,68% 8,38% 30,00% 7,84% 12,43% 2,97%84 58 31 111 29 46 11

1876 22,96% 10,12% 0,00% 32,59% 12,84% 18,52% 2,96%93 41 0 132 52 75 12

1882 50,07% 3,63% 0,00% 31,52% 7,66% 5,65% 1,48%745 54 0 469 114 84 22

1883 29,42% 6,37% 2,63% 33,92% 17,78% 5,38% 2,09%268 58 24 309 162 49 19

1885 31,11% 1,90% 0,00% 41,59% 12,17% 9,52% 12,00%294 18 0 393 115 90 1,27

1887 41,42% 1,17% 0,00% 43,89% 6,29% 5,75% 0,41%705 20 0 747 107 98 7

1888 34,33% 0,51% 0,00% 50,03% 7,63% 6,12% 0,19%540 8 0 787 120 96 3

1890 11,16% 0,91% 0,00% 60,34% 14,30% 11,87% 1,12%110 9 0 595 141 117 11

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Tabelle 3: Verteilung im Kreisblatt.

Bea

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he

Ver

ein

e

Ver

ein

e

So

nst

iges

186736,21% 15,01% 18,64% 13,51% 11,13% 0,00% 1,24% 0,00% 5,48%

410 170 211 153 126 0 14 0 62

187027,41% 16,38% 14,44% 12,11% 22,67% 0,38% 2,25% 0,00% 1,32%

353 211 186 156 292 5 29 0 17

187128,58% 13,62% 33,31% 7,55% 13,20% 0,21% 0,85% 0,00% 2,82%

405 193 427 107 187 3 12 0 40

187231,80% 13,20% 29,41% 5,13% 13,95% 1,09% 1,30% 2,46% 1,09%

465 193 430 74 204 16 19 36 16

187341,36% 12,60% 29,03% 4,68% 8,18% 0,13% 1,36% 0,84% 82,00%

637 194 447 72 126 2 21 13 28

187429,04% 13,59% 31,31% 5,78% 14,50% 0,17% 1,42% 1,26% 2,66%

513 240 553 102 256 3 25 22 47

187628,22% 13,51% 29,23% 8,14% 11,81% 0,00% 1,52% 1,26% 5,94%

447 214 463 129 187 0 24 20 94

188217,42% 15,29% 29,03% 12,71% 19.68% 0,58% 1,10% 1,30% 2,91%

270 237 450 197 305 9 17 20 45

188311,98% 14,75% 23,73% 11,02% 33,50% 0,85% 1,47% 0,56% 2,15%

212 261 420 195 593 15 26 10 38

188517,49% 16,03% 28,85% 4,15% 28,79% 0,18% 1,23% 1,17% 1,40%

299 274 493 71 492 3 21 20 24

188717,02% 15,23% 33,79% 8,20% 21,10% 0,85% 0,11% 0,36% 2,87%

288 288 639 155 399 16 2 6 54

188820,91% 18,63% 26,46% 4,19% 21,28% 1,36% 0,65% 1,63% 4,57%

384 349 486 77 391 25 12 30 84

1890 15,20% 16,15% 29,43% 8,15% 26,10% 0,26% 1,32% 1,38% 1,81%287 305 556 154 493 5 25 26 36

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TEIL II: LUISE CLEMENS

ZWISCHEN DEN ZEILEN:

DIE MALMEDY-ST.VITHER VOLKSZEITUNG UND DER

“VATERLANDSWECHSEL“ EUPEN-MALMEDY’S

(1919-1925)

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CLEMENS L. - Zwischen den Zeilen

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I. EINLEITUNG Die folgende Arbeit wird sich mit der Malmedy-St.Vither Volkszeitung in den Jahren 1919-1925 auseinander setzen. In dieser Zeit fand in der Region Eu-pen-Malmedy ein so genannter ‚Vaterlandswechsel’ statt. Die Bewohner der Region mussten als eine Konsequenz des Versailler Friedensvertrages ihre Nationalität wechseln. Aus bis dahin Deutschen wurden Belgier. Ausgangsüberlegung ist, dass ein solcher Nationalitätenwechsel an einer regi-onalen Zeitung nicht spurlos vorübergehen kann. Die Zwischenkriegszeit war gekennzeichnet durch eine vehemente Ablehnung der Angliederung und dem Wunsch nach rascher Rückkehr in das ‚Vaterland’1 und so begab ich mich in den Ausgaben der Zeitung auf die Suche nach Artikeln, die den Anschluss kritisch kommentierten. Schnell musste ich einsehen, dass ein solches Vor-gehen recht unfruchtbar ist, unterlag die Zeitung doch einer strikten Zensur. Allerdings fand ich bei der Bearbeitung Artikel, die ein politisch interessiertes Publikum dazu auffordern mussten ‚Zwischen den Zeilen zu lesen’. Artikel, die als „kritisch“ interpretiert werden können und als solche angelegt sind. Mit meiner Arbeit möchte ich aufzeigen, wie eine kleine regionale Zeitung in der Lage war gegen Zensur anzuschreiben und gleichzeitig einen emotionalen Schutzraum bot für die Menschen, deren Kollektivgefühl durch den Nationali-tätenwechsel2 angegriffen worden war. Meine Arbeit ist Teil eines Projektes, das sich die Erstellung einer Datenbank zur Malmedy-St.Vither Volkszeitung zum Ziel gesetzt hat3. Die Jahrgänge 1919 – 1925 habe ich komplett durchgearbeitet und kann mich daher auf Ori-ginalquellen stützen. Zeitgenössische Autoren habe ich, bis auf die Schilde-rungen des Landrats Karl Kaufmann4, nur für die Beschreibung der Zeitungen verwendet, da sie mir durch ihren revisionistischen Charakter für einen offe-nen Zugang zum Thema wertlos erschienen.5 Parallel sind eine zweite und eine dritte Magisterarbeit entstanden, wobei sich die erste mit der Identitäts-bildung durch die Malmedy-St. Vither Volkszeitung für den Zeitraum ihres

1 CREMER F., Über den Umgang mit der eigenen Vergangenheit, in: LEJEUNE C., FICKERS A., CREMER F., Spuren in die Zukunft, Büllingen, 2001, S.11. 2 Vgl. FLAM H., Soziologie der Emotionen, Konstanz, 2002, S.62-67. 3 Die Zeitung ist in Privatbesitz der Erben der Familie Doepgen. Die Datenbank soll nach Fer-tigstellung in das Eigentum der Deutschsprachigen Gemeinschaft Ostbelgiens übergehen. 4 KAUFMANN K.L., NEU H. (Hrsg.), Der Kreis Malmedy, Geschichte eines Eifelkreises von 1865 bis 1920, Bonn, 1961. Kaufmann war von 1899 bis 1907 Landrat in Malmedy. Der Vor-sitzende des Eifelvereins stammte aus Bonn, seinen Ausführungen fehlt der deutsch-nationale Charakter der beiden späteren Quellen, er zeichnet sich aus durch eine detaillierte Beschreibung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. 5 STOMMEN A., Die Presse Eupen - Malmedys, Düsseldorf 1939; BARTZ K., Das Unrecht an Eupen - Malmedy, Berlin, 1928.

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ganzen Erscheinens von 1866-1944 auseinandersetzt6 und die zweite die Ent-wicklung des Blattes in der Bismarckzeit beschreibt7. Meine Vorgehensweise ist eine Kombination aus empirischer und hermeneu-tischer Herangehensweise. Empirisch dann, wenn ich die Anzahl der Artikel, die zu Belgien erschienen sind, mit denen, die die deutsche Innenpolitik the-matisieren, vergleiche, hermeneutisch, wenn ich Textinterpretation betreibe. Als das Ziel von Hermeneutik verstehe ich mit Wilhelm Dilthey „die vielen Bedeutungen eines Textes oder Werks zu reduzieren, bis man die Eine fand, die historisch möglich war, als der Text entstand.“8 ‚Historisch möglich’, in diesem Sinne erhebe ich mit meiner Ausarbeitung keinen Wahrheitsanspruch, sondern möchte Deutungsangebote liefern, die selbstverständlich hinterfrag-bar sind. Den Textinterpretationen liegen unterschiedliche Ansätze zugrunde: im Bereich der Stellvertreterartikel möchte ich von einem politischen Ansatz sprechen, der den historischen Kontext stark mit einbezieht; den Teil, der Heimat, Staat, Sprache in seinen Mittelpunkt stellt verbinde ich auf der Rezi-pientenseite stark mit einem „Nutzungsansatz“9 – welchen psychischen Ge-winn hat die Leserschaft? Die Möglichkeit ‚Zwischen den Zeilen’ zu lesen ist bedingt durch den Unter-schied von ‚bedeuten’ und ‚meinen’. Spreche ich von Bedeutung, so benenne ich die Eigenschaften von Wörtern und Sätzen. ‚Meinen’ dagegen beinhaltet eine kommunikative Handlung. Zwischen dem, was Wörter bedeuten und dem, was jemand bei Ihrer Verwendung mit Ihnen meint, kann damit ein we-sentlicher Unterschied bestehen. Für die Autorenseite heißt das, dass der Äu-ßerungsinhalt sich zum wesentlichen Teil aus dem konstituiert, was der Ver-fasser jeweils ausdrücken will und kann; für den Rezipienten, der nicht nur fertige Information aufnimmt in Form von Wieder Erkennen von Sprache, heißt das, dass er Annahmen macht über das, was der Sprecher gemeint hat oder gemeint haben könnte. Hinzu kommen Inhalte, die nicht sprachlich aus-gedrückt werden, die hinzugedacht werden müssen. Hierzu gehören z. B. auch die Gefühlswerte von Wörtern.10 Eine solche Arbeit ist nicht möglich, ohne sich mit der Wirkung von Medien zu beschäftigen. Das zweite Kapitel gibt einen Einblick in die Medienwir-kungsforschung und die Geschichte der Zensur, die auch eine von ihrer Täu-

6 RÖTHER M., Kollektive Identitätskonstruktion durch autoritative Deutungsangebote. Die St.Vither Volkszeitung und die Bevölkerung Eupen-Malmedy - St.Viths, Aachen, 2005. 7 MÜLLER-LUTZ F., „Den einfachsten Ansprüchen nicht genügend?“ - Das Kreisblatt für den Kreis Malmedy in der Bismarckzeit 1866-1890, Aachen, 2006. 8 DILTHEY W., Die Entstehung der Hermeneutik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Leipzig, Berlin, 1924, S. 334 zitiert nach: KROIS J.M., Kultur als Zeichensystem, 106-118, in: JAEGER F., LIEBSCH B. (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart, 2004, S.115, Anmerkung 52. 9 FAULSTICH W., Medienwissenschaft, Paderborn, 2004, S. 193. 10 VON POLENZ P., Deutsche Satzsemantik, Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens, Berlin, 1985, S. 299-302.

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schung ist. Ich zeige auf, mit welchen Methoden es oppositionellen Autoren zu allen Zeiten gelungen ist die herrschaftliche Kontrolle zu umgehen und beschreibe gleichzeitig die Stimmung, die geprägt war von einer unfreien und behinderten Kommunikation, in der die Malmedy-St.Vither Volkszeitung er-schienen ist. Die Angliederungsdiskussion bliebe unverständlich ohne die Darstellung der komplizierten Geschichte der kleinen Grenzregion, die seit dem Mittelalter immer wieder ihre Zugehörigkeit gewechselt hat (s. Kap. 3.1). Die Geographie des Landes erschien mir wichtig, weil sie den Rahmen des Lebensraumes der Bevölkerung illustriert und die emotionale Nähe zur Regi-on erklärt (s. Kap. 3.2). Mit der Beschreibung der Zeitungslandschaft in der Region Eupen-Malmedy gebe ich einen Einblick in die Informationsmöglich-keiten der Bevölkerung (s. Kap. 4,1, 4.2) und bette die Malmedy-St.Vither Volkszeitung in eine konservative Mediengesellschaft ein (s. Kap. 4.4), beto-ne aber zugleich ihre herausragende Stellung, die sie als Traditionsblatt im Süden der Region innehatte (s. Kap. 4.3). Im Hauptteil werde ich zeigen, welche offiziellen Informationen die Zeitung zu liefern in der Lage war und wie sich das Blatt im Laufe des Gouverne-ments von Baltia von einer reinen Informationslieferantin zum Protestorgan entwickelte (s. Kap. 5.2). Allerdings nutzte Doepgen bereits zu Beginn der neuen Regierung die Methode des „hintergründigen“11 Schreibens, um die Abtretung zu kommentieren, ohne mit den offiziellen Stellen eine Kontrover-se eingehen zu müssen. Wie er das machte und wie die Artikel gedeutet wer-den können, beschreibe ich unter dem Titel ‚Zwischen den Zei-len’ (s. Kap. 5.3.-5.3.3).

II. MEDIENWIRKUNG Beschäftigt man sich mit Zensur, so geht man davon aus, dass Medien eine Wirkung auf ihre Umgebung haben. Genauso wie Herrschende sich vor einer ungünstigen Wirkung fürchten, so hoffen Oppositionelle darauf und versu-chen ihre Botschaften so zu verpacken, dass sie trotz allem von ihrer Leser-schaft noch verstanden werden können. Medien schaffen allerdings auch Wel-ten, Rückzugsräume, in die man sich begeben kann, wenn sich große Verän-derungen anzeigen. Diese Räume stellen halboffene Öffentlichkeiten dar; halboffen deswegen, weil nur die Menschen Zutritt haben, die sich von den Veränderungen betroffen fühlen und sich mit diesem speziellen Medium aus-einandersetzen möchten. Der Journalist übernimmt hierbei die Rolle des Tür-wächters als Vermittler und Kontrollinstanz, er entscheidet über die Auswahl und den Umfang der Information.12

11 Vgl. VON POLENZ, Idem, S.298. 12 Vgl. FAULSTICH W., Medienwissenschaft, Paderborn, 2004, S. 16-18.

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Das Verhalten des Rezipienten muss aktiv sein, wenn er in der Lage sein will einer Zeitung Informationen zu entnehmen, von der er weiß, dass ihre freie Berichterstattung durch die Zensur gestört ist. ‚Zwischen den Zeilen zu lesen’ erfordert damit eine erhöhte Aufmerksamkeit und intensivere Auseinanderset-zung mit dem Medium: der Leser nimmt nun eine deutlich aktivere Rolle ein und gestaltet die Botschaften mit. Ein kurzer Einblick in die Forschung zur Medienwirkung zeigt, dass die Mei-nungen darüber auseinander gehen, wie aktiv bzw. passiv die Rolle der Medi-enkonsumenten einzuschätzen ist13. Trotzdem wird deutlich, dass sich in der theoretischen Beschreibung von Kommunikation ein Wandel vollzogen hat. Kommunikation wird nicht mehr als linearer Prozess vom Sender zum Emp-fänger begriffen, sondern als ein Verfahren, in dem das Publikum ein we-sentliches Teil des Kommunikationsprozesses ist.14 Dass von Medien eine wirklichkeitskonstitutive Wirkung ausgeht, die dem Empfänger eine eher passive Rolle zuschreibt, konnte in den letzten 50 Jahren durch Langzeitstudien bewiesen werden. Elisabeth Noelle-Neumann15 veran-schaulichte in einer beispielhaften Untersuchung zu dem Thema: „Was halten Sie für die besten Eigenschaften der Deutschen?“ in den 50er und 60er Jahren die Wirkung von Medien. Obwohl die Untersuchung in die Zeit des wirt-schaftlichen Aufstiegs Deutschlands fiel, war das Ergebnis für die Deutschen überwiegend negativ. Die Überlegung, dass es sich bei diesem Ergebnis um die Auswirkung der Darstellung des deutschen Charakters in führenden Fern-sehmagazinen handelte, bestätigte sich. Ähnliches wurde zu anderen Themen durchgeführt, die Aussagen der Ergebnisse führten in die gleiche Richtung. Es folgten Langzeitstudien zum Thema Technikberichterstattung und Technikak-zeptanz in der Bevölkerung im Jahre 198916 und zur Gentechnik im Jahre 199117. Den Durchbruch zum Thema Medienwirkungen erzielte allerdings eine amerikanische Studie zur Berichterstattung über George Bush in den Medien und dessen durch Umfragen bewertete Popularität in der Bevölke-rung. Das Ergebnis ließ keine Fragen offen. Die Popularität des Präsidenten bewegte sich entsprechend der Darstellung in den Medien. Entlarvend wirkt, 13 Vgl. CHARLTON M., NEUMANN-BRAUN K., Medienthemen und Rezipiententhemen, in: SCHULZ W. (Hrsg.), Medienwirkungen, Forschungsbericht DFG, Weinheim, 1992, S. 9-22; vgl. auch: FRÜH W., Realitätsvermittlung durch Massenmedien. Abbild oder Konstruktion, in: SCHULZ, Idem, S. 71-89. 14 Vgl. FAULSTICH, Idem, S.16; vgl. SANDBOTHE M., Medien-Kommunikation-Kultur. Grundlagen einer pragmatischen Kulturwissenschaft, S.119-127, in: JAEGER F., LIEBSCH B. (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 122/123. 15 Vgl. NOELLE-NEUMANN E., Medieninhaltsanalyse und Meinungsforschung in den USA und Deutschland. Ein wissenschaftsgeschichtliches Kapitel, in: HOLTZ-BACHA Ch., Wie die Medien die Welt erschaffen und wie die Menschen darin leben, Opladen, 1998, S. 173-189. 16 Vgl. KEPPLINGER H.M., Künstliche Horizonte, Folgen, Darstellung und Akzeptanz von Technik in der Bundesrepublik, Frankfurt, 1989. 17 Vgl. DERS., Gentechnik im Widerstreit. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Journalismus, Frankfurt, 1991.

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dass das Auf und Ab in der Popularität sich nicht parallel zur Darstellung entwickelte, sondern erst etwas zeitversetzt den Fernseh-Abendnachrichten folgte18. Bei den genannten Untersuchungen handelte es sich um aktuelle, zeitgenössi-sche Untersuchungen in einer journalistischen Welt, in der man davon ausge-hen kann, dass die für die Berichterstattung Verantwortlichen zumindest um einen objektiven Journalismus bemüht waren. Ganz anders zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Viele Zeitungen verstanden sich als Kampfblätter, sie hatten einen Erziehungsauftrag, wollten ihren Lesern vermitteln, was falsch und was richtig ist. So bezeichnete es Willy Jäger in den 20er Jahren als eine Aufgabe der Aachener Presse, dass sie „…die Geschehnisse der Grenzbezirke und das in ihnen zutage tretende Leben in den Kreis Ihrer Be-obachtung stellt und so Mittlerin ist für die deutsch sprechende und verste-hende Grenzbevölkerung und diese dadurch in Verbindung hält mit dem, was die ganze deutsche Nation bewegt und in Spannung hält.“19 In diesem Kontext erschien die Malmedy-St.Vither Volkszeitung, deren Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung aber auch zur Formung eines bestimmten Weltbildes durch die Zensur stark eingeschränkt waren. Jedoch war die Zensur kein un-bekanntes Phänomen, und im Laufe der Jahrhunderte wurden von Literaten und Journalisten Methoden entwickelt um Zensur zu umgehen und die Obrig-keit zu täuschen.

A. WAS IST ZENSUR? Die Forschung liefert, je nach Zweig, verschiedene Definitionen von Zensur. Die Kommunikationstheorie versteht Zensur ganz allgemein als „die Prüfung einer Äußerung mit der Alternative, sie zuzulassen oder zu unterdrücken“.20 Konkreter wird die soziologische Theorie, als deren Vertreter sich Otto21 und Kienzle/Mende22 verstehen. Sie gehen zwar wie die Kommunikationstheorie auch vom bestehen geltender Normen aus, rücken aber die Kontrolle von Äu-ßerungen als Herrschaftsinstrument in ihren Mittelpunkt. Ulla Otto versteht daher Zensur „als die autoritäre Kontrolle aller menschlichen Äußerungen, die innerhalb eines bestehenden gesellschaftlichen Systems mit der Bemühung um sprachliche Form geschrieben werden.“23 Für die vorliegende Arbeit von Interesse ist die Unterscheidung in Vorzensur und Selbstzensur. Wird der Akt der Vorzensur, der die Rechtslehre als eine

18 Vgl. NOELLE-NEUMANN, Idem, S. 183. 19 JÄGER W., Die Presse der Grenzstadt, in: Deutschlands Städtebau, bearb. von HUYSKENS H., Berlin, 1925, 2.Auflage, S. 144/145. 20 KANZOG K., Lexikonartikel: literarische Zensur, in: KANZOG K. (Hrsg.), MASSER A. , Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 4, Berlin 1984, S. 999-1049. 21 OTTO U., Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik, Berlin 1968. 22 KIENZLE M., MENDE D., Zensur in der BRD. Fakten und Analysen, Berlin, 1980. 23 OTTO, Idem, S. 6.

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Methode, die „nach inhaltlicher Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Äußerung in formellen Verfahren über die generelle Zulässigkeit (Erlaubnis oder Ver-bot) ihrer Mitteilung entscheidet“24, von einer dafür zuständigen Stelle ausge-übt, so liegt die Selbstzensur beim Autoren. Kanzog definiert sie als „die von einem Autor entgegen seiner ursprünglichen Intention im Wissen der Geltung einer ihm fremden Norm (und im Bewusstsein der Sanktion im Falle ihrer Nichtbeachtung) vorgenommenen Korrektur einzelner Stellen seines Werkes (und gelegentlich auch die Unterdrückung eines ganzen Werkes).“25 Im Falle der Malmedy-St.Vither Volkszeitung und seines Herausgebers Do-epgen bedeutet dies, dass Doepgen kritische Äußerungen zum ‚Vaterlands-wechsel’ unterlassen hat, bzw. so verändert hat, dass sie im Zensursystem be-stehen konnten. Von der gewöhnlichen Korrektur unterscheidet sich die Selbstzensur durch die vom Autor gesetzten Maßstäbe. Ist in der Regel eine Selbstzensur nur durch werkexterne Äußerungen aus dem Umfeld des Auto-ren nachzuweisen26, scheint mir der Nachweis in der Malmedy-St.Vither Volkszeitung selbst, wie ich noch darstellen werde, einfacher.

B. TRADITION DER ZENSUR – TRADITION DER TÄUSCHUNG?

Das Alter der Zensur entspricht dem der Buchdruckerkunst, die Verbreitung der Zensur der des Buches. Auch Deutschland war nie tatsächlich frei von dem korrigierenden Instrument der Herrschenden, es gab immer nur ein Mehr oder ein Weniger.27 Allerdings haben sich die Instanzen im Laufe der Zeit verändert und die Menschen dementsprechend ihr Verhalten im Umgang mit der Kontrolle entwickelt. Noch in der frühen Neuzeit waren es die Eingriffe und Kontrollen der Kirche, die bis in die privaten Alltagssituationen der Menschen hineinreichten. Am Beispiel der Forderung des Klerus auf Reduzierung der Feiertage beschreibt Ute Daniel, mit welcher Intensität die Kirche ihre Ziele verfolgte. Der ge-wünschte Erfolg stellte sich allerdings nicht ein. Die Reaktion in der Bevölke-rung schwankte vielmehr zwischen „höflicher Ignoranz“ der Bestimmungen, die Daniel als eine „jahrhundertealte Tradition im Umgang von Untertanen mit unbeliebten obrigkeitlichen Verordnungen“ beschreibt und der Suche nach einer möglichst funktionalen Äquivalente für den Ausfall an selbstbe-stimmter Zeit.28 Die massive Form der klerikalen Zensur produzierte demnach

24 VON KRUEDENER O., Die Zensur im deutschen Verwaltungsrecht unter Berücksichtigung des kanonischen Rechts, Berlin, 1938, S. 46. 25 KANZOG, Idem, S. 1001. 26 KANZOG, Idem, S. 1001. 27 BREUER D., Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland, Heidelberg, 1982, S. 18. 28 DANIEL U., Zensur und Volkskultur im 18. Jahrhundert, in: MAC CARTHY J.A., Zensur und Kultur, Tübingen, 1995, S. 33.

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ein Ausweichverhalten in der Bevölkerung, das es ihr erlaubte mit der verän-derten Situation umzugehen. Dieter Breuer gibt einen Überblick über die Geschichte der literarischen Zen-sur von der frühen Neuzeit bis zum heutigen Tag.29 Er stellt dar, wie bereits im 16. Jahrhundert in den Texten von Hans Sachs versteckt Kritik an der Ob-rigkeit geübt wurde. Ab diesem Zeitpunkt wurde Zensur zum Mittel der Staatsräson30. Als ein frühes Beispiel für ein kunstvolles Umgehen der Zensur nennt Breuer die Ode von Jacob Balde an Kurfürst Maximilian im 17. Jahr-hundert. „Nahezu jedes Wort gerät ihm zur Anspielung, Pathos geht unmerk-lich in Ironie über“, der Autor vollzog einen Wechsel vom Konkreten zum Allgemeinen, so dass er trotz seiner Kritik für die Zensur unangreifbar wur-de.31 Mit der Installierung der Presse als Massenmedium im 18. Jahrhundert änderte der Begriff der Zensur seine Bedeutung. Seit diesem Zeitpunkt wird unter dem Begriff der Zensur die staatliche Kontrolle der Produktion von Tex-ten und Bildern in Literatur und Theater, Publizistik, Kunst und Wissenschaft verstanden. Sie umfasst damit die Kontrolle desjenigen Personenkreises, der sich „zu Spezialisten für die symbolische Sinnstiftung und Wirklichkeitsdeu-tung“32 entwickelt hat. Die Herrscher fürchteten die spitze Feder der Autoren. Die Folge waren strengste Zensurbestimmungen, gekoppelt mit einer strikten Informationsver-weigerung, dem sogenannten Arkanprinzip der Regierungen. Ziel war, wie zu allen Zeiten, „den schwer belasteten Untertanen die Möglichkeit zu nehmen, über politische Alternativen nachzudenken: Wissen ist Macht“.33 Bei Verstö-ßen reagierte die Obrigkeit heftig. So beschreibt Breuer den Fall Schubart, der auf Grund einer Falschmeldung für 10 Jahre im Kerker verschwand.34 In der napoleonischen Zeit entwickelten die oppositionellen Schreiber eine große Kreativität. Es entstanden fiktive Verlagsanstalten wie „Cölln, bey Pe-ter Hammer“, die zum Kennzeichen staatskritischer Literatur wurden. Kritik an den Karlsbader Beschlüssen35, die ein „absolutistisches und nunmehr zentralisiertes Zensursystem“ etablierten36, konnte nur `zwischen den Zeilen` durch satirische Darstellungen und poetische Texte geübt werden. Die Kritik

29 BREUER, Idem. 30 BREUER, Idem, S. 48. 31 BREUER, Idem, S. 60. 32 DANIEL, Idem, S. 14. 33 BREUER, Idem, S.136. 34 BREUER, Idem, S.133-139. 35 Die Karlsbader Beschlüsse von 1819 unterwarfen Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, deren Umfang 20 Druckbögen unterschritten, einer Vorzensur. Vgl. LANGEWIESCHE D., Europa zwischen Restauration und Revolution 1815-1849, München, 1993, S. 61. 36 ZIEGLER E., Lexikonartikel Zensur, in: SCHWEIKLE G. und METZLER I.Hg., Literatur-lexikon , 2. überarbeitet Auflage, Stuttgart, 1990, S. 505; Vgl. auch CHRISTMANN H., Presse und gesellschaftliche Kommunikation in Eupen - Malmedy zwischen den beiden Weltkriegen, München, 1974, S. 35.

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in den „Lebensansichten des Katers Murr“ von E.T.A. Hoffmann war so ge-schickt versteckt, dass sie trotz polizeilicher Zensur veröffentlicht werden konnten.37 Der österreichische Schauspieler und Dichter Johann Nestroy ist ein weiteres Beispiel, das die Möglichkeit zeigt, wie es gelingen kann, durch die „Wahl harmlos erscheinender, aber versteckte Kritikmöglichkeiten bieten-der Sujets…einen Weg zwischen Zensureingriffen, Aufführungsverbot und Gefängnis einerseits und Verlust des Publikums und der eigenen Identität an-dererseits zu finden.“38 Neben offensichtlich kritischen Texten, die nur in der Illegalität vertrieben werden konnten, wurde zu allen Zeiten der Versuch unternommen die Zenso-ren zu täuschen. Das geschah wie beschrieben über satirische Texte, die natür-lich leicht als solche erkannt werden konnten, aber auch über eine Form von Stellvertretertexten, die gegenwärtige Missstände in andere Kontexte setzte, wie bei den o.g. „Lebensansichten des Katers Murr“ oder der Kritik Baldes an der Person des Kurfürsten Maximilian. Im 1. Weltkrieg kommandierte das militärische Oberkommando die gesamte Presse. Eine freie Kommunikation fand in den Medien nicht mehr statt. Die Bevölkerung war sich darüber be-wusst, so betont Christmann die daraus resultierende Trennung in eine Oral- und Medialkommunikation, die ein besonderes „Medienbewusstsein“ in der Bevölkerung schuf.39 Als die „erste Pflicht“ der Presse nennt Koszcyk „die seelischen, physischen und materiellen Kräfte jedes einzelnen und damit des ganzen Volkes zu stärken, grundsätzliche Erörterungen über den Krieg zu un-terlassen, weil sie nur das Volksgemüt unnötig ... erreg(t)en.“40 Die zentrale Steuerung der Presse ging von den sogenannten ‚Berliner Pressekonferenzen’ aus. Hier wurden die Richtlinien und Anleitungen zur Kommentierung her-ausgegeben. Alle Probleme der Tagespolitik wurden mit einem offiziellen Kommentar versehen. Dass eine Zensur stattfand, war für die Leserschaft of-fensichtlich. Die Artikel erschienen mit weißen Flecken oder dem Hinweis ‚Zensurlücke’.41 Die Provinzpresse orientierte sich inhaltlich zum größten Teil an den Zeitungen der Reichshauptstadt, sie schien allerdings weniger unter der Zensur zu leiden wie große Blätter.42 Die Kriegszensur wurde am 12.11.1918 durch den Rat der Volksbeauftragten unter Friedrich Ebert aufgehoben. Die Freiheit der Meinungsäußerung, der Presse und der Versammlung bildete einen wesentlichen Teil des Neun-Punkte Programms der Regierung. Die Weimarer Verfassung verbürgte in Artikel 118 das Recht auf freie Meinungsäußerung. „Jeder Deutsche hat das

37 Vgl. BREUER, Idem, S. 145-156. 38 BREUER, Idem, S. 166. 39 Vgl. CHRISTMANN, Idem, S. 39. Mit Medienbewußtsein meint Christmann hier, die durch die Zensur geschaffene Sensibilität in der Bevölkerung gegenüber dem, was in der Presse stand. 40 KOSZCYK K., Deutsche Presse 1914-1945, Berlin, 1972, S. 164. 41 Vgl. CHRISTMANN, Idem, S. 43/44. 42 vgl. KOSZCYK, Deutsche Presse…, S. 21 ff.

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Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern… Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffenen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schau-stellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.“43 Petersen weist allerdings darauf hin, dass „der Artikel 118 zwar die Meinungs-, nicht aber die Pressefreiheit berücksichtigt. Das Preßgesetz von 1874 hatte die Grenzen der Freiheit für den Druck und die Verbreitung aller Erzeugnisse der Buchdruckerpresse viel weiter gezogen, indem sie die Freiheit nur dem in die-sem Gesetz selbst festgesetzten Beschränkungen unterwarf. Danach konnte zwar der Inhalt einer Druckschrift eine Bestrafung nach sich ziehen, wenn er gegen die Strafgesetze verstieß, jedoch waren polizeiliche Vorbeugungs- oder Repressivmaßnahmen hier ausgeschlossen. Diese Freiheit der Presse fand in der Weimarer Republik keinen verfassungsrechtlichen Schutz“.44 In den ers-ten Wochen und Monaten der neuen Republik wurden dann auch vor allem rechtsstehende Redaktionen und Zeitungen von Angehörigen des Spartakus-bundes oder von lokalen Arbeiter und Soldatenräten besetzt wurden.45 Nach-dem im Februar 1919 in München erneut die Revolution ausbrach, wurden die bürgerlichen Blätter auch dort unter die Vorzensur der Arbeiter – und Solda-tenräte gestellt. Die scharfe Zensur wurde erst im Mai, nach dem Ende der Räterepublik, entschärft. Die kommunistischen Zeitungen wurden allerdings nicht mehr zugelassen. Fand in München im Bereich der Zensur eine Ent-spannung statt, verstärkte sich die Situation in Berlin aufgrund des Kapp-Putsches wieder.46 Die Zensurakte der jungen Republik waren eng gekoppelt an die innenpolitischen Unruhen.47 Eine zentrale Übermittlungsstelle der neuesten Nachrichten stellte das Wolff´sche Telegraphenbüro (WTB) in Berlin dar. Auch die Malmedy- St.Vither Volkszeitung enthielt viele Artikel, als deren Quellen das WTB an-gegeben war. Christmann bezeichnet die Agentur als Synonym für „manipula-tive Nachrichtenübermittlung.“48 Das Unternehmen war in privaten Händen und wurde von einem Berliner Bankhaus mitfinanziert. Es hatte eine Doppel-funktion: Als offizielles Büro war es für die Verbreitung amtlicher Nachrich-ten zuständig. Als Privatunternehmen veröffentlichte es diese als Nebenleis-tung und war darüber hinaus in der subjektiven Berichterstattung seinen Geldgebern verpflichtet.49 Die Zeitungen und in diesem Sinne auch die Her-

43 PETERSEN K., Zensur in der Weimarer Republik, Stuttgart, 1995, S.32. 44 PETERSEN, Idem, S. 36. 45 Vgl. KOSZCYK, Deutsche Presse…, S. 31/32. 46 Vgl. KOSZCYK, Deutsche Presse…, S. 39-50. 47 Vgl. PETERSEN, Idem, S. 9. 48 CHRISTMANN, Idem, S. 37. 49 Vgl. KOSZYK, Deutsche Presse…, Idem, S. 53, 98/99.

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steller von Nachrichten, wie o. g. Büro, verstanden sich stets auch als Sprach-rohr bestimmter Interessengruppierungen. Die Möglichkeiten der politischen Zuordnung waren recht einfach, ein Gesinnungswechsel wurde nach außen deutlich kenntlich gemacht.50 In den besetzten Gebieten, wie im Rheinland, waren die Herausgeber ge-zwungen besatzungskonform zu berichten. Die britischen Zensurbehörden erließen 1919 in Köln die Anweisung „gehässige Kritiken“ an dem Entwurf des Friedensvertrages von Versailles zu vermeiden. Die Aufrufe Eberts und Scheidemanns in den Berliner Zeitungen, die von einem ‚Gewaltfrieden‘ sprachen und die Bedingungen als ‚unerfüllbar‘ und ‚unannehmbar‘ bezeich-neten, fanden in der Rheinlandpresse keine Veröffentlichung.51 Die Höhe der Toleranzschwellen, was die Inhalte der politischen Nachrichten betraf, war je nach Besatzung unterschiedlich. So konnten die ‚Kölnische Zeitung‘ und die ‚Kölnische Volkszeitung‘ im britisch besetzten Gebiet erscheinen, waren aber zur gleichen Zeit im belgisch-französischen Gebiet verboten. Versuche, das Verbot durch die Herausgabe von Ersatzblättern mit anderem Kopf zu umge-hen wurden erkannt52, die Verbotszeiten daraufhin verlängert. 1923 wurden alleine von der Rheinlandkommission Verbote für 843 Tage ausgesprochen.53 In einem solchen Klima erschien die Malmedy- St.Vither Volkszeitung in dem ehemals deutschen, nun belgischen Teil der Eifel, südlich des Hohen Venns. Wollte ihr Herausgeber an der öffentlichen Diskussion der deutschen Presse, die in ihrer „einhelligen Ablehnung der Friedensbedingungen ein Spiegel der öffentlichen Meinung“54 war, teilnehmen, so musste er eine Me-thode wählen, die ihm eine solche gefahrlos ermöglichte. Peter Dittmar spricht vom „poetischen Nutzen der Zensur“, und zitiert Beispiele von Litera-ten und Journalisten, die bestätigen, dass die Zensur „ zu geistreicherem Aus-druck der Ideen durch Umwege“55 zwinge. Er zitiert den Literaturwissen-schaftler Theo Mechtenberg, wenn er sagt, dass die Zensur „den Autor zu ei-ner sehr genauen Arbeit mit Wörtern und Gedankenketten“ nötige, die ihm „das Ersinnen von Gleichnissen und Bildern“ nahe lege, „um der Wahrheit ein Kleid zu schneidern, in dem sie sich sehen lassen kann.“56 Gleichzeitig ver-

50 Vgl. HAFFNER S., Geschichte eines Deutschen, Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart, 2001. Er beschreibt in seiner autobiographischen Schrift die Ereignisse um die Revolution 1918 und schildert, wie die gewohnte Tageszeitung‚ Tägliche Rundschau’ nach der Übernahme durch revolutionäre Druckereiarbeiter ihren Namen in ‚Rote Fahne’ änderte. S. 28. 51 KOSZCYK, Deutsche Presse…, Idem, S. 61. 52 Als weitere Methoden nennt Kosczyk die Verwechslung von Bild- und Bildunterschrift, so dass die Unterschrift das Bild ironisiert und karikiert werden, weiterhin das Einfügen von Satz-zeichen. S. 361/362. 53 Vgl. KOSZCYK, Deutsche Presse…, Idem,, S. 91ff. 54 KOSCZYK, Deutsche Presse…, Idem, S. 61. 55 DITTMAR P., Gruß an Äsop oder vom poetischen Nutzen der Zensur, in: DERS., Lob der Zensur: Verwirrung der Begriffe - Verwirrung der Geister, Köln, 1987, S. 65-73. 56 DITTMAR, Idem, S. 67.

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weist er auf Brecht, der in seinem Aufsatz: „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“57, von 1934 überblicksartig Beispiele von Zensurtäu-schungen darstellt. Brecht empfiehlt Kunstgriffe listigen Schreibens, wie das Vertauschen von Orten, das Verlegen von Handlungen in die Geschichte oder in ähnliche Kontexte. Die obigen Ausführungen stellen den engen Zusammenhang von Zensur und Täuschung, der über die Jahrhunderte entstanden ist, dar. Es hat sich in der Literatur und der Journalistik eine Tradition entwickelt, in die sich der Her-ausgeber der Malmedy-St.Vither Volkszeitung mit seiner Berichterstattung zu Beginn der 20er Jahre mühelos einordnen lässt.

III. DIE REGION EUPEN-MALMEDY

A. ZUR GEOGRAPHIE Die Region Eupen-Malmedy findet als schmales, langes Landesteil Belgiens im Norden ihre Begrenzung durch die Niederlande, im Osten durch Deutsch-land und im Süden durch das Großherzogtum Luxemburg. Die Gesamtfläche beläuft sich auf ca. 1036 qkm.58 Die Einwohnerzahl lag 1919 bei ca. 36.000 im südlichen Kreis Malmedy und 27.500 im Kreis Eupen.59 Die Bevölkerung gehörte zu 95% der katholischen Religion an. Einer belgischen Statistik zu-folge beherrschten von den ca. 60.000 Einwohnern 45.000 nur die deutsche, 4000 nur die französische Sprache und 8500 gaben an beide Sprachen zu sprechen.60 Geographisch betrachtet ist sie Teil des belgischen Ardennenmassivs und be-herbergt mit ihren Kämmen sowohl die höchste Erhebung Belgiens als auch ein Netz von Wasserwegen. Die Gipfelzüge werden ergänzt durch das 55 km lange Hochplateau des hohen Venns, einer Hochmoorlandschaft, die bis ins späte 19. Jahrhundert nur schwer passierbar war.61 Erst 1887 entstand eine befestigte Straße, die die Orte Eupen und Malmedy miteinander verband.62 Die unwegsame Landschaft stellte natürliche Grenzen dar, die den „Kontakt zwischen den Menschen untereinander einschränkten und gleichzeitig Invasi-onen erschwerten.“63 Vier Landschaftstypen wechseln einander ab, beginnend im Norden liegt das Eupener Land, das im Volksmund als das Eupener Butterländchen treffend 57 http://www.sozialistische-klassiker.org/Brecht/Brecht06.html vom 04.02.05 58 CHRISTMANN, Idem, S. 11/12. 59 BARTZ K., Das Unrecht an Eupen - Malmedy, Berlin, 1928, S.19. 60 Vgl. CHRISTMANN, Idem, S. 15. 61 Eine schöne Beschreibung der Vennlandschaft bietet: KAMP K., Das hohe Venn, Gesicht einer Landschaft, Düren, 1980. 62 Vgl. CHRISTMANN, Idem, S. 11. 63 GAY J.-M.., HUYGEN J.-M., Reiseführer der Ostkantone, Belgien, Brüssel, Eupen 1988, S. 13.

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bezeichnet wird.64 Der Boden in dieser Gegend ist fruchtbar, saftige Wiesen und Ostgärten geben der Landschaft ein freundliches Gesicht. Im Süden und Osten schließen sich Waldgebiete und das Hohe Venn an, die den Eupener Norden vom Malmedy-St.Vither Süden abgrenzen. Das Venn zeichnet sich aus durch seine karge Hochmoorlandschaft und ihr raues Klima, es ist wei-testgehend unbesiedelt. In den Jahren 1840/50 versuchte man es durch Auf-forstung mit dem so genannten ‚Preußenbaum’, der Fichte, und Drainageanla-gen, urbar zu machen und damit wirtschaftlich zu nutzen.65 Diese Entwick-lung fand ihre Grenzen spätestens in der touristischen Aufwertung der Venn-landschaft als Naherholungsgebiet. Begibt man sich weiter südlich, betritt man in der Umgebung von Malmedy, Robertville und Weismes den französisch bzw. wallonisch sprachigen Teil der heutigen belgischen Ostkantone. Die Landschaft hier wechselt sich ab in Hochflächen und flachen Mulden in einer Höhe von 500-600 m mit tief ein-geschnitten Tälern, die an ihren Hängen stark bewaldet sind. Ganz im südli-chen Teil der Region schließt sich das Gebiet des Ourtales an, eine auch heute noch stark bewaldete Gegend mit verstreut liegenden Siedlungen, die mit 12 Einwohnern pro qkm66 eine sehr geringe Bevölkerungsdichte aufweist. Die Unwirtlichkeit der Westeifel illustriert die Bezeichnung ‚Preußisch Sibiri-en’67, die bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts Anwendung fand.

B. HISTORIE EUPEN-MALMEDYS Die Geschichte der deutsch-belgischen Grenze ist kompliziert und daher ge-eignet, für unterschiedliche Interpretationen missbraucht zu werden. Die Herzogtümer Limburg und Luxemburg entstanden im frühen Mittelalter68. Eupen mit seiner Umgebung war ein Teil Limburgs, war im Osten, nach Köln ausgerichtet und gehörte damit zum deutschen Reich. Das änderte sich erst 1288 mit der Schlacht von Worringen – einem wichtigen Datum für die späte-re Argumentation der Befürworter der Eingliederung der Region nach Belgi-en. Das Limburger Land verlor die eigene Stammherrschaft, wurde mit dem Herzogtum Brabant vereinigt und ab diesem Zeitpunkt von Brüssel regiert. Das Eupener Land gehörte für die nächsten 500 Jahre zu einer Territorialherr-schaft, aus der zu einem wesentlichen Teil das spätere Königreich Belgien entstanden ist. Die politische Verwaltung oblag ab diesem Zeitpunkt Brüssel,

64 Vgl. DOEPGEN H., Die Abtretung des Gebiets von Eupen - Malmedy an Belgien im Jahre 1920, Bonn, 1966, S. 24/25. 65 Vgl. KAMP, Idem, S. 89/99. 66 Vgl. GAY, HUYEN, Idem, S. 16. 67 RULAND H., Leben und Leiden einer Grenzbevölkerung..., Idem, S. 3. 68 Vgl. RULAND H., Zum Segen für uns alle. Obrigkeit, Arbeiterinnen und Arbeiter im deutsch-belgischen Grenzland (1871-1914), Eupen, 2000. Er beschreibt en detail die rechtli-chen Zuordnungen des Gebietes ab dem 13. Jahrhundert, S.31 und Anmerkung 2, Teil A, S. 245.

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die kirchliche Lüttich. Sprachlich, wirtschaftlich und kulturell blieb der Raum allerdings weiterhin nach Aachen und Köln ausgerichtet. Die gesprochene Sprache, obwohl dem brabantischen verwandt, ist immer deutsch geblieben. Mit Übertragung der Niederlande von Karl V. auf seinen Sohn Philipp II. ge-hörte ab 1555 Eupen als Teil Limburgs und der südlichen Niederlande zur spanischen Krone.69 In den Jahren 1668 bis 1713 fiel König Ludwig XIV. von Frankreich mit seinen Soldaten ins Land ein. Noch während des Spanischen Erbfolgekrieges im Frieden von Utrecht trat Philipp II. die spanische Nieder-lande an Österreich ab.70 Für das Eupener Land begann mit der neuen Herr-schaft eine friedvollere Zeit und auch der wirtschaftliche Aufstieg. Eupen entwickelte sich zu einer wohlhabenden Tuchmacherstadt.71 Die Reichsabtei Stablo-Malmedy gehörte seit 925 zum Deutschen Reich, bil-dete allerdings einen eigenen Herrschaftsbereich. In den Klöstern wurde vor-wiegend französisch gesprochen, doch waren viele Äbte auch deutscher und flämischer Abstammung.72 Die Stadt Malmedy entwickelte im 18. Jahrhun-dert wirtschaftliche Verbindungen zu Eupen. Die hohe Tuchproduktion in Eupen kurbelte die Papierfabrikation in Malmedy an, da zum Glätten der Tu-che Pressspan Verwendung fand. Das eher bäuerlich geprägte St.Vith unterschied sich als reine Landstadt nicht nur optisch von Eupen und Malmedy. Die Bevölkerung führte hier bis ins 19. Jahrhundert ein karges und beengtes Leben. Über viele Jahrhunderte hinweg gehörte St.Vith zum Herzogtum Luxemburg und war damit Bestandteil des deutschen Reiches. 1443, nach dem Tod des letzten Luxemburgers, kam es zu Burgund. Ab diesem Zeitpunkt verlief die Entwicklung parallel zu der Eu-pens. Auch im St.Vither Raum wurde weiterhin das Deutsche als Amts- und Umgangssprache verwendet.73 1790 fand eine Erhebung gegenüber der österreichischen Besatzung mit dem Versuch der Gründung der ‚Vereinten Belgischen Staaten’ statt. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, die südlichen Niederlande blieben bis zur Annexion durch die Franzosen österreichisch.74 Mit einer Verfügung des Nationalkon-vents in Paris am 01.10.1795 wurden die österreichischen Niederlande, das Reichsbistum Lüttich und die Reichsabtei Stablo-Malmedy von Frankreich annektiert. Aus Eupen, Malmedy und St. Vith entstand das neu geschaffene Departement Ourthe. Lüttich wurde zur Hauptstadt und Malmedy zum Sitz des Arrondissements ernannt. Auch kirchenrechtlich wurden die Gebiete nun 69 Der große Ploetz. Daten - Enzyklopädie der Weltgeschichte, Darmstadt, 1998, 32. Auflage, S. 678. 70 Der große Ploetz, Idem, S. 686. 71 Vgl. ROSENSTRÄTER H., Deutschsprachige Belgier, Geschichte und Gegenwart der deut-schen Sprachgruppe in Belgien, Bd. 1-3, Aachen 1985, S.49. 72 Vgl. ROSENSTRÄTER, Idem, S. 74. 73 Vgl. ROSENSTRÄTER, Idem, S. 81-84. 74 Vgl. (ohne Autor) Wie ist Belgien entstanden?, in: Belgien verstehen, Brüssel, 1999, 2. Au-flage, S. 2-10, S. 2.

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dem Bistum Lüttich zugerechnet. Das Departement Ourthe bildete nun erst-mals das Gebiet, das später einmal als Ostkantone Belgiens bezeichnet wer-den sollte. „Die französische Revolution hat somit die alten überlieferten Formen der politischen und kirchlichen Zugehörigkeit … aufgehoben und neue Formen geschaffen, mit denen die Menschen keineswegs einverstanden waren, und die als aufgezwungen empfunden wurden, die ihnen jedoch bald wirtschaftliche Vorteile brachten und ihre Entwicklung zu modernen Verwal-tungs- und Lebensformen vorangetrieben haben.“75 Weder in Eupen noch in St.Vith und Malmedy wurde die neue Zugehörigkeit mit Begeisterung aufgenommen. Das hing zum einen mit den antikirchlichen Maßnahmen, die Menschen der Region waren streng katholisch, zum anderen aber auch mit der Einführung des Wehrdienstes zusammen. Profiteure der neuen Herrschaft waren hingegen die Tuchmacher, u. a. da deren größte Kon-kurrenten, die Engländer, durch die Kontinentalsperre vom Handel ausge-schlossen wurden. Die rasche Belebung der Wirtschaft entspannte das Ver-hältnis zwischen der Bevölkerung und den neuen Machthabern. Allerdings verdrängte das Französische als Hochsprache den wallonischen Dialekt, der in der Gegend von Malmedy gesprochen wurde. Die französische Zeit währte 20 Jahre. 76 Als ein Ergebnis des Wiener Kongresses wechselte die Region wiederum ihre Zugehörigkeit77. Ohne Rücksicht auf die vorhandenen Sprachgrenzen wurden die politischen Grenzen neu gezogen. Preußen erhielt die luxemburgischen Kantone Bitburg, Schleiden, Kronenburg und St. Vith, die limburgischen Besitztümer Eupen und die Stadt Herzogenrath und von der ehemaligen Reichsabtei Stablo- Malmedy die östliche Hälfte. So gehörten von nun an ca. 10.000 französischsprachige Wallonen aus der Gegend um Malmedy zu Preu-ßen und eine ähnlich hohe Zahl deutschsprachiger Limburger (aus der Gegend von Montzen, Aubel, Eupen) zum Königreich der Niederlande. 1816 wurde im Vertrag von Aachen die neue Grenze zwischen Preußen und dem König-reich der Niederlande festgelegt. Keine Einigung konnte über ein kleines Ge-biet im Grenzraum erzielt werden. In Moresnet lagen die wertvollen Galmei- und Zinkerzgruben, auf die keine der beiden Parteien verzichten wollte. Hier entstand, ursprünglich als Provisorium gedacht, das Gebiet ‚Neutral-Moresnet’, ein kleines Kuriosum im Grenzraum, ohne Wehrpflicht, ohne Steuern und mit nur wenig Polizei. Es stand zunächst unter preussisch-niederländischer, später mit Gründung des belgischen Staates unter preus-

75 ROSENSTRÄTER, Idem, S. 72. 76 Vgl. ROSENSTRÄTER, S. 70-72; vgl. ERBE M., Belgien, Niederlande, Luxemburg Ge-schichte des niederländischen Raumes, Stuttgart, 1993, S. 180-184. 77 Vgl. DOEPGEN, Idem, S. 32.

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sisch-belgischer Verwaltung.78 Die Vereinten Niederlande waren von Beginn an religiös gespalten. In einer Aufstandsbewegung fiel der katholische Süden vom protestantischen Norden ab und gründete 1831 unter Leopold von Sach-sen das Königreich Belgien. Zusätzlich entstand das Großherzogtum Luxem-burg, das allerdings bis 1890 vom niederländischen König regiert wurde.79 1839 verzichteten die Niederlande auf das stark deutschsprachige Arles im Süden, einschließlich der Provinz Luxemburg. Südlimburg mit Maastricht, für nur kurze Zeit belgisch, fiel an die Niederlande zurück.80 Für die Eupener Tuchindustrie war die nun neue Zugehörigkeit zu Preußen ein Schock. Der französische Markt war versperrt und die Handelskontakte nach Deutschland schlecht. Der wirtschaftliche Niedergang wurde nur kurzzeitig von kleinen Aufschwungphasen unterbrochen.81 Trotzdem scheint sich in den folgenden Jahren die Industrie erholt zu haben, die Größe und Bekanntheit des Eupener Tuches und die Menge der kleineren Handwerksbetriebe sprechen dafür.82 Die preußische Herrschaft war nicht sonderlich beliebt, sie war protestantisch, führte die Wehrpflicht weiter und zusätzlich noch die allgemeine Schulpflicht ein. Im Zusammenhang mit den Revolutionsbewegungen in Deutschland kam es auch in Eupen zu einem Aufstand, auf dem Rathaus wehte die schwarz-rot-goldene Fahne.83 Rosensträter beschreibt, dass erst die Proklamation des Kö-nigs von Preußen zum deutschen Kaiser 187184 den deutschsprachigen Grenz-gemeinden ein größeres Gefühl der Zugehörigkeit zur deutschen Nation und zum deutschen Kulturraum gab.85 Dies lässt vermuten, dass durch die neue Reichsgründung die Zugehörigkeit zu den wenig beliebten Preußen in den Hintergrund trat und der Bevölkerung den Raum gab, ihre kulturelle Zugehö-rigkeit zu leben. „Deutschtum – Katholizismus – Heimatverbundenheit“, so charakterisiert Ro-sensträter die Eupener Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts86.Aber auch die Bismarcksche Sozialgesetzgebung mit der Einführung der Alters- und In-validitätsversicherung trug zu einer spürbaren Annäherung an die preussische Regierung bei. Hinzu kam der Vergleich über die nahe Grenze hinweg: Wenn auch die Einführung des Kinder- und Jugendschutzgesetzes 1853 die Höchst-arbeitszeit für 12-14 Jährige auf 6 Stunden am Tag beschränkte, was vor al-lem bei der Landbevölkerung erst einmal Unmut hervorrief, so wurde sie sich

78 Vgl. RULAND, Zum Segen…, S. 225-227; vgl. PABST K., Das Problem der deutsch-belgischen Grenzen in der Politik der letzten 150 Jahre, in: Zeitschrift des Aachener Ge-schichtsvereins, Bd. 77, Aachen 1965, S.191-194. 79 Vgl. ERBE, Idem, S. 203-207. 80 Vgl. ROSENSTRÄTER, Idem, S. 94. 81 Vgl. RULAND, Zum Segen für…, S. 32/33. 82 Vgl. ROSENSTRÄTER, Idem, S. 105/106. 83 Vgl. RULAND, Leben und Leiden..., Idem. 84 Ploetz, Idem, S. 856. 85 Vgl. ROSENSTRÄTER, Idem, S. 97/98 und S. 114-116. 86 ROSENSTRÄTER, Idem, S. 118.

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doch ihrer Besserstellung gegenüber den belgischen Nachbarn bewusst, wo in den Spinnereien von Verviers auch 1877 noch 8 Jährige ganztägig schuften mussten.87 Emotional fühlten sich die Eupener Köln, als dem Zentrum des Rheinlandes und des Katholizismus verbunden. 1899 wurde ein Eupener für kurze Zeit Erzbischof von Köln88, das dürfte seine Wirkung in Eupen nicht verfehlt haben. War die Zugehörigkeit zum protestantischen Preußen nur schwer zu ertragen, so war eine Zugehörigkeit zu einem Deutschen Reich un-problematisch, gab es doch auch in anderen Regionen katholische Gemein-den. Im französischsprachigen Malmedy konnten sich die Preußen größerer Sym-pathie erfreuen. Malmedy wurde Garnisonsstadt und entwickelte sich zu einer beliebten Badestadt. Die Heilkraft der Malmedyer Mineralwässer machte sie auch in der weiteren Umgebung bekannt. Auch die Leder- und Papierfabrika-tion boomte. Die Beziehungen zwischen den Einwohnern und den Behörden bezeichnete Rosensträter als gut, „königstreu und preussisch“. So gingen die belgischen Revolutionserhebungen 1830/31 und die republikanische Bewe-gung in Deutschland 1848 an Malmedy spurlos vorüber. 89 Die französische Sprache wurde von Friedrich Wilhelm IV. als Amts-, Schul- und Kirchensprache anerkannt. Erst mit der Entstehung des Deutschen Rei-ches wurde die ursprüngliche Sprache nach und nach aus dem öffentlichen Bereich verdrängt. Nationales Denken, das sich in der Anwendung der deut-schen Sprache manifestierte, bestimmte fortan das Leben auch in Malmedy. Das Verhältnis zwischen der Bevölkerung und Preußen kühlte ab. Der Wider-stand wurde getragen von der Geistlichkeit, die besonders wegen des Kultur-kampfes eine starke Antipathie gegenüber Preußen entwickelt hatte. 90 Trotz-dem kam es nicht zu einer völligen Aufgabe des preußisch-deutschen Natio-nalgefühls in der Bevölkerung.91 St.Vith, wie bereits beschrieben bäuerlich geprägt, erlebte unter der preussi-schen Herrschaft einen wirtschaftlichen Aufschwung. Im Jahre 1887 entstand die erste befestigte Straße durchs hohe Venn. Sie schaffte eine Verbindung zwischen den Städten Eupen, Malmedy und St.Vith. Nach der Erstellung der

87 Vgl. RULAND, Zum Segen für…, S. 49. 88 Vgl. ROSENSTRÄTER, Idem, S. 116. 89 Vgl. ROSENSTRÄTER, Idem, S.96. 90 Vgl. DOEPGEN, Idem, S. 40-44. 91 Vgl. PABST K., Eupen - Malmedy in der belgischen Regierungs- und Parteienpolitik 1914-1940, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins, Aachen 1965, Bd. 76, S.273; vgl. KAUFMANN, Idem. Er zitiert in seinen Ausführungen zum Verhältnis Wallonen-Deutsches Reich ein Telegramm an den deutschen Kaiser, das am 20.05.1917 im Kreistag einstimmig beschlossen worden war: „Mit dem ganzen deutschen Volke sind wir bis zum letzten Mann entschlossen, unseren Brüdern im Kampfe zur Seite zu stehen trotz aller Entbehrungen, in un-ermüdlicher Arbeit und treuem Ausharren bis zum siege. Unerschüttert ist unser Vertrauen, dass Deutschland nach allen Opfern einen Frieden erstreiten wird, der seine Zukunft fest sichert S.230.

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Eifelbahn 1887 wurde St.Vith zu einem Verkehrsknotenpunkt. Von hier aus führten die Gleise nach Belgien, Luxemburg, in die Südeifel und nach Aachen. Der Bahnhof verfügte über 22 Gleise, zeitweise passierten 60 Züge täglich den Ort. Mit dem Bahnhof wurden eine Eisenbahnreparaturwerkstatt, aber auch Gastronomie- und Beherbergungsbetriebe angesiedelt.92 Zu Beginn des Jahrhunderts führte bereits eine Kleinbahn von Aachen über Eynatten und Kettenis, mit einer Abzweigung nach Raeren, nach Eupen. Es entstand ein Pendlerstrom von Eupen nach Aachen, der zu einer Wiederbele-bung des alten Zentrums Aachen führte.93 Anders als im restlichen Teil Deutschlands war die Stimmung zu Kriegsbeginn in der Grenzregion geprägt von Angst. Die Menschen hatten sich in den Jahren zuvor einen bescheidenen Besitz erarbeitet, man lebte und liebte an der Grenze und über die Grenze hinweg, nun fürchtete die Bevölkerung zum Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzung zu werden.94 Nach dem ersten Weltkrieg wurde als Teil der Wiedergutmachungen im Ver-sailler Vertrag eine Änderung der bestehenden deutsch-belgischen Grenze festgelegt. In der Bevölkerung gab es bis zu diesem Zeitpunkt weder bei den deutschsprachigen Belgiern, noch bei den französischsprachigen Malmediern eine Bewegung ihre Nationalität zu wechseln. Rosensträter bringt es auf die Formel:„Keine unerlösten Belgier und keine unerlösten Deutschen“95. Aller-dings existierte auch keine energische Gegenbewegung! Ursache dafür mag mit der lange und schwere Krieg gewesen sein. Viele Belastungen und Ent-täuschungen führten zu einem Desinteresse an den politischen Tagesereignis-sen. Verstärkt wurde die depressive Stimmung durch den Durchmarsch des geschlagenen Heeres in der Zeit vom 12. – 29.11. 1918 durch das Venn- und Eifelgebiet zum Rhein.96 Die Besetzung Eupens durch die Franzosen begann am 12.12.1918 und endete am 26.05.1919 mit der Übernahme der Stadt durch Belgien. Malmedy war ab Dezember 1918 unter englischer Besatzung, aller-dings unterhielten die Belgier bereits zu diesem Zeitpunkt eine Militärmission in Malmedy. Mit dem Ende der englischen Besatzung am 12.08.1919 über-nahmen die Belgier auch Malmedy.97 Belgien stellte mit Unterstützung Frankreichs Gebietsforderungen, denen im Versailler Vertrag auch weitgehend entsprochen worden ist. In Art. 34 wurde allerdings festgelegt, dass eine vorherige Volksbefragung durch eine Ausle-gung von Listen stattfinden sollte. In diese Listen sollten sich alle diejenigen eintragen können, die wollten, dass das ganze oder ein Teil des Gebietes bei

92 Vgl. ROSENSTRÄTER, Idem, S. 112/113. 93 Vgl. ROSENSTRÄTER, Idem, S.113. 94 Vgl. DOEPGEN, Idem, S. 34/48; vgl. auch RULAND, Leben und Leiden…, Idem, S. 3/4. 95 ROSENSTRÄTER, Idem, S. 124. 96 Vgl. DOEPGEN, Idem, S. 61/62; vgl. auch GIELEN V., Der Kreis Eupen 1815-1920, Eupen, o.J., S. 154-159. 97 Vgl. CHRISTMANN, Idem , S. 41.

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Deutschland verbleiben solle. Die Eintragung war nicht geheim, sondern musste mit Namen und Adresse unter den Augen der belgischen Behörden stattfinden. Anders als in den anderen Abtretungsgebieten Schleswig, Ober-schlesien, Masuren, Westpreußen, fand in der Region Eupen- Malmedy kein Plebiszit statt.98 Da man sich über die tatsächlichen Folgen der Eintragung nicht sicher war, und die Bevölkerung Repressionen fürchtete, blieb die Zahl der Eintragungen gering.99 Erst diese Angliederung, mit einem „in zentraler Lage gewählten Amtssitz“100, schuf eine gemeinsame Region Eupen-Malmedy.

IV. ZUR ZEITUNGSLANDSCHAFT EUPEN- MALMEDYS

Ausgehend von einer kurzen Beschreibung der Aachener Blätter gebe ich im Folgenden einen Überblick über den Werdegang der Malmedy-St.Vither Volkszeitung um dann mit der Darstellung der direkten Konkurrenz in der Region zu enden. Die Übersicht ermöglicht einen Einblick in die Informati-onssituation der Bevölkerung in der Region Eupen-Malmedy.

A. EINLEITUNG Insgesamt wurden im Untersuchungszeitraum jährlich ca. 5-6000 reichsdeut-sche Zeitungen nach Eupen-Malmedy eingeführt, unter denen die großen überregionalen Journale nur einen geringen Anteil hatten. Den weitaus größ-ten Anteil hatten die Aachener Blätter, die ihre Leserschaft auch im weiteren Umkreis der Stadt fanden.101 Durchblättert man die Anzeigenteile der Zeitun-gen, finden sich sowohl Annoncen von einer Hausversteigerung in Raeren102 oder dem Verkauf eines kleinen Wiesengutes bei Kettenis103, Kreis Eupen. Auch der Arzt aus Herbesthal nutzte die Aachener Blätter, um auf die Eröff-nung seiner Praxis aufmerksam zu machen104. Doepgen unterrichtete sein Publikum von einem Einfuhrverbot für die Kölner Sozialistische Republik105 und die Kölnische Volkszeitung106, die neben der

98 Vgl. DOEPGEN, Idem, S. 79. 99 Von 14.000 Berechtigten in Eupen trugen sich nur 209 ein, von 20.000 in Malmedy nur 62. Zahlen aus: ROSENSTRÄTER, Idem, S. 128. 100 PABST, Eupen - Malmedy…, S. 269. 101 PABST, Eupen - Malmedy…, S. 307. 102 Echo der Gegenwart, 13.09.1919. 103 Der Volksfreund, 29.03.1919. 104 Echo der Gegenwart, 08.05.1919. 105 Malmedy - St.Vither Volkszeitung, 11.10.1919.

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Germania als das bedeutendste überregional verbreitete Zentrumsorgan galt.107 Auch die Zeitungsverbote im April des Jahres 1920 lassen darauf schließen, dass das Verbreitungsgebiet der Aachener Blätter sich nicht nur auf die Stadt und den nahen Umkreis beschränkte. Sowohl der Volksfreund als auch die Freie Presse wurden in der Zeit vom 19.04.-22.04.1920 verboten. Anlass waren Artikel über eine Demonstration in Eupen, die u.a. die Rück-nahme der Abtrennung Eupen-Malmedys vom Deutschen Reich forderte.108 Die beiden großen Zeitungen im Südraum waren der Trierer Volksfreund und die Trierische Volkszeitung, die in den 30er Jahren eine Auflagenhöhe von jeweils ca. 35.000 aufweisen konnten.109 Allerdings fanden sie nach Angaben der heutigen Redaktionen ihre größte Verbreitung im moselländischen Raum und nicht in der Eifel. Die altbelgischen Blätter wurden auch in der Wallonie nicht gelesen, da die jüngere Generation, die es gewohnt war deutsch zu lesen, Schwierigkeiten mit dem Schriftfranzösichen hatte.110

B. DIE AACHENER PRESSE In Aachen erschienen Anfang der 20er Jahre acht Tageszeitungen. Ihre Ge-samtauflage betrug ca. 100.000 Exemplare. Zu ihnen gehörten das Echo der Gegenwart mit ihrem Ableger Aachener Rundschau, der Volksfreund, das Po-litische Tageblatt, die Freie Presse und die Aachener Post. Die Berichterstat-tung der Zeitungen war konfessionell bzw. politisch ausgerichtet. In ihrer Un-tersuchung zur Lokalpresse Aachens bezeichnet Petra Meier111 den Volks-freund mit 37.000 Abonnenten als die größte Zeitung des Aachener Wirt-schaftsgebietes. Das katholische und zentrumsorientierte Medium hatte eine betont sozialpolitische Ausrichtung, die ihre Leserschaft damit in den Arbei-tern und Bauern der Umgebung fand.112 Das Echo der Gegenwart und die Aachener Rundschau, ebenfalls katholische Zeitungen, erreichten zusammen eine Auflage von ca. 30.000. Als drittgrößte Zeitung nennt Meier die Aache-ner Post mit 12.000 Exemplaren.

106 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 20.09.1919. Die Kölnische Volkszeitung wurde nach mehr als 4-monatigem Verbot am 03.01.1920 für Eupen - Malmedy wieder zugelassen, siehe: Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 14.01.1920, vgl. zu den Kölner Blättern: KOSZYK K., Strukturen der rheinischen Presse vor 1933, in: ZAGV, Aachen 1978, Bd.84/85 Jahrgang 77/78, S. 913-931. 107 MEIER P., Die Lokalpresse in Aachen zu Beginn der Weimarer Republik, Düsseldorf 1990, S.66, Anmerkung 3; vgl. auch KÖHLER H., Adenauer und die rheinische Republik, Opladen, 1986, S.21-30. 108 MEIER a.a.O., S.10. 109 KOSCZYK, Die Strukturen …, S. 930/933. 110 Vgl. PABST, Eupen - Malmedy..., S. 307. 111 Vgl. MEIER, Idem, S. 5-7. 112 Vgl. KOSZYK, Die Strukturen…, Der Autor mutmaßt, dass die polemische Haltung des Volksfreundes hauptverantwortlich für ihre hohe Auflagenzahl war, S. 929.

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Das Politische Tageblatt mit 8500 täglichen Ausgaben zeichnete sich als ein-zige Zeitung der Region durch eine betont sachliche und neutrale Berichter-stattung aus. Die Freie Presse, eine Zeitung, die erst im November 1919 ge-gründet wurde, bezeichnet Meier als „Sprachrohr und Kampforgan“ der Aachener Sozialisten.113

C. DIE MALMEDY-ST.VITHER VOLKSZEITUNG Die gesellschaftliche Rolle aller Zeitungen nördlich und südlich des Hohen Venns blieb bis in die 1910er Jahre gering, das Zeitungslesen war saisonbe-dingt, die ländliche Bevölkerung las dann, wenn ihr die Arbeit auf dem Feld Zeit dazu ließ.114 Die vierteljährlichen Aufrufe Doepgens an seine Leser-schaft, die Abonnements zu verlängern, zeugen davon.115 Bis Kriegsbeginn waren die Zeitungsauflagen niedrig und überschritten nur selten die magische Zahl von 1000 Stück. Mit dem Vaterlandswechsel und der so genannten „Volksbefragung“ 1920 änderte sich das, es fand eine Politisierung der Presse statt, die sich auch auf die Zahl der Abonnenten auswirkte. Bartz berichtet, dass die deutschfreundliche Haltung der Presse der belgischen Regierung vie-le Sorgen bereitet habe, in den Geheimberichten Baltias an den Ersten Minis-ter nach Brüssel habe er immer wieder die heimattreue Haltung der Presse beklagt.116 Die kleinen regionalen Zeitungen waren häufig Ein-Mann-Betriebe, Verleger und Redakteur in einer Person.117 Die überregionalen Nachrichten bezogen sie aus größeren Zeitungen, wie den Aachener oder den Kölner Blättern, für die heimischen Nachrichten reichte es aus zuhören zu können. Doepgen gab als Quelle häufig den ‚eigenen Drahtbericht’ an, das entsprach einer Botschaft, die er auf dem Postamt, als Informationsbörse, mitgeschrieben hatte. Darüber hinaus wirkten einige Blätter als Sprachrohre der katholischen Partei, deren Wahlaufrufe und Versammlungen dann an hervorragender Stelle veröffent-licht wurden. 118 Die Malmedy-St.Vither Volkszeitung war im Süden der Region die deutsch-sprachige Zeitung, die auf die längste Tradition zurückblicken konnte und sich damit eine treue Stammleserschaft erarbeitet haben dürfte. Von den, vor allem im Vergleich mit den Aachener Blättern, niedrigen Auflagenzahlen soll-te man sich nicht täuschen lassen. Die eigentliche Leserschaft dürfte größer gewesen sein, war es zur damaligen Zeit doch durchaus noch gebräuchlich,

113 Vgl. zur `Freien Presse` auch KUHNEN L., Geschichtliches aus Arbeit und Industrie im Regierungsbezirk Aachen, Aachen, 1924, S.34. 114 LEJEUNE C., Sich mitteilen – über alle Grenzen hinweg, in: Spuren in die Zukunft, Büllin-gen, 2001, S. 139. 115 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 20.03.1920. 116 Vgl. BARTZ, Idem, S. 69. 117 Vgl. CHRISTMANN, Idem, S. 38. 118 Vgl. CHRISTMANN, Idem, S. 38 für die Malmedy - St.Vither Volkszeitung.

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dass eine Zeitung von mehreren Haushalten gelesen wurde, bzw. wie auch heute noch üblich, als Lektüre in der Gaststätte vorhanden war.119 Die regionale Zeitung wurde 1866 vom Verleger und Drucker Joseph Doep-gen aus Zell an der Mosel als Wochenblatt für den Kreis Malmedy in St.Vith gegründet. Ab der 23. Nummer trug es die Bezeichnung Kreisblatt und ab 1867 konnte Doepgen die Ausgabe auf zwei Exemplare in der Woche erhö-hen. Der Leserkreis beschränkte sich auf den deutschsprachigen Teil des Kreises, in dem „die bäuerliche Bevölkerung für Zeitungen kein Interesse hat-te.“120 Das Blatt lebte von amtlichen und privaten Anzeigen. Landrat von der Heydt charakterisierte es 1877 als ‚politisch unbedeutend’.121 Die Zahl der Abonnements wird für 1873 mit 330 angegeben, durch amtliche Förderung stiegen sie im Jahre 1885 auf 492 an. Im Frühjahr 1905 trat eine Änderung ein: Doepgen weigerte sich die „Politische Korrespondenz“ der preussischen Regierung abzudrucken, worauf hin der Kreisausschuss die Forderung des Verlegers auf Erhöhung des Zuschusses für die Veröffentlichung der amtli-chen Bekanntmachungen ablehnte. Doepgen reagierte mit der Kündigung des Vertrages, den er mit dem Kreis geschlossen hatte.122 Er wandte sich darauf hin der Katholischen Zentrumspartei zu und verkündete am 15. September, dass er nun nicht mehr das amtliche Kreisblatt repräsentiere und verpflichtet sei den von den Behörden vorgeschriebenen Weg zu gehen, sondern von nun an „unabhängig und frei die katholische Sache und die Interessen der hiesigen Bevölkerung vertreten und verfechten“ werde123. Ab dem 25. Oktober 1905 erschien die Zeitung unter ihrem neuen Titel: „ Malmedy-St.Vither Volkszeitung, Kreisblatt für den Kreis Malmedy, Eifeler Landeszeitung, Organ der Zentrumspartei, Druck und Verlag Hermann Doep-gen“. Die Änderung beschränkte sich jedoch nicht nur auf den Titel, der Her-ausgeber bevorzugte nun auch ein größeres Format, das ungefähr dem heuti-gen DIN A3 entspricht. Die optische Erscheinung unterlag später noch zwei Änderungen: Der Zusatz ‚Organ der Zentrumspartei’ wurde 1917 ohne Anga-be von Gründen wieder weggelassen. Mit der belgischen Besetzung des Ge-bietes unterlag die Zeitung der Zensur. Der Leserschaft wurde das durch die

119 In einem geheimen Dossier zur Situation in Eupen - Malmedy 1935 wird für die Kölnische Zeitung behauptet: «c´est , un effet, le journal de beaucoup le plus lu, celui qu`on trouve dans tous les cafés et restaurants, celui qui est offert dans tous les kiosques. Il ne coûte que 30 cen-times belges ! Alors qu´au cours de change il devrait se rondro à près de 2 francs belges. Cela se passe de commentaires...».S. 131, in : Note sur la situation à Eupen et Malmedy, Comitée alsacien d´études et d´information, section de l´etranger, No.241, Exemplaire: A 15 avril 1935 S. 109 -174 (Exemplar in Privatbesitz). Ähnlich wie die Kölnische Zeitung werden auch die regionalen Zeitungen als Lesematerial in den Gaststätten vorhanden gewesen sein. 120 KAUFMANN, Idem, S. 186. 121 Vgl. KAUFMANN, Idem, S. 186. 122 Vgl. STOMMEN A., Die Presse Eupen - Malmedys, Düsseldorf, 1920, S. 20. 123 Zitiert nach CHRISTMANN, Idem, S. 32.

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Ergänzung: ‚Erscheint mit Erlaubnis der belgischen militärischen Behörde’ 124 mitgeteilt. Die Kennzeichnung verschwand am 24. Januar 1920. Die Einstellung eines berufsmäßigen Redakteurs war die dritte Neuerung die Doepgen mit dem Jahreswechsel 1905/06 einführte125. Eine Auseinanderset-zung mit dem 1906 gegründeten konkurrierenden Blatt Neues Kreisblatt für Malmedy, aus dem später der Malmedyer Landbote hervorging, führte zu ei-ner konzeptionellen Änderung der Malmedy-St.Vither Volkszeitung. Doepgen widmete zukünftig in der Samstagsausgabe einen größeren Teil der Unterhal-tung und zielte damit auf die bäuerliche Leserschaft, die auf ihren einsam ge-legenen Höfen diese dankbar aufnahm.126 Die jährlichen Stückzahlen gibt Kaufmann für 1905 mit 67.673 an127. Rechnet man diese Angaben um, kommt man auf ca. 700 Abonnenten, die regelmäßig die Malmedy St.Vither Volkszeitung lasen. Stommen zufolge erhöhte Doepgen seine Auflage durch die Änderung seines Konzeptes, die in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg statt gefunden hatte, auf 2600 Exemplare.128 Bartz gibt für 1927 eine Auflagenzahl von 1500 an.129 Die ursprünglich rein deutschsprachige Zeitung veröffentlichte ab August des Jahres 1919 die amtlichen Bekanntma-chungen zweisprachig, in Deutsch und Französisch.130 Mit einem Erlass vom 24.03.1920 ordnete Gouverneur Baltia an, dass Dekrete und Verordnungen des Gouvernements zukünftig jeden Sonntag in drei Zei-tungen veröffentlicht werden sollten; betroffen waren davon die Zeitungen La Warche in Stavelot, die Malmedy-St.Vither Volkszeitung in St.Vith und das Correspondenzblatt in Eupen131. Die Malmedy-StVither Volkszeitung erhielt jetzt in ihrem Kopf den Zusatz: ‚Einziges deutsches Organ des Distriktes Malmedy für die Veröffentlichung der amtlichen Bekanntmachungen’.132 Ab 1928 erhöhte das Blatt seinen Erscheinungsumfang, mit der Nr. 20 des 63. Jahrgangs erschien fortan ein zusätzliches Sonntagsblatt133, das bis zur Ein-stellung der Zeitung Ende des Jahres 1941 beibehalten wurde. Das letztge-nannte Jahr im Leben der Malmedy-St.Vither Volkszeitung war auch ihr um-fangstärkstes, ihre Periodizität wurde nochmals geändert, die Zeitung erschien nun dienstags, donnerstags und samstags, hinzu kam die Herausgabe des Sonntagsblattes. Der Wechsel von einer Wochenzeitung zu einer Tageszei-tung wurde fast vollzogen.

124 Malmedy - St.Vither Volkszeitung, 20.08.1919. 125 Vgl. CHRISTMANN, Idem, S. 32. 126 Vgl. STOMMEN, Idem, S. 21. 127 Vgl. KAUFMANN, Idem, S. 187. 128 Vgl. STOMMEN, Idem, S. 21. 129 Vgl. BARTZ, Idem, S. 68. 130 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 23.08.1919. 131 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 03.04.1920. 132 Ab dem 24.04.1920 Ausgabe 33 der Malmedy St.Vither Volkszeitung. 133 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 10.03.1928.

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D. DIE KONKURRENZ IM ZEITRAUM VON 1919-1925134 Das Korrespondenzblatt des Kreises Eupen wurde 1827 gegründet. In der Zeit unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg ist es viermal wöchentlich erschienen, die Auflage betrug ca. 3000 Stück. Christmann charakterisiert das Blatt zwar als positiv gegenüber der staatlichen Obrigkeit und doch auch offen für kriti-sche Artikel,135 trotzdem zeigte der Verleger Tilgenkamp eine deutliche Nei-gung zur nationalliberalen Partei.136 Nachdem ihm vom belgischen Gouver-nement 1921 das Recht genommen wurde, seine Zeitung als amtliches Kreis-blatt zu führen, kaufte er vom ehemaligen Verlag der Eupener Zeitung, die im Laufe des ersten Weltkrieges ihre Produktion einstellt hatte, deren Titel.137 Die Eupener Nachrichten erschien ab 1909 als Nachfolgerin der 1902 ge-gründeten Eupener Bürgerzeitung. Ihre Auflage stieg rasch auf 2000 Exemp-lare an. Die nicht parteieigene und finanziell unabhängige Zeitung galt als der Zentrumspartei nahe stehend und übernahm eine „Vermittlungsinstanz zwi-schen Parteiführung und -volk.“138 Das Blatt La Semaine verstand sich als Vertreterin der wallonischen Minderheit und stand der katholischen Zent-rumspartei nahe. Die Zeitung aus dem Kreis Malmedy erschien teils in fran-zösicher, teils in wallonischer Sprache. Ihre Auflage belief sich in einem Ge-biet von ca. 10.000 wallonisch-sprechenden Bewohnern auf ca. 1500.139 Der Malmedyer Landbote entstand 1919 als Nachfolger des Neuen Kreisblattes für den Kreis Malmedy, das nach der Auseinandersetzung der Malmedy-St.Vither Volkszeitung mit der preussischen Verwaltung gegründet worden war.140 Sie stellte das bäuerliche Fachorgan des Landwirtschaftlichen Kreisverbandes Malmedy dar und übernahm ab 1922 die Rolle des belgienfeindlichen Propa-gandawerkes. Ihre Auflagenzahl stieg rasch auf ca. 3000 Stück.141 Stommen stellte die hohe Zahl in engen Zusammenhang mit der Werbung, die der Land-rat und seine Frau nach dem Zerwürfnis mit Doepgen für diese neue Grün-dung betrieben hatten.142 Die Zeitung La Warche wurde 1919 von Henri Bragard gegründet. Pabst be-schreibt sie als „effektivstes Propagandablatt143“ der belgischen Regierung, das aber über eine Auflagenzahl von 800 Stück nicht hinaus gekommen ist.144 134 Zur Geschichte der Presselandschaft im Allgemeinen siehe WARNY H. (Hrsg.), Zwei Jahrhunderte deutschsprachige Zeitung in Ostbelgien, Eupen 2007. 135 Vgl. CHRISTMANN, Idem, S. 18. 136 Vgl. RULAND, Zum Segen für…, S. 25. 137 Vgl. STOMMEN, Idem, S. 7. 138 Vgl. CHRISTMANN, Idem, S. 24/25. 139 Vgl. PABST, Eupen - Malmedy..., Idem, S. 307 Anmerkung 180, CHRISTMANN, Idem, S. 29. 140 Vgl. CHRISTMANN, Idem, S. 34. 141 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy..., Idem, S. 307, Anmerkung 179. 142 Vgl. STOMMEN, Idem, S. 21. 143 PABST, Eupen-Malmedy…, S. 276. 144 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy…, S. 307.

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Bartz begründet die geringe Abonnentenzahl mit der Weigerung der Bevölke-rung „dieses Hetzblatt“ zu unterstützen. Mangel an Lesern und fehlende Un-terstützung des Gouvernements beendeten 1925 die Herausgabe des Blattes.145 Wie man sieht, herrschte für die geringe Einwohnerzahl in der Region, im Untersuchungszeitraum teilte sich die Bevölkerung in ca. 36.000 Personen im Kreis Malmedy und ca. 27.500 im Kreis Eupen146, eine recht hohe Zeitungs-dichte. Ursache dafür dürfte die starke Trennung der Region bis spät ins 19. Jahrhundert durch das unwegsame Hohe Venn gewesen sein, das Christmann als „Kommunikationsschranke“147 beschrieb. In der Engräumigkeit der Teil-regionen konnten so auf Grund des Transporthindernisses mehr Zeitungen entstehen, als das in einer geographisch offenen Situation wahrscheinlich ge-wesen wäre. Im Überblick bezeichnet Pabst die Eupen-Malmedyer Zeitungen bis auf den Malmedyer Landboten und die Eupener Zeitung als politisch neutrale Zeitun-gen.148 Zu bemerken bleibt an dieser Stelle, dass die Malmedy- St.Vither Zei-tung als einzige in der Zeit des Gouvernements verboten worden ist.

V. ZWISCHEN DEN ZEILEN: DIE MALMEDY- ST.VITHER VOLKSZEITUNG UND DER ‚VATERLANDSWECHSEL’ 1919-1925

A. EINLEITUNG Der Hauptteil gliedert sich in zwei Hälften. Mit dem ersten Teil dokumentiere ich den Informationsstand, auf dem sich die Bevölkerung nach der Rezeption der Zeitung befunden hat. Gleichzeitig zeige ich die Entwicklungslinie von einem eher unpolitisch auftretenden Medium hin zu einem Protestorgan auf. In Teil zwei erhebe ich den Anspruch ‚zwischen den Zeilen’ der Malmedy- St.Vither Volkszeitung zu lesen und beschreibe wie die Zeitung versucht, ih-rer Leserschaft Kontinuität in Zeiten des Umbruchs zu bieten.

B. DIE MALMEDY-ST.VITHER VOLKSZEITUNG ALS INFORMATIONSLIEFERANTIN UND PROTESTORGAN

Die Überlegungen Teile des deutschen Reiches in den belgischen Staat aufzu-nehmen, entstanden in der Zeit des ersten Weltkrieges. Von offizieller wie von inoffizieller Seite wurden gleich nach Beginn des Krieges territoriale An-sprüche gestellt.149 Unterstützt wurden sie von einer regelrechten „Annekti-

145 Vgl. BARTZ, Idem, S. 70/71. 146 Vgl. BARTZ, Idem, S. 19. 147 CHRISTMANN, Idem, S. 11. 148 Vgl. PABST, Eupen - Malmedy…, S. 307. 149 Vgl. PABST, Eupen - Malmedy…, S. 246-252.

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onsliteratur“, die Pabst als eine Folge des übersteigerten Nationalismus belgi-scher Emigranten sieht. Die Landforderungen waren dem gemäß auch weni-ger Ausdruck für erlittene Kriegsschäden, sondern formulierte sich in ihnen das Ziel eines ‚Großbelgischen Reiches’ mit Grenzerweiterungen auch auf Kosten Frankreichs und der Niederlande. Stellvertretend für ähnliche Autoren sei hier besonders auf Nothomb150 hingewiesen, der die geistige und soziale Verwandtschaft der Rheinländer und Belgier betonte, die erst nach einer 1000jährigen gemeinsamen Geschichte 1815 auseinander gerissen worden seien. Aber auch die Schaffung eines rheinischen Pufferstaates, der in einem Kriegsfall strategisch gegen Preußen genutzt werden könnte, wurde in dieser Literatur bereits diskutiert.151 Die konkrete Übernahme der Region Eupen-Malmedys diskutierten die Par-lamente der betroffenen Länder ab 1919. Bereits ein Jahr zuvor proklamierte der amerikanische Präsident Wilson in einer Kongressrede vom 11. Januar 1918 das Selbstbestimmungsrecht der Völker152, ein Recht das auch die Be-wohner der Kreise vehement einforderten. Im Juli 1919 begrüßte der belgi-sche Außenminister Hymanns mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages die neuen Mitbürger.153 Erste Informationen, dass Belgien Landforderungen als Ersatz für Kriegs-schäden stellte, erschienen im Januar 1919 in der Malmedy St. Vither Volks-zeitung. Im Rahmen einer Berichterstattung zum Versailler Vertrag hieß es:

„Landforderungen: Belgien verlangt Holländisch-Limburg und freie Bewegung auf der Schelde, Frank-reich Elsaß-Lothringen und Teile Syriens, Großbritanni-en koloniale Ansprüche, Italien Trentino und Istrien, sowie einen Teil der Ostküste des Adriatischen Mee-res.“154

Über eine Abtretung der äußersten westlichen Region des Deutschen Reiches wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal spekuliert. Die ersten offiziellen Nachrichten mussten die Bewohner der Region einem Kreistagsbeschluss entnehmen, der zwei Monate später veröffentlicht wurde.

Bereits bei Kriegsausbruch erfolgte von Seiten des deutschen Reichskanzlers von Bethmann Hollweg die Zusicherung, „das Unrecht (die Verletzung der belgischen Neutralität) …werden wir wieder gut zu machen suchen.“ Zitiert nach DOEPGEN, Idem, S. 26, Anmerkung 1. 150 Pierre Nothomb, geb.1887, Advokat, seit 1936 katholischer Senator für die Provinz Luxem-burg, war einer der aktivsten Anhänger der großbelgischen Staatsidee. Während des Weltkrie-ges 1914-1918 arbeitete er in der politischen Abteilung des belgischen Außenministeriums als Leiter der offiziellen Annexionspropaganda. (Anmerkung leicht geändert übernommen aus: PABST, Eupen-Malmedy…, Idem, S. 235, Anmerkung 44). 151 Vgl. PABST, Eupen - Malmedy…, S. 232-238; vgl. hierzu KÖHLER H., Adenauer und die rheinische Republik, Opladen, 1986. 152 Vgl. DOEPGEN, Idem, S. 63. 153 Vgl. PABST, Eupen - Malmedy…, S. 264. 154 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 22.01.1919.

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„Gegenüber den Bestrebungen einzelner Reichsdeut-scher den Kreis Malmedy oder einen Teil desselben vom deutschen Reich loszureißen, betont der Kreistag des Kreises Malmedy, daß der Kreis Malmedy nur zu einem Fünftel seiner Bevölkerung von Wallonen bewohnt ist, in seinem ganzen Umfange einschließlich der Preussi-schen Wallonie während 1200 Jahren stets zu Deutsch-land und niemals - die kurze Zeit der französischen Re-volution bis zum Wiener Kongress ausgenommen – zu einem andren Staatengebilde gehört hat. Der Kreistag bittet aufs dringendste, bei der kommenden Friedens-konferenz auch dem Kreise Malmedy das allen Volks-stämmen zugesicherte Selbstbestimmungsrecht, gegebe-nenfalls durch Erwirkung einer Geheimabstimmung der Bevölkerung zu wahren.“155

Der Beschluss spiegelt die wenigen Informationen wieder, die zu dieser Zeit wohl auch als Gerüchte in der Bevölkerung umhergingen. Das Gebiet, um das es sich handele, sei der Kreis Malmedy, die Auslöser der Diskussion „einzel-ne Reichsdeutsche“, die die Zugehörigkeit zu Deutschland beenden möchten. Tatsächliche Gründe wurden nicht genannt. Man kann davon ausgehen, dass in der Bevölkerung Unsicherheit über die weitere Entwicklung herrschte. In der nächsten Ausgabe veröffentlichte Doepgen eine Reuter Meldung, die be-sagte, dass die „Kommission für belgische und dänische Angelegenheiten ihre Zustimmung zu den belgischen Forderungen betr. Malmedy und Umgebung gegeben habe. In belgischen Kreisen erklärt man, dass dies zur Folge haben wird, dass die Friedenskonferenz ihre Zustimmung zur Angliederung dieses Gebietes an Belgien geben wird.“156 Sowohl St.Vith, als auch Eupen blieben in den Nachrichten unerwähnt. Die nächsten Monate gestalteten sich ruhig. Schlagzeilen über eine bevorste-hende Gründung eines rheinischen Pufferstaates beherrschten die Titelseiten. Erst im Mai erreichte die Bevölkerung die nächste Information. Die Platzie-rung der Nachricht wirkt irritierend, geht es doch um entscheidende Weichen-stellungen für die Zukunft der Region. Auf der zweiten Seite, inmitten anderer Nachrichten, fand der wichtige Auszug aus den Friedensverhandlungen seine Veröffentlichung:

“Deutschland hat der Aufhebung der Verträge von 1839 (durch welche Belgien als neutraler Staat errichtet und seine Grenzen usw. festgelegt wurden) zuzustimmen und im Voraus seine Einwilligung zu einem Abkommen zu geben, mit welchem die Alliierten deren Ersetzen be-stimmen dürfen. Deutschland hat die volle Souveränität

155 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 08.03.1919. 156 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 12.03.1919.

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Belgiens über das bestrittene Gebiet von Moresnet und über einen Teil von Moresnet anzuerkennen; ferner muss es zugunsten Belgiens auf alle Rechte über Eupen und Malmedy verzichten, deren Einwohner innerhalb von sechs Monaten berechtigt sind, gegen diesen Wech-sel im Ganzen oder zum Teil zu protestieren; die end-gültige Entscheidung ist dem Völkerbund vorbehalten. Eine Kommission hat die Einzelheiten der Grenze zu re-geln, des weiteren sind verschiedene Vorschriften für den Nationalitätswechsel von Einzelpersonen vorgese-hen. Die von Belgien erworbenen Gebiete werden von allen Verpflichtungen frei sein.“157

Nach fünf Monaten der Ungewissheit wurde die Bevölkerung mit dieser Ver-fügung vor vollendete Tatsachen gestellt. In der nächsten Ausgabe wurden die Modalitäten der Listenauslegung noch kurz geklärt. Die Reaktionen der Bevölkerung auf diese Entscheidung sind der Malmedy St. Vither Volkszei-tung nicht wirklich zu entnehmen. Wohl scheint ein starkes Mitteilungsbe-dürfnis entstanden zu sein, berichtete die Zeitung doch die Tatsache, dass die Privattelefongespräche im Fernverkehr in den letzten Tagen so stark zuge-nommen hätten, dass bereits einige Anschlüsse gesperrt werden mussten, da-mit die Leitungen für die amtlichen Gespräche frei blieben.158 Kritik an der aktuellen Lage wurde von der Malmedy-St.Vither Volkszeitung nicht selbst geübt und formuliert. Der Leitartikel „Um den Frieden“159 ver-wies auf die Reaktion der „führenden Blätter im besetzten Gebiet“ auf den Versailler Vertrag, die als „Ausdruck der stummen Kritik“ neben dem „Pari-ser Dokument die berühmten vierzehn Punkte Wilsons“ abgedruckt hätten, und entschuldigte sich gleichzeitig, dass man „aus naheliegenden Gründen eine stärkere Zurückhaltung wahren müsse als uns lieb ist“. Leserbriefe zu diesem Ereignis fanden sich nicht ein, dafür die lapidare Anfrage aus Burg Reuland, was heute die frischen Heringe vom Lebensmittelamt St.Vith koste-ten.160 Wenn auch eine solche Anfrage auf ein recht unpolitisches Publikum schließen lässt, so scheint die britische Besatzung in diesem Punkt anderer Meinung gewesen zu sein. Vermutlich um die Kommunikation in der Bevöl-kerung gering zu halten und befürchtete Unruhen zu vermeiden, mussten die Gaststätten im britisch besetzten Gebiet bereits um 21 Uhr schließen.161 In den folgenden Tagen wurden die Artikel 35-39 des Versailler Vertrages veröffentlicht; in ihnen wurde der neue Verlauf der Grenzlinie festgelegt, die Änderung der Nationalität beschrieben und die Übergabemodalitäten der

157 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 10.05.1919. 158 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 14.05.1919. 159 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 17.05.1919. 160 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 17.05.1919. 161Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.05.1919, Amtliche Bekanntmachungen.

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Verwaltung geregelt.162 Obwohl die Listenauslegung im kommenden Jahr noch ausstand, deutete alles auf eine endgültige Angliederung an Belgien hin. Clemenceaus Antwort in einem Interview zu den bevorstehenden Grenzände-rungen lautete jedoch: „Der öffentlichen Meinung ist jede Freiheit gewährleis-tet, um sich binnen einer Frist von 6 Monaten auszusprechen.“163 Dieser offe-nen, neutralen Aussage widersprach die Berichterstattung über einen Besuch von drei belgischen Abgeordneten, die bei der Inspektion der Eisenbahnlinie feststellten: „ ...,dass der Bahnhof von Monschau belgisch werden muss und dass die von der Kommission primitiv festgelegte Grenze berichtigt werden muss“.164 Eine Rechtfertigung der Angliederung sahen ihre Vertreter in der erst kurzen Zugehörigkeit des Gebietes zum deutschen Reich und der strategi-schen Lage der Region. Doepgen veröffentlichte folgende Information:

„Aus dem Wortlaut der Denkschrift des Verbandes über die Grenze Deutschlands im Westen: Eupen und Malmedy sind von den benachbarten belgi-schen Gebieten Limburg, Lüttich und Luxemburg 1814/15 abgetrennt worden. Sie wurden damals zu Preußen geschlagen um die Zahl der Bewohner des lin-ken Rheinufers zu vervollständigen, die Preußen als Ausgleich für verschiedene Gebiete in Sachsen zuge-standen haben. Dabei wurde weder auf die Wünsche der Bevölkerung noch auf geographische und Sprachgrenze Rücksicht genommen…enge soziale und wirtschaftliche Beziehungen zu Belgien… wallonische Sprache hat sich bei mehreren Tausenden ihrer Einwohner gehal-ten….Gebiet Angriffsbasis gegen Belgien geworden, u.a. großes Lager Elsenborn...Diese Gründe berechtigen die Vereinigung dieser Gebiete mit Belgien…der Ver-trag sieht die Befragung der Bevölkerung unter dem Schutz des Völkerbundes vor…“165

Die Berichterstattung muss auf die Menschen der Region verwirrend gewirkt haben. Die Festlegung der Grenzlinie im Versailler Vertrag, die wenigen In-formationen, was mit dem Ergebnis der Listenauslegung bezweckt werden solle, die Erklärung Clemenceaus, dass die öffentliche Meinung gewahrt (be-achtet?) wird, gemischt mit der probelgischen, pragmatischen Agitation, ergaben ein Konglomerat an Informationen, dem der alltagsgewohnte Leser nicht gewachsen gewesen sein dürfte.

162 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.05.1919. 163 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 31.05.1919. 164 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.06.1919. 165 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 25.06.1919.

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Alle diejenigen, die die Listenauslegung zu diesem Zeitpunkt noch mit einer Volksabstimmung in Verbindung brachten, musste Doepgen am 19.07.1919 endgültig enttäuschen:

„Fortgesetzt hört man Zweifelsäußerungen, nämlich dass es noch nicht sicher sei, dass unsere Gegend bel-gisch würde. Diese Zweifel werden nun vollends…aus dem Wege geräumt...“Durchführung des Friedensver-trages hinsichtlich Eupen und Malmedys“ bedeutet mit anderen Worten: Übergabe der Verwaltungsgeschäfte bzw. des Gebietes Eupen und Malmedy an Belgien“.166

Die definitive Zuordnung wirkte sich auch auf die Wortwahl aus. ‚Neu-Belgien’ fand nun als Begriff für die Region Eupen-Malmedy Zugang zu den Artikeln in der Malmedy-St.Vither Volkszeitung.167 Die Bevölkerung wurde durch eine Proklamation, die von belgischen Soldaten auf dem Marktplatz von St.Vith aufgehängt wurde, über den Regierungswechsel informiert. Auch das beschrieb Doepgen, allerdings nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Proklamation „von unberufener Hand“168 wieder entfernt worden war. Über die kirchliche Zuordnung herrschte weiterhin Unklarheit. Dem Aache-ner Echo der Gegenwart entnahm Doepgen, dass Malmedy nicht länger bei der Diözese Köln bleiben und die deutschen Priester und Lehrer durch belgi-sche ersetzt werden sollten.169 Im August erschien auf der Titelseite eine amtliche Information zur Verwal-tung der Kreise Eupen und Malmedy. In ihr wurde betont, dass der „Übergang aus der deutschen Regierungsverfassung auf die belgische Regierungsform ohne Härten erfolgen muß, indem er den gerechten Interessen und den Sitten des Volkes, sowie erworbenen Rechten, Rechnung trägt…“. Es solle eine „stufenweise allmähliche Anpassung der Kreise Eupen und Malmedy an das belgische Nationalleben bis zur gänzlichen Verschmelzung…“ erfolgen. Aus dem Gesetzesentwurf, den der belgische Außenminister Hymanns der belgi-schen Kammer vorlegte, ging hervor, dass es sich nach der belgischen Inter-pretation tatsächlich nicht um eine Abtrennung einer Region vom deutschen Reich handelte, sondern um eine Rückführung in den belgischen Staat. “Art.1: Die Verwaltung der zurückerstatteten Gebiete an Belgien laut Art. 33, 34 und 35 des Friedensvertrages von Versailles vom 28. Juni 1919 ist einem Be-vollmächtigten zu übertragen, den der König ernennt.“170 Doepgen veröffent-lichte die amtlichen Verlautbarungen ohne Kommentar. Nachdem die briti-sche Besatzung von den belgischen Truppen abgelöst worden war,171 erschie-

166 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 19.07.1919. 167 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 29.07.1919. 168 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 02.08.1919. 169 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 02.08.1919. 170 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 13.08.1919. 171 Der Einzug belgischer Truppen erfolgte am 24.08.1919.

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nen in den folgenden Wochen die ersten amtlichen Bekanntmachungen auch in Französisch. Am 20. August erschien eine Ausgabe mit dem dramatischen Titel: „Hinmor-den und Grausamkeiten der deutschen Besatzung in Belgien“172. Dem folgte ein Hinweis der Redaktion, die belgischen Behörden hätten gebeten, den Arti-kel zu veröffentlichen. Es war ein deutsches Geständnis zu Kriegsverbrechen der deutschen Besatzung in Belgien, u.a. mit dem Hinweis, dass in Dinant „1914 400 Bürger mir nichts dir nichts hingemordet“ worden seien. Wenn man von der Wichtigkeit der Veröffentlichung von Kriegsverbrechen einmal absieht, welches Ziel verfolgte die belgische Besatzung mit der Bitte um Auf-nahme einer solchen Meldung? Sollte der Bevölkerung verdeutlicht werden, in welcher glücklichen Situation sie sich befanden nicht mehr einem solchen Volk anzugehören? Eine Reaktion von Seiten der Leserschaft blieb aus, auch Doepgen, der in vielen später erscheinenden Artikeln als moralische Instanz erschien, blieb stumm. Wenn auch die nationale Zugehörigkeit mittlerweile geklärt erschien, so wa-ren die Detailfragen noch offen. Wie verhielt es sich mit dem Militärdienst und der Umwechslung des Geldes, wie konnte der neue Kanton in die Wirt-schaft Belgiens eingebunden werden? Doepgen informierte die Bevölkerung zu diesen Punkten nach seinen Möglichkeiten. Im September erschien die Nachricht, dass „die jungen Leute der Kreise Malmedy und Eupen während einer langen Reihe von Jahren vom Militärdienst entbunden sind. ..nein, die Regierung wird nicht einmal in den Kreisen Malmedy und Eupen Aushebun-gen veranlassen, bis die Einwohner der beiden Kreise vollständig mit der bel-gischen Bevölkerung verschmolzen sind.“ Als Quelle der Meldung gab Do-epgen ein Interview an, dass der Redakteur der Zeitung La Warche mit Gene-ral Michel, dem Oberbefehlshaber des besetzten Gebietes geführt habe.173 Doepgen scheint sich in dieser Zeit bemüht zu haben, die Bewohner der Regi-on mit ihrem neuen Vaterland vertraut zu machen. Eine mehrteilige Serie nannte er: „Belgisches Wirtschaftsleben – Heimatkunde für Neubelgier“174, in der Folge erschien „Aus Belgiens Vergangenheit - Heimatkunde für Neubel-gier“175. Zur gleichen Zeit erfuhr die Bevölkerung, wer in den nächsten Jahren das Gouvernement der Region übernehmen sollte. In einem Artikel, der aus der Nation Belge übernommen worden ist, wurde General Baltia, ein gebürti-ger Luxemburger, der sich „ebenso gut in der deutschen wie in der französi-schen Sprache“ ausdrücke und ein Mann „von sehr gutem Charakter“ sei, als neuer Königlicher Groß-Kommissar in den neuerworbenen belgischen Gebie-ten vorgestellt.176 Obwohl die Meldungen keine Zweifel an der neuen Staats-

172 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 20.08.1919. 173 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 03.09.1919. 174 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 13.09.1919 und 20.09.1919. 175 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.10.1919 und 11.10.1919. 176 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 17.09.1919.

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zugehörigkeit ließen, schien die Gerüchteküche im St.Vither Land zu kochen. Doepgen fühlte sich verpflichtet eine Klarstellung abzudrucken:

„Neue Erfindungen. Folgende Märchen gehen um: In einigen Tagen müssen die belgischen Truppen abzie-hen, weil die Engländer beschlossen haben, sie zu erset-zen. In vier Monaten werden die amerikanischen Trup-pen nach Eupen kommen, anstelle der belgischen. Die deutsche Regierung ist mit der belgischen Regierung in Unterhandlung getreten, um Belgien eine Geldsumme zu zahlen, anstatt ihm die Kreise Eupen und Malmedy abzutreten. Marschall Foch hat befohlen, dass die Belgi-er die beiden Kreise nur während fünf Monaten besetzen würden. Es sind grausame Spaßmacher, die dergleichen Dinge erfinden und erzählen, während sich mitunter harmlose Leute finden, welche den Unsinn glauben ohne von dem Ernst des Friedensvertrages einen Begriff zu haben.“177

Die noch anstehende Volksbefragung schien der Auslöser der neuen Unsi-cherheiten zu sein. Vielen Menschen waren die Umstände und das Ziel der Befragung nicht klar. Nach wie vor verwechselten viele eine Befragung mit einer echten Volksabstimmung. Die Veröffentlichung eines Schreibens Cle-mençeaus setzt hier allerdings deutliche Grenzen. Mit seiner Erklärung berief er sich auf Artikel 34 des Versailler Vertrages:

„..., dass es nicht die Absicht der alliierten und assoziier-ten Mächte gewesen ist, in Eupen und Malmedy eine Volksabstimmung zu veranstalten, entsprechend denen, die für Oberschlesien und Schleswig vorgesehen wur-den, sondern dass es ihre Absicht war, den Bewohnern der in Frage kommenden Kreise, die etwa den Wunsch haben sollten, dass ihr Heimatgebiet unter deutscher Herrschaft bleibe zu gestatten, ihrem Wunsch frei Aus-druck zu geben...“178

Es ging also nicht um eine Beteiligung der Bevölkerung an der zukünftigen Nationalität ihrer Region, sondern Ziel der Befragung war, den Bewohnern Gelegenheit zu geben, ihren Wunsch frei äußern zu können. Ob und wie man einem solchen Wunsch gerecht werden wollte, war nicht Teil des Artikel 34. Wohl führte Clemenceau weiter aus, dass die „Volksbefragung Grundlage der Entscheidung des Völkerbundes“ sein sollte und „demgemäß die notwendigen Maßnahmen“ zu treffen habe. Wenn man auch aus der Formulierung ‚dem-gemäß’ noch schließen konnte, dass der Völkerbund gemäß der Wunschantei-

177 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.11.1919. 178 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 10.12.1919

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le entscheiden müsse, so kann man doch davon ausgehen, dass die Hauptin-formation des Artikels in der deutlichen Abgrenzung zu den Volksabstim-mungen in Oberschlesien und Schleswig lag. Der Artikel gab damit zwar deutliche Informationen weiter, trug in meinen Augen aber nicht dazu bei, das Klima der Unsicherheit entscheidend zu verändern. So lies Doepgen das Weihnachtsgedicht 1919 mit dem Vers beginnen: „Vergiß die Schmerzen, die du stumm getragen, und auch das Unrecht, dass du dulden musst...“. Und in seiner Weihnachtsansprache betonte er die Weihnachtszeit als „unvergängli-che funkelnde Kette“ in „dieser Zeit der Ungewissheit“.179 Das Jahr 1919 stellt sich in der Berichterstattung als eine Zeit der Unsicher-heit dar. Doepgen bemühte sich im Rahmen seiner Möglichkeiten die Folgen des Versailler Vertrages und die Umstände der Volksbefragung deutlich zu beleuchten, doch bereiteten ihm meiner Ansicht nach dabei die umlaufenden Gerüchte und die emotionale Ablehnung, die er selbst der Angliederung ge-genüber hegte, deutliche Schwierigkeiten.

1920

Das Jahr 1920 stand ganz im Zeichen der Übernahme der Region durch Bel-gien und der Amtseinführung General Baltias. Entsprechend berichtete Doep-gen über den Beginn der Auslegung der Listen180 und den Amtsantritt Bal-tias181. Noch immer wurden von deutscher Seite Protestnoten an den Interalli-ierten Hohen Rat gesendet, die von diesem weiterhin abgewiesen wurden. Die deutsche Regierung monierte, dass es keine geheime Volksabstimmung gäbe, dass der Völkerbund nicht die Aufsicht führe, es der Bevölkerung wirtschaft-lich nicht gut gehe, und dass es Ausweisungen aus dubiosen Gründen gege-ben habe. Alle Punkte wurden im einzeln widerlegt und die Malmedy-St.Vither Volkszeitung gebeten die Antwort der belgischen Regierung zu ver-öffentlichen.182 Als ein wichtiges Ereignis stellte sich auch in diesem Jahr der anstehende Geldumtausch dar. Im März erschien dazu eine kurze Meldung:

„Anlässlich der Einführung der Frankenwährung sind so viele und komplizierte Fragen zugegangen…(die wir) nicht beantworten können…(wir) stellen den Sprechsaal zu Verfügung unter der Bedingung, dass nichts ge-schrieben wird, das irgendwie die belg. Regierung ver-letzen könnte. Die Redaktion“183

179 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.12.1919. 180 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 14.01.1920. 181 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 17.01.1920. 182 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 07.02.1920. 183 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 10.03.1920.

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Der Umtausch von Mark in Franken stellte für die Menschen ein Problem dar. Es schien eine latente Unzufriedenheit zu herrschen. Doepgen hielt es daher wohl für notwendig auf die korrekte Form von Anfragen hinzuweisen. Die unklare Situation über die Gültigkeit der deutschen Gesetze fand im März ihr Ende in der Bekanntmachung, dass die deutschen Strafgesetze bis zur Gül-tigkeit der belgischen durch General Baltia ihre Wirksamkeit behalten soll-ten.184 Der Generalstreik185, der im April für mehrere Tage den Ausnahmezu-stand in Eupen provozierte, und ein Ereignis darstellte, das mit Sicherheit im ganzen Grenzland Beachtung fand, blieb in der Malmedy-St. Vither Volkszei-tung unerwähnt. Gleichzeitig erschien allerdings auf der Titelseite eine Amtli-che Bekanntmachung zur Volksbefragung, die mit Strafen gegen Personen drohte, „die gegen die Form der Volksbefragung agieren.“186 Die tatsächlichen Verwaltungsvorgänge, wie die Übernahme des Schulwesens durch die belgische Behörde187, Mitteilungen zur Bauerlaubnis, die „auch un-ter belgischer Regierung erforderlich“188 war, Informationen zu notariellen Beurkundungen189 signalisierten der Bevölkerung das Ende der Zugehörigkeit zu Deutschland. Die Berichterstattung hierzu ist als ein weiteres Puzzleteil in das Erklärungsmodell Pabsts190 für das schwache Votum für Deutschland in der Volksbefragung einzufügen. Der Bericht über die feierliche Amtseinführung Baltias in St. Vith verrät eine gewisse Distanz zu den neuen Machthabern.

„…dem Aufzuge wohnten viele Zuschauer…bei, spon-tane Kundgebungen sind nicht zu verzeichnen. Solche sind wohl auch von keiner Seite erwartet worden, bzw. geplant gewesen… Was das Verhalten des St.Vither Publikums anbetrifft, so muss man sagen, dass es in gelassener Ruhe als Zu-schauer zur Seite stand während es als selbstverständlich bezeichnet werden muss, daß die vom Stadtoberhaupt geladenen Vereine dem an sie gestellten Verlangen, sich an dem Aufzuge zu beteiligen, aus traditionellen Höf-lichkeitsgründen entsprechen mussten…“.191

184 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 03.03.1920. 185 Eupener Nachrichten, 17.04.1920, vgl. PABST, Eupen – Malmedy, Idem, Anmerkung 88, S. 285, weiter S. 313, Grund für den Generalstreik waren die Abtrennung von Deutschland und die Modalitäten der Volksbefragung. 186 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.04.1920. 187 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 28.04.1920. 188 Malmedy-St.Vither Volkszeitung,12.05.1920. 189 Malmedy-St.Vither Volkszeitung,15.05.1920. 190 Pabst betrachtet die geringe Wahlbeteiligung als ein multikausales Phänomen. Druck von belgischer Seite, die Furcht der Bevölkerung vor Ausweisung, aber auch die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und ungeschicktes Vorgehen der deutschen Re-gierung macht Pabst mit für die schwache Wahlbeteiligung verantwortlich. PABST, Idem, S. 282-286. 191 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 12.05.1920.

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Abwartend und distanziert, freundlich umschrieben als „gelassene Ruhe“, die Vereine mussten aus „traditionellen Höflichkeitsgründen“ teilnehmen, so ge-staltete sich der Einzug desjenigen Mannes, der seine ‚zurückgewonnenen Brüder’ in ihr ursprüngliches Vaterland zurückführen sollte, nicht zu einem Jubeltag in seiner Amtsperiode. Aber die Unsicherheiten schienen auf beiden Seiten zu liegen. Im Juni veröffentlichte Doepgen eine Meldung der Nach-richtenagentur Havas, die den belgischen Widerstand gegen die Rückkehr der Deutschen thematisierte:

„ Antwerpen, 13. Juni Havas meldet: In gewaltigen Kundgebungen, an denen sich 30 000 Personen beteilig-ten, wurde gegen die Rückkehr der Deutschen Einspruch erhoben. In einer Erklärung an den König wurden die Befürchtungen der Kundgeber dargelegt und die Behör-den gebeten, Maßnahmen zur Verhinderung der neuen Invasion zu ergreifen.192

Zukunftsangst auf beiden Seiten; waren die einen brüskiert und enttäuscht von einer nicht stattgefundenen Volksabstimmung, so zeigte man auf der an-deren Seite Furcht vor Überfremdung. Nicht alle Belgier betrachteten die Bewohner der neuen Ostkantone als wiedergewonnene Brüder. Die Erfahrun-gen des 1. Weltkriegs waren in frischer Erinnerung.193 Die Abstimmung in Eupen-Malmedy fand Ende Juli ihren Abschluss. Ein kleiner Sechszeiler auf der Titelseite verkündete das Ergebnis:

„Die Abstimmung in Eupen und Malmedy Amsterdam, 25. Juli. Aus Brüssel wird folgende Havas-Reuter Meldung verbreitet: Bei der in den Kreisen Eu-pen und Malmedy veranstalteten Volksabstimmung ha-ben von 33 726 Stimmberechtigten im ganzen 270 ge-gen die Einverleibung in Belgien protestiert. (Davon entfallen auf Eupen 208, auf Malmedy 62 Stimmen).“194

Die Nachricht erschien unkommentiert und so klein, dass sie zwischen den übrigen Meldungen der Rubrik „Politische Rundschau“ fast verschwand. Die deutschen Einsprüche gegen das „belgische Vorgehen in Eupen und Mal-medy“195 wurden von Doepgen ausführlich veröffentlicht. Hauptkritikpunkt war die Verletzung des Artikels 34 des Friedensvertrages von Versailles, der die Modalitäten der Volksbefragung regelte.

192 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 19.06.1920. 193 Vgl.ULLRICH G., „Ein Zeichen der Versöhnung im Geiste von Locarno“, Gustav Strese-mann 1926, Ein Beitrag zur Geschichte der Eupen - Malmedy Rückgabeverhandlungen in der Locarno-Aera 1924-1926, Lünen, 2001, S. 10-16. 194 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 31.07.1920. 195 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 07.07.1920, 01.09.1920, 29.09.1920, 08.12.1920.

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Den Vereinigungsfeiern im September gingen Anweisungen des belgischen Innenministers voraus, wie die Feste zu gestalten seien.196 Die Ausgabe vom 29. September enthält einen großen Artikel, in dem die Feierlichkeiten ge-schildert werden. Leider, so die Anmerkung Doepgens, wurde der Artikel zu spät zugestellt und erscheine daher in der falschen Ausgabe. Die Reden von Gouverneur Baltia und dem Malmedyer Bürgermeister Steisel, der Belgien für die Aufnahme dankte, fanden darin genauso ihre Veröffentlichung wie die Präzisierung der Anweisungen des Ministers, die nun etwas überholt wirken. So wurde beschrieben, dass man Glockengeläut und Fackelzüge erwarte, die Schulen sollten geschlossen sein und die Firmen wurden aufgefordert ihren Arbeitern frei zu geben.197 Artikel über die Arbeit der deutsch-belgischen Grenzkommission erschienen im Oktober des Jahres198. Deutsch und Französisch wurden nun zu den offizi-ellen Geschäftssprachen benannt, amtliche Bekanntmachungen zur Erwer-bung der belgischen Nationalität fanden ihren Zugang zu den Lesern der Malmedy-St.Vither Volkszeitung199. Das dominante Thema zum Ende des Jahres 1920 war weiterhin der noch nicht stattgefundene Währungswechsel. Doepgen berichtete von einer Notlage des Kreises Eupen-Malmedy durch den Währungswechsel. Forderungen nach einer Kommission wurden laut, die der Regierung in Brüssel die schwierige Lage der Region darstellen sollte.200 Aus der `La Warche` entnimmt Doepgen die Information über die Erhebung eines Mindestumtauschbetrages von 20.000 Mark.201 Das Jahr 1920 möchte ich zusammenfassend als das Jahr der formalen An-gliederung bezeichnen. Die Angleichung des Schulwesens und der Gesetze an das belgische System schritten fort, doch dominierten Zukunftsängste und Skepsis, die sich besonders in den Berichten zu den geleiteten Feierlichkeiten spiegeln, die Gefühlswelt der `Neubelgier`.

1921

Die Berichterstattung des ersten Halbjahres 1921 war geprägt von dem sich hinziehenden Verfahren des Währungswechsels. Die ‚Ver’Stimmung der Be-völkerung verdeutlicht ein Artikel vom 12.01.1921.

„Unzufriedenheit: die Unkenntnis, in der man die Be-völkerung hält, indem man ihnen weder den Zeitpunkt noch die Bedingungen des endgültigen Geldumtauschs bekannt gibt, die Verzögerung dieser dringenden Opera-tion seit Monaten; die Gerüchte, die über die Unzuläng-lichkeit des Umtauschs umlaufen: alles das hat in Stadt

196 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 22.09.1920, siehe Anhang. 197 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 29.09.1920. 198 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 02.10.1920, 25.12.1920. 199 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 09.10.1920. 200 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 06.11.1920, 17.11.1920. 201 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 03.11.1920.

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und Land eine schlechte Stimmung hervorgerufen, die sich von Tag zu Tag verschlimmert, ja sich in diesen Wochen der Arbeitslosigkeit und der fälligen Jahresre-chungen verdoppelt. Diese schlechte Laune hat sich ganz besonders in einer von den vereinigten Syndikaten am vorigen Sonntag im Saale des Europäischen Hofes einberufenen Versammlung geäußert, an der alle Bevöl-kerungsklassen teilnahmen. Im dichtbesetzten Saale war die Unruhe allgemein...Es ist tief zu bedauern, daß man den Loyalismus, von dem unsre Bevölkerung bei jeder Gelegenheit den besten Beweis geliefert, auf eine so harte Probe gestellt, und daß man ihre Geduld auf die Spitze getrieben hat...Aber man wird nicht mehr länger zögern können, wenn man bedauerliche Unruhen ver-meiden will, auf die unsre Nachbarn im Osten war-ten.“202

Hinzu kommt, dass der Umtausch pro Person auf eine bestimmte Höhe be-grenzt werden musste, da „das ProKopf Einkommen innerhalb kürzester Zeit in der Region stark gestiegen“203 war. Die Kritik am Modus des Geldum-tauschs vermischte sich mit einer gewissen Enttäuschung, hatte die Bevölke-rung doch nicht wirklich gegen die neue Regierung opponiert. So endete der Bericht auch mit einem entsprechenden Hinweis, den man durchaus als Dro-hung verstehen kann. Die kirchliche Zugehörigkeit wurde im März geklärt. Die Region Eupen- Malmedy wurde zum Bistum erklärt, das allerdings dem Bischof von Lüttich unterstellt blieb.204 Obwohl der Geldumtausch auch jetzt noch nicht reibungslos funktionierte205, konnte Doepgen doch über eine „Unmenge an Naturalisationsgesuchen – mehr als 2000“ berichten, die dem Gouvernement zugegangen waren, „von Leuten, die nach dem 01. August 1914 hierzulande sesshaft“206 geworden wa-ren. Nicht alle wurden in den belgischen Staat aufgenommen. Im Kreis Eupen wurden von 904 Anfragen 636 positiv beantwortet und 268 Anträge abge-lehnt, im Kreis Malmedy von 563 Anfragen 423 aufgenommen und 140 mit negativen Bescheiden belegt.207 Die Liste der neu Eingebürgerten, mit na-mentlicher Aufzählung, folgte im September.208 202 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 12.01.1921. 203 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 29.01.1921. 204 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 2. Blatt, 26.03.1921. 205 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 06.04.1921. 206 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 06.04.1921. 207 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.06.1921, vgl. auch PABST, Eupen- Malmedy…: Die Geldzirkulation betrug 1921 3000 Mark pro Kopf, während der gleichzeitige Geldumlauf in Deutschland 800 Mark, in Belgien 750 Franken betrug. S. 311. 208 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.09.1921.

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Die regionalen Probleme traten im Spätsommer mit der Ermordung Erzber-gers in Deutschland in den Hintergrund. Wochenlang beherrschte das Entset-zen über diese Tat die Titelseiten auch der Malmedy-St.Vither Volkszei-tung.209 Erst im Oktober beschäftigte sich Doepgen wieder mit der Situation in Eupen- Malmedy. Er bilanzierte die wirtschaftliche Lage von Industrie, Handel und Gewerbe in den Kreisen nach Einführung des Frankens und kriti-sierte, dass Belgien es an Fürsorge für seine neue Region habe fehlen lasse.

„...Belgien mangelndes Absatzgebiet für die Industrie aus der Region, auch wegen Ablehnung Deutschen ge-genüber... Absatzgebiet Deutschland ist unbedingt nötig, durch Grenzverlegung abgeschnürt, nur durch Entge-genkommen der deutschen Regierung sind nun bereits seit einem Jahr die Aus- und Einfuhrbeschwernisse er-leichtert und die Zollbehandlung auch in entgegenkom-mender Weise geregelt worden...“ 210

Tatsächlich förderte die wirtschaftliche Situation eine antibelgische Stim-mung besonders unter der ärmeren Bevölkerung. Der Wegfall der bisherigen Absatzmärkte, Verluste beim Währungswechsel und die vielen Behinderun-gen des Grenzverkehrs trafen fast jeden.211 Wenn sich Doepgen mit direkter Kritik an Belgien auch 1921 äußerst zurückhielt und großen Wert auf eine sachlich richtige und ausführliche Information legte, so schreckte er doch nie davor zurück Kritikpunkte oder Polemiken aus anderen Quellen zu überneh-men. So auch eine kurze Anmerkung der Eupener Nachrichten zu einem Be-richt aus der Lütticher Zeitung. Der Artikel monierte die nur halbherzige Übernahme der Eisenbahnlinie Roetgen-Kalterherberg durch Belgien. Hier hieß es:

„Belgien erhält nicht das, was es mit Recht erwarten konnte. Frachten, Gebühren, Mieten, alle Strafen werden in deutschem Geld berechnet...Namen der fünf über-nommenen Bahnhöfe dürfen nicht verändert wer-den...Offen gestanden soll man glauben, dass hier die Sieger den Besiegten Vorschriften machen. Die ‚Eupe-ner Nachrichten’ bemerken dazu lakonisch: Was soll man von diesen Klagen denken?“212

Auch Ende dieses Jahres kursierten Gerüchte über eine eventuell doch noch nicht endgültige Staatszugehörigkeit zu Belgien in der Region. Doepgen ver-

209 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 03.09.1921, 21.09.1921. 210 Malmedy - St.Vither Volkszeitung, 22.10.1921. 211 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy…, Idem, S. 308f. 212 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.11.1921.

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öffentlichte eine Zeitungsente, die er aus der La Warche übernommen hatte mit dem Titel: „Aus zuverlässiger Quelle“, nach der

„der Außenminister des Reichs an gewisse preußische Beamte des Rheinlandes ein vertrauliches Schreiben ge-richtet hat, in dem er bittet, hinsichtlich des etwaigen Zurückfalls neuer Gebiete, die zu den Kreisen Eupen und Malmedy gehören vorbereitende Maßnahmen zu treffen. Daraus wird geschlossen, daß hierüber neue Verhandlungen mit Belgien im Gang sein sollen. An-merkung der Warche: Was steckt hinter solchen Gerüch-ten? Die Bevölkerung beider Kreise hat sich insgesamt für Belgien erklärt. Man achte daher ihren Willen und gebe nicht einzelne Teile an Preußen ab.“213

Diesem Artikel ist nochmals zu entnehmen, wie groß die Unsicherheit in der Bevölkerung im Umgang mit solchen Gerüchten gewesen sein muss. Auch der Journalist der La Warche ließ es sich in seinem Schlusswort nicht nehmen auf das Ergebnis der Befragung hinzuweisen, obwohl nach der Feststellung, dass es sich bei der Mitteilung um ein Gerücht handele, dazu keine Veranlas-sung bestand. Zunichte gemacht wurden solche Gerüchte stärker noch als durch Widerle-gungen durch formale Bekanntmachungen, die einen Spiegel der tatsächlichen Verhältnisse darstellten. So weist Doepgen in seiner Ausgabe von Heilig Abend auf eine Verordnung vom 20.10.21 hin, nach der „nach dem 31.12.1921 in Deutschland oder Österreich an Volksschulen oder höheren Lehranstalten abgelegten Studien, sowie Zeugnisse und Diplome im Gouver-nement Eupen-Malmedy keine Gültigkeit“214 mehr haben sollten. Damit wur-de der damals noch häufige Besuch reichsdeutscher Schulen durch ‚neubelgi-sche’ Schüler unterbunden, befürchtete doch die neue Regierung eine alldeut-sche Indoktrination der Kinder durch ihre deutschen Lehrer.215

1922

Auch 1922 fand keine grundlegende Änderung in der wirtschaftlichen Situati-on in Eupen-Malmedy statt. Doch nicht nur die ökonomische Gegenwart, auch die politische sorgte für Unmut in der Bevölkerung. Die Leser der Mal-medy-St.Vither Volkszeitung wurden im Januar und Februar mit Eingaben der Eupen-Malmedyer Wirtschaftsverbände an den belgischen König und die Kammer konfrontiert, die u.a. das Wahlrecht in den Gemeindeversammlungen

213 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 30.11.1921. 214 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.12.1921. 215 Vgl. PABST, Eupen - Malmedy…, Idem, S. 306.

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einforderten, aber auch nochmals die schlechte wirtschaftliche Situation be-schrieben.216 Im Juni veröffentlichte Doepgen einen Artikel der Brüsseler Tageszeitung Gazette, die wieder Anlass für Spekulationen über die endgültige Zugehörig-keit der Region bot. Erstmalig wurde auf eine mögliche Aufteilung Eupen-Malmedys hingewiesen, wonach Eupen der Provinz Limburg, St.Vith der Provinz Luxemburg und Malmedy der Provinz Lüttich angegliedert werden sollte. Als vermutetes Ende der derzeitigen Übergangsregierung erfuhren die Leser das Datum des 30. Dezembers 1923. Die größten Irritationen dürfte al-lerdings der Kommentar des Journalisten hervorgerufen haben:

„...Die meistverbreitete Auffassung ist aber diejenige, dass die Regierung eine neue deutsche Invasion abwar-tet, um nicht die Verantwortung der Teilung eines so ausgedehnten Gebietes auf sich nehmen zu müssen. Und nach der Entwicklung der Dinge zu urteilen, wird das schneller eintreffen, als man es sich beim Waffenstill-stand denken konnte.“217

Wie sollte man diese Anmerkung deuten, stand man etwa vor einem erneuten Kriegsausbruch? Im Rahmen der Angleichung der kirchlichen Verhältnisse an Altbelgien entbrannte eine Diskussion über die Abschaffung des bis dahin schulfreien Fronleichnamsdonnerstags, die sich von Juni bis August hinzog. Genau wie im neuen Zugehörigkeitsgebiet sollten die Kinder zukünftig an diesem Tag die Schule besuchen, die ausgefallene Prozession218 sollte am drauffolgenden Sonntag stattfinden. Stärker als der tatsächliche Anschluss rief diese Verfügung Baltias eine Reaktion in der strengkatholischen Bevölkerung hervor.

„Eingesandt: ...General Baltia habe es durchgesetzt, dass von den kirchlichen Feiertagen diejenigen gestrichen werden, die deutschen Charakters oder Ursprungs seien, und diejenigen bestehen bleiben sollen, die einen allge-mein kirchlichen Charakter haben. ...Sieben bestehende Feste werden dem öffentlichen Leben genommen; eins wird neu eingeführt, das aus nationalen Gründen auf den 15. August festgesetzt wurde (Geburtstag Napoleons!). Muß unser Volk da nicht zu der Ansicht kommen, dass da ein Druck ausgeübt worden ist von unberechtigter Seite?“219

216 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.01.1922, 25.01.1922, 15.02.1922, 22.02.1922. 217 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 06.05.1922. 218 Vgl. WIEBEL-FAUDERL O., Religion als Heimat, Köln, 1993. Gerade Fronleichnamspro-zessionen stellen im katholischen Glauben ein großes Jahresereignis dar, in dem der gemein-schaftliche Glauben Ausdruck fand. Im Dritten Reich wurden sie „als Zeichen des Widerstan-des und der katholischen Stärke gedeutet.“ S. 164/165. 219 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 15.07.1922.

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Eine Kompromisslösung konnte allerdings durch die schulfreien Tage, über die die Schulen selbst verfügen konnten, gefunden werden. Doepgen wandte sich in sibyllinischer Weise an die Regierung: „Quieta non movere. Das Ru-hige soll nicht beunruhigt werden.“220 Obwohl Baltia in seiner Proklamation von 1920 den Eupen-Malmedyern eine 4-jährige Befreiung vom Militärdienst versprochen hatte221, erschien im Juli 1922 ein Aufruf an „die nun 20-jährigen der Gemeinden St.Vith, Lommers-weiler und Grommbach sich zur Eintragung in die Milizlisten im Bürgermeis-teramt“222 zu melden. Im Gegensatz zur o.g. Feiertagsregelung fand diese Meldung keine größere Aufmerksamkeit. Trotzdem riss die Kritik an den Zu-ständen in der Region in diesem Jahr nicht ab. Die schlechten Bahnverbin-dungen waren das Thema eines Artikels, den Doepgen aus der ‚Fliegenden Taube’ übernahm:

„Große Versprechungen, erneute Untersuchungen, aber keine Aussicht auf Besserung… Dem Minister Neujean unterbreiten wir die ergebene Bitte, einige Zeit in unse-rer Gegend seinen Wohnsitz aufzuschlagen, um selbst sich überzeugen zu können, dass die Fahrpläne auf den hiesigen Eisenbahnstrecken so eingerichtet sind, um die Benutzung der Züge den Reisenden unmöglich zu ma-chen“223

Im September wurde die Endgültigkeit der neuen Grenze bestätigt.224 Wie in den Jahren zuvor informierte Doepgen über die für die Bevölkerung relevan-ten Vorkommnisse. Erstmalig nahm in diesem Jahr die Kritik einen größeren Raum ein. Trotzdem war nicht er es, der offen Stellung bezog, sondern Miss-stände wurden über Dritte formuliert.

1923

Die Berichterstattung des Jahres 1923 stand ganz im Zeichen der Besetzung des Ruhrgebietes und der Agitation für einen freien Rheinlandstaat. In Eupen- Malmedy bereitete man sich auf das Ende der Amtszeit des Gouverneurs vor. In Malmedy hatte sich ein Komitee gebildet mit dem Ziel einer Kundgebung zu Ehren General Baltias.225 Obwohl sich die Bevölkerung jetzt im vierten Jahr der belgischen Zugehörigkeit befand, schien die Staatsangehörigkeitsfra-ge noch nicht endgültig geklärt. Doepgen veröffentlichte folgenden Artikel:

220 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.07.1922. 221 Vgl. PABST, Eupen - Malmedy…, S. 315. 222 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 22.07.1922. 223 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.07.1922 224 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 09.09.1922 225 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 16.05.1923.

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„Sind die Bewohner von Eupen-Malmedy Belgier? Vor kurzem erging eine Entscheidung des Brüsseler Kriegsschädengerichts, die sich des näheren mit der Staatsangehörigkeitsfrage der Einwohner in den abgetre-tenen Gebieten befasste. In dem Urteil wurde die Auf-fassung vertreten, dass die belgische Staatsangehörigkeit der Eupen-Malmedyer noch nicht rechtskräftig sei, weil die endgültige Hoheitsübertragung an Belgien nicht auf gesetzmäßigem Wege bekannt gemacht worden sei…“ 226

Der offizielle Status schien also noch immer ungeklärt. Welche Pflichten, welche Rechte hatte die Bevölkerung? Welche Ansprüche durften die ‚Neu-belgier’ an ihr neues Vaterland stellen? Fragen, die noch immer Nährboden für Verunsicherungen in der Bevölkerung boten. Gerade in der ländlichen Be-völkerung, die die Hauptleserschaft der Malmedy-St.Vither Volkszeitung dar-stellte, dürften solche Berichte zu einer distanzierten Haltung gegenüber der neuen Regierung geführt haben. Die Politiker hingegen wurden nicht müde die Desannektionsthese zu bekräf-tigen. In einem Interview mit Journalisten aus der Schweiz bezog Generalsek-retär van Werwecke Stellung zur Wiedereingliederung der Kreise Eupen, Malmedy und St.Vith.

„…1815. Die Kantone…wurden in diesem Jahre von Belgien losgerissen, um Preußen für einen Verlust zu-gunsten Sachsen zu entschädigen…geschichtlich bildete das Gebiet (bis dahin) ein Ganzes, Eupen und seine Be-ziehungen zu Limburg, was sich heute in der Volksspra-che wieder findet, Malmedy, das hundert Jahre der Germanisierung der lateinischen Kultur nicht entfrem-den konnte und auch St.Vith, das nach Rasse, Sprache und wirtschaftlichen Beziehungen nie aufgehört hat, zu Luxemburg zu gehören…nur ein Akt der Gerechtigkeit, dass uns durch den Versailler Vertrag diese Kantone zu-rückgegeben wurden…ein großer Teil des Landes na-mentlich des Südens ist arm und wenn Belgien dieses Land wieder in den Schoß seines Vaterlandes zurück-bringen wollte, so geschah das nur, weil es ein Unrecht wiedergutmachen wollte und zugleich dem Wunsch der Bevölkerung gemäß gehandelt hat;...“227

Fast wie einen Gnadenakt schilderte van Werweke die Angliederung der Re-gion. Ziel der belgischen Regierung war es, die Bevölkerung zu unterstützen und sie aus ihren ärmlichen Verhältnissen heraus zu holen. Die tatsächlichen

226 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 20.06.1923. 227 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.07.1923.

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Verhältnisse hinkten den politischen Zielsetzungen, wie oben beschrieben, allerdings hinterher. In Deutschland tobte zu dieser Zeit der Kampf um die Gründung einer rheinischen Republik228. Belgien unterstützte die Geschehnis-se nicht aktiv, Kolonialminister Franck sprach sich allerdings für eine unab-hängige Volksabstimmung im Rheinland aus229. Im Oktober fand die offizielle Verabschiedung Baltias statt. Doepgen berich-tete in einem Artikel mit dem Titel ‚Die Manifestation Baltias’230 von einer feierlichen Veranstaltung. Ein Vertreter der deutschsprechenden Bevölkerung richtete seinen Dank an den General und bescheinigte ihm einen „glänzenden Erfolg“ bei seiner „schweren Aufgabe“ die Einwohner „mit Altbelgien ver-traut“ gemacht zu haben. Er habe es „den Einwohnern leicht gemacht, sich an ihr neues Vaterland zu gewöhnen und dasselbe hochschätzen zu lernen. Die Amtszeit des Gouverneurs wird, so mutmaßte er, „allen Teilnehmern eine interessante historische – im Hinblick auf die deutsch-vaterländische Vergan-genheit aber wehmütige – Erinnerung sein.“ Bis zu diesem Zeitpunkt glaubte die Bevölkerung, dass mit dem Ende des Jahres auch das Ende der Übergangsregierung kommen würde. Mit dem neu-en Status, mit dem sie die altbelgischen bürgerlichen Rechte, wie freie Wah-len, erwarteten, erhofften sie eine stärkere Vertretung im belgischen Parla-ment. Am zweiten Weihnachtstag wurden sie allerdings enttäuscht. In einem kleinen Dreizeiler meldete die Malmedy-St.Vither Volkszeitung, dass die endgültige ‚Einverleibung’ erst im März stattfinden solle. “Der Gouverneur bleibt noch einige Monate im bisher innegehabten Amte.“ Wie üblich druckte Doepgen solche Mitteilungen kommentarlos ab. Auch scheint er über Gründe für die Verschiebung nicht informiert gewesen zu sein, hätten diese doch sonst Aufnahme in dem Artikel gefunden.

1924

1924 fand eine Politisierung der Malmedy-St.Vither Volkszeitung statt. In einer losen Reihe, die er ‚Aus der sozialdemokratischen Waschküche’231 nannte, tauchten Artikel auf, in denen er sich äußerst polemisch zu Ereignis-sen im Zusammenhang mit Vertretern der Sozialdemokratie Belgiens äußerte. Sie gipfelten in einem Angriff auf den sozialdemokratischen Abgeordneten Ernest, der bei dem damaligen liberalen Unterrichtsminister eine Untersu-chung gegen eine als Lehrerin tätige Ordensschwester beantragte. Der Abge-ordnete warf der Nonne vor, in einer Gemeindeschule ohne die Zustimmung der Eltern Kinder zur Beichte zu führen und für den Ordensdienst zu werben.

228 Vgl. GEDYE G.-E., Die Revolver-Republik, Köln, 1931. Ein zeitnahes Dokument über die Ereignisse an der Ruhr und im Grenzland aus der Perspektive eines englischen Korresponden-ten. 229 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 18.08.1923. 230 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 31.10.1923. 231 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.03.1924, 02.04.1924, 09.04.1924, siehe Anhang.

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Doepgen, der das Verhalten der Nonne als völlig korrekt einordnete, unter-stellte dem Minister, der versprach, eine Untersuchung einzuleiten, „Religi-onshass“ und „erzdummen Missbrauch“ seiner hohen Stellung.232 Zu der be-stimmt auch religiös motivierten Unzufriedenheit kam hinzu, dass auch im April die politische Situation noch nicht geklärt war: die endgültige Angliede-rung war auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollzogen. Es tauchten Ge-rüchte auf, wonach die Kantone verwaltungstechnisch getrennt werden soll-ten.233 In einem langen zweispaltigen Artikel veröffentlichte Doepgen die (fiktiven?) Reiseerlebnisse einiger Belgier, die mit der Bahn nach St.Vith fuh-ren. In einer Gaststätte suchten sie das Gespräch mit den Bewohnern des Or-tes.

„...Sind sie mit dem Regime zufrieden? Wir müssen wohl! Und das Referendum? Wir hoffen gerne, daß sie nicht glauben würden, dass das eine ernsthafte Sache ist! Ungerechtigkeit, wovon wir noch heute Konsequenzen tragen; aber dies gehört schon der Vergangenheit an. Haben Sie niemals gegen diese unerträgliche Situation protestiert. Manchmal ja, aber man wagt es nicht zu tun, da man sonst als Anti-Belgier angesehen wird...Man hat jedoch an die Spitze der Regierung des befreiten Landes einen Mann gestellt, welcher gut für Euch sein muß? Sagen sie eher „unterjochtes Land“, und was die Regie-rung Baltias anbelangt, mit seiner Litanei von Angestell-ten, die er unterhält, so wisset, dass es unser glühendster Wunsch ist, sie sobald als möglich abgeschafft zu sehen. Ueberdies sind wir immer als Belgier 2. Klasse behan-delt worden....“

Im zweiten Teil wurden Fragen zur Aufteilung der Region gestellt. „...Sie ziehen es also vor einen einzigen Kreis und einen einzigen Wahlbezirk zu bilden? Alle antworten: Ja, denn wenn man uns mit anderen Kreisen vermischt, wird es uns niemals möglich sein, einen geeigneten Vertreter zu wählen, um unsere Rechte zu vertreten....“ 234

Erstmalig wurden hier nicht nur die Vorgänge im Zusammenhang mit der Volksbefragung öffentlich kritisiert, sondern auch General Baltia, dem noch im Oktober des Vorjahres ein tadelloses Zeugnis im Umgang mit der Bevöl-kerung ausgestellt worden war, gerät in die Kritik. Dieses Gespräch zwischen Altbelgiern und Neubelgiern war der Beginn eines massiven Protests gegen die Aufsplittung Eupen-Malmedys. Besonders Dr.

232 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 23.04.1924. 233 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.05.1924. 234 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.06.1924.

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Bartz235 setzte sich stark gegen eine Aufteilung des Gebietes ein. Er richtete Aufrufe an die Bevölkerung236, forderte das Wahlrecht und eigene Deputierte. Doepgen veröffentlichte die Schreiben auf der Titelseite. Unterstützung er-hielt er aber auch von altbelgischer Seite. Die Libre Belgique meldete, dass jetzt „die Zeit gekommen sei...das provisorische Sonderregime zu been-den...durch eine vollständige und endgültige Angleichung an das übrige bel-gische Vaterland...“.237 Auch die Leserschaft nahm an dieser Diskussion teil238. In der Rubrik: ‚Stimme aus dem Publikum’ erschienen Forderungen nach einer Wiederho-lung der Volksbefragung. Grundlage dafür wäre das von Präsident Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker, dem mit der ersten Befra-gung nicht entsprochen worden sei. Ein weiteres Thema war die Wahl eines Abgeordneten - „aus unserer Mitte“239. Die Bewohner wollten von einem Einheimischen in Brüssel vertreten werden. Unter dem Titel „Lasciate ogni speranza“240 (Alle Hoffnung ist verloren) forderte ein Unbekannter die ge-heime Abstimmung über die Zugehörigkeit der Region. Auch das Verhalten der Regierung im Umgang mit der Wehrpflicht wurde jetzt stark kritisiert. Der Artikel enthielt den Hinweis, dass in der Ausgabe des Amtsblattes vom 24. d. Monats eine Aufforderung an die Bevölkerung erschienen sei bis zum 01.09. Wünsche zur endgültigen Angliederung an die jeweiligen Amtsstellen zu richten. Der Schreiber war stark verärgert über die Platzierung der Veröf-fentlichung in einem Blatt, das „fast nur in den Amtsstuben gelesen werde“, sowie über die kurze Frist, die von den Antragstellern eingehalten werden müsse. Weitere Leserbriefe mit Beschwerden folgten. Unterzeichnet waren sie ent-weder mit „Die Stimme eines Rufenden in der Wüste“241, „Einer für Zehntau- 235 Die Identität des Dr. Bartz konnte ich leider nicht hundertprozentig klären. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit handelt es sich aber um den Journalisten Karl Bartz (als Pseudonym setzte er auch den Namen Joachim Reinhardstein ein), geboren in Weismes in der Nähe von Malmedy am 31.03.1900, der später durch Veröffentlichungen wie „Das Unrecht an Eupen - Malmedy“ (1928), „Weltgeschichte an der Saar“ (1935), „Großdeutschlands Wiedergeburt. Weltgeschicht-liche Stunden an der Donau, mit einem Geleitwort von Hermann Göring“ (1940), „Männer dem Himmel verfallen. Aus dem Leben deutscher Einflieger“ (1941) oder „Die Tragödie der deut-schen Abwehr“ (1955), um nur einen Teil seiner „Werke“ zu nennen, zu zweifelhaftem Ruhm gelangt ist. Alle seine Arbeiten sind zu finden im virtuellen Katalog des Bibliotheksverbund Bayerns. (Mein Dank gilt Dr. Klaus Pabst für die Unterstützung bei den Nachforschungen). 236 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.06.1924, 09.07.1924. 237 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 25.06.1924, weitere Artikel aus anderen belgischen Zei-tungen veröffentlicht Doepgen am 02.07.1924 zu diesem Thema; vgl. auch LENTZ J., Das Wahlverhalten in den Kantonen Eupen, Malmedy und St.Vith bei den Parlamentswahlen von 1925 bis 1939, Eupen, 2000, S. 17, 29. 238 Die Briefe beschränken sich hauptsächlich auf den Zeitraum vom 05.07. bis zum 10.09.1924. 239 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 12.07.1924. 240 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 30.08.1924. 241 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.07.1924, 30.08.1924.

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sende“242 oder „Einer für Alle“243. Inhalt und Schreibstil – so waren die Briefe häufig mit lateinischen Zitaten ausgestattet -, aber auch ihr Umfang und ihre Position – häufig auf der Titelseite - lassen durchaus den Schluss zu, dass es sich bei allen Autoren um die gleiche Person handelte. Christmann vermutet, dass es sich bei dem ‚Rufenden aus der Wüste’ um den Verleger selbst ge-handelt habe244. Dem kann ich mich nur anschließen und möchte gleichzeitig seine Autorenschaft auf die anderen genannten Unterzeichner erweitern. Zeitgleich veröffentlichte Doepgen Referate, die anlässlich einer Volksver-sammlung am 15.08.1924 in St.Vith gehalten wurden245. Themen der Vorträ-ge waren die Deutsche Sprache, bzw. die Forderung nach der Einrichtung eines Gerichtes erster Instanz im deutschsprachigen Gebiet. Die Schärfe der Diskussion nahm mit der Veröffentlichung eines Artikels von Dr. Bartz zu.

„Eupen-Malmedy und die Zukunft ...(Wir sind als) Ausbeutungsobjekt immer noch Men-schen zweiter Klasse, gut genug wankende Parlaments-sessel zu stützen….was würde für uns und Belgien die Nichtachtung unserer Wünsche bedeuten? Was eine Fortdauer der Gouvernementsregierung in Mal-medy?...man hat uns wie ein erobertes Land behandelt, mit Strenge hat man versucht Ansichten aus unseren Herzen zu zerren, neue einzupflanzen, kurz es roch sehr sehr nach arger Gewalt. Und wir, was konnten wir tun, wenn man uns niederdrückte, wenn man uns Bürde auf Bürde auflud? Nichts! In verbissener Wut, im Schwei-gen des Gequälten lag unser ganzer Protest. Was taten wir, wenn eine schmutzige Zeitung, redigiert von den Verachtesten des Volkes ihren Unflat über uns ausgoß und uns in Belgien zu Tieren stempelte? Nichts. Jeder zitterte vor Strafe oder Ausweisung. Die Gerechtigkeit war und ist auf Reisen, wann kommt sie zurück…Wir verlangen nichts unmögliches nur Gerechtigkeit verlan-gen wir.(Sitze im Parlament).“ 246

Am gleichen Tag informierte Doepgen die Leserschaft seiner Zeitung von der Stimmung in Altbelgien zur Situation in Eupen-Malmedy. In einer Über-blicksdarstellung gab er Zitate aus verschiedenen Tageszeitungen wider. Die Kommentare waren der Bevölkerung durchaus wohlgesonnen, sie kritisierten die Politik der liberalen Partei aber auch einen Ausspruch Baltias, dass die wieder gewonnene Bevölkerung noch nicht reif für das politische Leben wä-re. Sowohl der Courrier du Soir aus Verviers als auch die Brüsseler Zeitung

242 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 06.09.1924. 243 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 10.09.1924. 244 CHRISTMANN, Idem, S.237. 245 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 23. 08.1924, 27.08.1924. 246 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 13.09.1924, 1. Blatt.

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forderten für die Bevölkerung politische Freiheit und das volle Wahlrecht bei den nächsten Wahlen.247 Da die Malmedy-St.Vither Volkszeitung in dieser Zeit hauptsächlich den Unmut über das Verfahren der endgültigen Angliede-rung thematisierte, fiel die Nachricht, dass im Lager Elsenborn „zur Zeit 12.500 belgische Soldaten einquartiert sind“248, etwas aus dem Rahmen der Diskussion. Man kann sie als Warnung, vielleicht auch als Hinweis auf die wahren Machtverhältnisse lesen. Im Oktober wurde das endgültige Statut als Gesetzesentwurf der Kantone Eupen, Malmedy und St.Vith beschlossen. Sie sollten gemeinsam an das Ar-rondissement Verviers angegliedert werden, dessen Einwohnerschaft sich damit um 60213 Personen erweitere249. Interessant erscheint mir, dass der Widerstand gegen die Aufteilung der Kantone immer in großer Aufmachung auf der ersten Seite erschien, die Durchsetzung der Forderung allerdings zwi-schen anderen Meldungen auf der 3. Seite fast unterging. Eine bewusste Plat-zierung der Artikel in der o.g. Weise könnte als gewünschte Erzeugung von Unruhe gedeutet werden. Vom 24. November bis zum 08. Dezember wurde die Zeitung per Dekret verboten. In der Begründung hieß es:

„...,dass in letzter Zeit gewisse Veröffentlichungen in der Malmedy-St.Vither Volkszeitung genannten Zei-tung, welche zwei Mal wöchentlich bei Hermann Doep-gen in St.Vith erscheint, geeignet sind, die Bevölkerung zum Aufruhr aufzureizen und die öffentliche Ruhe und Ordnung zu gefährden, daß es daher nötig ist, Maßre-geln zum Schutze der friedlichen Bürger gegen die Ge-walttätigkeiten, welche derartige Aufreizungen im Ge-folge haben könnten, zu ergreifen.“250

Obwohl sich die Berichterstattung in den Monaten Oktober und November deutlich beruhigte, hielt das Gouvernement es für notwendig die Zeitung noch Ende November zu verbieten. Offensichtlich sollte hier ein Exempel statuiert werden zur Warnung vor einer allzu kritischen Stellungnahme zum System. Das Verbot führte zu einer Positionierung der Bevölkerung für ihre regionale Zeitung. In der Ausgabe vom 10. Dezember, die mit der Nr. 95-99 versehen ist, bedankte sich Doepgen überschwänglich bei seiner Leserschaft für die „tausendfachen Sympathiekundgebungen schriftlich und mündlich und in der Presse...“.251

247 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 13.09.1924, 2. Blatt. 248 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 17.09.1924. 249 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 08.10.1924. 250 Extrablatt, 24.11.1924, urspr. veröffentlicht in Amtsblatt, 15.11.1924. 251 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 10.12.1924.

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Informationen zum Entwurf des neuen Angliederungsgesetzes Eupen- Mal-medy fanden am 24.12. ihre Veröffentlichung in der Malmedy-St.Vither Volkszeitung.252 Im Jahre 1924 war deutlich geworden, dass die Region als Ganzes bestehen bleiben sollte.253 Die Gefahr der Aufteilung und die damit verbundene Furcht keine Chance mehr auf eine eigene Vertretung im belgischen Parlament zu haben, war in den Hintergrund getreten. Die Reaktionen auf das Verbot der Zeitung verdeutlichten Doepgen, dass er mit seiner Berichterstattung die Stimmung in der Bevölkerung spiegelte und signalisierten ihm für die `richti-ge Sache` ein zustehen.

1925

Würde die Bevölkerung nun an den nächsten Wahlen teilnehmen können? Informationen zu dieser Frage entnahm Doepgen den Eupener Nachrichten.254 Der verwaltungstechnische Teil des o.g. Gesetzesentwurfs zur Angliederung war bereits im Februar mit 5:2 Stimmen angenommen worden. Der rechtliche Teil wurde an die Justizkommission verwiesen.255 Aber auch hier konnte eine Einigung erzielt werden, die Verhandlungen sollten dem gemäß in Eupen, St.Vith und den deutschsprechenden Gebieten Malmedys in deutscher Spra-che geführt, Bekanntmachungen und amtliche Mitteilungen in Malmedy zweisprachig veröffentlicht werden.256 Am 11.03.1925 erfuhr die Bevölke-rung der Region, dass am vorliegenden Donnerstag das Gesetz zur Angliede-rung in der belgischen Kammer angenommen worden war. Drei Monate nach der Verkündigung endeten demzufolge die außerordentlichen Vollmachten des hohen Kommissars.257 Ab diesem Zeitpunkt wurde die Malmedy St.Vither Volkszeitung Forum für Wahlaufrufe für die katholische Partei. Alle anderen Parteien, aber besonders die Sozialisten, wurden diffamiert. Es herrschte Wahlkampf: „...wie das so-zialistische Paradies aussieht, das ihr Stifter, der Jude Karl Marx seinen An-hängern versprochen, das sehen wir in Russland: Trumpf für das Verbrechen,

252 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.12.1924. 253 Die genauen Hintergründe und den chronologischen Ablauf der endgültigen Angliederung beschreibt Pabst en detail. Demzufolge standen sehr kontroverse Anschlussmodelle als Idee im Raum, darunter auch die Aufteilung und Eingliederung der Kantone Eupen und Malmedy nach Lüttich, St.Vith zur Provinz Luxemburg. Als eine weitere Möglichkeit wurde die Bildung eines Arrondissements Malmedy mit den altbelgischen Orten Stavelot und Spa, der Zuordnung St.Viths zu Bastnacht und Eupen zum Arrondissement Verviers angesehen. Die Sozialisten favorisierten hingegen die Vereinigung aller drei Kantone zu einer eigenen belgischen Provinz. S. 326-333. 254 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 31.01.1925. 255 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 18.02.1925. 256 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 28.02.1925. 257 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 11.03.1925, vgl. PABST, Eupen-Malmedy…, S. 333.

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Kampf dem Guten!“, so charakterisierte ein Unbekannter mit dem Pseudo-nym ‚Philo’ das Wahlprogramm der Sozialistischen Partei Belgiens.258 In den nächsten Ausgaben folgten ähnliche Beiträge, die zum Teil deutlich antisemitische Züge trugen.259 Bei den Wahlen setzten sich die Sozialisten mit einer Stimme Mehrheit durch. Es kam zur Regierungskrise in Belgien.260 Im Mai tauchten die ‚Stimmen aus dem Publikum’261 wieder auf. Sie beinhal-teten Kritik an der Durchführung der Amtsgeschäfte durch Belgien, aber auch das Verhalten von Mitgliedern einer altbelgischen Jagdgesellschaft wurde scharf gerügt. Die Schonzeit wurde nicht eingehalten und der Einsender frag-te: „Warum darf man sich solche Sachen gerade im ehemaligen Kreise Mal-medy erlauben?“, die Einwohnerschaft reagierte sensibel bei Verstößen gegen heimische Rechte. Im Juni endete die Herrschaft des Hohen Kommissars, seine „Mission ist be-endet.“ Die Kreise Eupen, Malmedy und St.Vith gehörten ab diesem Zeit-punkt zur Provinz Lüttich, die Verwaltung wurde dem Arrondissement Ver-viers unterstellt.262 Zwei Wochen nach der Beendigung des Gouvernements ließ ein anonymer Autor seiner Wut freien Lauf. Als Reaktion auf einen Arti-kel der La Warche, in dem von Anarchie in Eupen- Malmedy berichtet wor-den sei, schimpft der Schreiber, dass

„….gerade die „Warche“ ist es doch gewesen, die den Altbelgiern immer wieder vorgeredet hat, dass abgese-hen von einer Handvoll Leute, die ganze Bevölkerung sich in Altbelgien wohl fühle wie in Abrahams Schoß, dass die letzten Wahlen deutlich bewiesen hätten, dass man von einer geheimen Abstimmung nichts wissen wolle;…Als vor nicht langer Zeit die St.Vither Volks-zeitung in dem bekannten Geßler Artikel auf ein schrei-endes Unrecht hinwies, denunzierte die „Warche“ die Mörder und die Zeitung wurde für zwei Wochen verbo-ten. Das war eine schöne Zeit. Da konnte man die Bo-ches klein halten. Herr Bragard, die Zeit ist vorbei, sie kehrt nie wieder. Ihr Thron ist umgestürzt. Lange, viel zu lange haben sie drauf gesessen. Hätte das Gouverne-ment Sie von den Rockschößen abgeschüttelt, wäre das-selbe heute nicht in dem Maße verhasst. – Soweit unser Gewährsmann“263

258 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 14.03.1925. 259 Malmedy-St.Vither Volkszeitung,18.03.1925, 25.03.1925, 04.04.1925. 260 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 29.04.1925, vgl. LENTZ, Idem, S. 33. 261 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 02.05.1925, 13.05.1925. 262 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 27.06.1925. 263 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 15.07.1925.

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Doepgen schloss sich dem Artikel an und kritisierte nun, ein halbes Jahr nach dem tatsächlichen Vorfall und unmittelbar nach dem Ende des Regimes, die alte Regierung. Er wies auf die „flagrante Missachtung der Pressefreiheit“ hin und warf Baltia vor, sich damit auch noch die „Letzten, die noch vom menschlichen Standpunkte aus den Gouverneur achteten, verscheucht“ zu ha-ben.264 Das Verhalten des Herausgebers der Warche und General Baltias schienen Doegen und seinen ‚Gewährsmann’ tief getroffen zu haben. Trotz-dem gab es bis auf diese eher als Abrechnung zu bezeichnenden Artikel keine öffentliche Auseinandersetzung über das Zeitungsverbot. Der Zeitpunkt der Erscheinung spricht für die erzieherische Wirkung des Verbots, erst nach dem Ende der Übergangsregierung, als die Gefahr eines zweiten Verbotes nicht mehr bestand,265 traute man sich scharf gegen die damaligen Maßnahmen zu protestieren. Im August erfuhr die Bevölkerung, dass ein eigener Wahlbezirk zur bevorste-henden Provinzialratswahl im November abgelehnt worden war. Die Vorgän-ge in der Kammer gestalteten sich tumultartig. Die erste Abstimmung endete mit einem Ergebnis für die Einführung eines neuen Wahlbezirkes Eupen-Malmedy. Der Innenminister forderte darauf hin, da das Ergebnis nicht den Wünschen der Regierung entspräche266 und „gegen die Würde Belgiens“ sei, eine zweite Abstimmung. Sollte diese genauso ausfallen, so drohte er für die-sen Fall mit Rücktritt. Die Sitzung wurde darauf hin abgebrochen.267 Der zweite Wahlgang fand am 04.08. statt, die Drohung des Innenministers Jacquemyns zeigte Wirkung. Die Abgeordneten der sozialistischen Linken versicherten den Eupen-Malmedyern zwar ihre Sympathie, sahen sich aber nun nicht mehr in der Lage für einen eigenen Wahlbezirk zu stimmen, da sie die Regierung nicht stürzen wollten.268 Mit Beginn des Oktobers stand der Wahlkampf für die Provinzialratswahlen im November im Mittelpunkt der Berichterstattung der Malmedy-St.Vither Volkszeitung. In den Wahlaufrufen wurde massiv dagegen agitiert aus Pro-testgründen ungültige Wahlscheine abzugeben und damit das so genannte weiß-wählen zu praktizieren. Der Leitartikel vom 21. Oktober beschäftigte sich mit dem Rheinpakt und Eupen-Malmedy. Der Autor äußerte Verständnis für die im Vertrag von Locarno zugesicherte Anerkennung der deutschen Westgrenze durch Deutschland. Erst dieses Ergebnis schien für den Journalis-ten die Situation der Bewohner der Region tatsächlich zu klären:

„...Damit ist unsere Lage endgültig geklärt- Wir sind und bleiben Belgier. Es schwindet bei uns ein Element

264 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 15.07.1925. 265 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy…, Idem, S. 308, Anmerkung 181: Nach der Einführung der belgischen Verfassungsbestimmungen waren Zeitungsverbote nicht mehr möglich. 266 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy…, Idem., S. 334/335. 267 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 01.08.1925. 268 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 08.08.1925.

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der Ungewissheit. Seit 11 Jahren befindet sich die hiesi-ge Bevölkerung in einem Zustand der Unruhe und Auf-geregtheit…Jetzt wissen wir woran wir sind. Die Zeit des Schimpfens hat aufzuhören, wir treffen uns selbst damit…Es gibt viele Dinge die uns nicht gefallen, ver-suchen wir sie auf dem richtigen Wege abzustellen, su-chen wir Einfluß auf die Gesetzgebung und Verwaltung zu gewinnen…(J.Litt).“269

Obwohl es die Vorgänge der letzten Monate nicht an Eindeutigkeit haben feh-len lassen, schien für viele Menschen die Vorstellung nicht mehr zum Deut-schen Reich zu gehören noch keine faktische Wirklichkeit geworden zu sein. Der Autor plädierte nun für eine Auseinandersetzung mit den neuen Gege-benheiten und verwies auf die Möglichkeit der legalen Einflussnahme. Trotz-dem riss auch in der Malmedy-St.Vither Volkszeitung das Stochern in der frischen Wunde nicht ab. In einem Wahlaufruf für die katholische Partei und gleichzeitig in einem Pamphlet gegen den Aufruf ‚weiß’ zu wählen, hieß es: „…dass wir hier in Neubelgien unzufrieden sind mit der Annexion und mit allen Übeln, die sie sonst noch mit sich bringt…National sind wir geknebelt! Sollen wir uns nun lebendigen Leibes auch noch mundtot machen lassen?!“270 Wenn auch bei vielen Menschen die Vernunft, wie sie im o.g. Leitartikel be-schworen wurde, die Oberhand gewann, so waren die Ereignisse noch zu jung, um nicht im anstehenden Provinzialratswahlkampf emotional instru-mentalisiert zu werden. Bei einer Wahlversammlung der katholischen Partei in St.Vith wurde betont, dass die katholische Partei nicht nur gegen andere Parteien zu kämpfen habe, sondern vor allem gegen die befürchtete Wahlenthaltung. Ziel der Wahl am 8. November war die sozialistische Mehrheit in der Provinz Lüttich zu beenden und dieses angestrebte Ergebnis sah man durch die Aufrufe ‚weiß’ zu wählen gefährdet.271 In jeder der folgenden Ausgaben wurde an das politische und religiöse Gewissen der Wähler appelliert, sich nicht von den Protestaufrufen beeinflussen zu lassen. Noch bevor die Wahlergebnisse veröffentlicht werden konnten, erschien auf der Titelseite der Malmedy-St.Vither Volkszeitung ein Artikel, den Doepgen aus dem Wochenblatt der Frankfurter Zeitung übernommen hatte. Er beschäf-tigte sich mit der Situation der Bevölkerung nach dem Ende der Übergangsre-gierung und bemerkte zur Stimmungslage der Bevölkerung:

„…Erbitterung des Alltags und wirtschaftliche Notlage lassen das tief in den Herzen wurzelnde Verlangen nach der Rückkehr zu Deutschland nur noch stärker hervor-

269 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.10.1925. 270 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.10.1925. 271 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 28.10.1925.

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treten…die Möglichkeit den bestehenden Zustand zu ändern – trotz Locarno…(so werde) auch in belgischen Kreisen weiterhin mit dieser Möglichkeit gerech-net…“272

Die Wahlen beendeten die sozialistische Mehrheit in Lüttich und öffneten sechs Deputierten aus Eupen-Malmedy den Weg in den Provinzialrat.273 Nach den Provinzialratswahlen entstand eine scharfe Zeitungsdebatte zwi-schen der Malmedy-St.Vither Volkszeitung und dem Herausgeber des Land-boten. Doepgen warf dem Landboten vor, mit seiner Propaganda für Weiß-wahlen gegen die Interessen der Eupen-Malmedyer verstoßen zu haben. Die politische Haltung des Landboten würde den Untergang der gemeinsamen Heimat herbeiführen. Doepgen befürwortete die Anerkennung der neuen Grenzziehung, um mit deren Akzeptanz die Möglichkeit zu haben, die deut-sche Kultur und Sprache in Belgien weiterleben zu lassen.

„…Was ist besser, auch im Auslande die deutsche Spra-che, die deutschen Gebräuche hochzuhalten und zu ver-teidigen oder sie kampflos in Erwartung einer unsiche-ren Zukunft preiszugeben wie der Landbote das will…“ 274.

Der Streit eskalierte, als Doepgen vom Landboten vorgeworfen wurde einen Satz in einem Artikel des Wochenblattes der Frankfurter Zeitung zum Wahl-ausgang weggelassen zu haben, in dem es heißt: „…die Anhänglichkeit an die Kirche besiegte bei den meisten die nationale Forderung.“275 Der Landbote, der sich mit dieser Aussage in seiner Agitation gegen die Wahl bestätigt sah, warf Doepgen vor die Informationen im seinem Sinne manipuliert zu haben. Der Herausgeber der Malmedy-St.Vither Volkszeitung beendete die Diskus-sion mit der Veröffentlichung eines Artikels eines deutschen Mitarbeiters, der betonte, dass eine Weißwahl „Verrat an der katholischen Sache“ gewesen wäre und die „aktive Wahlbeteiligung nicht eine Anerkennung der Verhält-nisse“ bedeute.276 Bestätigung fand diese Aussage in der Übernahme eines Artikels aus der Kölnischen Volkszeitung, in dem Eupen-Malmedy als ‚trojanisches Pferd’ beschrieben wurde, das eine Verschärfung des Nationalitätenproblems herbei-führen würde. In der Bevölkerung herrsche der Wunsch nach eine neuen Volksabstimmung, Deutschland habe zwar im Locarno-Vertrag die neue Westgrenze anerkannt, der Vertrag gewinne allerdings erst Gültigkeit, wenn 272 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 11.11.1925 aus Wochenblatt der Frankfurter Zeitung, 05.11.1925. 273 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 14.11.1925, 21.11.1925. 274 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 28.11.1925. 275 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.12.1925. 276 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.12.1925.

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Deutschland dem Völkerbund beigetreten wäre und dann könne die Grenz-ziehung noch mal völlig neu diskutiert werden. Am Ende des Artikels wies der Autor auf den Friedensplan Papst Benedikts XV. hin, in dessen Sinne die katholische Partei eine Rückgabe des Gebietes befürworten solle.277 Die beiden zuletzt genannten Vorgänge sind symptomatisch für die Berichter-stattung Doepgens. Er bemühte sich konstruktiv mit der Situation in einem neuen Land zu leben umzugehen, lies aber dabei sein eigentliches Ziel, bzw. seinen Wunsch, die Rückführung der Gebiete nach Deutschland, nicht aus den Augen.

C. ZWISCHEN DEN ZEILEN Wie im vorigen Kapitel bereits erkennbar, kann man nicht davon sprechen, dass es sich bei der Malmedy-St.Vither Volkszeitung um ein unpolitisches Blatt gehandelt hat. Offensichtlich hat auch Baltia den Informationsgehalt der Zeitung unterschätzt.278 Die Politisierung seit 1924 ist ganz offensichtlich, aber auch den Jahren zuvor wird deutlich, dass Doepgen sich vor einzelnen politischen Stellungnahmen nicht scheute. Liest man nun zwischen den Zei-len, so vermittelte Doepgen darüber hinaus ab 1919 Botschaften, die die me-dienbewußte Bevölkerung279 zu verstehen in der Lage gewesen sein dürfte. Neben kleinen Seitenhieben auf die Besatzer, so veröffentlichte Doepgen im Januar 1919 einen Artikel zur Preß- und Meinungsfreiheit280, die eine Errun-genschaft der Revolution sei und daher erhalten bleiben müsse, gleichzeitig erscheint im Kopf der Malmedy-St.Vither VZ der Hinweis „Erscheint mit Er-laubnis der britischen militärischen Behörde“, lassen sich mehrere Bereiche darstellen, die die These des verdeckten Schreibens zulassen. Im folgenden werde ich die Bereiche unterscheiden in:

1. Stellvertreterartikel; in ihnen werden Situationen in anderen Regionen Deutschlands problematisiert, die der eigenen entsprechen.

2. Einen Themenkomplex mit Artikeln, die sich im weiteren Sinne mit dem ‚Vaterland’ beschäftigen, und

3. der Ausrichtung der Nachrichten nach Deutschland.

1. “WIR WEHREN UNS FÜR ALLE ZEIT GEGEN JEDE ABTRENNUNG DEUTSCHEN GEBIETES IM WESTEN…” DIE STELLVERTRETER-ARTIKEL

277 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 16.12.1925. 278 CHRISTMANN, Idem, zitiert Baltia mit einer Einschätzung zur Malmedy- St.Vither Volks-zeitung: „…die politische Einstellung ist nicht genau definierbar.“ S. 89. 279 Vgl. CHRISTMANN, Idem., die der Bevölkerung ein besonderes Medienbewusstsein unter-stellt.S. 39, siehe auch Anmerkung 39 der vorliegenden Arbeit.. 280 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 29.01.1919

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Bereits zu Beginn des Jahres 1919 dominieren die Themen ‚Loslösung des Rheinlandes’281 und der Anschluss ‚Deutsch-Österreichs’282 ans Deutsche Reich in der Berichterstattung der Malmedy-St.Vither Volkszeitung. Im Laufe des Jahres nutzte Doepgen diese Themen als Plattform, um für die Untrenn-barkeit des deutschsprachigen Raumes zu plädieren. In dem gleichen Maße wie Doepgen den Anschluss Deutsch-Österreichs für eine „historische und kulturelle Notwendigkeit“283 hielt, lehnte er die Gründung einer rheinischen Republik vehement ab284. In einem Artikel zur Errichtung einer rheinischen Republik, den er aus der Kölnischen Volkszeitung übernommen hatte, hieß es: „Wir wehren uns für alle Zeit gegen jede Abtrennung deutschen Gebietes im Westen und gegen jede uns aufgezwungene Staatsform…“285. Im Rahmen dieser Diskussion behauptete er, dass „sämtliche Parteien gegen die Einver-leibung“286 Einspruch erheben werden. Die Positionierung Doepgens wird ganz deutlich in einem Bericht über zwei Volksversammlungen in Köln, die sich zu einer gewaltigen Kundgebung gegen die Abtrennung des Rheinlandes gestalteten. Doepgen, der wie seine Mitbürger, die Region Eupen-Malmedy geographisch im Rheinland verortete287, betonte die „gemeinsame Abstam-mung“, das „gemeinschaftliche Kultur- und Wirtschaftsleben“, dass das rhei-nische Volk „unlösbar mit dem gesamten deutschen Volk verbindet“. Jede Änderung bedeute eine „Vergewaltigung“ und eine „Vernichtung des abge-trennten Landesteiles“, hervorgehoben wurde besonders das „Recht auf Selbstbestimmung“288. Mit einer solchen Berichterstattung, die sich in ihrer Emotionalität auch in anderen Artikeln wieder findet, wandte sich Doepgen deutlich gegen die bevorstehende Abtrennung der eigenen Region vom Deut-schen Reich und forderte zugleich eine ordentliche Volksabstimmung. Ähn-lich verfuhr er 1923 in zwei Artikeln zur Rheinlandpolitik. An einen Bericht, den er aus der La Libre Lorraine übernommen hatte, merkte er an: „Zwischen den Zeilen kann man hier herauslesen (sic! d.A.), dass auch in Frankreich, speziell Elsaß-Lothringen, Kräfte am Werke sind, die von einer Annexion des Rheinlandes nichts wissen wollen. Das ist vernünftig.“289 Doepgen schrieb nicht nur, er las auch selbst zwischen den Zeilen. In einem Bericht über eine Kundgebung der Rheinländer zum gleichen Thema in Köln beschrieb er die aus seiner Sicht eigentliche Zugehörigkeit der Region Eupen-Malmedy:

281 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 15.02.1919. 282 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.02. 1919, siehe Anhang. 283 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 06.04.1921. 284 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 09.04.1921. 285 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 15.03.1919. 286 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 29.03.1919. 287 Vgl. ULLRICH G., Ein Zeichen der Versöhnung im Geiste von Locarno, Lünen, 2001. Die Neubelgier verstanden sich als „deutsche Staatsbürger und im engeren Sinne Rheinländer des Eifeler Landes. Letzteres bleiben sie auch nach der Annexion.“ S. 224. 288 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 01.02.1919. 289 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 22.09.1923.

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„Die mehr als 50.000 Personen fassende Festhalle war überfüllt und in den anschließenden Hallen und Straßen drängten sich noch Tausende [um den]…Treueschwur, den dort die Rheinländer ihrem Vaterland leisten wol-len…Seit tausend Jahren umspült der Rhein deutsche Ufer, über den Wassern des Rheins webt und lebt die deutsche Geschichte, an den Ufern dieses Stromes ist die deutsche Sage beheimatet und aus dem lieblichen Kranz rheinischer Städte klingt das rheinische Lied. ..Wir ver-sprechen im Andenken an die gefallenen Deutschen und im Angesicht der heranwachsenden Generation dem Va-terland treu zu bleiben.“290

Nachdem die Bevölkerung über die Abtretung der Gebiete öffentlich infor-miert worden war291, verdichteten sich die Artikel mit Reaktionen auf die reichsweiten Gebietsabtretungen. Es fällt auf, dass Proteste, die die eigene Region betreffen, dabei nur einen geringen Anteil bildeten. Entgegen der An-nahme Christmanns292 fanden jedoch die offiziellen Protestnoten der deut-schen Regierung durch Reichsminister Graf von Brokdorff Rantzau ihre Ver-öffentlichung in den Ausgaben der Malmedy-St.Vither Volkszeitung293. Doepgen, den eine offene Stellungnahme für eine geregelte Volksabstimmung in einen Konflikt mit den Besatzungsbehörden gebracht hätte, nutzte die Schilderung der Grenzfrage Dänemark-Deutschland um eine gerechte Volks-abstimmung einzufordern. Er schrieb:

„..denn die dänische Regierung weicht vor der gefährli-chen Konsequenz zurück, große, rein deutsche Bevölke-rungselemente in Dänemark hineinzuziehen und eine Ab-stimmung der Bevölkerung in der dritten Zone wird über das Verbleiben dieser Gebiete bei Deutschland keinen Zweifel lassen…“294

Ähnlich verlief die Berichterstattung über das Gebiet Teschen, einer deutsch-sprachigen Region zwischen Polen und der Tschechoslowakei. Nachdem Do-epgen die dreigeteilten – polnischen, deutschen, tschechischen- historischen Wurzeln des Gebietes aufgezeigt hatte, beendete er seine Darstellung mit dem Hinweis, dass „auf Veranlassung des Pariser Rates…bekanntlich eine Volks-abstimmung über die Zugehörigkeit des wichtigen Industriegebietes entschei-den“295 werde. Abermals nutzte er die Chance, um indirekt die Situation in seiner Heimatregion anzuprangern. Der Verleger beschränkte sich allerdings 290 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 06.10.1923. 291 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 10.05.1919. 292 Vgl.CHRISTMANN, Idem, S. 148. 293 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.05.1919 , 04.06.1919. 294 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 14.06.1919. 295 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 15.10.1919.

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nicht darauf auf die Missstände in seiner Umgebung hinzuweisen. Da er an eine Revision des Friedensvertrages nicht wirklich zu glauben schien, be-schäftigte er sich mit den Zukunftsperspektiven der Region. Zwischen den Zeilen eines Artikels zum Friedensvertrag von St.Germain lässt sich erken-nen, dass Doepgen möglicherweise auf einen ‚Autonomiestatus’ der deutsch-sprachigen Bevölkerung Eupen-Malmedys hoffte:

“… wonach ein Streifen Westungarns an die deutsch-österreichische Republik angegliedert werden soll, würde im Falle der Durchführung ein ständiges Element der Zwietracht zwischen Österreich und Ungarn bilden. Die ungarische Regierung machte daraufhin der österreichi-schen Regierung offiziell den Vorschlag, dass die Frage der zukünftigen Staatsangehörigkeit des erwähnten Teiles Westungarns auf neuer Basis im gegenseitigen Einver-nehmen entschieden wird. Die ungarische Regierung ist bereit der deutschen Bevölkerung Westungarns weitge-hende Autonomie zu gewähren, die ihren deutschvölki-schen Charakter für alle Zukunft sicherzustellen geeignet ist…“296

Parallel zur Bekanntmachung, dass Eupen-Malmedy nun belgisches Staatsge-biet sei, nutzte Doepgen die Bildung einer ‚Kleinen Entente’ im südosteuropäi-schen Raum, um zu bemerken, dass diese Gründung ein “Beweis für die uner-bittlichen Naturgesetzte der Geschichte“ sei, denn „Paragraphen können die Welt nicht regieren“.297 Diese Botschaft ist in der Lage den Menschen Hoff-nung zu vermitteln, die mit dem Ausgang der Volksbefragung nicht einver-standen waren – wenn auch die derzeitige Staatssituation so angenommen wer-den musste, stellte sie trotzdem kein unumstößliches Faktum dar. Wie es mit den tatsächlichen Gefühlen beim wohl größten Teil der Bevölkerung ausgese-hen hatte, illustriert ein Artikel zu Südtirol:

„Die Einverleibung Südtirols in Italien wird von der ge-samten österreichischen Presse als nationaler Trauertag begangen…Die Blätter erklären, dass die Italiener durch diesen Raub ohne zwingenden Grund, der dem Deutsch-tum eines seiner heiligsten Gebiete und einen seiner kern-haftesten Stämme nehme, ihre eigne nationale Geschichte befleckt und ein Trennendes zwischen den beiden Völ-kern errichtet hätten.“298

Die Abstimmung in Oberschlesien, ein Ereignis das in den Jahren 1920 und 1921 besonders häufig in der Berichterstattung der Malmedy-St.Vither Volks-zeitung auftauchte, bot ihm bereits kurz vor dem Ende der Auslegung der Lis- 296 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.02.1920. 297 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 25.09.1920. 298 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 06.10.1920.

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ten in Eupen-Malmedy die Möglichkeit, die eigene Situation zensurgerecht zu kommentieren. Er zitierte den Stadtpfarrer Kubis aus Oppeln mit den Worten:

„Gerade in dieser Schicksalsstunde, welche ganz unver-meidlich die Gemüter aufwallen lässt, was den Einzelnen gut und gerecht ist, will der heilige Vater, dass die Ent-scheidung in jeglicher Hinsicht frei und gerecht sei. Er will, daß der Missbrauch jeglicher Amtsgewalt vermieden wird und die Ordnung, als erste Bedingung des Wohler-gehens, geschützt wird…“299

Diese Äußerung lässt sich als Mahnung an die Verantwortlichen der belgischen Regierung deuten und spiegelt zugleich die innere Verfassung der katholischen Bevölkerung wieder, die sich mit der Umgehung des Selbstbestimmungsrech-tes in ihrem Verständnis vom Staat als schützende Institution getäuscht sahen. Die Situation in Oberschlesien gab Doepgen immer wieder die Chance auf die als Unrecht empfundene eigene Situation hinzuweisen. So veröffentlichte er eine patriotische Rede des Reichspräsidenten zur Rückgabe Oberschlesiens, in der es hieß:

„…nicht alle Stimmen, die nach Wiedervereinigung rie-fen sind gehört worden. Mit Schmerzen vermissen wir an diesem Tage die Brüder, die ein harter Spruch aus deut-schen Grenzen gebannt hat…“ 300

Doepgen lieferte eine genaue Beschreibung des Abstimmungsvorganges in Oberschlesien 1921.301 Auch Stimmberechtigte, die im Reich wohnten waren zur Wahl zugelassen. In sogenannten Abstimmungszügen fuhren die ehemali-gen Bewohner der Gebiete in ihre alte Heimat, um an der Wahl teilnehmen zu können. Sogar, so mahnte Doepgen an, eine hochschwangere Frau, die im Zug entbunden habe, “..so fuhr sie mit dem jüngsten „Stimmberechtigten“ der früheren Heimat zu als Mahnung für alle die, die sich vor den Unbequemlich-keiten der Fahrt fürchteten.“302 Diese Artikel betonen zugleich das ungleiche Verfahren im Zusammenhang mit den Abtretungsgebieten – dort findet eine Abstimmung statt, bei uns nicht –, bemerken aber auch mit dem Hinweis auf die Schwangere, dass man für eine Überzeugung auch Engagement zeigen muss. Doepgen versuchte seiner Leserschaft einen Spiegel vorzuhalten, in dem sie die in seinen Augen offensichtlich fehlende Auseinandersetzung mit der eigenen Situation erkennen sollten.

299 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 19.06.1920. 300 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.08.1920. 301 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.03.1921, 18.05.1921, 17.08.1921, 20.08.1921, 08.10.1921, 15.10.1921, 19.10.1921. 302 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.03.1921.

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Unter der Rubrik Stellvertreterartikel möchte ich aber nicht nur Artikel zu Regionen verorten, die sich, bedingt durch den ersten Weltkrieg, in einer ähn-lichen Situation wie Eupen-Malmedy befanden. Parallel zum Ende der Volksbefragung berichtete Doepgen unter dem Titel „Ein irischer Patriot“303 über den Bürgermeister von Cork, „der zur Verteidi-gung der irländischen Ideen...im Gefängnis einen Hungerstreik ausführt“ und dort „mit dem Tode ringt“. Drei Tage später meldete er zentral auf der Titel-seite, dass „der Hungerstreik“304 des Bürgermeisters einen Protest in der Be-völkerung ausgelöst habe, und es zu offenen Unruhen in Belfast und Dublin gekommen wäre. Auffallend an diesen beiden Artikeln ist die deutliche Par-teinahme Doepgens für den ‚irischen Patrioten’, der aus selbstloser Überzeu-gung sogar bereit sei für sein Vaterland zu sterben. Diese Artikel sind, wenn nicht sogar als Aufrufe, so doch als Hinweise zu verstehen, welche Möglich-keiten theoretisch vorhanden sind, um auf die eigene Situation aufmerksam zu machen. Über den Tod des irischen Freiheitskämpfers Michael Collins berichtete Do-epgen auf der Titelseite305. Er lobte den Mann, der im Befreiungskampf der Iren die Freiwilligenarmee organisierte, als „genialsten, mutigsten und belieb-testen Führer“. Von Doepgen wurde ein Mann beschrieben, der sich zielge-richtet für die Interessen seiner Anhänger eingesetzt habe und dieses Ziel durch kluge Überlegung und Großzügigkeit gegenüber seinen Gegnern er-reichte. Setzt man diese Zeilen in den historischen Kontext Eupen- Malmedy, so sind durchaus Bezüge zu erkennen. Auch Doepgen war der Überzeugung in einem Unrechtsregime zu leben. Es ist durchaus plausibel anzunehmen, dass aus diesen Zeilen der Wunsch des Verlegers nach einer klugen Füh-rungsgestalt spricht, der in der Lage ist die Besatzungssituation zu ändern. Ganz ausführlich schilderte Doepgen auch die Aufführung des Freiheitsdra-mas ‚Wilhelm Tell’, jenem Werk Friedrich Schillers, in dem der Held für die Unabhängigkeit der Alten Eidgenossenschaft von den Habsburgern kämpfte und den tyrannischen Landvogt Gessler in der ‚Hohlen Gasse’ tötete. Gedeu-tet wird das Drama als Rechtfertigung des Tyrannenmordes in dem Moment, wo der Despot in seiner Willkür Unmenschliches fordert.306 Dieses Werk

303 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 01.09.1920. 304 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.09.1920. 305 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 30.08.1922. 306 Vgl. www.geschichte-schweiz.ch/schweizer-nationalheld-wilhelm-tell.html vom 17.06.2005. Auszug aus Wilhelm Tell: „Nein eine Grenze hat Tyrannenmacht: Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last - greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ew'gen Rechte, Die droben hangen, unveräusserlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst -

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wurde vom Eifeler Heimatspiel 1921 und 1922 auf der Ruine Kronenburg unmittelbar an der neuen deutsch-belgischen Grenze in Deutschland aufge-führt. Doepgen berichtete begeistert von 25.000 Besuchern, die sich bereits 1921 auf den Weg machten, um das Theaterspiel zu erleben.307 Doepgen, der keine Gelegenheit ausließ, die Verflachung der Sitten und die Zunahme von Festivitäten zu beklagen, machte hier Werbung für eine Veran-staltung, die für viele seiner Zeitgenossen eine Tagesreise bedeutete. Man muss annehmen, dass die Thematik des Stückes und die Situation der Region Eupen-Malmedy mit entscheidend für die Begeisterung war, die Doepgen der Aufführung entgegenbrachte und die er auch seinen Zeitgenossen zukommen lassen wollte.

2. „WAS DU ERERBT VON DEINEN VÄTERN HAST, ERWIRB ES UM ES ZU BESITZEN“308 - THEMENKOMPLEX VATERLAND -

Der englische Philosoph und Anthropologe Ernest Gellner spricht davon, dass die Übereinstimmung von Kultur und Staat einen nationalistischen Imperativ darstelle. Wer diese Identität angreife, zerstöre die Lebens- und Zukunftssi-cherheit der Menschen.309 Wenn auch die Nation nur eine vorgestellte politi-sche Gemeinschaft ist, die im Kopf existiert, so wird doch dem Menschen suggeriert, er sei Teil eines Ganzen und befände sich emotional unter Gleich-gesinnten.310 Die Angliederung stellte für die Bevölkerung der Region Eupen-Malmedy einen Angriff auf ein bestehendes Kollektiv dar und im Falle der Malmedy-St.Vither Volkszeitung äußerte er sich in vielen Artikeln zum kom-plexen Themengebiet der Nation beziehungsweise des Vaterlandes. Für eine genaue Analyse erschien mir eine Untergliederung günstig. Die Teil-bereiche sind:

- Tradition/Sitte/Heimat/Staat - Sprache

der alte Urstand der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht - Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben Der Güter höchstes dürfen wir verteid'gen Gegen Gewalt - Wir stehn vor unser Land, Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder!“ (Stauffacher auf dem Rütli, in: VON SCHILLER F., Wilhelm Tell, 2. Aufzug, 2. Szene) vgl. www.klassiker-der-weltliteratur.de/wilhem_tell.htm , 17.06.2005 307 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 17.05.1922, 14.06.1922. 308 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 14.06.1922. 309 Zitiert nach GELLNER E., Nations and Nationalism, Ithaca, 1983, in: LANGEWIESCHE D., Nation, Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa, München, 2000, S. 50/51. 310 ANDERSON B., Die Erfindung der Nation, Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt, New York, 1993, S. 15.

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- Kriegerdenkmäler

a. Gedichte.„Dem echten unverfälschten und unverdorbenen Bauern ist die Scholle - heilige Scholle.“311- Tradition - Sitte - Heimat - Staat -

Tradition und Sitte wurden vornehmlich als fehlend bemängelt.312 Doepgen verstand sich als Mahner gegen „verfallende Sitten“ und gegen den „Unglau-ben“313. Mit seiner Sorge bewegte er sich im Diskurs seiner Zeit. Die sittliche Erschlaffung des Volkes, die sich im Materialismus der Lebensführung äuße-re, stelle eine Gefahr für die Grundfesten des (deutschen) Staates dar. In die-sem Sinne äußerte sich der Theologieprofessor Georg Schreiber am 10.03.1921 im Rahmen einer Debatte über den Etat des Reichsinnenministeri-ums. Klaus Petersen weist darauf hin, dass in allen Bevölkerungskreisen die Verflachung des sozialen Lebens und der sittliche Verfall beklagt wurde und wertet das als Ausdruck einer krisenhaften Beunruhigung im Zusammenhang mit den massiven Veränderungen der Nachkriegszeit.314 Doepgen kritisierte die Vorgehensweise beim Maibaumaufstellen der Jugend im Frühling315 genauso wie die befürchtete Verlegung des Fronleichnamfeier-tages durch die neuen belgischen Machthaber316. Er fordert ein, dass das St.Vither Platt „heute mehr denn je“317 gepflegt werden müsse. Beklagt wird auch der Wegfall des Burgbrennens318, eines alten Volksbrauchs, der die Ver-treibung des Winters symbolisierte. Zu allen Vorgängen, die einen Bruch mit überlieferten, althergebrachten Gepflogenheiten bedeuten könnten, nimmt der Verleger kritisch Stellung. Besonderen Wert legt er auf die Heimat und ihre Bevölkerung, die Bauern.

„Dem echten unverfälschten und unverdorbenen Bauern ist die Scholle – heilige Scholle. Sie ist ihm Erbe der Vä-ter mit ihrem Schweiß gedüngt, die Ruhestätte ihrer Ge-beine. Er hat eine heilige Verpflichtung, sie zu hegen und zu pflegen. Sie ist nicht toter Staub, nicht profanes Aus-beutungsobjekt, sondern Quellgrund des Lebens. Seine Scholle? – Ja, aber doch bloß eines anvertrauten Gutes. Nicht vom Staate, der etwas Fremdes und Kaltes ist mit Gesetz und Polizei, sondern vom lebendigen Gott, von der Macht, die im Innersten der Seele, im Gewissen, ihr uner-bittliches, unverbrüchliches, Du sollst! Spricht…Und wo

311 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.06.1922. 312 Malmedy-St,Vither Volkszeitung, 12.07.1919. 313 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 18.05.1921. 314 Vgl. PETERSEN, Idem, S. 18. 315 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.06.1921, 03.05.1924. 316 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.06.1922. 317 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 25.06.1921. 318 Malmedy-St,Vither Volkszeitung, 12.03.1924.

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immer ein Staat das Gewissen beanspruchte zu formen und zu vergewaltigen suchte, da war das Ergebnis die grenzenlose Verlogenheit der Vergewaltigten. Der Bauer hat dem Staate gegenüber in der Stille seines Herzens eine schroffe Ablehnung…“319

Es war nicht der Staat, den Doepgen ablehnte, sondern den ungerechten Staat, der das Gewissen seiner Bürger nicht achtete. Trost wird den Bewoh-nern angeboten in Form der Religion, einer transzendenten Macht, der alleine sich die Bevölkerung verpflichtet fühlen solle. Den Bauern seiner Region, unabhängig von der nationalen Zuordnung, nur verantwortlich einer überge-ordneten Macht, stilisiert Doepgen in diesem Artikel zum Hüter des Konti-nuums der Heimat. An anderer Stelle verwehrt sich Doepgen gegen die Idee des Staates als Kon-struktion, die ihre Legitimität von außen erhält. In dem Artikel „Was ist der Staat?“320 bezieht er sich auf die „gemeinsame Not- und Schicksalsgemein-schaft“. Die „Schicksalsverbundenheit“ als Grundlage des gemeinsamen Staates.

„Staat und Gemeinde sind nicht eine von oben aufge-drängte Zwangsgemeinschaft, keine Auswirkungen des Polizeigeistes…Heimatgemeinde als ihre Lebensaufgabe und ihr Werk eigener Tüchtigkeit und freudigen gültigen Schaffens.“321

Staat wird hier von Doepgen mit Gemeinschaft gleich gesetzt, die nur gelebt werden kann, wenn ihm Freiwilligkeit zugrunde liegt. Wird diese Bedingung nicht erfüllt, ersetzt die Gemeinschaft des Staates die Heimatgemeinde, die in den Augen Doepgens die ‚natürliche’ Umgebung des Menschen darstellt:

„Gemeinsinn auf dem Lande. Im Dorfe gehören die Men-schen eigentlich zusammen, da kennen sie einander, ha-ben Freundschaft oder Feindschaft miteinander; sie sind nicht in Willkür verbunden, sondern von Natur…“322

„Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es um es zu besitzen“323. Mit dieser Überschrift warb der Verleger für eine Sammlung von Traditionswis-sen, dass unter diesem Titel zukünftig regelmäßig erscheinen sollte und somit allen zur Verfügung stehen konnte. Was diese Artikel vereint, ist die Abwendung vom Staat und die Zuwendung zur direkten Lebensumwelt. Gleichzeitig tritt er dafür ein die überlieferten

319 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 30.07.1921. 320 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 14.06.1919. 321 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 06.10.1920. 322 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.12.1921. 323 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 14.06.1922.

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Werte und die Tradition zu schützen, die er durch die neue nationale Zuord-nung gefährdet sah. Seiner Leserschaft, die den Begriff der Heimat als Syno-nym für Deutschland zu verstehen in der Lage waren, bot er damit eine Ori-entierungshilfe an. Heimat symbolisiert aber noch mehr, es steht für ganz-heitlich erlebte Geborgenheit, als räumliche Bindung, als schützende Ab-grenzung gegen die Fremde und als Raum für Bindungen und Tradition.324 Michael Neumeyer betont in seinen Untersuchungen zum Thema Heimweh die Bedeutung von Heimat als Synonym für einen ursprünglichen Zustand, als ein Gegenbild, das er auf die ökonomischen, gesellschaftlichen und politi-schen Geschehnisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts bezieht, 325 das aber durchaus auch seine Gültigkeit in unserem Kontext besitzt. „In einem aufge-nötigten Wandel entsteht das Gefühl der Bedrohung und des Verlustes. Auf diese Bedrohung antworten viele Menschen mit dem Bedürfnis, etwas bewah-ren zu wollen, sei es, dass sie krampfhaft versuchen an ihrer Lebensweise festzuhalten, sei es, dass sie ihre alten Lebensgewohnheiten mit den Bedin-gungen ihrer neuen Existenz zu verbinden trachten.“326 Diese psychologische Deutung erklärt die Verhaltensweise Doepgens. Heimat wurde also zu einem ganz wichtigen Lebensgefühl, da die Traditionen und die dingliche Leben-sumwelt, in der man sich bis dahin selbstverständlich bewegte, kollektiv und individuell bedroht wurden.327 Das Festhaltenwollen des Zustandes Heimat mit all ihren Traditionen ist somit als eine Form von Verarbeitung der Verlus-terfahrung zu werten, die durch die Abtretung der Region Eupen-Malmedy entstanden ist. Die Hinwendung zur Heimat dürfte von der Bevölkerung offen und dankbar angenommen worden sein. In Deutschland hatte die Ortsbezogenheit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine große Bedeutung, die wohl auf der Tatsache beruhte, dass der Ortsbezug ursprünglich durch örtliche Heimatrechte institu-tionalisiert war.328 Auch die relative Kleinräumigkeit der deutschen Staaten bis zur Gründung des Deutschen Reiches mag mit ein Grund für die starke Ortsbezogenheit der Bevölkerung gewesen sein. „Während …im übrigen Eu-ropa das Heimatbewusstsein in das Nationalbewusstsein überführt wurde, blieb das deutsche Heimatbewusstsein regional und territorial gebunden.“329 Wenn auch in den westlichsten Gebieten des Reiches seit der Kaiserkrönung

324 Vgl. GREVERUS I.-M., Auf der Suche nach Heimat, Münster, 1979, S. 113. 325 Vgl. NEUMEYER M., Heimat. Zur Geschichte und Begriff eines Phänomens, Kiel, 1992, S. 16. 326 MOOSMANN E., Heimat - Sehnsucht nach Identität, Berlin, 1980, S. 45. 327 Vgl. MOOSMANN, Idem, S. 45. 328 TREINEN H., Symbolische Ortsbezogenheit. Eine soziologische Untersuchung zum Hei-matproblem, S. 84, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1965, 17. Jrg., S. 73-97 329 HÖFIG W., Der deutsche Heimatfilm 1947-1960, Stuttgart, 1973, S. 5, zitiert nach: NEUMEYER M., Heimat, Zu Geschichte und Begriff eines Phänomens, Kiel, 1992, S. 10.

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eine Form von nationaler Zugehörigkeit entstanden war,330 und der Staat durch die Übernahme von Heimatfunktionen als Heimatland bewertet wurde, so blieb die Idee des Staates doch lange ein relativ anonymes Gebilde. Heimat hingegen ist ein emotional aufgeladener Begriff, er symbolisiert die kleine, intime Gemeinschaft, die Natur, die Idylle und positive Kindheitserlebnisse.331 In einem Konfliktfall besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass sich die Menschen für ihre Heimat, als höheren Wert, entscheiden. Geht der Staat ver-loren, kommt der Heimat als Identitätsersatz eine noch stärkere Bedeutung zu. Nicht übersehen werden darf allerdings auch die Politisierung des Begriffs, die im Ersten Weltkrieg stattfand. Die Verknüpfung von Nationalismus und Heimat erwuchs aus der Strömung der Heimatkunstideologie, einer literari-schen Stilrichtung, die um die Jahrhundertwende entstand. Heimat wurde nun in Verbindung gebracht mit dem Interesse des Gesamtstaates. „Heimat und Vaterland werden so miteinander verknüpft und Heimatliebe wird automa-tisch Vaterlandsliebe…Damit erhält Heimat staatstragende Bedeutung und gerät zunehmend in das Fahrwasser politisch-ideologischer Manipulation.“332 Die Hinwendung zur Heimat durch Doepgen kann also mehrfach gedeutet werden, zum einen als Konzept gegen Veränderung und damit sowohl als Verarbeitung von Verlusterfahrung und gleichzeitiger Abwendung von den neuen staatlichen Machthabern. Zum anderen als Chiffre und Votum für das alte Vaterland.

b. „Den Versuchen, die deutsche Sprache zu unterdrücken oder gar zu verdrängen, müssen wir im Sinne unserer Existenz energisch entgegentreten.“333 - Die Sprache -

Ähnlich verhält es sich mit der Bewertung der deutschen Sprache. In ihrer Hervorhebung als Muttersprache besitzt sie im Konzept des positiven Hei-matstereotys einen hohen Stellenwert.334 Bei der Analyse der Zeitung fällt die Betonung der Sprache als signifikantes Merkmal in der Berichterstattung Do-epgens auf. Sei es die „Wahrung des Plattdeutschen als einziges Zeichen der Heimat“335 oder der Aufruf zur „Pflege der heimischen Mundart“336. Bei letzt-genanntem Artikel bezieht er sich auf einen Erlass des Ministers für Wissen-schaft, Kunst und Volksbildung des deutschen Reiches, zur Förderung der heimischen Mundart in den deutschen Schulen. Dieser Meldung ist somit eine doppelte Aussage zuzuschreiben, zum einen die öffentliche Ignorierung der

330 Vgl. ROSENSTRÄTER, Idem, S. 97/98. 331 Vgl. NEUMEYER, Idem, S. 13. 332 NEUMEYER, Idem, S. 29. 333 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 23.08.1924. 334 Vgl. GREVERUS, Idem, S. 70. 335 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 01.01.1921. 336 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.01.1920.

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neuen Machtverhältnisse, zum anderen die bewusste Aufrechterhaltung der traditionalen Sprachwurzeln. In einem Bericht zur Fahnenweihe in Rodt lobte Doepgen besonders die Auf-rechterhaltung der Tradition und der Sitte, „was aber noch viel wichtiger ist, das ist die Feststellung, dass das deutsche Lied einen sicheren Hort bei ihnen (Junggesellenverein Rodt und Gesangverein Rodt) gefunden hat.“337 Ähnlich wie in Rumänien möchte der Herausgeber der Zeitung, dass die deut-sche Sprache in Belgien anerkannt wird. Er berichtete:

„Infolge einer Interpellation des siebenbürgischen Abge-ordneten Rudolf Brandsch ist die deutsche Sprache vom rumänischen Kammerpräsidenten als gesetzlich anerkannt worden.“338

„…im freien Belgien müssen jedem deutschsprechenden Belgier in Betreff der Sprache dieselben Rechte zustehen wie jedem Wallonen oder Flamlän-der…“339 Im Zusammenhang mit einer Firmung forderte Doepgen den belgi-schen Staat auf zur Dreisprachigkeit des Landes zu stehen. Die Forderung nach der Beibehaltung der Muttersprache wurde unterstrichen mit Sinnsprü-chen zur Mutter: „Kein Füllhorn, das von allen Schätzen regnet, ist reicher als die Mutterhand gesegnet. (Anastasius Grün)“ und „Der Himmel ist zu Füßen der Mutter.“340 Im August konnte Doepgen über eine Versammlung zur Angliederungsfrage berichten, in deren Mittelpunkt die Erhaltung der deutschen Sprache stand.341 Nach dem Verlust des Vaterlandes fürchtete man nun um die Muttersprache. Noch im gleichen Monat fand eine zweite Volksversammlung in St.Vith statt, auch deren zentrales Thema war die „Beibehaltung der Muttersprache.“342 Ganzseitig auf dem Titelblatt wurde in sachlicher Darstellung die geschichtli-che Entwicklung der deutschen Sprache in Altbelgien aufgezeigt. Der Autor forderte die Umsetzung eines Gesetzes von 1830, dass die flämische und deutsche Sprache mit der französischen gleichsetzt. Gleichzeitig kritisierte er den Entwurf des aktuellen Brüsseler Gesetzes, da dieses keinen deutschspra-chigen Unterricht an den Schulen vorsah und die Beamten nicht verpflichtete deutsch zu sprechen. „Den Versuchen, die deutsche Sprache zu unterdrücken oder gar zu verdrängen, müssen wir im Sinne unserer Existenz energisch ent-gegentreten.“ Zum Ende seiner Rede hin verknüpfte er die zukünftige Spra-chenregelung mit dem Ausgang der Volksbefragung. Grundlage der Befra-gung sei die Proklamation Baltias gewesen, in der versprochen wurde, die deutsche Sprache „unberührt“ zu lassen. Würde dieses Versprechen nicht ein- 337 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 02.06.1923. 338 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 19.02.1921. 339 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 19.07.1924. 340 Beide Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 30.07.1924. 341 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 06.08.1924. 342 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 23.08.1924.

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gelöst, so fühle man sich an die Befragung nicht mehr gebunden und hätte nun einen stichhaltigen Grund sie vor dem Völkerbund anzufechten. Nach dem Verlust des Vaterlandes wurde die Beibehaltung der Sprache zu einer existentiellen Angelegenheit. Vor dem Hintergrund der Diskussion um den Zusammenhang von Nationalität und Sprache um die Jahrhundertwende lassen sich auch diese Artikel als verdeckte Voten für eine Rückkehr zum deutschen Staat lesen, die aber aufgrund ihrer vordergründig allgemeinen Aussage nicht für die Zensur greifbar gewesen sein dürften. Claus Ahlzweig343 beschäftigt sich in seiner Arbeit „Muttersprache – Vater-land“ mit dem Stellenwert von Sprache im komplexen System der Nationsbil-dung. Er weist darauf hin, dass die Ideologisierung des Begriffs der Mutter-sprache in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt fand. Der so genannte Muttersprachunterricht der Volksschule hatte die Aufgabe Kulturtechniken zu vermitteln, aber auch national gesinnte Menschen zu produzieren. In den nach 1871 kursierenden Schriften zur Muttersprache wurden alle Facetten des Be-griffs beleuchtet: das Wesen der deutschen Sprache, die Überlegenheit der Muttersprache gegenüber anderen Sprachen und besonders die Bedeutung der Geschichte der Muttersprache für die Nationwerdung der Deutschen. Mutter-sprache und Nation ergaben so eine untrennbare Einheit. Aufgrund ihrer Sozi-alisierung war für die Menschen um die Jahrhundertwende die Sprache unlös-bar mit ihrer Nationalität verbunden. Zwei Quellenauszüge, die einen Abstand von fast 50 Jahren aufweisen, mögen zur Illustration der Bedeutung von Spra-che reichen: „Die Geschichte unserer Sprache ist bis zu einem gewissen Grade die Ge-schichte unseres Volkes selbst. Die Sprache ist das treueste Abbild des Volks-thums. Die Totalität aller geistigen Kräfte ist darin vertreten. Aber die Spra-che ist noch mehr. Sie ist auch bildende Kraft des Staatslebens. Sie ist das hauptsächlichste Band, das eine Nation umschlingt und woran ihre innere Einheit zum Bewusstsein kommt. Die Sprache gilt unseren Statistikern als das sicherste Kennzeichen der Nationalität.“344 „Und wir sangen zum ersten Male: ‚Was ist des deutschen Vaterland?’ Wir hatten aber noch nicht begriffen, dass der im ersten Teile immer wiederkeh-rende Schlussvers des Liedes ‚Sein Vaterland muß größer sein’ durch eine leichte Umdeutung zu der Gesinnung verführen konnte, die unser Geschlecht nur wenige Jahre später zu den weltgefährlichen Imperialismus führte. Das

343 Vgl. AHLZWEIG C., Vaterland-Muttersprache, Die deutsche Nation und ihre Sprache, Opladen, 1994, S. 169/170. Die Zugehörigkeit der Region zum deutschen Reich fiel in die Zeit der Nationalisierung, der Sprache kam als Teil des nationalen Bewusstseins eine besondere Bedeutung zu; vgl. WEHLER H. U., Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München, 2001. S. 48/49. 344 Zitiert nach: AHLZWEIG, Idem, Anmerkung 313, S. 159; SCHERER W., Die deutsche Spracheinheit, in: SCHERER W., Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Österreich, Berlin, 1874, S. 45-70.

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Lied, 1813 von Arndt verfasst und schon zwei Jahre später viel gesungen, uns Deuschböhmen in den Flegeljahren suggeriert, enthielt schon wie ein gereim-ter Katechismus die Dogmen des nationalen Glaubens. Nicht die Liebe zur unmittelbaren Muttersprache, zur Mundart der Heimat, wurde da ausgespro-chen, sondern die Liebe zu der gebildeten, gemeinsamen Schriftsprache des ganzen Volkes; und da Patriotismus oder Vaterlandliebe auf der Liebe zur Muttersprache beruht, so wurde sofort auch das Ideal eines Vaterlandes hin-gestellt, das es – in Deutschland wenigstens – in der Gegenwart nicht gab, nur in der Vergangenheit und in der nahen Zukunft.“345 ‚Sprache ist das sicherste Kennzeichen der Nationalität’ und ‚Patriotismus beruht auf der Liebe zur Muttersprache’, diese beiden Pfeiler bildeten auch die Stützen des Weltbildes der Menschen, die in der Region Eupen-Malmedy aufgewachsen sind. Die Grenzverschiebung mit ihren wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Folgen bedeutete bereits einen starken Eingriff in das Alltagsleben der Menschen, ein Verbot oder eine schleichende Verdrängung der deutschen Sprache hingegen hätte ihnen die letzte Verbindung zu ihrer alten Heimat genommen.346 Die Bedeutung von Sprache als Heimat be-schreibt auch das Phänomen eines befürchteten Identitätsverlustes in einer Welt, in der man Gefahr läuft sich sprachlich nicht mehr verständigen zu kön-nen.347 Die Artikel sind daher auch als Ausdruck der emotionalen Situation zu lesen, in der sich die Bevölkerung befand.

c. „… Den guten Kampf haben sie gekämpft“348 - Die Krieger-denkmäler -

Der Tod nimmt eine zentrale Stellung im nationalen Kult ein. Schließlich ist eine Nation in vielen Ahnengenerationen verwurzelt und verdankt ihr Leben denen, die für sie gestorben sind. Die Rituale und Sakralität stellen keinen Selbstzweck dar, sondern zielen darauf eine konkrete Gemeinschaft entstehen

345 Zitiert nach: AHLZWEIG, Idem, Anmerkung 344, S. 172; MAUTHNER F., Muttersprache und Vaterland, Leipzig, 1920. 346 Vgl. hierzu nochmals aus AHLZWEIG, Anmerkung 365, S. 180; VOSSLER K., Über das Verhältnis von Sprache und Nationalgefühl, S. 12f, in: Die neueren Sprachen, 1918, Bd. 26, 1-14, „ wir...diejenige Auffassung des Verhältnisses von Sprache und Nationalgefühl zu vertreten (haben), die uns eingeboren ist...Es ist die universale und tolerante Auffassung, zu der die Menschheit langsam heranreift...Ersticke ich aber meines Nachbars Muttersprache, um ihm die meinige einzublasen, wer könnte dafür einen andern Grund angeben als den nackten und blö-den Dünkel, der auch dadurch nicht besser wird, dass es Nationaldünkel ist. Meines Nachbarn Muttersprache ist ja sein inneres Auge, seine Denkform mit all ihren Möglichkeiten von Wel-tansichten, seine geistige Kindheit und Zukunft. Jedem, der dies verstanden hat, müssen alle Gewaltmaßregeln gegen die Sprache einer Nation als ein Vergehen am keimenden Leben ihres Geistes gelten.“ 347 GREVERUS, Idem, S. 71. 348 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 13.08.1921

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zu lassen.349 Wie Andreas Fickers in seinem Aufsatz „Gedächtnisopfer“ ge-zeigt hat, nahmen Kriegsdenkmäler eine herausgehobene Stellung im Erinne-rungsdiskurs des Ersten Weltkrieges ein350. Für die Bewohner Eupen-Malmedys stellte der Bau von Kriegsdenkmälern eine besondere Herausforde-rung dar: Wie konnte der für Deutschland gefallenen Soldaten im neuen 'Va-terland' Belgien gedacht werden? Diese Frage drängt sich umso mehr auf, wenn man – wie von Heidi Christmann und anderen herausgearbeitet – die Zwischenkriegsjahre als Phase der politischen Radikalisierung pro-belgischer und pro-deutscher Gruppierungen in Eupen-Malmedy deutet. Liest man die Kriegerdenkmale im Sinne Reinhard Kosellecks einerseits als ein Identitäts-angebot für die Toten (als Heroen, Opfer, Märtyrer oder Kameraden), ande-rerseits als Rechtfertigungsgebot für die Überlebenden ('mortui viventes ob-ligant'), war es vor allem die Frage der Rechtfertigung des Krieges bzw. der Opfer dieses Krieges, die die Bevölkerung Eupen-Malmedys vor ein Loyali-tätsproblem stellte. Da das 'Sterben für' nur im Nachhinein begründet werden kann, stellt es immer einen in der Gegenwart der Erinnerer stattfindenden Akt der Vergangenheitsinterpretation dar. Kriegsdenkmäler spiegeln somit die Erinnerungskultur eines Landes, Dorfes oder sozialen Gruppe und können als materielle Symbole des kulturellen Gedächtnisses gedeutet werden. In unregelmäßigen Abständen berichtete auch Doepgen über die Errichtung von Kriegerdenkmälern für die Toten des Ersten Weltkrieges im Eifeler Raum. Doepgen beklagte, dass es in St.Vith bisher noch nicht gelungen sei, ein Denkmal zu errichten, dass man

„nichts hört und sieht …von Erinnerung an unsere braven Gefallenen, die vor nunmehr just 7 Jahren begeistert hin-auszogen, um Deutschlands Fahnen zu folgen…Es sei da-her an dieser Stelle daran erinnert, dass es nun mählich Zeit wird, denen die das beste hergegeben haben, ihr Le-ben …den Dank der Nachwelt zu zeigen und ein Erinne-rungszeichen zu setzen, das ihrer würdig ist….“351

Erst im November mit der Einweihung einer Gedenktafel in der Kirche des Ortes, konnte sich sein Wunsch erfüllen.352 Ganz anders in den Nachbarge-meinden des Eifelortes; sowohl in Rodt als auch in Born und Losheim gerie-ten die Einweihungen der Kriegerdenkmäler zu großen Kundgebungen, die den ganzen Tag andauerten und an denen jeweils der ganze Ort teilnahm. Die

349 FRANCOIS E., HENNES S., VOGEL J., Die Nation. Vorstellungen, Inszenierungen und Emotion, S. 13-35, in: FRANCOIS E. u.a. (Hrsg.), Nation und Emotion, Göttingen, 1995, S. 25/26. 350 FICKERS A., Gedächtnisopfer. Erinnern und Vergessen in der Vergangenheitspoli-tik der deutschsprachigen Belgier im 20. Jahrhundert, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 1 [09.06.2004], URL: <http://zeitenblicke.historicum.net/2004/01/fickers/index.html> 351 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 03. 08.1921. 352 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.11.1921.

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religiösen Feste brachten Ordnung in das alltägliche Leid und ließen den Tod nicht sinnlos erscheinen. Das Ereignis wurde detailliert geplant, die Festpro-gramme selbst erstellt und die Lieder von einem Einheimischen komponiert. Ausführlich berichtete der Verleger über die Veranstaltungen und kommen-tierte sie in Born mit den Worten:

„… Den guten Kampf haben sie gekämpft, den Glauben bewahrt, Ihr Vorbild und Beispiel lebt fort für spätere Ge-schlechter. Die Kirche trug daher auch ihren Fest-schmuck, kein Zeichen der Trauer…der Stein trug die Widmung: In frommer Heimatlieb auf Väter Grund – drum fernerhin lässt Euch hier leben fromme Heimatlieb auf Väter Grund…sie lebten, litten und starben in unaus-tilgbarer Heimattreue für Elternhaus und Heimatland. Deshalb haben sie Anspruch auf Dankbarkeit und Gegen-liebe im Heimatdorf auf Väter Grund…“.353

Im darauf folgenden Jahr berichtete er über die Planung eines Denkmales am Eingang der Pfarrkirche in Büllingen354 und der Einweihung des Krieger-denkmals in Weyerrode

„Unser Dörfchen war eine Familie, alle waren beseelt von dem einen Gedanken der Trauer, der Dankbarkeit und der Liebe, und nur so war es möglich, ein so schönes Fest zu feiern…“ 355

Die Vorgänge im Zusammenhang mit den Kriegerdenkmälern standen unter der genauen Beobachtung der Bevölkerung. Im Januar 1923 erschien folgen-der Leserbrief, dessen Aufbau – er beginnt mit einem lateinischen Zitat – eine große Nähe zu den Artikeln aufwies, die unter dem Pseudonym ‚Rufer in der Wüste’ erschien:

„Montenau, Qui tacet, consentire videtur ! Wer schweigt erweckt den Anschein als stimme er zu. Diesen Anschein möchten wir, was das für Montenau und Iveldingen er-richtet Kriegerdenkmal anbelangt …nicht aufkommen lassen. ..Das Denkmal ist nicht das, was man hier ge-wünscht und erwartet hat, sondern nur ein einfaches Fa-miliendenkmal auf einem Kirchhofe. Auf einem freien Platze innerhalb des Dorfes passt dasselbe nicht als Krie-gerdenkmal!“356

Gerade die Geschehnisse um die Einweihungen der Denkmäler boten Doep-gen die Möglichkeit erneut für die verlorene Heimat Stellung zu beziehen.

353 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 13.08.1921. 354 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 15.03.1922. 355 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 17.06.1922. 356 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 06.01.1923.

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Koselleck beschreibt diese Deutungsmöglichkeit folgendermaßen: „Die Sig-natur der Totenmale ist international, ihre politische Sinnstiftung jeweils nati-onal gebrochen. Es ist das Paradox der politischen Totenkulte, dass ihre Zei-chen und Funktionen identisch sind oder analog lesbar, ihre Botschaften da-gegen für jeweilige Handlungseinheiten Ausschließbarkeit beanspruchen.“357 Einen Teil dieser ‚politischen Totenkulte’ stellen auch die Trauerfeierlichkei-ten, Festreden und letztendlich die Berichterstattung in den Medien dar. Ko-selleck beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit dem engen Zusammenhang von Totengedenken und Nationalgefühl. So betont er die “Einheit des Vaterlan-des“358 und die „Zukunft der Nation“359 als durchgängige Merkmale bei der Errichtung von Kriegerdenkmälern, auch wenn diese nicht explizit auf den Gedenktafeln vermerkt werden konnten. In Eupen-Malmedy wurden unver-fängliche, allgemeingültige Widmungen angebracht, wie „in frommer Hei-matlieb auf Väter Grund“360 oder „Lebt wohl Brüder, in einer anderen Welt.“361 Auch die Reden wurden nicht für die Menschen gehalten, die „das Vaterland verteidigten“, sondern für die, die „Ihr Leben hingaben für ihre Freunde“. Diese Diskrepanz zwischen der eigentlichen nationalen Symbolik und den dezenten Widmungen sind Kennzeichen für die innere Verfasstheit der Bevölkerung, die noch nicht in der Lage war sich klar zuzuordnen. Am Beispiel der Einweihung des Kriegerdenkmals in Eupen am 1. November 1931 hat Andreas Fickers ausgeführt, wie gespalten das Nationalbewusstsein auch bei der Eupener Bevölkerung elf Jahre nach der 'Belgischwerdung' war und welche Probleme diese nationale Bewusstseinsspaltung für das offizielle Gedenken darstellte. Alle drei Eupener Zeitungen, die 'Eupener Zeitung', die 'Eupener Nachrichten' und das 'Grenz-Echo', widmeten diesem Ereignis ihre Titelseiten. Trotz unterschiedlicher politischer Couleur glichen sich die Arti-kel: Alle drei Blätter stellten die Trauer um die Toten und die Hoffnung auf zukünftigen Frieden in den Mittelpunkt ihrer Berichte. Da es sich um einen höchst sensiblen politischen Akt handelte, muss man zwischen den Zeilen lesen, um die in religiöse Rhetorik verpackten politischen Botschaften zu ent-ziffern. Bereits einen Tag vor der offiziellen Einweihung hieß es in einem Artikel der 'Eupener Nachrichten' vom 31. Oktober 1931: „In Ruhe gebettet. Liegt darin nicht auch eine tröstliche Verheißung? Dann wird der Tod zum lebenskei-menden Schlaf, werden aus den Verstorbenen Schläfer, die auf ihrem letzten

357 KOSELLECK R., JEISMANN M. (Hrsg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München, 1994, S. 10. 358 KOSELLECK, Idem, S. 11. 359 KOSELLECK, Idem, S. 14.vgl. ANDERSON B., Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt, 1993. Anderson wertet die Ehrengräber und Gräber der Unbekannten Soldaten als Symbole für die moderne Kultur des Nationalismus. S. 18. 360 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 13.08.1921. 361 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 10.08.1921.

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Ruhelager einem lichten Morgen entgegenschlummern, der sie zu neuem Le-ben, zu neuer Wirksamkeit erwecken wird. [...] Nicht hoffnungslos ist unsere Trauer; eine christliche Trauer erfüllt unser Herz, die aus dem starken Glau-ben an eine Auferstehung, an eine Wiedervereinigung in der Ewigkeit kommt.“ Macht man sich den politikhistorischen Kontext dieser Einwei-hungsfeier klar, so Fickers, ließen Signalwörter wie 'Verheißung', 'lebenskei-mender Schlaf', 'Schläfer' oder 'Wiedervereinigung' keinen Zweifel an der in religiöse Metaphern versteckten politischen Botschaft des Textes. Die religiö-se Kommemoration wurde zur politischen Veranstaltung. Auch wenn der reli-giöse Kontext (Messe, Prozession zum Friedhof, Segnung des Denkmals etc.) im streng katholischen Gebiet von Eupen-Malmedy erhalten blieb, war die in religiöse Metaphern verpackte politische Verheißung unverkennbar: die von großen Teilen der Bevölkerung ersehnte 'Wiedervereinigung' mit Deutschland ('Heim ins Reich'). „Der Glaube an die Auferstehung wurde verbunden mit dem Glauben an die Wiedervereinigung“.362

d. „Geduld! Es kommt noch irgendwo Verlorenes zurück;“363 - Die Gedichte -

Über die Jahre verteilt und verstärkt 1924 veröffentlichte Doepgen Gedichte, die seinen Emotionen und wohl auch denen des größten Teils der Bevölke-rung Ausdruck gaben. Betrachtet man die gemeinsamen Emotionen als Bin-deglied zwischen Individuen in einer Gesellschaft364, so spielen gerade auch diese Veröffentlichungen eine zentrale Rolle in der Bildung eines Kollektiv-gefühls als einem Bestandteil eines neuen Kollektivbewusstseins.365 Gedichte wie

„Vergiß die Schmerzen, die du stumm ertragen Und auch das Unrecht, dass du dulden musst, sei wieder froh wie in den gold´nen Tagen da du noch nichts von Krieg und Leid gewusst…“366 „1920- Läßt Du uns bald die Sonne wieder scheinen, in goldenem Glanze über deutschem Lande“367 „Geduld, Geduld! Geduld! Es blüht noch irgendwo Den Guten freundlich Glück

362 FICKERS, Gedächtnisopfer, op.cit. 363 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 17.10.1923. 364 FLAM, Idem, S. 16 365 FLAM, Idem, S. 66. 366 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.12.1919. 367 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 03.01.1920.

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Geduld! Es kommt noch irgendwo Verlorenens zurück;“368

wiesen auf erlebtes Unrecht, auf körperliche und psychische Schmerzen, auf unerfüllte Wünsche hin, gaben aber auch gleichzeitig einer Hoffnung Aus-druck, die man sich nicht öffentlich auszusprechen wagte. Im Jahr 1924, das ich als das politisch wagemutigste Jahr Doepgens bezeichnen möchte, gewan-nen die Gedichte an Schärfe.

„Viel Klagen hör ich oft erheben Vom Hochmut, den der Große übt; Der Großen Hochmut wird sich geben Wenn unsre Kriecherei sich gibt. Bürger“369

Durch die Blume hindurch kritisierte er hier die belgischen Machthaber, wies aber auch auf die fehlende Initiative der Bevölkerung hin, die nicht in der La-ge oder nicht Willens war aufzubegehren.

„Es war ja nur ein Traum der Nacht Es war ja nur ein Traum der Nacht, Der dir hat weh getan. Denk nicht mehr dran. Ein Traum nur hat dich wirr gemacht, Ein Winterweh-…“370

Versucht man die politische Botschaft dieses Gedichtes zu erkennen, so wird man auf ein baldiges Ende der bestehenden Machtverhältnisse schließen. Die Regierung Baltia als einen „Traum der Nacht“, der wehtat, einen Alptraum, der nun endlich zu Ende gehen sollte. Hintergrund für diese Wahrnehmung dürfte sowohl die nur minimale politische Einbindung der Bevölkerung gewe-sen sein, aber vielleicht auch der Wunsch mit Ende des Gouvernements nun endlich an einer gerechten Volksbefragung teilnehmen zu können, denn

„Der Staat muß untergehen, früh oder spät, Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet (Schiller).“371

e. Leben in zwei Welten – Die Ausrichtung der Nachrichten nach Deutschland

Betrachtet man die allgemeine Berichterstattung der Malmedy-St.Vither Volkszeitung, so fällt primär in den ersten Jahren der Angliederung auf, dass 368 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 17.10.1923. 369 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 02.01.1924. 370 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 02.02.1924. 371 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.04.1924.

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die Informationen weiterhin nach Deutschland ausgerichtet blieben. Wüsste man nicht um die politische Entscheidung, so wäre anhand des größten Teiles der Artikelthemen kein Wechsel in der nationalen Zuordnung feststellbar. Ar-tikel zum deutschen Betriebsrätegesetz372 und zur Kriegsfürsorge in Deutsch-land373 fanden ihre Ergänzung in einem kurzen Aufsatz zur Nachkriegssituati-on:

„Der Frieden ist jetzt unter Dach und Fach...somit ist jetzt erst eigentlich die rechte Zeit gekommen, den Blick nach innen zu lenken und Hand an die Einrichtung unseres neuen Hauses zu legen...“.374

Erst mit den darauf folgenden Ausführungen zum Reichsschulgesetz, zum Reichswirtschaftsminister Wissel, zum Abbau der Kriegsgesellschaften und zum erneuten Aufflammen der Rheinlandbewegung wird deutlich, das mit dem ‚Neuen Haus’ Deutschland und nicht Belgien gemeint ist. Ähnlich ver-hält es sich bei der Berichterstattung zum Katholikentag in Aachen: „Jetzt in der Zeit des Aufbaues unseres Volkes“375 sind sie von besonderer Notwen-digkeit, die Katholikentage. Eine lange Abhandlung zur finanziellen Situati-on Deutschlands betitelte Doepgen mit „Unsere Valutaschmerzen“.376 Offen-sichtlich bereitet der zunehmend desolate Zustand der deutschen Mark dem Verleger körperliche Schmerzen. Sieht man von wenigen Artikeln wie z.B. der „Heimatkunde für Neubelgi-er“377 ab, beherrschten deutsche innenpolitische Themen 1919 die Titelseiten der Malmedy St.Vither Volkszeitung. Nicht anders in den folgenden Jahren. Verschämt tauchte 1921 eine kleine Rubrik zu Belgien auf der Titelseite auf378. Dominant blieben allerdings weiterhin Berichte zu den Unruhen in Deutschland, die Kritik an den finanziellen Vorgaben des Versailler Vertra-ges und die Situation in Oberschlesien und Deutsch-Österreich. Im Mai des gleichen Jahres wurden unter der Rubrik ‚Inland’ erstmals Nachrichten aus Belgien veröffentlicht. Deutschland tauchte jetzt im Bereich Ausland auf, trotzdem nahmen die Meldungen zur neuen deutschen Körperschaftssteuer großen Raum ein.379 „Was kostet der Wohnungsbau?“380 - unter diesem Titel erschien ein Bericht zur schlappen Bautätigkeit in Deutschland. Das deutsche Steuersystem, die deutsche Baufinanzierung waren spätestens seit dem Ende der Volksbefra-

372 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.01.1920. 373 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.01.1920. 374 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 19.07.1919. 375 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 27.08.1919. 376 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 15.10.1919. 377 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 13.09.1919. 378 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 23.02.1921. 379 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 18.06.1921. 380 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 29.06.1921.

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gung Themen, deren Informationswert für die neubelgische Bevölkerung bei Null lag. Trotzdem füllte Doepgen weiterhin seine Seiten überwiegend mit deutschen Themen. 1922 fand „Die Deutsche Mark“381 genauso ihren Platz auf der Titelseite wie „Das Programm der deutschen Reichsregierung“.382 In den fünf Jahren der belgischen Übergangsregierung hielt Doepgen konse-quent daran fest, die politische Tatsache der Angliederung soweit wie mög-lich zu ignorieren. Auch bedingt durch die Zensur, die eine öffentliche Aus-einandersetzung nicht zuließ, entwickelte er eine Innensicht, die ihm und damit auch seiner Leserschaft gestattete, in ihrer ursprünglichen Welt weiter-zuleben. Da man allerdings im Alltag zahlreiche Berührungspunkte mit der neuen Situation hatte, entstand ein Zwei-Welten System, innerhalb dessen man sich bewegte.

VI. SCHLUSSBETRACHTUNG Welche Rückschlüsse können wir jetzt aus der Malmedy-St.Vither Volkszei-tung für den Zeitraum 1919-1925 bezüglich ihrer Rolle beim Wechsel des Vaterlandes ziehen? Man kann festhalten, dass Doepgen trotz Zensur in der Lage war Plattform für die deutschtreue Gesinnung des größten Teils seiner Zeitgenossen zu sein. Deutlich wurde das durch zahlreiche positive Aussagen im Zusammenhang mit dem Deutschtum, aber auch durch die Berichterstattung zur Rheinlandbe-wegung und dem gesamten journalistischen Schwerpunkt, den er in Deutsch-land setzte. Bereits ohne dass er die Volksbefragung kritisch betrachtete, wur-de in den frühen Jahren der Angliederung klar, dass er mit den neuen politi-schen Umständen höchst unzufrieden war. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Schluss ziehen, dass es sich bei der auf Integration ausgerichteten mehrteiligen Serie ‚Heimatkunde für Neubelgier’ im September 1919 vermut-lich nicht um eine Veröffentlichung aus freien Stücken gehandelt hat, sondern um einen Auftrag aus den Reihen der Militärbehörde. Erst im Jahre 1924 fand mit der Gefahr der Aufteilung der Region in unter-schiedliche Arrondissements eine tatsächliche, offene Politisierung in der Malmedy-St.Vither Volkszeitung statt. Diese Entwicklung bestätigt mir, dass sich Doepgen, bedingt natürlich durch das Damoklesschwert der Zensur, in den ersten Jahren einer Selbstzensur unterworfen hat. In dieser Situation wag-te er es anfänglich nur seinen Unmut durch verdecktes Schreiben, bzw. ‚Schreiben-zwischen-den-Zeilen’, Ausdruck zu verleihen. Doepgen nutzte dazu die ganze Klaviatur seiner Möglichkeiten, er kommentierte die Situatio-nen in anderen Regionen, die der eigenen entsprachen, er ließ Kirchenmänner als Autoritätspersonen sprechen, schilderte eine Zugreise eines altbelgischen

381 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 19.07.1922. 382 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 29.11.1922.

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Besuches und veröffentlichte mehrdeutige Gedichte. Wie ich zeigen konnte, entwickelten sich aus der Zensurpraxis der vergangenen Jahrhunderte viele Methoden diese zu umgehen. Herrschaftliche Druckmittel produzierten oppo-sitionelles Verhalten, das sich verschiedenartige Ventile suchte. Das Ventil, das Doepgen für sich in Anspruch nahm, ist in erster Linie das der Stellvertre-tertexte, die ihn für Maßregelungen durch Baltia unangreifbar machten. Die Berichterstattung zur Volksbefragung ist ein Spiegel für die Unsicherheit, in der sich die Bevölkerung befunden hat. Die Informationen zeigen, dass fast jeder Aussage über die endgültige Zugehörigkeit der Region zu Belgien ein Artikel folgte, der den Menschen wiederum suggerieren musste, dass der Wechsel vielleicht doch noch nicht wirklich stattgefunden hatte. Diese Unsi-cherheit unterstrich die allgemeine Berichterstattung Doepgens, der seine Nachrichten konsequent nach Deutschland ausrichtete und damit den nationa-len Wechsel ignorierte. Gleichzeitig gab Doepgen der Angst vor der Belgianisierung und damit der Angst vor dem Verlust der eigenen Identität Ausdruck, indem er einen Raum schuf, der ein Alternativangebot zur deutschen Zugehörigkeit bot, nämlich den der vordergründig nationslosen Heimat. Die Hervorhebung der Heimat, der Landschaft, des Dorfes und Doepgens Betonung der alten Traditionen bo-ten den Menschen immerwährende Anknüpfungspunkte, die von politischen Entscheidungen unabhängig waren. Die Historie der Region, mit ihren, in mehr oder wenigen großen Abständen, unterschiedlichen Herrschaftsberei-chen lässt auf eine Mentalität der Bevölkerung schließen, die besonders emp-fänglich für das Identitätsangebot ‚Heimat’ war. Mit Heimat brachen sie ihre direkte Umgebung, ihre schöne Landschaft, die unberührte Natur in Verbin-dung, das was sie tagtäglich erleben konnten und womit sie aufgewachsen waren. Die Stabilisierung von diesen alten Wertemustern, stellte eine Mög-lichkeit zur Identitätssicherung dar, die durch den Bruch mit dem alten Vater-land gestört worden war. Doepgen machte also zweierlei, er bekräftigte die vorhandenen nationalen Unsicherheiten und schuf gleichzeitig mit der Heimat ein neues, altes Identi-tätsmodell. Zu verstehen ist das als eine deutliche Ablehnung der neuen poli-tischen Zuordnung. Deutet man die Betonung der deutschen Sprache als ein Zeichen des Patriotismus, was mir in dem historischen Kontext als eine Selbstverständlichkeit erscheint, sah Doepgen die Zukunft der Region nicht in der Gründung eines autonomen Kleinststaates, sondern in einer aktiven Zu-wendung über die neue Grenze hinweg. Aus den vorhandenen zwei Welten sollte wieder eine werden - die gewohnte. Die Forderung nach Kriegerdenkmälern und die umfassende Darstellung der Gedenkfeiern sind als Veranstaltungen des gemeinsamen Erinnerns an die gemeinsame Herkunft zu begreifen. Andreas Fickers383 weist darauf hin, dass

383 FICKERS, Gedächtnisopfer, op. cit.

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Totengedenkfeiern als Träger des „kulturellen Gedächtnisses“ zu begreifen sind, die in unserem Falle an die deutsche Zugehörigkeit erinnern sollten. Zurückweisen kann ich mit meiner Arbeit auch die These der politischen neutralen Zeitung, wie Pabst die Malmedy-St.Vither Volkszeitung charakteri-sierte384. Trotzdem möchte ich nicht von einer Zeitung des Widerstandes zu sprechen, vielmehr nutzte Doepgen sein Instrumentarium, die Sprache, um seine Unzufriedenheit und die des größten Teils der Bevölkerung auszudrü-cken. Er bot damit einen Raum in dem sich die Menschen der Region wieder erkennen konnten. Selbstverständlich findet durch dieses ‚Wieder erkennen’ eine Bestärkung von vorhandenen Emotionen statt, so dass auch diese regio-nale Zeitung mit verantwortlich ist für das distanzierte Verhältnis, das die Einwohnerschaft lange dem neuen Vaterland entgegen brachte.

384 Vgl. Anmerkung 147 in dieser Arbeit.

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MONIKA RÖTHER

KOLLEKTIVE IDENTITÄTSKON-STRUKTION DURCH AUTORITATIVE

DEUTUNGSANGEBOTE

-

DIE MALMEDY ST. VITHER VOLKS-ZEITUNG UND DIE BEVÖLKERUNG

EUPEN-MALMEDY-ST.VITHS

(1866-1940)

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I. EINLEITUNG Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Konstruktion und Entwick-lung kollektiver Identitäten der Bevölkerung der heutigen belgischen Ostkan-tone. Das auch als „Ostbelgien“ oder „Eupen-Malmedy“ bezeichnete Gebiet1 umfasst die „Deutschsprachige Gemeinschaft“ Belgiens sowie die Gemeinden des Kantons Malmedy (die der Französischen Gemeinschaft angehören). Eine genauere geographische Eingrenzung erfolgt im folgenden Kapitel (2.1). Anhand der St.Vither Volkszeitung (zuvor „Kreisblatt für den Kreis Mal-medy“ bzw. „Malmedy-St.Vither Volkszeitung“), die im innerhalb dieser Re-gion südlich gelegenen St.Vith herausgegeben wurde, soll die Frage nach der kollektiven Identität der Menschen in Eupen-Malmedy untersucht werden. Die Jahrgänge des Kreisblattes/ der Volkszeitung von 1866-19412 wurden durch die Verlegerfamilie Doepgen als Basis eines Forschungsprojektes, das die systematische Erfassung der einzelnen Jahrgänge in einer Datenbank be-inhaltet, zur Verfügung gestellt. Neben Datum, Nummer und Jahrgang jeder Ausgabe der Zeitung werden jeweils der Herausgeber, die Hauptschlagzeilen bzw. Meldungen und Fotos der Titelseite, die zentralen Artikel und alle Mel-dungen mit regionalem Bezug der weiteren Seiten des Blattes, sowie Anzei-gen und explizit genannte Autoren einzelner Artikel aufgenommen (vgl. An-hang 1). Einen zentralen Vorteil bei zukünftiger Recherche in den Zeitungs-beständen bietet die vorgenommene Verschlagwortung der aufgenommenen Inhalte der Volkszeitung. Es wurde versucht, möglichst gängige und eindeuti-ge Schlagworte zu vergeben, doch kann der zusätzlich angelegte Schlagwort-katalog die Recherche in der Datenbank noch erleichtern. Bis zum Ende des Jahres 2005 werden alle Jahrgänge zwischen 1914 und 1940 vollständig eingegeben sein, um die für die Region Eupen-Malmedy so bedeutenden Kriegs- und Zwischenkriegsjahrgänge als zusammenhängenden Zeitraum in der Datenbank erfasst und nutzbar gemacht zu haben. Darüber hinaus stehen auch die ersten drei Jahrgänge (1866-68) sowie die Jahre 1870 und 1871 und 1873 als Datenbankeinträge bereits zur Verfügung. Nur diese systematische Erfassung der Jahrgänge macht es möglich, eine Magisterarbeit zu verfassen, die unter der im Folgenden näher dargelegten Fragestellung ei-nen derart ausgedehnten Zeitraum behandelt.

1 Diese Bezeichnungen entstanden mit der Abtretung der Region an Belgien infolge des Ver-sailler Vertrages. 2 Ausgenommen nur 1883 und 1916-1918; die Jahrgänge 1916-18 verbrannten am 26.12.1944 in St.Vith.

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Die Untersuchung setzt bei der Reichsgründung 1870/1871 ein und liefert bis 1940 anhand ausgewählter „Prüfsteine“ deutscher, belgischer bzw. europäi-scher Geschichte einen Einblick in die Konstruktion und Entwicklung der Identität der Bevölkerung des deutsch-belgischen Grenzgebietes. Da Medien als Verständigungsmittel eine bestimmte Art der Informationsver-arbeitung ermöglichen und zugleich grundlegende Steuerungs- und Orientie-rungsfunktionen für Individuen und Kollektive übernehmen,1 diente also auch die Volkszeitung nicht nur dem Nachrichtenaustausch, der Information über Welt- und lokales Tagesgeschehen, sondern hatte auch eine „Meinungsbil-dungsfunktion“2. Auf welchem Wege hat also die St.Vither Volkszeitung als eines der Presseerzeugnisse der Region durch ihre Berichterstattung und die vorgenommenen Bewertungen der regionalen, nationalen und auch weltpoliti-schen Ereignisse die Meinungs- und Identitätsbildung ihrer Leser, d.h. der Menschen vor allem im südlichen Teil Eupen-Malmedys, beeinflusst? Nur anhand einer intensiven Lektüre der betreffenden Jahrgänge bzw. Monate der Volkszeitung war es möglich, die Stellungnahmen des Blattes zu den ver-schiedenen Ereignissen, d.h. also die durch die Redaktion der Zeitung vorge-nommenen Deutungsangebote des Tagesgeschehens, sowie die Berichterstat-tung über die Zustände und die Stimmung in Eupen-Malmedy zu erfassen. Nicht immer bot die Zeitung direkte und ausdrückliche Bewertungen, doch lässt auch die Artikelauswahl und –anordnung Rückschlüsse zu. Auch ein Ar-tikel, den die Redaktion der Volkszeitung aus einer anderen Zeitung oder aber von einer Nachrichtenagentur übernommen hat, gewährt Einblick in den Standpunkt der Presse und der Menschen in Eupen-Malmedy: Durch die Ent-scheidung, bestimmte Artikel auf der Titelseite zu drucken und gewisse Stel-lungnahmen aus anderen Zeitungen zu zitieren, werden Gewichtungen und Bewertungen vorgenommen und es wird deutlich, welche Themen die Bevöl-kerung betrafen. Die Berichterstattung einer Zeitung trägt dazu bei, die immer komplexer er-scheinende Gesellschaft und den politischen Wandel zu strukturieren und so als Orientierungsinstanz eine soziale Integrationsfunktion auszuüben und „Gruppenkohärenz“ zu schaffen.3 Daher lassen sich durch eine Analyse der Deutungsangebote der Volkszeitung bedeutende Einblicke in die Konstrukti-on der kollektiven Identität der Einwohner Eupen-Malmedy-St.Viths gewin-nen: In diesem Grenzgebiet wurden die Menschen aufgrund der spezifischen Geschichte mehrfach vor die Aufgabe gestellt, ihre Identität – sei sie regional oder national geprägt – entweder zu behaupten oder neu auszuhandeln, also dem sie betreffenden weltpolitischen, nationalen oder regionalen Geschehen anzupassen. Welche Deutungen dieser Geschehen bot die St.Vither Volkszei- 1 Vgl. LANDWEHR A., STOCKHORST St., Einführung in die Europäische Kulturgeschichte, Paderborn, 2004, S. 123. 2 Vgl. FAULSTICH W., Medienwissenschaft, Paderborn, 2004, S. 87. 3 Vgl. FAULSTICH W., Medienwissenschaft, Paderborn, 2004, S. 88.

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tung der Grenzbevölkerung, deren Identität vor immer neue Herausforderun-gen gestellt wurde, und in welchem Zusammenhang standen diese Deutungs-angebote mit der kollektiven Identität der Einwohner? Um die spezifische Geschichte der Region zu verdeutlichen und vor allem um die von mir getroffene Auswahl der „Prüfsteine“ nachvollziehbar zu machen, beginnt die Arbeit mit einer überblicksartigen Einführung in die geographi-schen Gegebenheiten und die politische Entwicklung Eupen-Malmedys vom Wiener Kongress bis zur Annexion durch die deutschen Truppen 1940. Die „Heimkehr ins Reich“ im Mai 1940 stellt das Ende des hier gewählten Be-trachtungszeitraumes dar. Obwohl aber die Betrachtung der kollektiven Iden-titätskonstruktion in Eupen-Malmedy erst bei der Reichgründung einsetzt, greift die Einführung in den historischen Kontext bis zum Wiener Kongress zurück, da die Region zu diesem Zeitpunkt Preußen zugesprochen wurde, und man vor diesem Hintergrund sowohl die territorialen Zugehörigkeiten als auch emotionale Bindungen am Sinnvollsten betrachten kann. Der Einführung in die politische Entwicklung Eupen-Malmedys folgt eine ebenso grundlegende Vorstellung der Presselandschaft der Region. Der Stel-lenwert der Presse insgesamt sowie auch der der Volkszeitung im Verhältnis zu anderen Zeitungen und das Verhältnis zu ihren Lesern stellen grundlegende Faktoren in der Bewertung der Autorität der Zeitung und ihrer Deutungsange-bote dar. Das Kreisblatt/ die Volkszeitung als zugrunde liegende Quelle dieser Arbeit wird in einem eigenen Kapitel vorgestellt, in dem sowohl die Entwicklung des Layouts als auch inhaltliche Umstrukturierungen zusammengefasst werden. Die Klärung des Begriffes der kollektiven Identität als theoretischer Zugang dieser Arbeit ist ebenso unerlässlich wie eine kurze Einführung in die Prob-lematik der Grenz- und Auslandsdeutschen, zu denen nach dem Ersten Welt-krieg auch die Eupen-Malmedyer zählten. Mit den Kapiteln 2 und 3 ist die einführende sowie die theoretische Grundlage der Arbeit gelegt, um in den nachfolgenden Kapiteln anhand der Berichter-stattung und der durch die Volkszeitung vorgenommenen Wertungen die Identitätskonstruktion der Menschen in Eupen-Malmedy analysieren zu kön-nen. Die Zeitung erzeugt in diesem Prozess keine identitätsstiftenden Fakto-ren, sondern hebt die vorhandenen hervor, d.h. ins Bewusstsein der Men-schen. Neben den von mir ausgewählten Ereignissen, die durchweg politi-scher Art sind, kann die Volkszeitung auch als Quelle für regionale alltagsge-schichtliche Begebenheiten, kulturelle Ereignisse, wie z.B. auch das lokale Vereinsleben dienen, die ebenfalls die Bildung einer gefestigten Gemeinschaft und gemeinsamen Identität demonstrieren könnten. Allerdings liegt der Fokus bewusst auf der Frage, welchen Beitrag zur Identitätsstiftung die Volkszei-tung durch ihre Berichterstattung über politische Ereignisse (nicht nur auf weltpolitischer und nationaler, sondern auch auf regionaler Ebene) leistete. Dies erklärt sich einmal über den begrenzten Umfang und eine dadurch erfor-

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derliche Eingrenzung der Fragestellung dieser Arbeit. Zum andern können lokale kulturelle oder alltagsgeschichtliche Begebenheiten zwar dazu dienen, eine Heimatverbundenheit der Bevölkerung aufzuzeigen, doch können die Faktoren der Identitätskonstruktion sowie nationale und regionale Bindungen anhand der brisanteren politischen Ereignisse und der dementsprechend schär-fer formulierten Artikel deutlicher aufgezeigt werden. Bei dieser Konzentration auf den politischen Wandel innerhalb des Betrach-tungszeitraumes wurde allerdings sichergestellt, dass der Bezug zur Bevölke-rung Eupen-Malmedy-St.Viths stets vorhanden ist. So analysiert das 4.Kapitel die Reichsgründung, allerdings im Hinblick auf das Bewusstsein der Grenz-bevölkerung diesen Ereignissen gegenüber, und stellt schließlich die Frage in den Vordergrund, wie die Leser des Kreisblattes ihre religiöse Identität und ihre Identität als Angehörige des Deutschen Reiches im Kulturkampf mitei-nander vereinbarten. Auch die Untersuchungen zum Ersten Weltkrieg konzentrieren sich auf zwei Aspekte, die auf das Schicksal und die Identität der Grenzbevölkerung erheb-lichen Einfluss haben sollten - den Bruch der belgischen Neutralität und den Franktireurskrieg. Nur auf diesem Wege ist es möglich, eine derart große Zeitspanne zu behandeln und die Frage nach der kollektiven Identität in Eu-pen-Malmedy ansatzweise zu beantworten: Limitiert auf einige Ereignisse der deutschen, belgischen und europäischen Geschichte muss in jedem Kapitel der größere historische Kontext außen vor gelassen werden und das Augen-merk nur auf den Teilaspekten liegen, die für die Menschen in Eupen-Malmedy-St.Vith von besonderer Bedeutung waren, und die sich in der Volkszeitung wiederfinden.4 Dabei steht die Art und Weise der Berichterstat-tung der Volkszeitung im Vordergrund: Welche Bewertungen des Geschehens wurden vorgenommen und inwiefern wurde die Identität der Einwohner Eu-pen-Malmedys vor immer neue Herausforderungen gestellt? Der direkte Bezug auf die Stimmung und Identität in Eupen-Malmedy ist in Kapiteln wie dem 6. und dem 7., die sich explizit mit den regionalen Entwick-lungen, also mit der Abtretung an Belgien, der Volksbefragung und der Über-gangsregierung des Gouverneurs Baltia sowie den Wahlen in Eupen Malmedy beschäftigen, einfacher herzustellen als in den Kapiteln, die deutsche oder europäische Ereignisse als „Prüfstein“ zu Grunde legen. Doch inwieweit auch nicht-regionale Entwicklungen, wie jene in Deutschland ab 1933 Auswirkun-gen auf die Identität der Eupen-Malmedyer hatten, soll das 8.Kapitel zeigen. Die Auswahl der einzelnen Betrachtungspunkte richtet sich nach den die Neubelgier besonders betreffenden Aspekten der national-sozialistischen Herrschaft, wie der Außen- und Volkstumspolitik.

4 Aus diesem Grund ist beispielsweise eine genaue Betrachtung an sich bedeutender Fragen wie der der Julikrise 1914 ebenso wenig von Bedeutung für diese Untersuchung wie der Ablauf der Friedenskonferenz 1919 oder die Rassenpolitik der Nationalsozialisten.

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Das gewählte Thema der Identität der deutsch-belgischen Grenzbevölkerung ist zwar bereits behandelt worden, allerdings konzentrieren sich die vorhande-nen Arbeiten jeweils auf einen begrenzteren Zeitraum der Geschichte Eupen-Malmedys, so insbesondere auf die Zwischenkriegszeit.5 Eine bei der Reichs-gründung einsetzende und bis zur Angliederung ins nationalsozialistische Deutschland reichende Betrachtung ist bisher nicht vorhanden. Zudem wird die Fragestellung anhand der im südlich gelegenen St.Vith herausgegebenen Volkszeitung bearbeitet, während die vorhandenen Publikationen den Zugang über die Eupener Zeitungen (Eupener Nachrichten, Eupener Zeitung, Grenz-Echo) wählten. Erst die gemeinsame Entwicklung seit 1919 verband den Nor-den um Eupen und den Süden um Malmedy und St.Vith im Bewusstsein der Öffentlichkeit zur Region „Eupen-Malmedy“.6 Das Kreisblatt für den Kreis Malmedy / die Volkszeitung war die erste deutschsprachige Zeitung im Kreis Malmedy und ist eine bisher kaum genutzte Quelle. Da der Süden im Gegen-satz zum nördlichen Kreis Eupen durch das Hohe Venn von Aachen deutlich abgetrennter war, ist eine Betrachtung aus der südlichen St.Vither/ Mal-medyer Perspektive also durch aus von Interesse und liefert neue Einblicke.

5 Die zum Thema vorhandene Literatur wird im Kapitel 2.1 kurz vorgestellt. 6 Eine detailliertere Einführung in die regionalen und geographischen Unterschiede innerhalb der Region bietet ebenfalls das Kapitel 2.1.

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II. EUPEN-MALMEDY UND SEIN ZEITUNGSWE-SEN

A. DIE ENTWICKLUNG EUPEN-MALMEDYS 1815-1940 Das Gebiet Eupen-Malmedy-St.Vith erstreckt sich als ein Streifen entlang der deutsch-belgischen Grenze von Kelmis nahe dem Dreiländereck (D-B-NL) bis zum Dorf Ouren im mittleren Ourtal, wo Deutschland, Luxemburg und Belgi-en aneinandergrenzen. Die Länge beträgt etwa 70 km Luftlinie, die Breite im Schnitt ca. 20km.7 Trotz der geringen Größe dieser Region bildet sie keine klare Einheit: Das Hohe Venn, eine 20-25km breite und bis auf fast 700m an-steigende Hochmoorlandschaft, teilt das Gebiet in zwei Teile, welche sich sowohl landschaftlich als auch wirtschaftlich und im Hinblick auf Volkstum, Sitten und Bevölkerungsstruktur unterscheiden: einerseits den Eupener Raum im Norden und andererseits den landwirtschaftlich geprägten Süden, der sich von den Vennhöhen bis zur luxemburgischen Grenze bei Burg Reuland er-streckt und die Kantone Malmedy und St.Vith umfasst.8 Die Hügel- und Wie-senlandschaft des Eupener Landes unterscheidet sich deutlich von der durch tiefeingeschnittene Flusstäler geprägten Malmedyer Wallonie und dem St.Vither Eifelhochland.9 Das ehemals zum Herzogtum Limburg gehörende Eupen war (zu preußischen und deutschen Zeiten seiner Geschichte) Teil des Aachener Raumes, während sich das Gebiet südlich des Venns um Malmedy und das am Rand der Eifel liegende, einst zum Herzogtum Luxemburg gehö-rende St.Vith eher nach Süden orientierten10; Malmedy und St.Vith hatten den Charakter kleiner Landstädte11 und die wirtschaftlichen Beziehungen über das Venn waren eher unbedeutend.12 Noch in preußischer Zeit waren die Gebiete auch verkehrstechnisch voneinander getrennt, es bestand nur eine Straße von Malmedy nach Eupen durch den Hertogenwald. Erst die Ende des 19.Jahrhundert gebaute Vennbahn milderte diese scharfe Separation der bei- 7 Die breiteste Stelle des Gebietes befindet sich mit ca. 30km im Kanton Malmedy, die sch-malste ist im Hohen Venn mit ca. 10km; vgl. ROSENSTRÄTER H., Deutschsprachige Belgier. Geschichte und Gegenwart der deutschen Sprachgruppe in Belgien, Aachen, 1985, Bd. 1, S.18 (im Folgenden: ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd.1). 8 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 18. 9 Vgl. CHRISTMANN H., Presse und gesellschaftliche Kommunikation in Eupen-Malmedy zwischen den beiden Weltkriegen, München, 1974, S.11 (im Folgenden: CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation). 10 Vgl. SCHÄRER M. R, Deutsche Annexionspolitik im Westen. Die Wiedereingliederung Eupen-Malmedys im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main, 1978, S.17 (im Folgenden: SCHÄRER, Deutsche Annexionspolitik). 11 Vgl. DOEPGEN H., Die Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy an Belgien im Jahre 1920, Bonn, 1966, S. 47 (im Folgenden: DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy). 12 Vgl. SCHÄRER, Deutsche Annexionspolitik, S. 17.

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den Kreise.13 Die Bewohner des Kreises Eupen sprechen überwiegend ostnie-derfränkische, die Menschen südlich des Venns (mit Ausnahme der walloni-schen Minderheit um Malmedy) hauptsächlich moselfränkische Mundarten.14 Der Kreis Eupen war etwa dreimal so dicht besiedelt wie der Kreis Mal-medy.15 Die Menschen arbeiteten (im betrachteten Zeitraum) zum größten Teil in der Landwirtschaft, nur in Eupen und im kleineren Malmedy war In-dustrie angesiedelt. Das ganze Gebiet war deutlich katholisch geprägt, H.Christmann nennt für die Eupener Bevölkerung einen Katholikenanteil von 95%.16 Als Resultat des Wiener Kongresses wurde die Rheinprovinz dem preußi-schen Staatsgebiet zugesprochen17, auch einige Ortschaften des ehemaligen Département Ourthe, unter ihnen die Kantone St.Vith, Malmedy und Eupen.18 St.Vith blieb bis 1820 eigenständige Kreisstadt, wurde aber dann dem Kreis Malmedy angegliedert.19 Nach einer anfänglichen Skepsis oder auch Abnei-gung gegenüber der preußischen Herrschaft entwickelte sich in den Kreisen – spätestens mit der Reichsgründung – ein deutsches Nationalbewusstsein, was später noch genauer betrachtet werden wird. Nach einer ca. ein Jahrhundert währenden Zugehörigkeit zum Deutschen Kai-serreich und der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurden die Kreise Eupen und Malmedy sowie das Gebiet Moresnet Belgien zugesprochen. Unter den ca. 60.000 Einwohnern der sogenannten „cantons rédimés“ waren etwa 10.000 Französischsprachige, die Übrigen sprachen Deutsch.20 Die Einwohner sollten jedoch nach Artikel 34 des Versailler Vertrages die Möglichkeit ha-ben, durch eine „consultation populaire“ über die endgültige Zugehörigkeit der Kreise abzustimmen. Doch eine geheime Abstimmung sah der Vertrag nicht explizit vor. Ein Gesetz der belgischen Kammer vom 15. September 1919 machte die Kreise Eupen und Malmedy zu einem unabhängigen Verwaltungsbezirk, des-sen Regierung ein „Hoher Kommissar“ übernehmen sollte.21 Dieses am 10.1.1920 in Kraft getretene Übernahmegesetz sicherte der Bevölkerung die Beibehaltung der deutschen Sprache und den Schutz ihrer Religion, sowie die 13 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 25. 14 Vgl. SCHÄRER, Deutsche Annexionspolitik, S. 19. 15 Vgl. SCHÄRER, Deutsche Annexionspolitik, S. 17, dies ist eine Angabe für 1940. 16 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 14. 17 Art. 25 und 43 der Wiener Kongressakte vom 9. Juni 1815; vgl. LENTZ J., Das Wahlverhalten in den Kantonen Eupen, Malmedy und St.Vith bei den Parlamentswahlen von 1925 bis 1939, Band 1, Eupen, 2000, S.9 (im Folgenden: LENTZ, Wahlverhalten in den Kantonen). 18 Vgl. MINKE, Politische Zugehörigkeit Eupens, S. 54. 19 Vgl. FAGNOUL K., St.Vith in alten Zeiten. Geschichte, Personen & Gebäude. Pikantes und Prägnantes, St.Vith, 2001, S. 25. 20 Die Kreise wurden in Belgien lange als „cantons rédimés“ bezeichnet, in Anspielung auf ihre alte Zugehörigkeit zu den habsburgischen Niederlanden, vgl. PABST, Politische Geschichte des deutschen Sprachgebiets, S. 25. 21 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 102.

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Befreiung vom Wehrdienst, eine zufriedenstellende Regelung des Geldumtau-sches und eine korrekte Durchführung der Volksbefragung zu.22 Das Amt des „Hohen Kommissars“ wurde Generalleutnant Herman Baltia zugesprochen, der als Gouverneur Eupen-Malmedys allein dem Premierminister Delacroix verantwortlich war.23 Er residierte in Malmedy und setzte zwei Distriktkom-missare ein, Xhafflaire in Eupen und Schnorrenberg in Malmedy. Baltia besaß die volle Gesetzgebungs- und Exekutivgewalt und zu seinen ersten Aufgaben gehörte die Durchführung der Volksbefragung über die zukünftige Staatszu-gehörigkeit der Region.24 Ab dem 23. Januar 1920 gab es für die wahlberech-tigten Einwohner der Kreise Eupen und Malmedy die Möglichkeit, sich in Listen einzutragen, um so ihre Wünsche zu äußern, ob das Gebiet entweder komplett oder teilweise unter deutscher Souveränität bleiben sollte.25 Die konkrete Durchführung der Volksbefragung entsprach nicht der Intention des Versailler Vertrages, und die tatsächliche Abstimmungsfreiheit und folglich auch das Ergebnis blieben umstritten, von den über 33.000 Stimmberechtigten trugen sich nur 271 in die zu diesem Zwecke durch das Gouvernement ausge-legten Listen ein.26 An der Abwicklung der „consultation populaire“ wurde bemängelt, dass die Abstimmung nicht geheim war und nicht der Aufsicht einer neutralen Macht unterstand. Die Aufsicht über die Listen lag bei den beiden Distriktkommissaren, die als belgische Verwaltungsbeamte selbstver-ständlich belgische Interessen vertraten. Sie hatten die Möglichkeit, Druck-mittel gegen Abstimmungswillige einzusetzen, da ihnen ebenfalls die Ämter und Befugnisse für Geldumtausch und Grenzüberschreitung sowie die Le-bensmittelversorgung unterstanden.27 Der Völkerbundrat sprach die beiden Kreise am 20.September 1920 dennoch endgültig Belgien zu. Öffentliche Kri-tik an dieser Weise der Abstimmung, beispielsweise in der Presse, war wäh-rend der Regierungszeit des Gouvernement Baltia nur bedingt möglich, da Baltia Zeitungen zensieren oder vollständig verbieten konnte.28 Denn obwohl das Übernahmegesetz den neuen belgischen Kreisen die Freiheiten der belgi-schen liberalen Verfassung – einschließlich der Pressefreiheit – zugesichert hatte, unterlag die Presse Eupen-Malmedys während der Zeit des Gouverne-

22 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 126. 23 Vgl. CREMER F., MIEßEN W. (Hrsg.), Spuren. Einführung. Materialien zur Geschichte der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, Eupen, 1995, S.9 (im Folgenden: CREMER, MIEßEN, Spuren). 24 Vgl. LEJEUNE, Die deutsch-belgischen Kulturbeziehungen, S. 119. 25 Vgl. ENSSLE, Stresemann’s territorial revisionism, S. 27. 26 Vgl. PABST, Politische Geschichte des deutschen Sprachgebiets, S. 26. 27 Dies hier nur als Beispiel für die Problematik der Volksbefragung, zur genaueren Un-tersuchung vgl. v.a. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy. 28 Vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 9.

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ments Baltia der ständigen Überwachung und latenten Zensur.29 Wie die St.Vither Volkszeitung sich in dieser Situation verhielt und die Stimmung der Bevölkerung widerspiegelte oder gar beeinflusste, wird unter anderem Gegen-stand des 4.Kapitels sein. Während der bis 1925 dauernden Übergangsverwaltung wurde eine strikte Zweisprachigkeit beibehalten, die deutsche Gesetzgebung schrittweise durch die belgische abgelöst und die wirtschaftliche Umstellung vorgenommen.30 Mit dem Angliederungsgesetz („loi de rattachement“) vom 6.März 1925 wur-de Eupen-Malmedy vollständig in den belgischen Staat integriert, dem Arron-dissement Verviers zugeschlagen, und die belgische Verfassung eingeführt.31 Die Eingliederung bedeutete, dass Repressionen (z.B. Zensur) nicht mehr möglich waren, was zu einem Erstarken des Revisionismus führte, der sich in verschiedenen heimattreuen Vereinigungen, etwa dem „Landwirtschaftlichen Kreisverband Malmedy“ und dem „Heimatbund“, organisierte.32 Die belgi-schen Wahlen, an denen nun auch die Bevölkerung der neuen belgischen Ost-kantone teilnehmen konnte, sowie die entstehende Revisionsbewegung wer-den im 5. Kapitel im Hinblick auf die sich darin manifestierende Identität der Eupen-Malmedyer und die Berichterstattung der St.Vither Volkszeitung ge-nauer betrachtet. Mit der Machtergreifung Hitlers kam es auch in Eupen-Malmedy zu einer Ra-dikalisierung. Die 1936 gegründete „Heimattreue Front“ als neue Einheitsbe-wegung aller „heimattreuen Kräfte“ war nach dem Muster der NSDAP orga-nisiert und reichsdeutsch beeinflusst.33 Mit dem Beginn des deutschen West-feldzuges am 10. Mai 1940 und dem Führererlass vom 18. Mai wurden die Kreise Eupen und Malmedy als ehemals deutsche Gebiete „heim ins Reich“ geholt und dem Regierungsbezirk Aachen zugeteilt.34 Zu diesem Zeitpunkt umfasste das vom Dritten Reich annektierte Gebiet (die Kreise Eupen und Malmedy und das zusätzlich dem Reich einverleibte altbelgische Montzener Gebiet) etwa 1300 Quadratkilometer und circa 89.000 Einwohner, von denen etwa 21.000 dem wallonischen Sprachgebiet um Malmedy und der franko-phonen Minderheit des Montzener Gebietes angehörten. In der Kreisstadt Eu-pen lebte etwa ein Drittel der Kreisbevölkerung (ca. 14.000), während im Kreis Malmedy nur circa ein Fünftel der Bevölkerung in den beiden Städten Malmedy und St.Vith lebte (5.500/ 2.700).35

29 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S.70; zur Problematik der Zensur und Presseüberwachung durch das Gouvernement Baltia vgl. auch Kap.4.2 / 4.3; Verbot der Malmedy-St.Vither Volkszeitung. 30 Vgl. PABST, Politische Geschichte des deutschen Sprachgebiets, S. 26. 31 Vgl. PABST, Politische Geschichte des deutschen Sprachgebiets, S. 27. 32 Vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 10. 33 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 400f. 34 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd.1, S. 150. 35 Vgl. SCHÄRER, Deutsche Annexionspolitik, S. 17.

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B. PRESSE IN EUPEN-MALMEDY Da es zur Presse in Eupen-Malmedy einige umfangreiche Veröffentlichungen gibt, müssen hier nicht im Detail alle Zeitungen der Region vorgestellt wer-den.36 Es ist jedoch notwendig, einen Überblick über die regionalen Zeitungen zu geben, um das Kreisblatt für den Kreis Malmedy/ die St. Vither Volkszei-tung, d.h. ihren Stellenwert sowie ihre Ausrichtung, einordnen zu können. Daher werden hier in Kürze die Zeitungen der Kreise Eupen und Malmedy vorgestellt. Das neutrale „Korrespondenzblatt des Kreises Eupen“, 1827 gegründet und im Juli 1921 umbenannt in „Eupener Zeitung“ (EZ) war die älteste und zu-gleich auflagenstärkste Zeitung im Eupener Raum. Sie wurde zur Baltia-Zeit am meisten gelesen und war weitestgehend politisch neutral.37 Ab 1908 er-schien sie dreimal, ab 1917 viermal wöchentlich, ab 1921 täglich.38 Die 1902 gegründete „Eupener Bürgerzeitung“ erschien ab 1909 als „Eupener Nachrichten“ (EN) dreimal wöchentlich. Sie erreichte innerhalb kurzer Zeit eine Auflage von ca. 2000 Stück39 und bezeichnete sich als Organ der Zent-rumspartei, ab 1918 ist sie mangels politischer Organisation der katholischen Meinungsgruppe nur noch als katholische Zeitung einzuordnen. Ab 1921 er-schien sie täglich und unterstütze bei den Wahlen 1925 den für Eupen-Malmedy aufgestellten Kandidaten der altbelgischen Katholischen Partei. Die Eupener Nachrichten lösten sich aber nach der für Eupen-Malmedy enttäu-schenden Wahl von der Katholischen Partei, die eine neue Volksabstimmung ablehnte. Das Blatt schloss sich der 1929 ins Leben gerufenen „Christlichen Volkspartei Eupen-Malmedy-St.Vith“ an. Im Juni 1940 wurde ihr Erscheinen eingestellt, sie wurde ersetzt durch den Westdeutschen Beobachter.40 Die Zeitung „La Semaine“ aus Malmedy wurde 1848 gegründet, war ein fran-zösischsprachiges, aber deutschtreues Wochenblatt und konnte schon zu preußischer Zeit eine Auflage von ca. 800 aufweisen, um 1940 ca.1500. Sie trat für die Erhaltung der wallonischen Kultur und des Malmedyer Katholi-zismus ein.41 „Der Landbote“ war eine Zeitung, die – ähnlich den Eupener Nachrichten – katholisch und deutsch-orientiert war, allerdings mit stärkerer antibelgischer Tendenz. Sie war die Mitgliederzeitung des Malmedyer Landwirtschafts-

36 Vgl. Forschungsstand. 37 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 134. 38 Vgl. STOMMEN, Die Presse Eupen-Malmedys, S. 7. 39 Vgl. STOMMEN, Die Presse Eupen-Malmedys, S. 16. 40 Vgl. BRÜLS W., Die Eupener Nachrichten und das Grenz-Echo 1933-1940. Zwei Eupen-Malmedyer Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, Universität Löwen, 1991-1992, S. 18-21. 41 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 28f.

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verbandes, herausgegeben von Josef Dehottay42, und erreichte schon kurz nach ihrer Gründung 1920 eine Auflage von 3000 Stück.43 In der Region Eupen-Malmedy wurden ebenfalls die deutschsprachige altbel-gische Zeitung „Fliegende Taube“, die ab Oktober erscheinende Wochenzei-tung der belgischen Arbeiterpartei, „Die Arbeit“, und die den Standpunkt Bal-tias vertretende „La Warche“ gelesen, von denen Letztere allerdings nur ge-ringe Auflagenzahlen erreichte und ihr Erscheinen 1925 wieder einstellte.44 Insgesamt blieb die gesellschaftspolitische Rolle aller Zeitungen bis in die 1910er Jahre sowohl nördlich als auch südlich des Hohen Venns gering. Die „Semaine“ beispielsweise hatte um 1900 einen Leserkreis von rund 1.100 Abonnenten, dies bei einer Einwohnerzahl von ca. 32.000 im Kreis Malmedy. Die Malmedy-St.Vither Volkszeitung hatte zu diesem Zeitpunkt etwa 650 Abonnenten.45 Die Redaktionen der Zeitungen bestanden meist nur aus dem Herausgeber selber, der die überregionalen Nachrichten aus reichsdeutschen Zeitungen be-zog.46 Doch erlebte die Bedeutung und Verbreitung der Zeitungen mit dem Vaterlandswechsel von 1920 einen deutlichen Aufschwung: Die deutschspra-chige Presse insgesamt bildete nach der Angliederung Eupen-Malmedys an Belgien einen Stützpfeiler zur Aufrechterhaltung der deutschen Sprache und Kultur. H. Christmann spricht für die Zeitspanne um 1920 von einer beachtli-chen Zeitungsdichte im Eupen-Malmedyer Raum, weist allerdings gleichzei-tig auf die geringe Auflagenhöhe der einzelnen Zeitungen hin.47 Doch politi-sierte die Einschätzung der Volksbefragung die Presse und die Verbreitung von Zeitungen wurde aufgrund erheblicher Mittel von Deutschtumsorganisa-tionen einerseits und belgischer Organisationen und des belgischen Staates andererseits stark gefördert.48 Nach der Abtretung an Belgien vermutete das Gouvernement einen deutschen Einfluss in der deutschsprachigen Presse Eupen-Malmedys, der die Assimila-tion der Neubelgier beeinträchtige oder gar verhindere. Aus diesem Grund strebte Baltia die Gründung einer deutschsprachigen, aber probelgischen Zei-tung an, was allerdings erst 1927 mit der Gründung des „Grenz-Echo“ ver-wirklicht wurde. Das katholische, pro-belgische Blatt bildete einen Gegenpol zu den übrigen, fast ausnahmslos prodeutschen, d.h. revisionistischen Blät-

42 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 133. 43 Vgl. STOMMEN, Die Presse Eupen-Malmedys, S.30. 44 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 133. 45 Vgl. LEJEUNE C., Bricht die Macht der Kulturen die Macht der weltweiten Medien? Sich mitteilen – über alle Grenzen hinweg, in: DERS., FICKERS A., CREMER F., Spuren in die Zukunft. Anmerkungen zu einem bewegten Jahrhundert, Büllingen, 2001, S. 138f. (im Folgen-den: LEJEUNE, Sich mitteilen). 46 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 133. 47 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 16. 48 Vgl. LEJEUNE, Sich mitteilen, S. 139.

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tern.49 Es wurde bald zum Organ der Katholischen Partei Altbelgiens, die neubelgische Bevölkerung allerdings betrachtete es mit Misstrauen. Mit der Machtergreifung Hitlers wurde das Grenz-Echo zum entschiedenen Gegner der heimattreuen Bewegung, ab 1936 der Heimattreuen Front, und bot die Möglichkeit zur Stellungnahme gegen den Nationalsozialismus.50 Allerdings schrieb Stommen im Jahr 1939, die Gesamtauflage der heimattreu-en Presse betrage 11.000 Stück, die sich zusammensetzten aus den Auflagen der Eupener Zeitung (3000), den Eupener Nachrichten (3000), der 1937 ge-gründeten Malmedyer Zeitung (2000) und der St.Vither Volkszeitung (3000).51 Das Grenz-Echo war also das alleinige Gegengewicht zur überlege-nen heimattreuen Presse, die sich mit dem Deutschtum identifizierte, und die aus diesem Grund sowohl seitens des Grenz-Echo als auch seitens belgischer Regierungskreise immer wieder mit dem Vorwurf belastet wurde, finanzielle Unterstützung vom VDA (Volksbund für das Deutschtum im Ausland) zu erhalten. Der Stellenwert der hier im Fokus der Betrachtungen stehenden Zeitung ergibt sich einerseits aus ihrer Publikation in St.Vith, was regional andere Einblicke liefern kann als die Eupener Zeitungen, die dem Aachener Raum – und damit Deutschland – näher waren als der durch das Venn abgetrennte Süden. Auf-schlussreich ist das Kreisblatt / die St.Vither Volkszeitung aber vor allem, da durch den Eindruck der Gemeinsamkeit des Schicksals (mit der Abtrennung von Deutschland) und des Betroffenseins von bedeutenden politischen und wirtschaftlichen Veränderungen ein enges Verbundenheitsgefühl – eine „ima-gined community“52 bzw. kollektive Identität – zwischen den Bewohnern des Kreises und auch zwischen den Lesern und ihren Lokalzeitungen entstand.53 Die Volkszeitung schrieb 1929, die heimattreue Presse sei „mit der annektier-ten Bevölkerung schicksalsverbunden“.54 Entscheidend ist, inwiefern die St.Vither Volkszeitung als Teil der Eupen-Malmedyer „Schicksalsgemein-schaft“ Einfluss auf die (kollektive) Identität der Bevölkerung nahm, oder die-se Identität widerspiegelte, die durch die zahlreichen politischen und gesell-schaftlichen Veränderungen, denen die Menschen ausgesetzt waren, immer wieder neu verhandelt werden musste.

C. DIE ENTWICKLUNG VOM KREISBLATT FÜR DEN KREIS MALMEDY ZUR ST.VITHER VOLKSZEITUNG

49 Vgl. LEJEUNE, Sich mitteilen, S. 139. 50 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 134. 51 Vgl. STOMMEN, Die Presse Eupen-Malmedys, S. 41. 52 „Imagined community“ nach ANDERSON B., vgl. dazu Kapitel 3.1. 53 Die begriffliche Klärung bzw. genauere Einordnung dieses Verbundenheits- oder Gemein-schaftsgefühls folgt im Kapitel 3.1. 54 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 11.05.1929.

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Im Folgenden wird eine Einführung in die Entwicklung der vorliegenden Zei-tung innerhalb des Untersuchungszeitraumes gegeben: Dabei sollen sowohl die äußerlichen Veränderungen des Blattes, d.h. Layout und Format, Umfang und Auflage sowie Beilagen und Erscheinungszyklus der Zeitung, als auch die inhaltlichen Entwicklungen und Schwerpunkte, d.h. Informationsbeschaf-fung und –vermittlung, skizziert werden. Es geht hierbei mehr um eine gene-relle Charakterisierung des Blattes als um detaillierte Einzeluntersuchungen, da die Berichterstattung anhand ausgewählter Ereignisse Gegenstand der fol-genden Kapitel sein wird. 55 Das „Wochenblatt für den Kreis Malmedy“ wurde 1866 von Josef Doepgen in St.Vith gegründet und nahm noch im selben Jahr, mit der Nr.23, den Namen „Kreisblatt für den Kreis Malmedy“ an. Die Zeitung wurde als Amtsblatt des preußischen Landrates benutzt, wofür Doepgen eine Summe von 100RM jähr-lich erhielt. Der Abonnenten- bzw. Leserkreis des Kreisblattes bestand vor-wiegend aus dem deutschsprachigen Teil der ländlichen Bevölkerung des Kreises Malmedy56, und das Blatt erschien zweimal wöchentlich (Mittwochs und Samstags) im Format 22x30cm, jeweils 4-seitig mit je 2 Spalten pro Sei-te. Es lebte vor allem von den amtlichen und privaten Anzeigen, war aber auf „finanziell schwache Füße gestellt“, wohl aufgrund des mangelnden Interes-ses der bäuerlichen Bevölkerung an Zeitungen. Landrat v.d. Heydt, der in der Kulturkampfzeit eine Zeitung zur Unterstützung der Regierungspolitik suchte, stellte 1877 fest, dass das Kreisblatt „kaum den bescheidensten Ansprüchen“ entspreche.57 Im Jahr 1873 hatte das Kreisblatt nur 330 Abonnenten, die bis 1885 auf 492 anstiegen.58 Ab Januar 1874 (Jg.9) stellte der Herausgeber Josef Doepgen das Layout und das Format um: das Kreisblatt erschien nun dreispal-tig, weiterhin auf 4 Seiten, allerdings auf ca. 25x36cm. Weitere Änderungen des Formates folgten zum 1.10.1892 (31x44cm, weiterhin dreispaltig, 4 Sei-ten) und im November 1905 (s.u.). Abgesehen vom Format wuchs auch der Umfang der einzelnen Ausgaben über die Jahre: ab 1925 sind zumindest die Samstagsausgaben teilweise nicht mehr vier- sondern sechsseitig, in den Dreißiger Jahren steigen beide wöchentlichen Ausgaben auf teilweise jeweils acht Seiten (zusätzlich Beilagen), 1940/41 vereinzelt auf zehn Seiten an. Der Verleger Josef Doepgen erscheint bis einschließlich 1890 in der Kopfzei-le des Kreisblattes, mit dem 26.Jahrgang (1891) wird Peter Josef Doepgen, und ab dem 1.April 1903 Hermann Doepgen als verantwortlicher Herausgeber

55 Es kann aus Platzgründen nicht jede einzelne benutzte Nachrichtenagentur und zitierte Quel-le der St.Vither Volkszeitung genannt werden, vielmehr sollen die generelle Art der Berichter-stattung und die Themenschwerpunkte geklärt werden. 56 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 31. 57 Vgl. KAUFMANN, Der Kreis Malmedy, S. 186. 58 Vgl. KAUFMANN, Der Kreis Malmedy, S. 187.

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genannt, der allerdings am 03.November 1939 verstarb. Sein Sohn – ebenfalls Hermann Doepgen – folgte ihm als Verleger.59 Die Zusammenarbeit zwischen dem Kreisblatt und der preußischen Regierung bzw. des Landrates verschlechterte sich, als Josef Doepgen sich 1882 weiger-te, die in Berlin erscheinende „Politische Korrespondenz“ des Innenministeri-ums aufzunehmen und dem Verständnis der Landbevölkerung entsprechend wiederzugeben.60 Der Verleger kündigte im Frühjahr 1905 seinen Vertrag mit dem Kreis zum 1.Januar 1906, da sein Antrag auf Erhöhung des jährlichen Entgelts abgelehnt worden war.61 Doepgen machte seine Zeitung daraufhin zum Organ der Zentrumspartei: er gab bekannt, das Blatt werde „im Style ei-ner großen Zeitung und im Sinne des Zentrums redigiert“ werden: Der Verlag habe seine „Quellen bedeutend erweitert und weitgehend verbessert“ und die Zeitung habe einen „tüchtigen akademisch gebildeten Berufsredakteur, der bereits an mehreren größeren Zeitungen tätig war“62 erhalten. Bei diesem Re-dakteur handelte es sich um H. Thyron, der in der Folgezeit auch im Kopf der Zeitung als verantwortlicher Redakteur erscheint, während Hermann Doepgen als für Druck und Verlag zuständig genannt wird. Mit dieser Wandlung der Zeitung zum Zentrumsorgan beanspruchte die Redaktion die Unterstützung eines jeden „aufrichtige[n] Patriot[en]“ und Jedermanns, „in dessen Brust ein echt deutsches und wahrhaft katholisches Herz schlägt“. Das Blatt kämpfe „für Thron und Altar“, werde sich aber auch „dem Volkscharakter der Eifel“63 anpassen. Im Oktober des selben Jahres gab die Zeitung bekannt, „in nächster Zeit wird das Kreisblatt einen anderen Hauptnamen bekommen“, sie bleibe aber „die-selbe Zeitung mit demselben Besitzer und derselben Richtung (Zentrum)“64, sie nannte sich nun „Malmedy-St.Vither Volkszeitung, Kreisblatt für den Kreis Malmedy, Eifeler Landzeitung, Organ der Zentrumspartei, Druck und Verlag Hermann Doepgen“65 (vgl. Anhang 2). Das Blatt werde das Format vergrößern (dies geschah im November 1905, 32x48cm), und der Verlag dankte dafür, dass es, seit es sich entschlossen habe, „ganz besonders die ka-tholischen Interessen zu vertreten“, an Ansehen gewonnen habe, was sich im „ständigen Zuwachs an Abonnenten“ zeigte.66 Allerdings hatte beispielsweise die Zeitung „La Semaine“ bei nur einmal wö-chentlichem Erscheinen im Jahr 1905 einen größeren Leserkreis - nämlich

59 Vgl. St.Vither Volkszeitung, 08.11.1939, Nachruf auf Hermann Doepgen (1875-1939), Sohn Hermann Doepgen (1906-1963). 60 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 32. 61 Vgl. KAUFMANN, Der Kreis Malmedy, S. 187. 62 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 13.09.1905. 63 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 13.09.1905. 64 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 25.10.1905. 65 Den Untertitel „Kreisblatt für den Kreis Malmedy“ behielt die Zeitung im ganzen hier be-trachteten Zeitraum in der Titelzeile bei. 66 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 25.10.1905.

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1100 Abonnenten und einen Jahresabsatz von 57.200 Stück - als das Blatt Doepgens, das bei zweimal wöchentlichem Erscheinen nur 67.632 Stück ab-setzte67 und um die Jahrhundertwende etwa 650 Abonnenten hatte.68 Acht Jahre später, 1913, gab die Malmedy-St.Vither Volkszeitung selber eine (no-tariell beglaubigte) Abonnentenzahl von 900, und eine Gesamtauflage von 1.000 Stück an.69 Im selben Jahr fiel auch die Unterbezeichnung „Organ der Centrumspartei des Kreises Malmedy“ weg, und die Zeitung nannte sich fort-an „Malmedy-St.Vither Volkszeitung, Gegründet 1866, Kreisblatt für den Kreis Malmedy, Generalanzeiger für den Kreis Malmedy“. Das Layout entwickelte sich von einem wenig strukturierten, überschriften-armen Schriftbild zu einer übersichtlich aufgebauten, durch verschiedene Ti-telzeilen und Rubriken gegliederten Zeitung: Schon der Titel des Blattes, der im 19.Jh. zwar etwas größer, aber im gleichen Schrifttypus gedruckt war (vgl. Anhang 3), wurde mit den Jahren aufwendiger gestaltet, und mit der Über-nahme des neuen Namens „Malmedy-St.Vither Volkszeitung“ wurden zwei regionale Wappen in die Titelzeile aufgenommen (vgl. Anhang 2). Die Mel-dungen waren während der ersten acht Jahrgänge des Kreisblattes ohne be-deutende Überschriften aneinandergereiht, nur die generell auf der ersten Sei-te erscheinenden „Amtlichen Bekanntmachungen“ wurden grundsätzlich unter dieser Titelzeile abgedruckt (vgl. Anhang 4). Mit dem Übergang zum drei-spaltigen Layout 1874 erschienen deutlich mehr, wenn auch kleine, Über-schriften, die die Artikel beispielsweise nach Staaten ordneten. Weiterhin fin-den sich kleine Titelzeilen wie z.B. „Vermischtes“ oder „Landwirtschaft“. Die letzte Seite des Kreisblattes war durchgehend den Anzeigen vorbehalten. Betrachtet man die inhaltliche Konzeption, kann man etwa folgende Entwick-lungslinien ausmachen: Während des 19.Jahrhunderts konzentrierte sich der Verleger des Kreisblattes im Wesentlichen auf die Vermittlung amtlicher und privater Anzeigen und die Berichterstattung über die preußische bzw. reichs-deutsche Regierungspolitik. In einer willkürlich ausgewählten Ausgabe des Jahres 1867 findet man auf der Titelseite neben den Amtlichen Bekanntma-chungen einen Artikel „Zu den Wahlen“ (zum Reichstag des Norddeutschen Bundes), im Innenteil einen über drei Spalten gehenden Artikel zur „Deut-sche[n] Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“, einen Fortsetzungsroman und alltägliche „Vermischte Nachrichten“. Die letzte Seite füllen Anzeigen.70 Zu reichsdeutscher Zeit nahm die politische Berichterstattung deutlich zu, 67 Vgl. KAUFMANN, Der Kreis Malmedy, S. 187. 68 Vgl. LEJEUNE, Sich mitteilen, S. 138. 69 Malmedy.St.Vither Volkszeitung, 01.01.1913 (aus diesem Grund dürfte die Angabe bei STOMMEN, Die Presse Eupen Malmedys, S.20, die Malmedy-St.Vither Volkszeitung habe vor dem Krieg eine Auflage von 2600 erreicht, nicht stimmen); auch CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S.38, schreibt – Doepgens Angabe entsprechend – vor dem Krieg hätten die Auflagen der Eupen-Malmedyer Lokalzeitungen selten 1000 Stück überschrit-ten. 70 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 16.Januar 1867.

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auch Meldungen aus dem Ausland finden sich regelmäßig neben den „Amtli-chen Bekanntmachungen“ auf der Titelseite und den landwirtschaftlichen Ar-tikeln und Anzeigen des Innenteils. Zu Anfang des 20.Jahrhunderts, und vor allem mit der erneuten Vergrößerung des Formats und dem Wechsel des Namens 1905, nahmen die Überschriften weiter zu und wurden deutlicher abgesetzt, d.h. größer und dicker gedruckt. Es wurden mehr verschiedene Rubriken geschaffen, so etwa „ Politische Nachrichten“, die nach In- und Ausland sortiert wurden, oder auch „Aus dem Kreise Malmedy“, „Aus der Rheinprovinz“ und weiterhin die landwirtschaft-lichen Meldungen, die dauerhaft im Kreisblatt bzw. der Volkszeitung Platz fanden. Auch nach der Kündigung des Vertrages mit dem Kreis brachte Do-epgen weiterhin „Amtliche Bekanntmachungen“, zumindest die, „die nur von irgend welchem Interesse sein können und für die Kreiseingesessenen zu wis-sen dienlich sind“.71 Seit dem Beginn der Zwanziger Jahre veranschaulichte die Malmedy-St.Vither Volkszeitung einzelne Meldungen durch Abbildungen, so wurden vor allem Zeichnungen von Städten, Landschaften oder Gebäuden abgedruckt (vgl. z.B. Anhang 5). Zuvor waren nur einzelne kleine Illustrationen in den Anzeigen vorhanden. Ab circa 1931 bot das Blatt dem Leser eine durch Fotos illustrierte Berichterstattung. Zunächst finden sich vereinzelte, den Artikeln zugeordnete und in den Spalten verteilte Fotos, ab 1932 war meist eine kom-plette Seite unter der Überschrift „Bilder der Woche“, ab 1934 unter der Überschrift „Bilder aus aller Welt“, für Fotos vorbehalten. Während des Ersten Weltkrieges scheint auch die Malmedy-St.Vither Volks-zeitung von der Militärzensur betroffen gewesen zu sein. Sie bediente sich der manipulativen Nachrichtenvermittlung des offiziösen Wolff’schen Telegra-phen-Bureaus72, nahezu jeder Artikel trug die Kürzel WTB. Die staatlich ge-lenkte Kriegspropaganda, die den Durchhaltewillen der Streitkräfte sowie der Bevölkerung stärken sollte, verhinderte zu dieser Zeit jeden Versuch objekti-ver Berichterstattung. Sie wurde teilweise zur Gräuelpropaganda gesteigert (vgl. zum Beispiel Franktireurs-Propaganda, Kapitel 3.2) und fand auch Ein-gang in die Malmedy-St.Vither Zeitung.73 Die Volkszeitung wurde nach dem Kriegsgeschehen strukturiert. Die erste Seite war zumeist eingenommen durch „Kriegs-Depeschen“, während die Meldungen der folgenden Seiten nach Kriegsschauplätzen angeordnet wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg führten die Ortskommandanten der Besatzungs-armee in Eupen-Malmedy eine Militärzensur ein, sodass die Malmedy-St.Vither Volkszeitung 1919 zunächst die Zeile „Erscheint mit Erlaubnis der britischen militärischen Behörde“, und ab dem 20.08.1919 „Erscheint mit Er-laubnis der belgischen militärischen Behörde“ über dem Zeitungskopf führte. 71 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 15.11.1905. 72 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 37. 73 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommmunikation, S. 37.

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Mit Regierungsantritt des Gouverneurs Baltia im Jahr 1920 wurde die sonn-tägliche Veröffentlichung der Dekrete des Gouvernements in der Malmedy-St.Vither Volkszeitung angeordnet.74 Eine weitere Informationsquelle der Malmedy-St.Vither Volkszeitung (und der anderen Blätter der Region) waren die reichsdeutschen, vor allem die Aachener und Kölner Zeitungen, doch wa-ren diese, so wie auch die Nachrichtenbüros, nach dem Ersten Weltkrieg nur noch begrenzt nutzbar: während der Besatzungszeit wurde die Übermittlung von Nachrichten durch das WTB oder andere Büros durch die schlechten Te-lefon-, Post- und Telegraphenverbindungen behindert. Hinzu kam, dass ab 1920 unter Baltia feste Abonnements bei reichsdeutschen Nachrichtenbüros untersagt waren.75 In der Malmedy-St.Vither Volkszeitung ist zu erkennen, dass der Verleger sich daraufhin auf die Agenturen Havas und Reuter als Er-satz verlassen musste. Die schlechten Postverbindungen nach dem Ersten Weltkrieg verursachten ebenfalls eine nur unregelmäßige Versorgung der Eu-pen-Malmedyer Zeitungsverleger mit reichsdeutschen Presseerzeugnissen; hinzu kamen die Verbote mancher deutscher Zeitungen in der Region.76 Mit Einrichtung des Gouvernements Baltia bildeten belgische Zeitungen eine neue Quelle für Informationen zu den staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Institutionen Belgiens, und zu einem gewissen Maße auch zu den die Region betreffenden Maßnahmen. So griff auch Hermann Doepgen während der Zeit der Übergangsregierung verstärkt auf belgische Zeitungen, wie z.B. die deutschsprachige altbelgische „Fliegende Taube“, die „Libre Belgique“, „Ga-zette de Liège“ oder „Le Soir“ zurück.77 Auch die Baltia nahestehende und aus diesem Grund von der deutschtreuen Presse oft kritisierte „La Warche“ wurde wegen ihres, aus ihrer Zusammenarbeit mit dem Gouverneur resultie-renden, Informations-vorsprunges als Quelle genutzt. Im November 1921 wurde dann das Postbezugsverbot für reichsdeutsche Zeitungen aufgehoben. 78 Die Androhung von Zeitungsverboten durch das Gouvernement Baltia wurde für die Malmedy-St.Vither Zeitung im November 1924 zur Realität: Im Rah-men der Diskussion über die Volksabstimmung vermittelte sie entgegen der Anordnung Baltias wiederholt die Meinungsbeiträge eines sich als „Rufer in der Wüste“ bezeichnenden St.Vithers, der eine unbeeinflusste Wiederholung der Volksbefragung forderte. Daraufhin wurde das Blatt vom 25.November bis 8.Dezember verboten.79

74 Für den französischsprachigen Bevölkerungsteil des Kreises Malmedy erfolgte die Veröf-fentlichung in „La Warche“, für den Kreis Eupen im „Correspondenzblatt Eupen“, vgl. KAUFMANN, Der Kreis Malmedy, S. 188. 75 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 114. 76 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 115. 77 Vgl. z.B. 15.01.1921, 11.03.1922. 78 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 116. 79 Extrablatt der Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.11.1924.

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Das „Kreisblatt für den Kreis Malmedy“ bzw. die „Malmedy-St.Vither Volkszeitung“ (ab1905) bzw. die „St.Vither Volkszeitung“ (ab 1934, Titelzei-le vgl. Anhang 6) hatte im Laufe ihres Erscheinens verschiedene Beilagen80: ab 1891 bot sie Mittwochs ein illustriertes „Humoristisches Wochenblatt“ (das ab dem 24.06.1891 durch das illustrierte „Familienblatt“ ersetzt wurde), und Samstags ein „Illustriertes Unterhaltungsblatt“. Ab 1905 lag die „Eifeler Sonntagszeitung“ und das „Familienblatt“ bei, dies bis mindestens 191581; 1919 und 1920 wurde die „Eifeler Sonntagszeitung“ beigegeben. Ab dem 1.April 1928 gab es jeden Samstag die Gratis-Beilage „Sonntagsblatt für St.Vith und Umgebung“ (vgl. Anhang 7), ab 1937 die einseitige Beilage „Landwirtschaft“, die im November 1936 in einer „Mitteilung an unsere landwirtschaftlichen Leser“ angekündigt wurde. Der „Leiter einer landwirt-schaftlichen Fortbildungsschule am Niederrhein“, ein „Rektor Quirin“ wurde zur Abfassung regelmäßiger landwirtschaftlicher Abhandlungen gewonnen, um durch diese Beiträge das Blatt „im Interesse der landw. Leser sowie auch im allgemeinen zu bereichern“. Dies zeigt erneut, dass die Verlegerfamilie Doepgen mit ihrer Zeitung ein landwirtschaftliches Publikum bediente. Auch in den Jahrgängen des 19.Jh. nahmen landwirtschaftliche Artikel einen großen Anteil der Zeitung ein, und noch 1941 gab es die Beilage „Der Eifelbauer“ (vgl. Anhang 8). Doch zeigt auch eine weitere Beilage deutlich die Ziel-Lesergruppe bzw. die Ausrichtung (und damit wohl auch die Lektürewünsche und die Orientierung der Identität eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung Malmedys/ St.Viths) der Malmedy-St.Vither Volkszeitung: ab dem 20.11.1929 gab es die regelmä-ßige Sonderbeilage „Die deutsche Glocke. Durch ihren Mund von deutschem Land und Volke tut sie kund“ (vgl. Anhang 9). Der Verleger erläuterte, mit dieser Beilage wolle man

„monatlich eine Reise an irgend einen großen Punkt unserer deut-schen Stammesheimat machen, in das Land der Menschen, die unsere Sprache sprechen, deren Art zu denken und zu fühlen wir kennen und lieben. Die Deutsche Glocke soll […] wesenhafte Stücke deutscher Geschichte, deutscher Dichtung, deutscher Sage, deutschen Volks-tums darbieten…“82

Dies zeigt, dass die (Malmedy-)St.Vither Volkszeitung sich seit der Abtretung und auch noch Jahre nach der Angliederung an Belgien fortwährend mit der Deutschtums- bzw. Volkstums-Problematik beschäftigte und sich nach

80 Die Titelzeilen der Beilagen, die in den mir zur Verfügung stehenden Jahrgängen mit einge-bunden waren, erscheinen im Anhang. Von der Existenz der nicht im Anhang zu findenden Beilagen künden entsprechende Nennungen der Beilagen in der Titelzeile der Volkszeitung bzw. in Werbeanzeigen für Abonnements der Zeitung. 81 Über 1916, 1917 und 1918 kann keine Auskunft gegeben werden, da diese Jahrgänge am 26.12.1944 in St.Vith verbrannten. 82 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 20.11.1929.

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Deutschland ausrichtete. Zudem bezeichnete sie sich ab dem 23.01.1924 im Untertitel als „Grenz-Blatt“83, 1929 als Teil der „treudeutschen Heimatpres-se“84. Diese Orientierung der Zeitung wird ebenfalls an der Auswahl ihrer Informa-tionsquellen nach der Machtergreifung in Deutschland deutlich: So zitierte Doepgen schon 1933 aus nationalsozialistischen Zeitungen, beispielsweise dem Westdeutschen und dem Völkischen Beobachter85, und nutzte schon vor der „Heimkehr ins Reich“ die nationalsozialistische Nachrichtenagentur DNB86. Die St.Vither Volkszeitung berichtete schon in den Dreißiger Jahren wie eine deutsche Zeitung: die Titelseite war meist eingenommen durch Be-richterstattung zu den Ereignissen in Deutschland, belgische Nachrichten er-schienen im Innenteil unter der expliziten Überschrift „Belgien“.87 Insgesamt ist festzuhalten, dass mit den Jahren eine zunehmende Strukturie-rung des Layouts festzustellen ist und die Meldungen verstärkt unter ver-schiedenen Rubriken angeordnet wurden. Welche Rubriken genau zu welchen Zeitabschnitten in der Zeitung zu finden waren, ist weniger bedeutend als die grundsätzliche Themenauswahl: Neben den konstant vorhandenen landwirt-schaftlichen und kirchlichen Artikeln ist durchgehend eine Konzentration auf Regionales und auf Deutschland (auf Preußen, auf das Deutsche Kaiserreich, auf das Deutschtum/ Auslandsdeutschtum, das nationalsozialistische Deutsch-land) festzustellen. Das Kreisblatt / die Volkszeitung ist für die gewählte Fra-gestellung nach der Identität der Eupen-Malmedyer Bevölkerungsgruppe be-sonders ergiebig, da der Verleger soweit möglich auch bei weltpolitischen Vorgängen die direkten Folgen und die Bezüge auf Eupen-Malmedy in den Vordergrund stellte und Vergleiche zur Situation der eigenen Bevölkerungs-gruppe / Identitätsgemeinschaft zog. Die Volkszeitung als Teil der revisionistischen bzw. heimattreuen Presse, de-ren einziges Gegengewicht das Grenz-Echo wurde, war also ein durchaus re-präsentativer Vertreter eines weit verbreiteten Standpunkts. Zudem wiederholt Carlo Lejeune die mehrfach bestätigte Aussage, dass seit etwa 1927 fast jeder Haushalt Ostbelgiens ein- bis zweimal wöchentlich eine Zeitung erhalten ha-be, die durch die Bevölkerung intensiv genutzt wurde, die bis in die 1930er Jahre über keine alternativen Informationsmöglichkeiten in Form eines Radios verfügt habe.88 Leider stehen außer der hier genannten Zahlen keine umfas-senden Angaben zur Auflagenhöhe der Volkszeitung zur Verfügung, was für den gewählten Betrachtungszeitraum durchaus nicht ungewöhnlich ist: eine amtliche Statistik gab es nicht, und alle Angaben waren freiwillig, sodass man

83 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 23.01.1924. 84 St.Vither Volkszeitung, 26. Januar 1929. 85 Vgl. z.B. Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.06.1933. 86 Deutsches Nachrichten-Büro. 87 Vgl. z.B. Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 15.07.1933. 88 Vgl. LEJEUNE, Sich mitteilen, S.139.

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selbst bei den vorliegenden Zahlen nicht weiß, wie zuverlässig sie sind. Doch betont Konrad Dussel, dass die Zeitungen mit geringeren Auflagen vor allem in ländlichen Gebieten erschienen, wo sie allerdings ein ziemliches Monopol besessen hätten. Aus diesem Grund waren sie meinungsprägender als die Massenpresse in den Großstädten, die sich gegen eine große Konkurrenz zu behaupten hatte.89 In Anbetracht der Tatsache, dass die Volkszeitung in einer ländlichen Gegend erschien, die erste deutschsprachige Zeitung des Kreises war, und auch wäh-rend des Gouvernements Baltias zum einzigen deutschsprachigen amtlichen Bekanntmachungsorgan des Kreises Malmedy wurde, lässt auf einen beträcht-lichen Stellenwert und Einfluss der Volkszeitung auf die Identitätsbildung der Bevölkerung des Kreises Malmedy schließen.

89 Vgl. DUSSEL K., Deutsche Tagespresse im 19. und 20. Jahrhundert, Münster, 2004, S.89.

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III. BEGRIFFSKLÄRUNG UND THEORETISCHER ZUGANG

A. DER BEGRIFF DER KOLLEKTIVEN IDENTITÄT Die Fragestellung dieser Arbeit nach der Rolle der St.Vither Volkszeitung im Rahmen der Identitätsfindung der Bevölkerung Eupen-Malmedys bedingt eine Begriffsklärung. Was ist kollektive Identität und wie trägt die Zeitung zur Ausbildung einer spezifischen kollektiven Identität der Eupen-Malmedyer bei? Herausgestellt werden sollen Merkmale der Identität der deutschsprachi-gen Belgier, Mechanismen ihrer Identitätsausbildung und die Rolle der Medi-en innerhalb dieser wiederholt notwendigen Verhandlung von Identität.90 Grundannahme ist hierbei, dass die Minderheit der deutschsprachigen Belgier in Abgrenzung zu den anderen belgischen Ethnien und auch in Abgrenzung zu Deutschland eine spezifische kollektive Identität ausbildete. In ihrer spezi-fischen Geschichte liegen die Wurzeln für ihre Identität91: Welche Konse-quenzen für die Identität der Eupen-Malmedyer Bevölkerung hatte beispiels-weise der mehrmalige Wechsel der Staatsangehörigkeit? Der Begriff der kollektiven Identität wird in der Forschung kontrovers disku-tiert. Was die Menge der erschienenen Literatur angeht, hat das Thema der kollektiven Identität das der personalen oder subjektiven Identität längst über-flügelt. Es gibt eine große Zahl von Publikationen zu politischer bzw. nationa-ler, ethnischer oder kultureller Identität.92 Die allgemeine Annahme ist, dass der Begriff der Identität einer Einzelperson zuerst „nach dem Zweiten Welt-krieg in Amerika“ eingeführt worden sei93. Lutz Niethammer argumentiert, dass aber der Begriff der kollektiven Identität schon vor 1945, nämlich unmit-telbar nach dem Ersten Weltkrieg, in Europa geprägt und angewendet wur-de.94 Für die derzeitige kulturwissenschaftliche Forschung besitzt „Identität“ eine große Aktualität, da sie eng mit der Diskussion um Kulturen und kultu-relles Selbstverständnis, Selbst- und Fremdwahrnehmung und Nationalitäten und Nationalismus verbunden ist.95 Allerdings wird der Begriff viel kritisiert:

90 Vgl. HUNOLD, Bedeutung der Medien für die kulturelle Identität der deutschsprachigen Min-derheit in Belgien, S.3 (im Folgenden: HUNOLD, Medien). 91 Vgl. HUNOLD, Medien, S. 2. 92 Vgl. NIETHAMMER L., Kollektive Identität, Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunk-tur, Reinbek, 2000, S. 21ff. zu Publikationen zur Kollektiven Identität, außerdem umfangreiche Bibliographie (im Folgenden: NIETHAMMER, Kollektive Identität). 93 Vgl. NIETHAMMER, Kollektive Identität, S. 57. 94 Vgl. STRAUB J., „Identität“, in: JÄGER F., LIEBSCH B. (Hrsg.), Handbuch der Kulturwis-senschaften, Bd.1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart, 2004, S. 277-303 (im Folgen-den: STRAUB, Identität). 95 Vgl. LANDWEHR A., STOCKHORST St., Einführung in die Europäische Kulturgeschichte, Pa-derborn, 2004, S. 193 (im Folgenden: LANDWEHR, Kulturgeschichte).

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Besonders Niethammer hat argumentiert, dass es diesem „inhaltsarmen Re-duktionsbegriff“ an theoretischer Fundierung fehle, er zugleich normativ auf-geladen, also analytisch unbrauchbar sei.96 Dennoch soll der Begriff der kollektiven Identität im Folgenden kurz skizziert und seine Anwendbarkeit auf die Bevölkerungsgruppe der Eupen-Malmedyer demonstriert werden, da gerade diese Gemeinschaft im Laufe ihrer Geschichte ihre Identität mehrmals neu verhandeln musste und sich ihrer Identität wohl auch aus diesem Grund sehr bewusst war. Ein Individuum verfügt nicht nur über eine einzige Identität, sondern über mehrere, sich ergänzende und überlagernde Identitäten. Zum einen spricht man von einer subjektiven oder individuellen Identität, die sich aus spezifi-schen Merkmalen wie Alter, Aussehen, Geschlecht, Bildung oder bestimmten Formen des Denkens, Fühlens und Handelns zusammensetzt. Sie entsteht in der Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Gesellschaft, im Laufe derer die Übernahme von Werten, Normen, Traditionen und Rollenerwartungen bzw. die Abgrenzung dagegen erfolgt.97 Zum anderen besitzt ein Individuum auch noch mehrere kollektive (lat. colligere: sammeln) Identitäten, die als Einbindung in verschiedene soziale Gruppenzusammenhänge zu verstehen sind. Nach innen werden sie jeweils durch gemeinsame Symbole, Rituale, Erinnerungen und Wertvorstellungen gestützt. Nach außen erfolgt die Festi-gung der kollektiven Identität durch die Abgrenzung gegen Nicht-Mitglieder der Gemeinschaft, insbesondere durch gemeinsame Feindbilder. Auch kollek-tive Erfahrungen wie Ungerechtigkeit oder historische Traumata können die Entwicklung oder Stärkung einer kollektiven Identität bewirken.98 Auf diesem Weg entstehen „Widerstands-Identitäten“, die sich gerade durch die Resistenz gegen bestehende Herrschaftsidentitäten und Ungerechtigkeiten legitimie-ren.99 Der Begriff der kollektiven Identität ist nicht festlegbar, wie Assmann es aus-drückt, „den Sozialkörper gibt es nicht im Sinne sichtbarer, greifbarer Wirk-lichkeit. Er ist eine Metapher, ein soziales Konstrukt.“100 Aus diesem Grund liegt Kritik wie die Niethammers nahe, es handele sich um einen „inhaltsar-men“ Begriff (s.o.). Die Gefahr sieht er darin, dass es sich um einen Ausdruck der ideologisch-politischen Mobilmachung handele, der generell aber als et-was Positives, Notwendiges gelte und einen „Fetischcharakter“ aufweise.101

96 Vgl. KAELBLE H., Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main [u.a.], 2002, S. 14 (im Folgenden: KAELBLE, Transnationale Öffentlichkei-ten und Identitäten). 97 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 196. 98 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 197. 99 Vgl. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 19. 100 ASSMANN J., Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München, 1992, S. 132 (im Folgenden: Assmann, Das kulturelle Gedächtnis). 101 Vgl. NIETHAMMER, Kollektive Identität, S. 37ff.

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Problematisch ist dabei in der Tat, dass Kategorien wie Religion oder „Rasse“ als Ein- bzw. Ausschlussmerkmale einer kollektiven Identitätsgemeinschaft gelten können und so die Gefahr einer gewaltsamen Durchsetzung der Werte dieser Gemeinschaft, bis hin zur Verfolgung des „Unzugehörigen“, besteht.102 So wird inzwischen nicht nur der Begriff der personalen, sondern auch der der kollektiven Identität nicht mehr rein positiv bewertet und diskutiert. A. Ass-mann und H. Friese fassen in ihrer Einleitung zum Sammelband „Identität“ den Stand der Diskussion über kollektive Identität zusammen und erklären, man sei dazu übergegangen, „Wir-Gruppen“ als „vorgestellte Gemeinschaf-ten“ (imagined communities) aufzufassen.103 Man fragt nach der Herstellung dieser Gemeinschaften / kollektiven Identitäten, die innerhalb gesellschaftli-cher (z.B. Familie, Verein, Partei, Minderheit) oder regionaler (z.B. Dorf, Stadt, Region, Land) Milieus entstehen. Den Begriff der „imagined communi-ties“ prägte Benedict Anderson, der eine Nation als vorgestellte politische Gemeinschaft definiert und generell argumentiert, alle Gemeinschaften seien vorgestellte Gemeinschaften, da die Mitglieder die meisten andern einer Ge-meinschaft nicht kennen, „aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert“.104 Die Bewohner der Kreise Eupen und Malmedy wurden nach anfänglichen Schwierigkeiten mit der Eingliederung in Preußen im Zuge der Reichsgrün-dung zu gefestigten Angehörigen des Deutschen Reiches. Nach dem Ersten Weltkrieg aber wurde diese Bevölkerung zu einer Minderheit auf belgischem Boden und erfuhr 1940 einen erneuten Staatsan-gehörigkeitswechsel. Sowohl Ungerechtigkeit und historische Traumata (seien sie nun tatsächlich oder sub-jektiv durch das Kollektiv so empfunden) als auch das Selbstempfinden als Minderheit wirkten in Eupen-Malmedy als Stifter einer kollektiven Identität. Das Wesen und der Mechanismus der Ausbildung von Identität sind ein zent-rales Thema der Kulturwissenschaften, die sich von Begriffen wie Rasse, Volk und Nation distanzieren und sie durch den Begriff der Identitäten, in deren Ausbildung der Medienkonsum eine wesentliche Rolle spielt, ersetzen. Im Rahmen dieser Arbeit müsste man sich also fragen, wie sich die Identität der Eupen-Malmedyer bildete und woraus sie besteht. Inwiefern transportiert die Zeitung in ihrer Berichterstattung bestimmte Inhalte, welche die Ausbil-dung, Förderung oder Stärkung einer kollektiven Identität unterstützen, einer Identität, die sowohl regionale, nationale als auch kulturelle Faktoren auf-weist? Kollektive Identitäten sind vielfältig, und für den Historiker ist es grundle-gend, die Verflechtung und Überlagerungen dieser Zugehörigkeitsgefühle zu

102 Vgl. STRAUB, Identität, S. 294. 103 Vgl. ASSMANN A., FRIESE H., Einleitung, in: ASSMANN A., FRIESE H. (Hrsg.), Identi-täten, Frankfurt a.M, 1998. 104 Vgl. ANDERSON B., Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M., New York, 1993, S. 15f.

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untersuchen, das heißt der regionalen, nationalen und supranationalen Identi-täten. Die Untersuchung dieser Identitäten ist dabei nicht nur eine Analyse von wechselseitigen Ergänzungen und Überlagerungen, sondern auch von Konflikten zwischen den verschiedenen Identitäten.105 Methodisch sinnvoll angewandt ist der Identitätsbegriff erst dann, wenn er nicht mehr die Priorität eines Zugehörigkeitsgefühls, beispielsweise des Nationalen, sondern Verbin-dungen mehrerer regionaler, nationaler, sozialer und religiöser Identitäten be-zeichnet. Die kollektive Identität der Menschen in den Kreisen Eupen, Malmedy und St.Vith kann somit als ein Konglomerat nationaler sowie auch regionaler und kultureller Identitäten gesehen werden, deren Verschachtelungen dazu führen, dass die Identität entsprechend den historischen Entwicklungen immer neu verhandelt werden muss. Trotz aller Kontroversen über den Begriff der kollektiven Identität gibt es doch einige Elemente kollektiver Identitäten, über die in der Forschung weit-gehend Einigkeit besteht: Kollektive Identitäten bezeichnen vor allem „Wir-Gefühle“ und Gemeinschaftsvorstellungen, meinen die Zugehörigkeit zu Gruppen, Familien, Schichten, Klassen, Nationen und ganzen Zivilisatio-nen106, oder eben – wie im Fall Eupen-Malmedy-St.Viths – zu Minderheiten oder zur Bevölkerung einer bestimmten Region. Sie sind daher stark durch gesellschaftliche und historische Gemeinschaftserfahrungen geprägt und gründen sich auf gemeinsam geteilte Werte, Normen und kollektive Erfahrun-gen.107 Zur Gemeinschaft gehört, wer die gleichen Werte und Normen teilt, entsprechendes Verhalten daraus ableitet und sich an die gleichen Institutio-nen gebunden fühlt. Auf dieser Basis werden Solidaritäten ausgebildet, die ein zentrales Moment von kollektiven Identitäten ausmachen. Solche Solidaritäts-ansprüche werden auf der nationalen Ebene beispielsweise in kollektiven Op-ferbereitschaften, wie dem Eifer für das Vaterland Kriegsdienst zu leisten o-der gar den Soldatentod zu sterben, deutlich.108 Identitäten sind nicht festgelegt, sondern historischen Entwicklungen unter-worfen, sind historisch wandelbar und reagieren auf spezifische Herausforde-rungen sozialer und politischer Veränderungen.109 Außerdem bilden räumliche Bezugspunkte ein ganz zentrales Element kollek-tiver Identitäten. Die „Verortung“ von Gemeinschaften ist somit Teil der kol-lektiven Identitätsbestimmung, was sich zum Beispiel in der Bezugnahme der lokalen Gemeinschaft auf Dorf oder Stadt, der regionalen Gemeinschaft auf

105 Vgl. FRANK R., Mentalitäten, Vorstellungen und internationale Beziehungen, in: LOTH W., OSTERHAMMEL J. (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München, 2000, S. 180. 106 Vgl. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 15f. 107 Vgl. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 20f. 108 Vgl. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 17. 109 Vgl. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 20f.

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„Heimat“110,oder aber der Deutschen auf ihr Reich manifestiert. Den Men-schen in Eupen-Malmedy boten sich mehrere lokale Bezugsrahmen. So konn-ten sie sich einerseits auf das deutsche Vaterland als Heimat berufen, anderer-seits bestand aber auch ihre regionale Zugehörigkeit zu Eupen-Malmedy, in-nerhalb derer noch weiter differenziert werden konnte im Sinne einer Zugehö-righeit zum nördlichen Eupener Land oder aber zum südlichen Malmedy und/ oder St.Vith. Dies demonstriert ebenfalls den Aspekt der sich überlagernden Identitäten. Die emotionale Bindung zu ihrer „Heimat“, sei es die regionale oder das deutsche Vaterland, wird in dieser Arbeit durch die Betrachtung der durch die Volkszeitung vermittelten gemeinsamen Werte, Traditionen und Sitten als Aspekt der Identitätsfindung der Population Eupen-Malmedys her-vorgehoben. Die Heimat (als „Verortung“ der Gemeinschaft) ist geprägt durch spezifische landschaftliche und ökonomische Verhältnisse, durch eindeutige Werte, Sitten und Bräuche und auch Religiosität111 - und da eben dies Inklusi-onsfaktoren einer „imagined community“ sind, steht der Begriff der kol-lektiven Identität hier im Vordergrund.112 Die kollektive Identität oder die Wir-Identität ist das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem ihre Mitglieder sich identifizieren.113 Sie ent-steht durch die gemeinsame Reflexion auf die gemeinsamen Grundlagen. Das bedeutet konkret, dass verschiedene Faktoren eine Rolle spielen: Erstens übernehmen kulturelle Einflüsse eine identitätsstiftende Funktion, die in die-sem Fall dann auf der Verbundenheit durch die gemeinsame Geschichte sowie durch gemeinsame Werte, Normen und Deutungsmuster beruht.114 Zweitens tragen soziale Faktoren wie etwa die gemeinsame Herkunft oder aber auch die Zugehörigkeit zu staatlichen Ordnungen oder Minderheiten zur Identitätsbil-dung bei. Drittens festigen auch allgemein anerkannte Handlungsweisen, Um-gangsformen, Regeln und Gesetze das Bewusstsein der Zusammengehörig-keit. Viertens begründen vereinbarte Kommunikations-formen, wie z.B. Spra-che und Wissensbestände, die von allen Mitgliedern eines Kollektivs geteilt werden, dessen Gemeinschaftsgefühl.115 Im Zusammenspiel führen diese Voraussetzungen aber erst dann zur Ausbil-dung einer kollektiven Identität, wenn die Mitglieder eines Kollektivs anfan-gen, sich ihrer gemeinsamen Grundlagen bewusst zu werden. Entscheidend für die kollektive Identität ist also nicht das Vorhandensein von gemeinsamen

110 Vgl. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 18. 111 Vgl. KÖHLER O., „Heimat“, in: Staatslexikon. Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Bd.2, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, Sp.1235. 112 Zum Begriff der „Heimat“ vgl. GREVERUS I.-M., Auf der Suche nach Heimat, München, 1979; HARMENING D., WIMMER E. (Hrsg.), Volkskultur und Heimat, Festschrift für Josef Dün-ninger zum 80.Geburtstag, Würzburg, 1986; NEUMEYER M., Heimat. Zu Geschichte und Begriff eines Phänomens, Kiel, 1992. 113 Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 132. 114 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 197. 115 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 198.

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Traditionen, sondern das kollektive Bewusstsein von ihnen als gemeinsame Traditionen. Daher spricht die Geschichtswissenschaft zuweilen von kol-lektiven Identitäten als „invented traditions“ (Eric Hobsbawm).116 Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der Beteiligten, es gibt sie immer nur in dem Maße, wie sich die beteiligten Individuen zu ihr bekennen. „Sie ist so stark oder schwach wie sie im Bewusstsein der Gruppenmitglieder lebendig ist“.117 Entscheidend ist das Bewusstsein der kollektiven Identität, das beispielsweise durch angemessene Berichterstattung in der regionalen Zeitung vergegenwärtigt wird:

„Die Behauptung der eigenen Identität und Geschichte wird nicht sel-ten zur schwierigen Aufgabe. Kollektive Identitäten müssen erst frei-gelegt, kenntlich gemacht und symbolisch ‚ausgeflaggt’ werden – nur so können sie Anerkennung fordern und sich gegenüber Alternativen durchsetzen.“118

Kollektive Identitäten sind keineswegs geradlinig oder statisch, sondern sie können im Kontext der jeweiligen konkreten Situation unterschiedlich abge-wandelt werden. Dieses „switching“ zwischen regionalen, nationalen, überna-tionalen oder aber politischen, konfessionellen und ethnisch-kulturellen Iden-tifikationsmustern unterliegt historischen Veränderungen wie etwa einer Nati-onalstaatsbildung (so etwa die Reichsgründung oder auch die „nationalsozia-listische Revolution“ als identitätsfördernde Veränderung für Eupen, Mal-medy, St.Vith) oder dem Einfluss starken politischen Außendrucks. Solche kollektiven Identitäten „sind in erster Linie anhand öffentlicher Diskurse zu erfassen und zu analysieren“119 – diese Möglichkeit bietet die St.Vither Volkszeitung. Denn im Unterschied zu personalen Identitäten sind kollektive Identitäten vor allem auch grundlegend an „Öffentlichkeiten“ gebunden, d.h. konkret, sie müssen in einem öffentlichen Raum ausgedrückt und medial vermittelt wer-den, um überhaupt auf kollektiver Ebene wirksam sein zu können.120 Die Presse wird allgemein als Ort der Öffentlichkeit verstanden, die als Raum der öffentlichen Kommunikation der Informationsvermittlung aber auch der poli-tischen Meinungsbildung und emotionalen Orientierung und Wertevermitt-

116 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 198. 117 ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 132. 118 GIESEN, Nationale und kulturelle Identität, S. 256. 119 Vgl. SCHMIDT-GERNIG A., Gibt es eine ‚europäische Identität’? Konzeptionelle Überlegun-gen zum Zusammenhang transnationaler Erfahrungsräume, kollektiver Identitäten und öf-fentlicher Diskurse in Westeuropa seit dem Zweiten Weltkrieg, in: KAELBLE H., SCHRIEWER J. (Hrsg.), Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M., New York, 1999, S. 167 (im Folgenden: SCHMIDT-GERNIG, Identität). 120 Vgl. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 20f.

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lung diente.121 Doch geht man inzwischen von mehreren Öffentlichkeiten (z.B. lokaler, regionaler und überregionaler) aus, die sich überlagern und durch Medien beeinflusst werden.122 So trifft man auch in Eupen-Malmedy-St.Vith auf verschiedene, sich überlagernde Öffentlichkeiten, wie eben auch Identitäten und „Wir-Gruppen“. Kollektive Identitäten konstruieren Gemeinschaft mit Hilfe spezifischer sprachlicher und begrifflicher Medien und sind politisch orientiert. Sie werden also nicht zuletzt auch von bestimmten Akteuren gemacht, inszeniert und in-strumentalisiert.123 Konnte die St.Vither Volkszeitung eine solche „Inszenie-rung“ oder „Vermittlung“ von kollektiver Identität unterstützen oder gar be-treiben? A. Landwehr argumentiert, kulturgeschichtlich sei es sinnvoll, „Identität“ als dynamisch zu betrachten, „um der Vielschichtigkeit menschlicher Wirklich-keit gerecht zu werden“.124 Um die Bedeutung und Funktionsweise bestimm-ter Identitäten verstehen zu können, bedarf es somit laut Landwehr der Re-konstruktion ihrer historischen Entstehung, was im Rahmen dieser Arbeit mit Hilfe der St.Vither Volkszeitung, die auf den Vorgang der Identitätsbildung eingewirkt hat, vorgenommen werden soll. Der Begriff der Identität legt nahe, dass es sich dabei um ein relationales – das heißt durch eine Beziehung zur Umwelt bestimmtes – Konzept handelt125, es muss daher immer im Bezug zu anderen behandelt werden, da Identität auf der anderen Seite auch immer die Nicht-Identität mit anderen bedeutet. 126

Denn obwohl einerseits mehrere Identitäten durchaus nebeneinander bestehen können, ist andererseits die Abgrenzung gegenüber dem Nicht-Identischen, dem Unterschiedlichen grundlegend für das Konzept der Identität. Der grund-legende Vorgang des Unterscheidens ist notwendig, um überhaupt Gemein-schaftsvorstellungen entwickeln zu können. Ähnlich wie beim Individuum wird auch das kollektive „Selbst“ meist durch ein „Gegenüber“ bestimmt.127 Die Suche nach kollektiver Identität ist mit der Abgrenzung gegenüber ande-ren Kollektiven verbunden128. Die Muster des Ein- und Ausschlusses sind es-sentiell für den Aufbau einer kollektiven Identität, was aber nicht zwangsläu-fig die Entwicklung von festen Feindbildern nach sich ziehen muss.129 Der Aufbau einer kollektiven Identität geschieht so vor allem über Selbst- und

121 Vgl. FÜHRER K. Ch., HICKETIER K., SCHILDT A., Öffentlichkeit - Medien - Geschichte. Kon-zepte der modernen Öffentlichkeit und Zugänge zu ihrer Erforschung, in: Archiv für Sozialge-schichte, 2001, 41, S. 7, S. 15. 122 Ebd., S.14. 123 Vgl. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 15f. 124 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 194f. 125 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 194. 126 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 195. 127 Vgl. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 16. 128 Vgl. NIETHAMMER, Kollektive Identität, S. 11. 129 Vgl. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 16.

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Fremdbilder130 (Wir = die Bevölkerung der Kreise Eupen-Malmedy-St.Vith; die Anderen = die Belgier). Die Beschreibung und Auseinandersetzung mit den Anderen ist immer zugleich eine Auseinandersetzung mit sich selbst, weil das Fremde in ein bestimmtes Verhältnis zum Eigenen gesetzt wird.131 Kol-lektive Identitäten konstituieren sich also zu einem großen Teil aus Abgren-zung gegen andere „Wir-Gruppen“ – dieses Phänomen lässt sich vor allem anhand der Durchsetzung primär nationaler Identifikationsmuster in Europa im 19.Jh. sehr deutlich demonstrieren, so wie sich auch die Bevölkerung die-ser westlichsten Kreise des Deutschen Reiches mit dem deutschen Nationa-lismus identifizierte.132 Da kollektive Identitäten also nicht unbedingt tatsächlich, sondern vor allem im Bewusstsein existieren, müssen sie fortwährend mit Hilfe von sogenannten Codes, also verschiedenen vereinbarten Symbolen, Ritualen und Mythen er-zeugt und aufrechterhalten werden.133 Diese innere Stärkung der kollektiven Identität erfolgt zu wesentlichen Teilen auch über das kollektive Gedächtnis, das die Vorgänge des Vergessens und Erinnerns in einer Gemeinschaft regu-liert.134 All die genannten gemeinsamen Elemente verbinden sich über eine gemeinsame Geschichte wie auch über die Hoffnungen des Kollektivs auf eine gemeinsame Zukunft. Es sind also einerseits die Deutungen und Symbo-liken gemeinsamer Erinnerungen an ein geteiltes historisches Schicksal wie auch andererseits kollektive Erwartungen an eine gemeinsame Zukunft, die gesellschaftliche Bindungen und damit kollektive Identitäten erzeugen und stärken. Entscheidend ist dabei zudem, dass solche Identitäten immer auch in starkem Maß an Erfahrungsräume gebunden sind und davon nicht abgekop-pelt werden können. Es sind also in historischer Perspektive immer die Erin-nerungen an konkrete (historische) Ereignisse an ganz bestimmten (meist symbolisch-mythologisch aufgeladenen) Orten, die kollektive Identität prägen und damit soziale Bindungen erzeugen.135 Aus diesem Grund sind es auch ganz bestimmte Räume (Dorf, Stadt, Region, Nation), in denen die gegenwärtigen Erfahrungen gemacht und auf die solche Erfahrungen (der Nähe, der Bindung, der Verwurzelung) im Sinne von „Hei-mat“ bezogen werden.136

130 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 195. 131 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 196. 132 Vgl. SCHMIDT-GERNIG, Identität, S. 170. 133 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 198. 134 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 198, zum kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung Eupen-Malmedys vgl. FICKERS A., Gedächtnisopfer. Erinnern und Vergessen in der Vergan-genheitspolitik der deutschsprachigen Belgier im 20. Jahrhundert, in: zeitenblicke, 2004, 3, Nr. 1, 15.06.2005, URL: http://zeitenblicke.historicum.net/2004/01/fickers/index.html. 135 Vgl. SCHMIDT-GERNIG, Identität, S. 170. 136 Vgl. SCHMIDT-GERNIG, Identität, S. 170.

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Eine Zeitung kann auf diese Ausbildung einer kollektiven Identität unterstüt-zend wirken, indem sie die gemeinsamen Wurzeln der Gemeinschaft, die ge-meinsame Geschichte, Herkunft, Sprache, die Traditionen und Werte hervor-hebt, sowie auch den geteilten Hoffnungen auf eine bessere Zukunft (wie bei-spielsweise einer Wiederholung der Volksbefragung oder „Heimkehr ins Reich“) immer wieder Ausdruck verleiht.

B. AUSLANDSDEUTSCHE MINDERHEITEN Da im Rahmen dieser Arbeit und der Beschäftigung mit der Identität der Be-völkerungsgruppe in Eupen-Malmedy-St.Vith wiederholt die Begriffe einer Minderheit und des Auslandsdeutschtums fallen werden, scheint eine kurze Begriffsklärung von Nöten. Die Nachkriegsordnung des Versailler Vertrages führte 1919/20 zum Aus-schluss mehrerer Millionen Menschen deutscher Volkszugehörigkeit aus der Weimarer Republik. Die Folge war die Entstehung größerer und kleinerer deutschsprachiger Minderheiten nicht nur in Belgien, sondern auch in Polen, dem Baltikum, der Tschechoslowakei, in Jugoslawien, Rumänien, Dänemark, Frankreich und Italien.137 Die beträchtlichen Gebietsverluste brachten eine Beschäftigung mit der Minderheitenfrage mit sich: ehemalige Reichsangehö-rige waren durch den Willen der Siegermächte zu Minderheiten in einem fremden Staat geworden und im Reich wuchs aus dem weit verbreiteten Be-wusstsein, es mit Angehörigen desselben Volkes zu tun zu haben, ein großes Interesse für diese „Grenzdeutschen“.138 Generell wird der Assimilationsprozess einer Minderheit an die „Wirtsgesell-schaft“ (hier: Belgien) davon beeinflusst, inwieweit die Sprache Letzterer be-herrscht wird, da durch die Sprache kulturelle Werte übermittelt werden.139 Der Fakt, dass die Bevölkerung Eupen-Malmedys größtenteils deutschspra-chig war und das Französische nicht beherrschte, verlangsamte die Assimila-tion in die belgische Gesellschaft. Ebenso behindert laut Eisermann/ Zeh so-wohl die räumliche Nähe einer Minderheit zu ihrer Herkunftsgesellschaft als auch die Kommunikation zwischen beiden den Eingliederungsprozess.140 Die geographische Nähe war im Falle Eupen-Malmedys ebenso gegeben wie eine enge Kommunikation, die vor allem durch reichsdeutsche Tageszeitungen erfolgte, aber auch durch das Engagement deutscher Gruppen (z.B. der

137 Vgl. MÜNZ R., OHLIGER R., Auslandsdeutsche, in: FRANÇOIS E., SCHULZE H., Deutsche Erinnerungsorte, München, 2001, Bd. 1, S.370 (im Folgenden: MÜNZ, OHLIGER, Auslandsdeut-sche). 138 Vgl. PIEPER H., Die Minderheitenfrage und das Deutsche Reich 1919-1933/34, Hamburg, 1974, S. 53. 139 Vgl. EISERMANN G., ZEH J., Die deutsche Sprachgemeinschaft in Ostbelgien. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, Stuttgart, 1980, 2, S. 42 (im Folgenden: EISERMANN, ZEH, Ostbelgien). 140 Vgl. EISERMANN, ZEH, Ostbelgien, S. 42.

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Landsmannschaften Eupen-Malmedy141) und Institutionen (z.B. VDA142, „Deutscher Schutzbund für das Grenz- und Auslandsdeutschtum“143 und Deutsches Auslands-Institut144), die sich für eine Rückkehr Eupen-Malmedys nach Deutschland einsetzten. Die Frage nach den Aktivitäten dieser reichs-deutschen Organisationen steht hier nicht im Vordergrund, da diese Arbeit die Identität der Eupen-Malmedyer, die sie zunächst als Reichsdeutsche entwi-ckelt hatten und schließlich nach dem Versailler Vertrag zwischen Belgien und der Weimarer Republik bzw. dem nationalsozialistischen Deutschland aushandeln mussten, zum Mittelpunkt hat. Nach dem Ersten Weltkrieg nannte man die deutschsprachigen Minderheiten im Ausland „Auslandsdeutsche“, in den späten Zwanziger Jahren und vor allem im Nationalsozialismus setzte sich mit Betonung der „völkischen“ Zusammengehörigkeit der Begriff der „Volksdeutschen“ durch. Die Homogenität dieser Minderheiten, d.h. Kultur, Sprache und „Volkstum“ sollten in Abgrenzung zum Staat, dem man nun an-gehörte, erhalten werden.145 Schon zu preußischer und reichsdeutscher Zeit hatten die außerhalb des Staatsgebietes lebenden Deutschen eine Bedeutung in der politischen Argu-mentation erlangt: So wurde die Annexion Elsass-Lothringens nach dem Deutsch-Französischen Krieg dadurch begründet, dass in diesem Gebiet seit Jahrhunderten Deutsche siedelten.146 Eine politisch-semantische Aufladung des Begriffes „Volk“ und damit der Idee der „Volksdeutschen“ und „völki-schen“ Zusammengehörigkeit, die sich auf eine kulturelle und sprachliche

141 Die Gründung der Vereinigten Landsmannschaften Eupen-Malmedy-Monschau ging zurück auf eine Initiative des Deutschen Schutzbundes für Grenz- und Auslandsdeutsche, vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 145; Die Landsmannschaften waren Verbände im Reich lebender Emigranten des abgetretenen Gebietes, die „den politischen Revisionsanspruch der Heimatbewegung in Deutschland wachzuhalten“ beabsichtigten, und die auch eine eigene Zeitung, das „Echo aus Eupen-Malmedy-Monschau“ herausgaben, vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 383. 142 VDA = Verein für das Deutschtum im Ausland, arbeitete mit Auswärtigem Amt zusammen, Vereinszweck lag darin, „die Deutschen außerhalb des Reiches dem Deutschtum zu erhalten und sie nach Kräften in ihren Bestrebungen, Deutsche zu bleiben oder wieder zu werden, zu unterstützen“, zit. n. LUTHER T., Volkstumspolitik des Deutschen Reiches 1933-1938. Die Aus-landsdeutschen im Spannungsfeld zwischen Traditionalisten und Nationalsozialisten, Stuttgart, 2004, S.44 (im Folgenden: LUTHER, Auslandsdeutsche im Spannungsfeld). 143 Der Deutsche Schutzbund wurde 1919 gegründet, engagierte sich zunächst in der Organisa-tion der „Abstimmungskämpfe“ in Folge des Versailler Vertrages, nach Abschluss der Plebis-zite vor allem Publikationen zu Fragen des Auslandsdeutschtums, vgl. LUTHER, Auslandsdeut-sche im Spannungsfeld, S. 46. 144 Staatlich-institutionell wurde dieses verstärkte Engagement für die Auslandsdeutschen auch durch das Deutsche Auslands-Institut (DAI) in Stuttgart, das noch 1917 gegründet wurde, um-gesetzt. Vgl. MÜNZ, OHLIGER, Auslandsdeutsche, S. 374. 145 Vgl. KETTENACKER L., „Volkstumspolitik“, in: BENZ W. (Hrsg.), Enzyklopädie des Natio-nalsozialismus, Stuttgart, 1997, S. 788-790. 146 Vgl. MÜNZ, OHLIGER, Auslandsdeutsche, S. 371.

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Einheit oder auch auf die Idee der „Abstammungsnation“ stütze, entwickelte sich also schon im 19.Jh. und brachte früh eine politische Brisanz hervor.147 Doch vor allem mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurden die Aus-landsdeutschen ins Bewusstsein des Vaterlands gerufen und die Bevölkerung für dieses Thema politisch mobilisiert: Das Gefühl der Demütigung durch den Versailler Vertrag schuf den Nährboden für eine gemeinsame völkisch-nationale Identifikation und bedingte eine zuvor kaum vorstellbare Annähe-rung zwischen auslandsdeutscher und reichsdeutscher Bevölkerung148 und einen nationalen Zusammenhang aller Deutschen über Grenzen hinweg.149 Diese neue Bewegung mit den bzw. für die Auslandsdeutschen zielte auf eine Abwehr bzw. Revision der neu geschaffenen Ordnung und hing ebenfalls eng zusammen mit dem politischen Kampf rund um die Volksabstimmungen von 1920/21 über territoriale Zugehörigkeiten und Grenzziehungen. Diese Volks-abstimmungen, zum Beispiel in Eupen-Malmedy und Oberschlesien, aber auch die Situation der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei, die in ei-nem späteren Kapitel noch berücksichtigt werden, ließen die deutsche Öffent-lichkeit am Thema der „Grenz- und Auslandsdeutschen“ teilhaben und sich engagieren.150 Die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehende Zeitung beleuchtet nun (für den Teil des Betrachtungszeitraums ab 1919) das genannte Thema aus dem Blickwinkel einer Gruppe von Auslandsdeutschen selber und stellt die Frage, wie diese deutsche Minderheit in Belgien mit der neuen Situation umging, inwiefern und auf welchem Wege sie ihre Identität neu aushandeln musste und wie eine „auslandsdeutsche“ Zeitung, die Malmedy-St.Vither Volkszei-tung, dies widerspiegelte. Der Vertrag von Versailles machte die ehemals preußischen und reichsdeutschen Menschen zu einer nationalen Minderheit, was viele von ihnen nicht nur als Abstieg, sondern auch als ungerecht (dies vor allem aufgrund der zweifelhaften Volksbefragung) empfanden. Wie be-reits zuvor erwähnt, führt der Eindruck erfahrenen Unrechts oft zur Ausbil-dung einer starken kollektiven Identität in Abgrenzung zu gemeinsamen Feindbildern151; anhand der Berichterstattung in der Malmedy-St.Vither Volkszeitung soll hier verdeutlicht werden, ob und inwiefern die auslands-deutsche Minderheit in Eupen-Malmedy eine kollektive „Widerstands-Identität“152 in Resistenz gegen die belgische Herrschaft und die als Unge-rechtigkeit empfundene Volksbefragung und Abstimmung ausbildete. Die Emotionalisierung des deutschen Volkes in der Zwischenkriegszeit schlug sich auch in Eupen-Malmedy nieder, ebenso verkomplizierte der Aufstieg des

147 Vgl. MÜNZ, OHLIGER, Auslandsdeutsche, S. 371. 148 Vgl. MÜNZ, OHLIGER, Auslandsdeutsche, S. 374. 149 Vgl. LUTHER, Auslandsdeutsche im Spannungsfeld, S. 23. 150 Vgl. MÜNZ, OHLIGER, Auslandsdeutsche, S. 374. 151 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 197. 152 Vgl. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 19.

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Nationalsozialismus in Deutschland die Suche nach einer Identität der neu-belgischen deutschsprachigen Minderheit: Die genauen Schritte und Maß-nahmen des Revisionismus der Zwischenkriegszeit oder der Volkstumspolitik der Nationalsozialisten sind hier im Detail weniger von Belang als ihre Wir-kung auf die Stimmung und Identität in St.Vith / Eupen-Malmedy. Aus die-sem Grund wurden ausgewählte Ereignisse wie die Heimattreue Bewegung in Eupen-Malmedy, die Saarabstimmung, die Sudetenfrage usw. in die Untersu-chung aufgenommen, da jedem dieser Vorgänge die Grundproblematik der Minderheiten und des Auslandsdeutschtums innewohnt.

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IV. DAS DEUTSCHE KAISERREICH IM BEWUSSTSEIN DER GRENZBEVÖLKERUNG

A. DIE GRÜNDUNG DES REICHES UND EINER REICHSDEUT-SCHEN IDENTITÄT?

Schon im Jahre 1866, während des Deutschen Krieges, erklärte der Bürger-meister von Malmedy in der „Semaine“, es gebe keinen Malmedyer, „der nicht mit recht stolz darauf wäre, der preußischen Nation anzugehören.“153 Der Deutsch-Französische Krieg und die Gründung des Deutschen Kaiserrei-ches sollen hier als erster Prüfstein der Identitätsausbildung der Bevölkerung des Kreises Malmedy dienen. Wie nahm die Bevölkerung der erst seit gut 50 Jahren zu Preußen gehörenden Kreise diese tief greifenden politischen Verän-derungen auf, und welche Konsequenzen ergaben sich daraus für das Selbst-bild und die Identität der Menschen im Kreis Malmedy (mit St.Vith). Der Ausspruch des Malmedyer Bürgermeisters scheint auch bei Betrachtung der Jahre 1870/71 Bestätigung zu finden. Schon im Juli 1870, unmittelbar nach Bekanntmachungen zur Mobilmachung und dem Aufruf der Königin „Das Vaterland erwartet, daß alle Frauen bereit sind Ihre Pflicht zu thun! Hül-fe zunächst an den Rhein zu senden!“154 veröffentlichte der St.Vither Zweig-Verein des Vaterländischen Frauenvereins einen Aufruf zur Mithilfe und Spende:

„erklärt sich der Vorstand des St.Vither Vaterländischen Zweigverei-nes gerne bereit, insbesondere für St.Vith und Umgegend die Ein-sammlung und Übermittlung von Liebesgaben zu übernehmen. Er bittet daher dringend um recht reichliche Beiträge…[…]155

Diese Vereine waren 1866 durch die Königin gegründet worden und leisteten in erster Linie Hilfe für Verwundete im Kriege und schickten so genannte „Liebesgaben“ an die Soldaten. Laut Kaufmann begann „ein wahrer Wettlauf der Opferwilligkeit in allen Teilen des Kreisgebietes“ und trotz der „allgemein schwachen finanziellen Kräften der Kreisbewohner“ kam dennoch eine „sehr ansehnliche Summe“ zusammen.156 Der St.Vither Zweig-Verein hielt regelmäßige Versammlungen im Sinne des „gemeinschaftlichen Arbeitens und Wirkens zum Besten unserer verwundeten Krieger“157 und veröffentlichte regelmäßig Aufrufe zur Mitarbeit, aber auch Aufstellungen eingegangener Spenden und Dankesworte im Kreisblatt.158 153 Zit. n. KAUFMANN, Der Kreis Malmedy, S. 222. 154 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 20.07.1870. 155 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 23.07.1870. 156 Zit. n. KAUFMANN, Der Kreis Malmedy, S. 223f. 157 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 23.07.1870. 158 So beispielsweise am 26.10.1870, 29.10.1870, 18.01.1871, 21.01.1871.

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Auch wurden „Photographien sämmtlicher Heerführer“ zum Kauf angeboten, unter anderem auch in der „Expedition des Blattes“159, um „den verwundeten Kriegern eine kleine Unterstützung zu gewähren“.160 Nicht nur Bilder, son-dern auch ein „Buch für jeden Deutschen“ mit dem Titel „Deutschlands Hel-denkampf. Ein patriotisches Gedenkbuch für Jung und Alt im ganzen deut-schen Vaterlande“ wurde in den Kreisen verkauft.161 Offensichtlich war das Engagement der Malmedyer für die Soldaten im Felde also groß, und auch die Spendenaufrufe fanden ein erhebliches Echo, sodass der Landrat des Kreises in seinem in den Zeitungen abgedruckten Dank vom 29.10.1870 betonte, „daß die Höhe dieser Unterstützung dem ganzen Kreise zur besonderen Ehre gereicht.“162 Auch in seinem Vierteljahresbericht an den Regierungspräsidenten sprach er von der „großen Opferwilligkeit und geho-benen Stimmung“ der Kreisbewohner, die „Nachrichten über die heldenhaften Siege“ hätten

„zu wiederholten Malen zu begeisterten Kundgebungen geführt, die […] sich durch zahlreiches Beflaggen der Häuser, Absingen patrioti-scher Lieder, Fackelzüge mit Musikbegleitung, Hochs auf den König als Bundesfürsten und zukünftigen deutschen Kaiser, auf die deut-sche Armee und ein einiges Reich äußerten.“163

Eben diese Begeisterung und Unterstützung des Krieges, der Soldaten und des preußischen Königs findet sich auch in der Berichterstattung des Kreisblattes, das verschiedene Kriegs-Lieder und Gedichte veröffentlichte, so etwa das 1840 komponierte, und mit Ausbruch des Krieges zur Volkshymne geworde-ne „Die Wacht am Rhein“. „[…] Der deutsche Jüngling, fromm und stark, Beschirmt die heil’ge Landesmark.

Lieb Vaterland, magst ruhig sein, Fest steht und treu die Wacht am Rhein.“164

Die Popularität des Krieges in der deutschen Bevölkerung, die sich einig war in dem Ziel, den Gegner der deutschen Einheit zu besiegen, ist auch in den Grenzkreisen festzustellen. Man beschwor die Erinnerung an die Freiheits-kriege von 1813-1815, und so wie damals gegen Napoleon I. gekämpft wurde,

159 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 25.01.1871, 28.01.1871, 11.02.1871. 160 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 26.10.1870. 161 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 13.03.1871 und folgende Ausgaben. 162 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 29.10.1870. 163 Zit.n. KAUFMANN, Der Kreis Malmedy, S. 225f. 164 Teil einer Strophe, entnommen aus vollständigem Text in: Kreisblatt für den Kreis Malme-dy, 24.08.1870.

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so zog man nun gegen seinen Neffen Napoleon III. und die Nation, die er an-führte, zu Felde.165

„[…]Du suchest Deutsche Einheit, / Mein guter, Deutscher Mann? Wohlan, geh hin nach Frankreich, / Dort triffst Du sie schon an. […] Geh hin und siehe bauen/ Den Deutschen Kaiserthron. Sieh wie sie bau’n die Deutschen/ Aus Eisen und aus Blut Ein neues ein’ges Deutschland/ Zum Trotze Gallien’s Blut. […]“166

Die Bevölkerung des Kreises Malmedy stand augenscheinlich ebenso hinter dem Krieg und der Reichsgründung wie die restliche Reichsbevölkerung, und besonders mit dem Sieg in der Schlacht von Sedan am 2.September 1870 wuchs die Begeisterung noch mehr. In Deutschland wurde dieser Sieg als weltgeschichtliche Wende und als Gottesurteil empfunden.167 Auch das Kreisblatt berichtete in diesem Sinne.

„Welch ein ergreifender Augenblick! So ruft das deutsche Volk mit König Wilhelm aus, nicht blos angesichts der Begegnung bei Sedan, sondern im Hinblick auf das ganze großartige Walten Gottes in die-sem Moment deutscher Geschichte. […] Diese endlich erreichte Einigung aller deutschen Stämme und Staaten hat in den glorreichen Erfolgen dieser Tage eine so erhabene Krö-nung und Weihe gefunden, daß das deutsche Volk daraus vollends das erhebende Bewußtsein entnehmen darf, was es in seiner Einheit ist und vermag.168

165 Vgl. WINKLER, Heinrich August, Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, Bonn 2000, S.205 (im Folgenden: WINKLER, Deutsche Geschichte). 166 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 29.10.1870, Nr. 87, Jg.5. 167 Vgl. WINKLER, Deutsche Geschichte, S.206. 168 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 10.09.1870 Nr.73, Jg.5.

Abb. 1: Sieges- und Friedens-Fest in St.Vith, Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 09.08.1871 Nr. 63, Jg.6.

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Schon sehr bald kam der Vorschlag auf, am Tag dieses Sieges ein patrioti-sches Volksfest zu feiern, und auch im Kreisblatt wurde ein solcher Aufruf veröffentlicht, der sich für ein „patriotisches, wahres Volksfest am 2.September“169 aussprach. Die vom Landrat beschriebene nationale Begeisterung, die sich in Kundge-bungen und patriotischen Feiern äußerte, zeigt sich ebenfalls in verschiedenen Ankündigungen zu zahlreichen vaterländischen Feiern, die gegen Ende des Krieges in den Orten des Kreises Malmedy stattfanden, so etwa das „Concert des Gesang-Vereines in Reuland zum Besten verwundeter Krieger“, bei dem unter anderem „Die Wacht am Rhein“ und „Des Deutschen Vaterland“ vorge-tragen wurden.170 Im August gab es ein „Sieges-Fest zu Büllingen“ mit einem „Festzug durch den festlich beflaggten Ort“ und Festessen und Ball171, und am 2.September 1871 ein „Sieges-Fest zu Wallerode“ mit Salvenfeuer, Bewill-kommnung und Dekorirung“ der Krieger und Festzug durch den beflaggten Ort.172 Auch in St.Vith fand ein patriotisches Fest statt (vgl. Abb. 2), bei dem „die Krieger von den Jungfrauen des hiesigen Vaterländischen Frauenvereins mit Kränzen […] geschmückt“ wurden und ein „Festzug durch die ge-schmückten Straßen der Stadt“ stattfand. Derartige Veranstaltungen, aber bei-spielsweise auch der Dank eines Unteroffiziers „im Namen sämmtlicher Cameraden“ an die Stadt St.Vith für den „herzlichen Empfang bei unserer Rückkehr aus Frankreich“173 und das Engagement der Bevölkerung während des Krieges illustrieren ein bereits zu diesem Zeitpunkt in der Identität der Bevölkerung tief verwurzeltes Nationalgefühl und „Deutschtum“. Die Bismarcksche Politik und vor allem der Sieg im Deutsch-Französischen Krieg mit der anschließenden Reichsgründung bewirkten die Entstehung eines deutschen Nationalbewusstseins – das Bewusstsein, Deutsche zu sein war be-deutend stärker als das der Zugehörigkeit zu Preußen. Es entstand eine starke Verbundenheit mit dem Reich, die mit dem Kulturkampf ihre erste Heraus-forderung erfuhr.

B. DER KONFLIKT ZWISCHEN NATIONALER UND RELI-GIÖSER IDENTITÄT IM KULTURKAMPF

Die Begeisterung über den Sieg im Deutsch-Französischen Krieg und über die Reichsgründung war kaum verstummt, da sah sich die deutsche Reichsbevöl-kerung mit ihrem ersten tiefgreifenden innenpolitischen Konflikt konfrontiert. Es handelte sich um die Auseinandersetzung zwischen dem Reich, einzelnen seiner Bundesstaaten und den liberalen Parteien auf der einen und der rö-

169 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 30.08.1871, Nr.69, Jg.6. 170 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 11.02.1871, Nr.12, Jg.6. 171 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 30.08.1871. 172 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 02.09.1871. 173 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 22.03.1871.

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misch-katholischen Kirche und dem deutschen Katholizismus auf der anderen Seite. Schon unter den Zeitgenossen setzte sich der Begriff des Kulturkampfs durch, der vom linksliberalen Abgeordneten Rudolf Virchow geprägt wur-de.174 Die Nationsbildung hatte nicht erst mit der Reichsgründung begonnen und kam mit ihr auch nicht zum Ende, sondern trat vielmehr in ein neues Stadium ein. Zum weiterführenden Prozess des Zusammenschlusses gehörte alles, was den Deutschen ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit vermittelte, obenan Spra-che, Kultur und Geschichte. Dieses entstehende Gemeinschaftsgefühl erfasste, wie oben aufgezeigt, auch die Bewohner der Kreise Eupen und Malmedy. Wie Alfred Minke in seinem Aufsatz „La Communauté germanophone: l’évolution d’une terre d’entre-deux“175 darlegt, sollte der Kulturkampf aller-dings das gewonnene reichsdeutsche Nationalgefühl dämpfen:

"À Eupen-Malmedy comme partout ailleurs en Allemagne, la poli-tique de Bismarck suscita l’enthousiasme patriotique. Toutefois, l’unification de l’Allemagne une fois accomplie, le Kulturkampf dé-clenché par le ‘chancelier de fer’ contre l’Eglise catholique provoqua une crise de confiance passagère."

Auch Heinrich Rosensträter argumentiert, die Entstehung eines deutschen Na-tionalbewusstseins in Eupen-Malmedy einerseits und die Repressionen der Regierung gegen die Katholiken andererseits hätten zu einer „Rivalität zweier Bewusstseinskomplexe“ geführt, zwischen Deutschtum und Katholizismus, die in diesem deutschsprachigen Grenzgebiet in einen „heftigen Widerstreit“ gerieten.176 Doch wie stellte sich das Kreisblatt für den Kreis Malmedy und dessen Her-ausgeber zu diesem Konflikt? In der Tat würde sich das Kreisblatt – wie in Kapitel 2.1 dargestellt – circa 30 Jahre später zur Zentrumspartei bekennen, um „...unabhängig und frei die katholische Sache und die Interessen der hiesi-gen Bevölkerung [zu] vertreten...“ und sich im Oktober 1905 zum „Organ der Zentrumspartei“ erklären.177 Diese Entwicklungen des Kreisblattes sowie auch Alfred Stommens Behauptung, der Verleger Josef Doepgen habe sich in der Kulturkampfzeit „einer besonders betonten Stellungnahme“ enthalten, „obschon das Blatt seine katholische Herkunft auch nicht verleugnete“178, sol-len im Folgenden näher untersucht werden. War das Kreisblatt ein katholisches Blatt für katholische Leser, das durch die Kulturkampfgesetze betroffen war? Wie vereinte es das reichsdeutsche Natio-

174 Vgl. HALDER W., Innenpolitik im Kaiserreich 1871-1914, Darmstadt, 2003, S.38 (im Fol-genden: HALDER, Innenpolitik im Kaiserreich). 175 Vgl. MINKE A., La Communauté germanophone: l’évolution d’une terre d’entre-deux, 1995. 176 Vgl. ROSENTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, S. 114f. 177 Vgl. STOMMEN, Die Presse Eupen-Malmedys, S. 20 und CHRISTMANN, Presse und gesell-schaftliche Kommunikation, S. 32. 178 Vgl. STOMMEN, Die Presse Eupen-Malmedys, S. 20.

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nalgefühl und den Katholizismus? Und vor allem, wurde den Lesern eine Lö-sung dieses Konflikts angeboten, ein Weg ihre reichsdeutsch geprägte Identi-tät mit ihrem Katholizismus zu vereinbaren? Der Kulturkampf kann hier nicht ausführlich unter Einbeziehung seiner Ursa-chen und Hintergründe erörtert werden. Da es um die Fragestellung nach der Identität der Bevölkerung in Malmedy, St. Vith und Eupen geht, wird anhand einiger ausgewählter einschneidender Gesetze und Ereignisse des Kultur-kampfes die Berichterstattung des Kreisblattes für den Kreis Malmedy und deren Wirkungen auf die kollektive Identität bzw. das Verbundenheitsgefühl der Bewohner der Kreise mit dem Reich darzustellen versucht. Die Religion war ein wichtiger Inklusionsfaktor dieser katholisch geprägten Gemeinschaft, und die entstandene Verbundenheit mit dem Reich kollidierte während des Kulturkampfes mit dem Katholizismus, der im Bewusstsein/ in der Identität der Bevölkerung nicht einfach durch die „Religion“ des Nationalismus ver-drängt werden konnte. Wie wurde dieser Konflikt zwischen Katholisch-Sein und Deutsch-Sein im Kreisblatt ausgehandelt? Nach der Enzyklika des Papstes Pius IX. von 1864179 wurden vor allem das sogenannte Unfehlbarkeitsdogma des Vatikanischen Konzils 1870 und die Gründung der Zentrumspartei im selben Jahr zur Wurzel des Konflikts.180 Das Infallibilitätsdogma stellte die formelle Unfehlbarkeit päpstlicher Lehrent-scheidungen zu Moral und Sitten fest und verschärfte so die Frontstellung zwischen liberaler und römisch-katholischer Weltanschauung.181 Für die Libe-ralen stellte dies einen Anschlag auf die Gewissensfreiheit dar; so erhielt der Konflikt sein Fundament, das ihn zu einem Glaubenskampf stempelte. Es handelte sich hierbei um einen Kampf zwischen der traditionellen Ansicht, die Individuum, Gesellschaft und Staat an die christliche Lehre band, und jener neuen Ansicht, welche die Religion zur privaten Gewissensfrage erklärte, den kirchlichen Einfluss aus dem öffentlichen Leben verdrängen und die politi-sche Ethik schärfer auf die nationalstaatlichen Interessen ausrichten wollte.182 Wie wurde in einer Zeitung wie dem Kreisblatt, das in einem traditionell ka-tholisch geprägten Gebiet erschien, dieser Wandel dargestellt und den Lesern vermittelt? Dies soll an den folgenden Beispielen verdeutlicht werden. Bismarck löste im Juli 1871 die katholische Abteilung des preußischen Kul-tusministeriums auf, da er diese verdächtigte, über den katholischen Klerus

179 In dieser Enzyklika widersprach der Papst der Auffassung, dass die Leitung und Aufsicht der öffentlichen Schulen allein Sache des Staates sei und beanspruchte, dass die Kirche ihren Einfluss auf Menschen und Nationen frei ausüben könne; vgl. HERTZ-EICHENRODE D., Deut-sche Geschichte 1871-1890, Das Kaiserreich in der Ära Bismarck, Stuttgart, Berlin, Köln, 1992, S.81 (im Folgenden: HERTZ-EICHENRODE, Deutsche Geschichte 1871-1890). 180 Vgl. HEINEN A., Umstrittene Moderne. Die Liberalen und der preußisch-deutsche Kul-turkampf, in: Geschichte und Gesellschaft, 2003, 29, S. 152 (im Folgenden: HEINEN, Umstritte-ne Moderne). 181 Vgl. HALDER, Innenpolitk im Kaiserreich, S. 40. 182 Vgl. HERTZ-EICHENRODE, Deutsche Geschichte 1871-1890, S. 81.

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die polnische Nationalbewegung in Posen und Westpreußen zu fördern. Von diesem Vorwurf, der Katholizismus unterstütze die polnische Sache, war es nur noch ein kleiner Schritt zu der Behauptung, die Zentrumspartei arbeite auch mit anderen Gegnern des Reiches zusammen.183 Bismarck stilisierte den politischen Katholizismus, der sich seit Mitte des 19.Jahrhunderts ausbildete und seit der Gründung der Deutschen Zentrumspartei reichsweit agierte, zu „Reichsfeinden“, welche der Gründung des Deutschen Reiches in Wahrheit ablehnend gegenüber stünden, da das Reich von einem protestantischen Kai-ser und König regiert wurde.184 Angeblich beabsichtige das Zentrum ein Wie-deraufleben des alten, durch den stets katholischen Habsburger-Kaiser regier-ten Reiches, dessen Politik den Weisungen des Papstes unterstehen sollte. Bismarck unterstellte, ganz wie die Liberalen, dem politischen Katholizismus eine „ultramontane“ Gesinnung.185

„Der Begriff leitet sich vom lateinischen ‚ultra montes’ ab, was wört-lich übersetzt ‚jenseits der Berge’ bedeutet. Gemeint ist eine politi-sche Orientierung an den Vorgaben des Papstes, der ‚jenseits der Al-pen’ in Rom residiert und die kirchlichen Interessen über nationale und staatliche Anliegen stellt. [...] Insbesondere während des Kultur-kampfs wurde ‚ultramontan’ in Deutschland vielfach mit unpatrio-tisch, reichsfeindlich und antiliberal gleichgesetzt.“186

Tatsächlich war das Zentrum zu keinem Zeitpunkt direkt weisungsabhängig vom Papst, sondern verstand sich als Vertreter der Interessen des katholischen Bevölkerungsteils im Reich. Die Partei war zwar meist im Einklang mit der Amtskirche, aber keinesfalls abhängig von ihr.187 Doch auch das Kreisblatt beschrieb die Zentrumspartei mit Bismarckschem Vokabular und stilisierte sie zu Reichsfeinden. Dies geschah unter anderem anhand der Meldungen anläss-lich des Sedantages. Die Veranstaltungen zum Gedenken an den deutschen Sieg in der Schlacht von Sedan am 2.September 1870 blieben seitens der Ka-tholiken weitgehend unbeachtet, man feierte stattdessen das Piusfest.188 Die Sedanfeiern wurden von katholischen Zeitungen schon 1874 als „St. Sedan“ und „Satanfeier“ verspottet.189 So untersagte der Mainzer Bischof Ketteler190

183 Wie z.B. den Welfen, Elsässern, Lothringern; vgl. WINKLER, Deutsche Geschichte, S .223. 184 Vgl. HALDER, Innenpolitik im Kaiserreich, S. 41. 185 Ebd. 186 Ebd. 187 Ebd., S. 42. 188 Vgl. HEINEN, Umstrittene Moderne, S. 153. 189 Vgl. WINKLER, Deutsche Geschichte, S. 218. 190 Emmanuel von Ketteler (1811-1877) vertrat eine entschiedene Gegenposition zum liberalen Staatsdenken, er war zunächst als Jurist im preußischen Staatsdienst tätig gewesen, hatte sich aber unter dem Eindruck der Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche entschlossen, Priester zu werden. Ketteler war seit 1850 amtierender Bischof von Mainz und galt als einer der wichtigsten Sprecher des Katholizismus in der Phase unmittelbar nach der Reichsgründung. Ab

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den Geistlichen seiner Diözese jegliche Mitwirkung an den Sedanfeiern, ba-sierend auf dem Argument der Katholiken, die Feiern gingen nicht vom deut-schen Volk, sondern hauptsächlich von der Nationalliberalen Partei aus, die sich fälschlich als Vertreter des deutschen Volkes sehe, aber an der Spitze des Kampfes gegen Christentum und katholische Kirche stehe.191 Das Kreisblatt allerdings stellte sich ganz auf die Seite der Regierung, und brachte am 30. August 1873 einen Artikel zu den Vorbereitungen zur Enthüllung eines Denkmals am 2.September mit folgender Titelzeile:

„Das Sieges-Denkmal, dessen feierliche Enthüllung am bevorstehen-den Gedenktage der Schlacht bei Sedan „stattfinden soll, führt die In-schrift: ‚Das dankbare Vaterland dem siegreichen Heere.’ “192

Am 22.8.1874 erschien ein Artikel unter dem Titel „Beim Herannahen der Septemberfeier“, in dem äußerst deutlich gemacht wurde, dass diese „Feier des Sedantages eine freie That der deutschen Nation“ sei, die also sehr wohl aus dem Willen und der nationalen Begeisterung des deutschen Volkes her-vorgegangen sei. Die Betonung des Artikels lag klar darauf, dass es von ei-nem wahren Patrioten zu erwarten sei, an den Sedanfeiern teilzunehmen:

„...jeder patriotische Sinn haftet mit freudiger Dankbarkeit an den Tagen, welche durch den Wiederaufbau des Deutschen Reiches zu ewig denkwürdigen Abschnitten in der Geschichte des Vaterlandes geworden sind.“ [...] „Unzweifelhaft ist es Pflicht aller patriotischen Kreise, sich mit freudigem Eifer an der allgemeinen Bewegung zu betheiligen.“193

Eben aus diesem Grund ist das Urteil, das der Artikel „Ultramontane Abwen-dung von der Nationalfeier des Septemberfestes“ der folgenden Woche über die Katholiken fällte, umso härter. Angeblich beabsichtigten die „ultramonta-nen Stimmführer“ die „Nationalfeier zu stören“. In Bezugnahme auf den Mainzer Bischof von Ketteler und dessen Verbot der Teilnahme an den Feiern wurde entgegnet, dass eine Weigerung der katholischen Kirche an den natio-nalen Feierlichkeiten teilzunehmen keinerlei nachvollziehbare Gründe haben könne, da diese Feiern in keiner Weise mit den kirchlichen Interessen kolli-dierten.

„Man fragt sich, ob sich der Nachweis führen läßt, daß das dankbare An-denken an die ruhmvollen Ergebnisse des jüngsten Krieges irgendwie den Rechten der römischen Kirche oder den religiösen Gefühlen der katholi-schen Gläubigen zu nahe tritt.“194

1871 war er Angehöriger der Zentrumsfraktion im Reichstag und somit einer der einflussreich-sten Kirchenführer in Deutschland, vgl. HALDER, Innenpolitik im Kaiserreich, S. 39. 191 Vgl. WINKLER, Deutsche Geschichte, S. 218. 192 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 30.08.1873. 193 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 22.08.1874. 194 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 29.08.1874.

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Der Konflikt, in den ein deutscher Katholik geriet, wurde auf diese Weise al-leine der Kirche zugeschrieben, die sich demzufolge unnötigerweise gegen staatliche Initiativen auflehne und so die deutsche Nation teile und

„sich einer schweren Verantwortlichkeit unterzieht, wenn sie bei ei-ner großen nationalen Bewegung das Band der Gemeinschaft zwi-schen ihren Anhängern und dem übrigen Theile der Nation zer-schneidet.“ [...] „Diejenigen aber, die einem solchen Nationalfeste widerstreben, stellen sich in offenbarsten Gegensatz zu den reinsten und edelsten Gefühlen des deutschen Volkes.“195

Das Kreisblatt stellte die Spannung zwischen Katholik-Sein und Deutsch-Sein als allein von der Kirche verschuldet dar, die ihren Gläubigen nicht die Mög-lichkeit gebe, diese beiden Faktoren ihrer Identität miteinander zu vereinba-ren. Außerdem übernahm das Blatt hier die Bismarcksche Argumentation und den antikatholischen Jargon, welche die Katholiken als unpatriotisch und als Reichsfeinde charakterisierte: auch das Kreisblatt drückte aus, dass man bei Befolgung der kirchlichen Ablehnung des Sedanfestes „undeutsch“ handele. Auch zwei Jahre später war die Titelseite am 2.September eingenommen von Meldungen bezüglich des Sedanfestes. Ein Gedicht „Zum Sedanfeste“ endete mit der Strophe „Drum möge den Gedektag feiern / Ein jeder echte Deutsche Sohn / Und alle Jahr ihn froh erneuern / Als Fest der Deutschen Nation.“196 Der zugehörige Artikel betonte erneut, dass der Tag von Sedan durch „die freie That der Nation“ und den „mächtige[n] Strom der allgemeinen Begeiste-rung“ zum nationalen Festtag gewählt wurde, an dem „alle patriotischen Her-zen“ und die Nation „nicht nur das Gedenken an die Ehren des Krieges und des Friedens, sondern zugleich das Fest ihrer eigenen Wiedergeburt“ feiern.197 Der Berichterstattung des Kreisblattes zufolge brachte die Kirche sich selbst in die missliche Lage des Kulturkampfes, da sie ihren Anhängern die Wahr-nehmung ihrer patriotischen Pflichten untersagte. Das Kreisblatt war somit selbst zum Teil des Kulturkampfes geworden, in seiner Berichterstattung und den zahlreichen Kommentaren zu den Kulturkampf-gesetzen schien jeder Kompromiss zwischen Staat und Kirche ausgeschlossen. Der Einzelne konnte nach dieser Darstellung nicht katholisch und deutsch sein, sondern musste sich für eine der beiden Seiten entscheiden, entweder die nationale, staatstra-gende, oder aber die ultramontane, rom-orientierte und implizit rückständige Seite. Der Konflikt wurde vorwiegend auf der Ebene der Bundesstaaten ausgetragen und erhielt seine schärfste Ausprägung in Preußen und seiner Gesetzgebung

195 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 29.08.1874. 196 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 02.09.1876. 197 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 02.09.1876.

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(aber auch süddeutsche Staaten wie Bayern und Baden waren betroffen). Die Regierungen, die sich nicht durch das Unfehlbarkeitsdogma zum Diener der Kirche machen lassen wollten, forderten die genaue Beachtung der Gesetze und die Wahrung der staatlichen gegenüber der kirchlichen Autorität.198 Der vom Reichstag am 28.11.1871 beschlossene Kanzelparagraph hatte den Kul-turkampf eröffnet199, weiterer Ausdruck der Trennung von Staat und Kirche war das Gesetz über die Schulaufsicht aus dem Jahr 1872, das alle privaten Schulen der staatlichen Aufsicht unterstellte, sowie die Einführung der obliga-torischen Zivilehe (1874 in Preußen, 1875 im Reich), die festlegte, dass die Beurkundung des Personenstandes von den Kirchen auf die neugeschaffenen Standesämter überging.200 So brachte das Kreisblatt am 24.Januar 1874 einen zweispaltigen Artikel über „Die Zulässigkeit der Civilehe nach katholisch-kirchlichen Grundsätzen“201, der deutlich für die Einführung der Zivilehe und damit für die Regierungspoli-tik Stellung bezog. „Der Pfarrer hat, so weit die Gültigkeit der Ehe in Frage kommt, nichts bei der Eheschließung zu thun;“ und

„Der Staat kann nicht verbieten, daß ein Katholik vor seinem Pfarrer die Einwilligung erkläre. Der Staat sagt lediglich: Damit eine Ver-bindung bürgerlich wirksam sei, [...], muß sie in der von mir vorge-schriebenen Form abgeschlossen werden.“202

Erneut wurden die staatlichen Kulturkampfgesetze als die Freiheit der Kirche nicht einschränkend, sondern als reine Verwaltungsangelegenheit dargestellt:

„Der Staat übt sein Recht der Gesetzgebung, nicht um die Kirche un-ter sein Joch zu zwingen, um auf ihre Lehre, ihren Kultus einen unbe-rechtigten Einfluß zu üben oder ihre innere Lebenskraft zu beein-trächtigen und ihre Macht über die Gemüther zu schwächen, sondern um ihr Gebiet und die Grenzen ihrer Einwirkungen auf die äußeren rechtlichen Lebensverhältnisse selber zu bestimmen und Klarheit und Ordnung in das zu bringen, was jetzt vielfach chaotisch und verwor-ren sich darstellt.“203

In der Berichterstattung des Kreisblattes führte nur der kirchliche Widerstand gegen die staatlichen Gesetze zu den scharfen Konflikten. Als ein weiteres Beispiel der regierungstreuen und damit kulturkämpferischen Berichterstattung des Kreisblattes seien die Maigesetze (1873) angeführt, die

198 Vgl. HERTZ-EICHENRODE, Deutsche Geschichte 1871-1890, S. 82. 199 Politische Äußerungen von Geistlichen in Ausübung ihres Amtes wurden mit Haftstrafen bis zu zwei Jahren bedroht, vgl. HALDER, Innenpolitik im Kaiserreich, S. 42. 200 Vgl. WINKLER, Deutsche Geschichte, S. 224. 201 Artikel von einem Dr. Friedr. v. Schulte; der Verfasser hat in einem Aufsatz in einer Zeit-schrift für Kirchenrecht „bewiesen, daß die Civilehe nach katholischen Grundsätzen statthaft ist“, und „dasselbe in populärer Weise zu zeigen“ ist die Absicht des Artikels im Kreisblatt. 202 Kreisblatt für den Kreis Malmedy 24.01.1874. 203 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 10.06.1874.

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weithin als Höhepunkt der Kulturkampfgesetzgebung gelten.204 Die Maigeset-ze beabsichtigten vor allem die katholische Kirche den Lebensformen des li-beralen Rechtsstaats anzupassen und legten ihr ein geschlossenes System staatlicher Kontrolle auf.205 Im Jahr 1873 selber berichtete das Kreisblatt kaum über das staatliche Vorgehen, nur in einem Artikel zum „Schluß der Landtagssession am 20.Mai 1873“ erfuhr der Leser

„Nicht minder lebhafte Kämpfe haben die Berathung der wichtigen Gesetze begleitet, durch welche die Beziehungen des Staats zu den großen Kirchen-gemeinschaften klarer und fester als bisher geregelt worden sind...“

Im folgenden Jahr jedoch, mit der Weigerung der Bischöfe den Maigesetzen zu folgen und der vollen Anwendung der staatlichen Sanktionsgewalt gegen die Geistlichen, nahm die Berichterstattung zum Kulturkampf im Kreisblatt deutlich zu. Abgesehen von den Strafvorschriften der Maigesetze, die Geld-strafen und sogar die gerichtliche Entfernung aus dem Amt vorsahen, erging 1874 das sogenannte Expatriierungsgesetz, das es möglich machte, verurteil-te Geistliche von einzelnen Orten oder gänzlich aus dem Reich zu verweisen. Ebenso wurde die kommissarische Verwaltung nicht ordnungsgemäß besetz-ter Bistümer angeordnet.206 Das Kreisblatt informierte seine Leser am 17.Juni 1874 über „Die neuen Maigesetze und die Bischöfe“, die Gesetze wurden als „starke und schneidige Waffen zur Geltendmachung des staatlichen Anse-hens“ beurteilt, und die Verantwortung für die notwendigen strengen Vor-schriften alleine der Kirche zugeschrieben, da diese sich den Gesetzen des Staates widersetzt habe:

„...die jetzigen Gesetze sind nicht, wie die vorjährigen, dazu be-stimmt, die Beziehungen und Rechtsverhältnisse zwischen der Staatsgewalt und der Kirche an und für sich und für alle Zeitumstän-de zu regeln; sie sind vielmehr nur durch den Widerstand der Kirche gegen jene früheren grundlegenden Gesetze nothwendig geworden. Sie haben eine Bedeutung nur in dem Kampfe gegen die geistliche Auflehnung.[...] Immer und immer wieder muß daran erinnert werden, daß der that-sächliche Grund des ganzen immer tiefer greifenden Konflikts, der Grund und Anlaß aller weiteren Gesetzgebung vor Allem in dem hartnäckigen Widerstande der preußischen Bischöfe gegen das vor-

204 Vgl. BLASCHKE O., Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, Göttingen, 1997, S.45. 205 Vgl. LILL R. (Hrsg.), Der Kulturkampf, Paderborn, München, Wien, Zürich, 1997, S. 19. Von den Geistlichen wurde die deutsche Staatsangehörigkeit, ein Reifezeugnis eines deutschen Gymnasiums sowie ein „Kulturexamen“ in den Gebieten Philosophie, Geschichte und Literatur gefordert. Die namentliche Anzeige bei den staatlichen Behörden vor Übernahme eines kirchli-chen Amts wurde obligatorisch. Die kirchliche Disziplinargewalt wurde näher festgesetzt, ein königlicher Gerichtshof als Berufungsinstanz gegen Entscheidungen kirchlicher Behörden ge-schaffen. Vgl. HERTZ-EICHENRODE, Deutsche Geschichte 1871-1890, S. 83 und vgl. WINKLER, Deutsche Geschichte, S. 224. 206 Vgl. HERTZ-EICHENRODE, Deutsche Geschichte 1871-1890, S. 84.

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jährige Gesetz über die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen zu finden ist.“ 207

Eine letzte Zuspitzung mit neuen Kampf- und Strafbestimmungen des preu-ßischen Staates folgte nach der päpstlichen Verurteilung der Maigesetze im Februar 1875. Durch das „Brotkorbgesetz“ (April 1875) entzog der Staat der Kirche die materiellen Grundlagen ihrer Existenz, indem er alle staatlichen Geldzuweisungen sperrte208, das „Klostergesetz“ (Mai 1875) verfügte das Verbot aller Orden (soweit sie nicht ausschließlich Krankenpflege betrieben). Die Maßnahmen wurden abgerundet durch die Aufhebung einiger preußi-scher Verfassungsartikel, welche die Freiheit der Kirchen garantierten (Juni 1875).209 Auch dieses staatliche Vorgehen wurde im Kreisblatt auf die oben dargestellte, deutlich antikatholische Weise kommentiert.210 Generell ist für die Berichterstattung des Kreisblattes für den Kreis Malmedy über den Kulturkampf zu bemerken, dass sie so umfangreich wie einseitig war. Im Jahr 1874 beispielsweise findet man bei insgesamt 103 Ausgaben 29 Artikel zum Kulturkampf, die durchgehend für die Regierungspolitik argu-mentieren. Es seien hier nur einige Überschriften genannt, um den vorherr-schenden Tenor noch deutlicher zu machen: „Fürst Bismarck in der Abwehr von Verleumdungen und Geschichtsfälschungen. Die Stimmführer der ultra-montanen Partei [...] setzen ihren Krieg gegen die nationale Politik und den leitenden Staatsmann in erbittertster Weise fort...“ (31.01.1874); „Die Staats-feindlichkeit des Mainzer Katholicken-Vereins“ (07.02.1874). Die Katholiken und Angehörigen der Zentrumspartei wurden fortwährend als „die Ultramon-tanen“ bezeichnet, deren Politik einen „reichsfeindlichen Charakter“211 trägt. Ganz entgegen den Ausführungen von Alfred Minke scheint die antikatholi-sche Gesetzgebung der Reichsregierung also keine tiefgreifende „crise de confiance“ verursacht zu haben, zumindest wird dies in der Berichterstattung des Kreisblattes nicht deutlich. Rosensträters „Rivalität zweier Bewusstseins-komplexe“, die der Kulturkampf sicherlich hervorrief, löste der Herausgeber des Kreisblattes durch deutliche Parteinahme für das Deutschtum und gegen den Katholizismus. Er enthielt sich meiner Meinung nach eben nicht, wie Stommen behauptet, „einer besonders betonten Stellungnahme“, sondern be-richtete ganz im Sinne der deutschen Regierung und ihrer Kulturkampfpolitik. Dies kann nicht allein auf Furcht vor Zensur o.ä. zurückgeführt werden, da es

207 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 17.06.1874. 208 Vgl. WINKLER, Deutsche Geschichte, S. 225. 209 Vgl. HEINEN, Umstrittene Moderne, S. 142. 210 Vgl. Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 14.04.1875 „Immediat-Eingabe der preußischen Bischöfe an Se. Majestät den Kaiser und König“ und „Wohin führen die ultramontanen Ansprüche und Hetzereien in Deutschland?“; 17.04.1875 „Neue Vorgänge auf dem kirchenpo-litischen Gebiete“; 01.05.1875 „Die Veränderung der römischen Kirchen-Verfassung und die entsprechende Änderung der preußischen Verfassung“ usw. 211 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 14.01.1874.

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durchaus die Möglichkeit gab, gegen den Kulturkampf Stellung zu beziehen, wie es zum Beispiel die „Eupener Zeitung“ tat.212 Da das Kreisblatt 1873 laut Karl Leopold Kaufmann, der ab 1899 Landrat in Malmedy war, im Jahr 1873 nur 330 Abonnenten hatte213, lässt sich aus der Stellungnahme der Zeitung sicher nicht ohne weiteres ein Rückschluss auf die gesamte Bevölkerung des Kreises Malmedys (mit St.Vith) – und noch weni-ger auf die des Kreises Eupen – ziehen.214 Dennoch wird aus einem Artikel vom 5.September 1874 deutlich, dass die Sedanfeier in St.Vith durchaus fest-lich begangen wurde, also die Teilnahme daran und die Wahrnehmung der „patriotischen Pflicht“ nicht nur im Kreisblatt gefordert, sondern von der Be-völkerung auch erfüllt wurde:

„Auch hier in unserm westlichen Grenzstädtchen ist der Tag von Se-dan nicht unbemerkt vorüber gegangen. Am Vorabend verkündete festliches Geläute die Feier des Tages, an welchem Deutschlands Ei-nigkeit vollendet dastand, ebenso am Morgen des Tages selbst. Die Stadt legte durch Beflaggen der Häuser ihr festliches Gewand an und fand Abends in dem sinnig dekorirten Casinosaale ein [...] Festessen statt. Zur Verherrlichung des Tages trug der hiesige Gesangverein ‚Sängerbund’ durch Vortrag patriotischer und anderer Lieder nach Kräften bei. Hoffen wir, daß der 2.September des Jahres 1870 sich in die Brust eines jeden Deutschen unauslöschlich einprägen mag, da-mit, komme der Feind woher er wolle, alle zur Abwehr festgeschlos-sen dastehen wie ein Mann, stets eingedenk der großen Ereignisse dieses Tages.“215

Das mit der Bismarckschen Politik gewachsene und dem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg und der Reichsgründung gefestigte deutsche National-bewusstsein scheint schon in diesen frühen Jahren des Kaiserreiches ein fester Bestandteil der kollektiven Identität der Malmedyer – St. Vither Bevölkerung geworden zu sein, der auch durch den Konflikt mit dem fest verwurzelten Ka-tholizismus nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt werden konnte.

212 Vgl. STOMMEN, Die Presse Eupen-Malmedys, S. 18. (Es handelt sich hier nicht um das oben als Eupener Zeitung aufgeführte Blatt, das aus dem Korrespondenzblatt des Kreises Eupen hervorging, sondern um die 1869 gegründete Eupener Zeitung, Vorgänger der oben genannten Eupener Bürgerzeitung, wiederum Vorgänger der Eupener Nachrichten). 213 Vgl. KAUFMANN, Der Kreis Malmedy, S. 187. 214 So betont LENTZ J., dass das Zentrum in der betreffenden Region stets seine Position als stärkste Partei verteidigte, vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 12. 215 Kreisblatt für den Kreis Malmedy, 05.09.1874.

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V. DER ERSTE WELTKRIEG IM BEWUSSTSEIN DER GRENZBEVÖLKERUNG

A. DER BRUCH DER BELGISCHEN NEUTRALITÄT DURCH DAS DEUTSCHE REICH

Der Erste Weltkrieg und besonders die Problematik des Bruches der belgi-schen Neutralität durch Deutschland im August 1914 sollten die Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf lange Zeit hinaus schädigen und müssen aus diesem Grund in diese Arbeit einbezogen werden. Die deutsch-belgischen Beziehungen hatten selbstverständlich einen bedeutenden Einfluss auf die Identitätsbildung einer sich zwischen diesen beiden Staaten orientierenden Bevölkerungsgruppe. Die belgische Neutralität war seit 1830 die Voraussetzung für die Existenz des Staates und wurde von vielen Belgiern als Garantie für die belgische Un-abhängigkeit gesehen. Deutschland – eine der fünf Garantiemächte dieser Neutralität – verlangte am 2.August 1914 in Form eines Ultimatums den un-gehinderten Durchmarsch seiner Truppen nach Frankreich. Diese Forderung bedeutete für Belgien eine Bedrohung seiner Unabhängigkeit und man be-schloss, sich im Falle einer Grenzverletzung durch Deutschland mit allen Mit-teln zu verteidigen.216 In Befolgung des schon Ende des 19.Jahrhunderts durch den Chef des deutschen Generalstabes Alfred Graf von Schlieffen ausgearbei-teten Schlieffen-Plans, den sein Nachfolger General Helmuth von Moltke als strategische Notwendigkeit zur Anwendung brachte, überschritten deutsche Truppen am 4.August 1914 die deutsch-belgische Grenze.217 Deutschland machte sich damit des Bruches des Neutralitätsvertrages von 1839 schuldig. Der deutsche Reichskanzler Bethmann-Hollweg erkannte diese Schuld Deutschlands unmittelbar nach Kriegsbeginn an und versprach Wie-dergutmachung. In einer Rede vom 4.August machte der Reichskanzler seinen bekannten Ausspruch „Not kennt kein Gebot“, rechtfertigte den Neutralitäts-bruch damit als Notwehr und erkannte an, dass das begangene Unrecht wieder gut gemacht werden müsse:

„Wir sind in der Notwehr, und Not kennt kein Gebot. Unsere Trup-pen haben Luxemburg besetzt und vielleicht schon belgisches Gebiet betreten. Das widerspricht den Geboten des Völkerrechts. Die fran-zösische Regierung hat zwar in Brüssel erklärt, die Neutralität Belgi-ens respektieren zu wollen, so lange der Gegner sie respektiere. Frankreich konnte warten, wir nicht. Ein französischer Einfall in un-sere Flanke am unteren Rhein hätte verhängnisvoll werden können.

216 Vgl. VAN YPERSELE L., „Belgien“, in: HIRSCHFELD G., KRUMEICH G., RENZ I. (Hrsg.), En-zyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn, 2004, S.44 (im Folgenden: VAN YPERSELE, Belgien). 217 Vgl. ENSSLE, Stresemann’s territorial revisionism, S. 1.

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So waren wir gezwungen, uns über den vereinigten Protest der lu-xemburgischen und der belgischen Regierung hinwegzusetzen. Das Unrecht, das wir damit tun, werden wir wieder gut machen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist. Wer so bedroht ist, wie wir, und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut.“218

Doch mit der Unerbittlichkeit der Kampfhandlungen der ersten Kriegsmonate wandelte sich diese Haltung deutscherseits, und man warf Belgien vor, seine Neutralitätspflicht nicht wahrgenommen zu haben.219 Hinzu kamen bald auch Beschuldigungen gegen die belgische Zivilbevölkerung, die angeblich einen hinterhältigen „Volkskrieg“ gegen die deutschen Truppen geführt habe. Doch der deutsche Einmarsch in Belgien schadete dem Ansehen des Reiches in der Welt enorm, während Belgien für viele Staaten als Opfer und „Symbol des Märtyrertums“ galt.220 Die Frage der deutschen Kriegsschuld, des Bruches der Neutralität und der durch die deutsche Besatzung verursachten Schäden Bel-giens sollte auf der Friedenskonferenz zu einem starken, vor allem morali-schen Argument gegen das Deutsche Reich und für deutsche Gebietsabtretun-gen werden. Doch die Volkszeitung vertrat auch fünfzehn Jahre nach Kriegsende noch ent-schieden den deutschen Standpunkt: Sie veröffentlichte noch im August 1929 einen Artikel, der die halbe Titelseite füllte und sich mit verschiedenen Stu-dien zur Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland und den diesbezüglichen Äußerungen der belgischen Presse befasste. So berichtete die Volkszeitung, die „Libre Belgique“ habe zur Studie eines deutschen Mitglie-des der Parlamentarischen Untersuchungsausschusses bemerkt,

„daß die Denkschrift den Einfall in Belgien zwar als unvereinbar mit dem Völkerrecht erklärt, daß er jedoch weit davon entfernt ist, Deutschland deswegen einen schweren moralischen Vorwurf zu ma-chen. Ah! Eine vollständige Verurteilung des Verbrechens von 1914 entreißt man keinem Deutschen!“221

Zu diesem Vorwurf der Brüsseler Zeitung fügte die Redaktion der Volkszei-tung den Kommentar ein „Sehr richtig! Zuerst muß die „Libre Belgique“ uns sagen, was das massenhaft in Belgien konzentrierte französische Militär seit dem 25.Juli dort gesucht hat. Red.“ Weiterhin betonte der Artikel, dass „schon Bethmann Hollweg am 4.August bezüglich der belgischen Neutralität erklärt hat: ‚Wir begehen ein Unrecht und wir werden es wieder gutmachen’“, und suchte damit den Vorwurf der „Libre Belgique“ zu entkräften, in Deutschland

218 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 08.08.1914. 219 Vgl. NUNN, Belgien zwischen Deutschland und Frankreich, S. 106. 220 Vgl. NUNN, Belgien zwischen Deutschland und Frankreich, S. 108. 221 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 31.08.1929.

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wolle man „das im August 1914 an Belgien begangene Unrecht nicht einge-stehen“.222 Noch fünfzehn Jahre nach Kriegsausbruch argumentierte die Volkszeitung also mit der Notwendigkeit der Selbstverteidigung und dem zu Anfang des Weltkrieges entstandenen Vorwurf, Belgien habe seine Neutralitätspflicht nicht erfüllt. Selbst fünfzehn Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges und nach der Verletzung der belgischen Neutralität war dies demnach weiterhin ein Streit-punkt, der die deutsch-belgischen Beziehungen belastete und die Bewohner Eupen-Malmedys wohl besonders beschäftigte, da unter anderem aufgrund dieses Rechtsbruches durch Deutschland Wiedergutmachungen an Belgien geleistet werden mussten und man sich in Eupen-Malmedy selbst als Opfer der durch den Versailler Vertrag geforderten und festgelegten Wiedergutma-chungen sah. So bezog sich der Autor des oben zitierten Artikels dann auch am Ende explizit auf die Annexion, die ebenfalls „ein Unrecht“ gewesen sei, und forderte das Selbstbestimmungsrecht, das man den Eupen-Malmedyern nicht länger vorenthalten dürfe, wenn man wirklich die „moralische Liquida-tion des Krieges“ wolle.223 Ein die deutsch-belgischen Beziehungen und somit auch die Beziehung der Eupen-Malmedyer zum belgischen Staat zusätzlich schwer belastender Streit-punkt war der Vorwurf, die belgische Zivilbevölkerung habe einen hinterhäl-tigen „Volkskrieg“ bzw. „Franktireurskrieg“ geführt.

B. FRANKTIREURS-PROPAGANDA Der Begriff der Franktireurs (frz. franc-tireurs) bezeichnete im Deutsch-Französischen Krieg die Mitglieder der freiwilligen französischen Verbände, die sich in der revolutionären Tradition der „levée en masse“ als Grundlage der neuen republikanischen Armee konstituierten. Die Franktireurs galten nach deutscher Auffassung als illegal, weil sie keine vollständigen Uniformen trugen, und wurden als Gefangene in der Regel exekutiert. Gegen die Bewoh-ner von Dörfern, die Franktireurs Zuflucht gewährt hatten, wurden Kollektiv-strafen verhängt.224 Im Ersten Weltkrieg waren die Erwartungen der deutschen Truppen bei der Invasion im Westen geprägt von den Erinnerungen an den Franktireurskrieg von 1870/71, und es verbreitete sich die Annahme, dass belgische und franzö-sische Zivilisten bewaffneten Widerstand leisten würden.225 Wilde Gerüchte über das „Franktireursunwesen“ steigerten die Anspannung der deutschen

222 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 31.08.1929. 223 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 31.08.1929. 224 Vgl. KRAMER A., „Franktireur“, in: HIRSCHFELD G., KRUMEICH G., RENZ I. (Hrsg.), En-zyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn, 2003, S. 500 (im Folgenden: KRAMER, Franktireur). 225 Vgl. KRAMER, Franktireur, S. 501.

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Soldaten, und ein Großteil marschierte mit der Furcht vor hinterlistigen He-ckenschützen und Franktireurs in Belgien ein.226 Doch nicht nur diese „menta-le Prädisposition“ sondern auch die Bedingungen des modernen Krieges, d.h. Infanteriewaffen mit einer großen Reichweite, die eine Identifizierung des Schützen unmöglich machten, und eine geschickte Rückzugstaktik des belgi-schen Heeres ließen die deutschen Soldaten die Existenz von Franktireurs an-nehmen.227 Die sogenannte „Franktireurs-Psychose“, wie dieses Phänomen später bezeichnet wurde, ließ die Deutschen hinter jedem Busch und jedem Haus heimtückische Freischärler vermuten, die sich nur durch drakonische Strafmaßnahmen abschrecken ließen.228 In der Realität setzte die belgische Bevölkerung der deutschen Invasion kaum Widerstand entgegen229, und in Wirklichkeit gab es 1914 keine Franktireurs, doch existierten sie in der Vor-stellung der deutschen Truppen, die infolgedessen Gewalttaten gegen belgi-sche Zivilisten begingen. Es kam gegenüber der belgischen Zivilbevölkerung zu völkerrechtswidrigen Exekutionen und Gewaltmaßnahmen; in Aerschot erschossen die Deutschen 156 Zivilisten, in Andenne circa 200, und in Ta-mines trieben deutsche Soldaten 400 Menschen zusammen und eröffneten das Feuer auf die Menge, in dem 257 Menschen starben. Das größte dieser Mas-saker erfolgte in Dinant, einem Ort nahe der belgisch-französischen Grenze: dort wurden über 600 Menschen getötet.230 Dies wurde deutscherseits damit rechtfertigt, dass man (von Franktireurs) beschossen worden sei. Hierbei han-delte es sich aber wohl tatsächlich um Schüsse französischer Soldaten von der anderen Seite der Maas.231 Der wohl bekannteste Fall ist der Löwens, in dem nach nächtlichen Geräu-schen von Gewehrschüssen deutsche Soldaten das Feuer erwiderten und schließlich mehrere Deutsche tot aufgefunden wurden. Die deutschen Trup-pen griffen daraufhin die Bevölkerung an. In den folgenden Tagen des „Straf-gerichts über Löwen“ wurden circa 200 belgische Zivilisten getötet, Teile der Stadt zerstört und die berühmte Bibliothek der Stadt brannte ab.232

„Löwen dem Erdboden gleich gemacht. Berlin, 28.August. Ueber die Zerstörung von Löwen, die wegen Schießens der Einwohner auf deutsche Truppen erfolgte, meldet der Kriegsberichterstatter der Vos-sischen Zeitung: Zur gleichen Stunde überschüttete plötzlich die Be-völkerung von Löwen, die bisher friedlich gewesen war, aus allen Fenstern, aus den Kellern und von den Dächern herab die in den

226 Vgl. VAN YPERSELE, Belgien, S. 46f. 227 Vgl. KRAMER, Franktireur, S. 501. 228 Vgl. LEJEUNE, Die deutsch-belgischen Kulturbeziehungen, S. 50. 229 Vgl. STRACHAN H., Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte, München, 2003, S. 73 (im Folgenden: STRACHAN, Der Erste Weltkrieg). 230 Vgl. SCHIVELBUSCH W., Die Bibliothek von Löwen. Eine Episode aus der Zeit der Weltkrie-ge, München, Wien, 1988, S. 14f. (im Folgenden: SCHIVELBUSCH, Löwen). 231 Vgl. STRACHAN, Der Erste Weltkrieg, S. 75. 232 Vgl. VAN YPERSELE, Belgien, S .45.

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Straßen befindlichen ahnungslosen deutschen Wachen, Kolonnen und durchmarschierenden Truppen mit Gewehr- und Pistolenfeuer. Es entwickelte sich dann ein fürchterliches Handgemenge, an dem sich die gesamte Zivilbevölkerung beteiligte. Unseren Soldaten gelang es in kürzester Zeit, der rasenden Bevölkerung Herr zu werden. Leider ist auch bei dem hinterlistigen Ueberfall viel deutsches Blut geflos-sen. Das Gebot der Selbsterhaltung verlangte hier, daß die schwere Schuld, die die Stadt Löwen auf sich geladen hat, sofort und unnach-sichtlich ihre Sühne fand, und so dürfte die alte, an Kunstschätzen reiche Stadt heute nicht mehr sein. Es unterliegt keinem Zweifel: Der Ueberfall in Löwen war behördlich organisiert. [...] Es ist anzuneh-men, daß die Belgier nunmehr zur Vernunft kommen und daß diese letzte Lehre ihnen die Lust zur Fortsetzung des Franktireurkriegs ge-nommen hat.“233

Die Volkszeitung, die ganz der deutschen Kriegspropaganda und Zensur un-terlag, vermittelte das dementsprechende Bild der „hinterlistigen“ belgischen Bevölkerung, die einen Franktireurkrieg gegen die deutschen Truppen führe. Die Zerstörung Löwens wurde als vollkommen gerechtfertigt dargestellt. Im Falle von Löwen ist die wahrscheinlichste Erklärung, dass deutsche Solda-ten, von Alkohol und Franktireurs-Vorstellungen benebelt, sich in der Dun-kelheit gegenseitig für Franktireurs hielten und aufeinander schossen.234 Die Zerstörung Löwens, einer europaweit bekannten Kulturstadt, führte zu einer Distanzierung der Welt von Deutschland und einer Mobilisierung der Entente-Propaganda.235 Die Volkszeitung (als Teil der deutschen Presse) stellte engli-sche und französische Berichte jedoch als Unwahrheiten dar: „Die Engländer und Franzosen erfüllen die Welt mit lügnerischen Berichten über deutsche Grausamkeiten. Auf jede deutsche Darstellung des wahren Sachverhalts set-zen sie sofort eine neue Unwahrheit.“236 Auch in einer in der Volkszeitung abgedruckten Mitteilung des Reichskanzlers an die Vertreter der „United Preß“ und der „Associated Preß“, die das Ausland über die „Lügenhaftigkeit“ der „niederträchtigen“ Berichte über Anlass des Krieges und die deutsche Kriegführung aufklären sollte, wurde betont, England habe einen „Feldzug der Lüge“ gegen Deutschland „eröffnet“. Die englische Regierung erzähle ihren Landsleuten, dass „deutsche Truppen belgische Dörfer und Städte nie-dergebrannt haben“, dabei aber verschweige sie „dass belgische Mädchen wehrlosen Verwundeten auf dem Schlachtfelde die Augen ausgestochen ha-ben.“

„[...] Beamte belgischer Städte haben unsere Offiziere zum Essen ge-laden und über den Tisch hinüber erschossen. Gegen alles Völker-recht wurde die ganze Zivilbevölkerung aufgeboten, die sich im Rü-

233 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 02.09.1914. 234 Vgl. SCHIVELBUSCH, Löwen, S. 15. 235 Vgl. SCHIVELBUSCH, Löwen, S. 26. 236 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 09.09.1914.

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cken unserer Truppen nach anfänglich freundlichem Empfang mit versteckten Waffen und in grausamster Kampfesweise erhob. Belgi-sche Frauen haben Soldaten, die sich, im Quartier aufgenommen, zur Ruhe legten, die Hälse durchschnitten.“237

In den ersten Kriegwochen kamen zahlreiche Gerüchte dieser Art über angeb-liche Gräuel der belgischen Zivilbevölkerung gegen die deutschen Truppen auf238. In einem Artikel unter der Überschrift „Die belgischen Franktireurs“ berichtete die Volkszeitung wie folgt:

„[...] Es ist nicht nur von den Deutschen, sondern auch von unpartei-ischen holländischen Augenzeugen festgestellt, dass die Bevölkerung verräterisch auf die geringe zurückgebliebene Besatzung mit Geweh-ren und sogar Maschinengewehren geschossen hat. Es ist durch amt-liche Erhebungen festgestellt, daß Frauen und Mädchen sich am Kampfe beteiligt haben, daß deutschen Verwundeten von Mädchen die Augen ausgestochen worden sind. So sieht die friedliche Bevöl-kerung von Löwen aus, deren sich die deutschen Soldaten in mehr als 24stündigem Kampfe zu erwehren hatten! [...] Es kann rechtlich gar keinem Zweifel unterliegen, daß das belgische Franktireur-Wesen mit all den Mitteln der Hinterlist und des Meu-chelmordes, denen leider nur zu viele brave Soldaten zum Opfer ge-fallen sind, nichts mit regulärem Krieg zu tun hat, und daß dagegen die schärfsten Mittel angewendet werden müssen. Das Schicksal der Stadt Löwen, das jeder kunstsinnige und humane Mensch in Deutsch-land bedauert, ist durch die eigene Bevölkerung herbeigeführt wor-den, nicht durch deutschen Vandalismus.“239

Es gelang nie einen einzigen Franktireur zu überführen, und auf der Seite der Alliierten wurde das deutsche Vorgehen als völkerrechtswidrige Kriegsgräuel verurteilt, auf deutscher Seite aber als gerechtfertigte Maßnahme gegen einen illegalen Volkskrieg angesehen.240 Marc Bloch hat sich in einem Aufsatz zu „Falschmeldungen im Krieg“ mit dem Problem der Franktireurs auseinander-gesetzt und die Entstehungen derartiger „Legenden“ darzulegen versucht. Er argumentiert, dass mit der ersten Strafaktion seitens des deutschen Heeres die Franktireurs zur unumstößlichen Tatsache werden mussten: „Eine Legende, die zu aufsehenerregenden und vor allem grausamen Handlungen geführt hat, ist so gut wie unzerstörbar.“241 Die deutsche Propaganda und Presse war dem-

237 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 12.09.1914. 238 Vgl. KRAMER A., „Greueltaten.“ Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich 1914, 15.06.2005, URL: www.erster-weltkrieg.clio-online.de/_Rainbow/documents/keiner%20f%C3%BChlt% 20 sich%202/kramer.pdf, S. 87. 239 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 09.09.1914. 240 Vgl. KRAMER, Franktireur, S. 501. 241 BLOCH M., Falschmeldungen im Krieg – Überlegungen eines Historikers, in: DERS., Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft, hrsg. von SCHÖTTLER P., Frankfurt a.M., New York, 2000, S. 204.

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entsprechend gezwungen, an die Existenz der Franktireurs zu glauben, an der Propaganda festzuhalten und die Grausamkeit der belgischen Zivilbevölke-rung betonen, um das deutsche Vorgehen zu rechtfertigen. Die alliierte Propaganda schlachtete die deutschen Massaker an insgesamt etwa 5.000 belgischen Zivilisten in der Anfangsphase des Krieges massiv aus, und die Deutschen rechtfertigten ihr völkerrechtswidriges und brutales Vor-gehen gegen die Zivilbevölkerung mit dem Hinweis auf belgische Frankti-reurs.242 In der Volkszeitung finden sich zahlreiche weitere Berichte von durch belgische Franktireurs verübten Grausamkeiten, die den oben zitierten gleichen243, und auch die Eupener Zeitungen berichteten vom Franktireurs-krieg.244 Der Streit über die angeblichen Franktireurs und die Grausamkeiten der deut-schen Armee dauerte auch nach Ende des Krieges lange an und es gab ver-schiedene Berichte deutscher und belgischer Untersuchungs-kommissionen.245 Der belgischen Regierung wurde vorgeworfen, sie habe diesen „Volkskrieg“ nicht zu unterbinden versucht, und auch das Dawes-Abkommen und die Ver-träge von Locarno konnten die vergifteten Beziehungen zwischen Deutsch-land und Belgien und das Problem der Kriegsschuld bzw. die Frage nach dem sogenannten Franktireurskrieg nicht klären.246 Noch 1929 berichtete die Volkszeitung von deutschen Untersuchungen zur Frage der Franktireurs, die zu dem Schluss gekommen seien, in Belgien habe

„man sich so sehr in die Rolle des Märtyrers hineingelebt, die die En-tente-Propaganda Belgien im Weltkrieg zugewiesen hatte, dass man davon nicht mehr loskommen kann. Das wird bei der von belgischer Seite immer wieder beliebten Diskussion über den Franktireurkrieg und über die sogenannten deutschen Greuel in Belgien während des Weltkrieges besonders deutlich.“247

Belgien verbreite „Hetzbroschüren mit einseitigen Behauptungen“ und Belgi-en wolle „ein Sündenbekenntnis von Deutschland erreichen, eine moralische Wiedergutmachung, wie man sich ausdrückt, der dann natürlich, wenn sie erst ausgesprochen wäre, sofort materielle Forderungen folgen würden“.248 Es wird deutlich, wie sehr dieser Streitpunkt die deutsch-belgischen Bezie-hungen belastete und dass die Frage nach den Franktireurs auch ein die Be-

242 Vgl. VAN YPERSELE, Belgien, S. 46. 243 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 12.08.1914 („Der Deutschenhaß in Belgien“); Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 22.08.1914 (Die Feststellung der belgischen Schandtaten“); Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 02.09.1914 („Gegen die Verleumdung der deutschen Kriegführung“); Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 09.09.1914 („Die belgischen Franktireurs“). 244 Vgl. Eupener Zeitung, 12.08.1914 („Ein Hohn auf jedes Völkerrecht“); Eupener Zeitung, 19.08.1914. 245 Vgl. VAN YPERSELE, Belgien, S. 47. 246 Vgl. LEJEUNE, Die deutsch-belgischen Kulturbeziehungen, S.48. 247 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 09.11.1929. 248 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 09.11.1929.

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völkerung von Eupen-Malmedy betreffender Punkt war. Während des Krieges stand man ganz unter dem Einfluss der deutschen Franktireurs-Propaganda, und schließlich sollte man nach dem Krieg in diese „hinterlistige“ Gesell-schaft eingegliedert werden, deren Zivilbevölkerung „an heimtückischen Ueberfällen auf unsere Truppen“ und an „bestialische[n] Grausamkeiten, die an Verwundeten verübt worden sind“, beteiligt gewesen war.249 Abschließend bleibt festzuhalten, dass die deutsche Invasion Belgiens sowie die Franktireurs-Kontroverse Gefühle tiefer Feindseligkeit zwischen Deut-schen und Belgiern hervorriefen, die durch die deutsche Besetzung Belgiens während des Krieges noch verschärft wurden. Das Land wurde, in den Worten Henri Pirennes, „une nation emprisonée“250. Die deutschen Besatzer beuteten die Wirtschaft und Ressourcen des Landes aus und deportierten insgesamt circa 120.000 Belgier zur Arbeit in Deutschland. Ein amerikanischer Bericht an die Reparationskommission schätzte den Belgien zugefügten Schaden auf 23 Mrd. Gold Francs.251 Die durch das Reich verursachten hohen Opfer Belgiens erschwerten eine Bewältigung des Krieges und bedingten ein auf Jahre gespanntes Verhältnis zwischen den beiden Staaten. Dies stellt einen entscheidenden Faktor für die Identitätsbildung der Bevölkerung Eupen-Malmedy-St.Viths dar, die während der Nachkriegsjahre in diese gegnerische belgische Gesellschaft eingegliedert werden sollte.

249 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 02.09.1914. 250 PIRENNE, Henri, La Belgique et la Guerre Mondiale, Paris, 1928, S. 66. 251 Vgl. ENSSLE, Stresemann’s territorial revisionism, S. 3.

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VI. VERSAILLER VERTRAG UND ZWISCHEN-KRIEGSZEIT: DIE ANGLIEDERUNG UND VOLKS-BEFRAGUNG

A. DER VERSAILLER VERTRAG - STARKES GEMEIN-SCHAFTSGEFÜHL ANGESICHTS DER FRIEDENS-BEDINGUNGEN

Am Ende des Krieges zogen sich Teile der deutschen Armee durch das Eifel- und Venngebiet zurück, worauf der Einmarsch der siegreichen Truppen folg-te, und im Dezember 1918 wurde der Kreis Eupen von französischen, der Kreis Malmedy von britischen Truppen besetzt.252 Den Einwohnern der Krei-se Eupen und Malmedy wurde die Niederlage Deutschlands auf diese Weise deutlich vor Augen geführt.253 Das Vierzehn-Punkte-Programm des amerikanischen Präsidenten Wilson, das die allgemeine Friedensgrundlage für die Nachkriegsordnung bilden sollte, beinhaltete unter anderem im 7.Punkt die Wiederherstellung der ungeschmä-lerten Souveränität Belgiens.254 Wilsons Vierzehn Punkte und das Selbstbe-stimmungsrecht der Völker gaben jedem Bürger das Recht, auf dem Wege demokratischer Abstimmungen zu entscheiden, zu welchem Staat seine Hei-mat gehören sollte. Jede Minderheit konnte dieses Selbstbestimmungsrecht einfordern, um das von ihr besiedelte Gebiet unter die Souveränität des Staa-tes gleicher Sprache und Kultur zu bringen. Aus diesem Grunde richtete die Friedenskonferenz ihr Augenmerk insbesondere auf zweisprachige Gebiete, so auch auf die Region um Malmedy und St.Vith.255 Die Reaktionen auf die Friedensbedingungen der Alliierten stellen sich in Eu-pen und Malmedy ebenso dar wie im restlichen Deutschland: Besonders die Gebietsverluste im Osten, aber auch die Abtretung Elsaß-Lothringens an Frankreich, der Verlust aller Kolonien sowie der nach den Regelungen des Vertrages zu erwartende Verlust Nordschleswigs an Dänemark und Eupen-Malmedys an Belgien wurden als besonders bitter empfunden. Die wirtschaft-lichen Belastungen und vor allem die vom so genannten „Kriegsschuldartikel“ (der Deutschland und seinen Verbündeten die Verantwortung für den Krieg und somit für alle Kriegsschäden der Alliierten zusprach) eingeleitete Wie-dergutmachungsverpflichtung riefen ein starkes Gefühl der Demütigung her-vor.256 Dieses in der Bevölkerung verbreitete Gefühl der Erniedrigung spie-

252 Vgl. LENTZ, Wahlverhalten in den Kantonen, S. 10. 253 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 61. 254 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 250. 255 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 62. 256 KRÜGER P., Versailles. Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und Friedenssiche-rung, München, 1986, S. 13.

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gelte sich in der Berichterstattung der Volkszeitung über die Forderungen der Alliierten wider: Es wurde behauptet

„…daß seit den Anfängen der Geschichte der Menschheit nie einem besiegten Volke als Preis des Friedens so überaus drückende und für eine nachhaltige Wirkung auf Generationen berechnete Bedingungen auferlegt worden sind. Was bedeutet dagegen das für die tiefste Er-niedrigung eines Besiegten bisher als Schulbeispiel hingestellte Ver-fahren der römischen Feldherren, die in ihren Triumphzügen den Bli-cken der Römer die unter der Last klirrender Ketten dahinkeuchen-den Geiseln unterworfener Stämme zur Schau boten?“257

In demselben Artikel wurden die territorialen Forderungen als „schmerzliche Amputation“ bezeichnet. Auch in Eupen-Malmedy, das selber Objekt solcher Forderungen geworden war, breitete sich die Empörung über die Friedensbe-dingungen aus, in der Grenzregion trat eine starke nationalistische Einigkeit zutage, ein Gemeinschaftsgefühl. Die Ungewissheit über die politische und wirtschaftliche Zukunft förderte noch während der Verhandlungen in Versai-lles eine durch deutschen Patriotismus gefestigte kollektive Identität, man schloss sich dem Protest gegen die Friedensbedingungen an. Hier zeigt sich die Identität der Eupen-Malmedyer als Deutsche, die sich als Teil der unge-recht behandelten deutschen Schicksalsgemeinschaft sahen:

„Zu Tode getroffen liegt die ehedem so stolze Mutter Germania im Staube der Schmach….“258 „Aber nicht die Regierung allein entfaltet alle Kräfte, um den Ver-band zu Zugeständnissen zu veranlassen. Auch das Volk in seinen breiten Schichten scheint aus der Lethargie der letzten Monate er-wacht zu sein und hat sich überall zu spontanen Aeußerungen des Protestes erhoben. Es waren Tage machtvoller Kundgebungen, die wir soeben erlebt haben. Und in allen Teilen des Reiches, ‚soweit die deutsche Zunge klingt’, fand dieses Bekenntnis zum gemeinsamen Vaterland kräftigen Widerhall, überall reichen deutsche Brüder ei-nander die Hand in seltener Einigkeit.“259

Auch ein Artikel eines einheimischen Autors260, der unter der Überschrift „Was ist der Staat?“ die Aussage traf „Gemeinsame Not und Schicksalsge-meinschaft begründen den Staat. Es ist Schicksals-verbundenheit“261 scheint zu diesem Zeitpunkt – drei Wochen, nachdem in der Volkszeitung die Eupen-Malmedy betreffenden Artikel des Versailler Vertrages veröffentlicht worden waren262 - nicht zufällig auf der Titelseite zu erscheinen, ebenso wie ein am 257 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 17.05.1919. 258 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.07.1919. 259 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.05.1919. 260 Der Artikel ist mit dem Kürzel H.St. versehen, das 1919 und in den 1920ern vermehrt auftritt. 261 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 14.06.1919. 262 Vgl. Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.05.1919.

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12.07.1919 erschienener Artikel zu einer Wallfahrt nach Heimbach, die eine große Zahl von Teilnehmern aufwies und hier als ein „Zeichen der Zeit“ be-trachtet wurde, als ein Schritt zurück zur „Beachtung der guten, alten, deut-schen Sitten und Gebräuche.“263 Die Volkszeitung berief sich so auf deutsche Wertvorstellungen, die einen wesentlichen Pfeiler der kollektiven Identität der Bevölkerung Eupen-Malmedys ausmachten, und bezog stellvertretend für ihre Leser und trotz der Genehmigungspflicht der Presse durch die britischen (ab 20.08.1919 durch die belgischen) Militärbehörden Stellung gegen eine Ablö-sung vom deutschen Vaterland. 264 Doch mit der Abtretung an Belgien befand sich die Bevölkerung in einer von ihren deutschen Brüdern und Schicksalsgenossen isolierten Position. Sie wur-den einer Siegermacht zugesprochen, wobei das gegenseitige Bild noch ge-färbt war durch die Kriegs- (z.B. Franktireurs-) Propaganda – sie wurden zu einer Minderheit innerhalb des (im Kriege gegnerischen) belgischen Staates, was ihren Zusammenhalt nach innen, ihre kollektive Identität in Abgrenzung zur belgischen „Wirtsgesellschaft“ stärkte. Die Bevölkerung Eupen-Malmedys wurde also einem Staat eingegliedert, der - wie im vorangegangenen Kapitel geschildert - unter der deutschen Besat-zung erhebliche Repressalien und Grausamkeiten erfahren hatte, und der auf der anderen Seite den Neu-Belgiern während des Krieges durch die deutsche Propaganda als Heimat der hinterlistigen Franktireurs beschrieben worden war. Die gegenseitigen Vorurteile sowie die Situation der Bevölkerung Eu-pen-Malmedys als Angehörige des unterlegenen und schuldigen Deutschen Reiches, die sich nun den Belgiern unterzuordnen hatten, erschwerten eine Assimilation und mussten zur Ausbildung einer starken kollektiven Identität innerhalb der Gruppe der Eupen-Malmedyer führen. Die deutsche Abtretung der Gebiete um Eupen, Malmedy und St.Vith wurde von der belgischen Delegation als eine Wiedereingliederung einst unrechtmä-ßig abgetrennter Gebiete dargestellt; man berief sich dabei auf die Schlussakte des Wiener Kongresses, durch die die Gebiete ohne Rücksicht auf sprachliche Gegebenheiten von den Herzogtümern Limburg, Luxemburg und der Fürstab-tei Stavelot-Malmedy abgetrennt worden seien. Die verschiedenen Argumente der belgischen Delegation zur Eingliederung der Kreise können hier nicht im Detail aufgeführt werden. Letztendlich aber wurde die Angliederung des Kreises Malmedy mit der Existenz einer frankophonen Minderheit und damit als ethnologisch begründete Forderung dargestellt, während die Ansprüche auf den Kreis Eupen im Sinne einer Reparationsleistung erhoben wurden265, und weiterhin begründet wurden durch die engen wirtschaftlichen Beziehun-

263 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 12.07.1919. 264 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 43 zur Pressezensur der Militärbehörden. 265 Die Wälder des Kreises Eupen sollten als Ersatz für die im Krieg zerstörten belgischen Forsten dienen; vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 259.

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gen zu Neutral-Moresnet, dessen Annexion schnell zugunsten Belgiens ent-schieden worden war.266 Darüber hinaus sollte die Erwerbung der Kreise eine Verbesserung der strategischen Situation an der belgischen Ostgrenze bewir-ken267: man argumentierte, das Gebiet um Eupen und Malmedy habe als Aufmarschgebiet für die deutsche Armee gedient und auch militärisch interes-sante Objekte wie der Truppenübungsplatz Elsenborn und die Vennbahn wa-ren Gründe für die Gebietsforderungen Βelgiens. Schließlich stimmten auch Großbritannien und die Vereinigten Staaten der Abtretung zu, jedoch unter der Voraussetzung, dass der Bevölkerung die Möglichkeit des Protestes gegen diese Entscheidung gegeben werden sollte.268 Die oben genannten Gründe für die Abtretung wurden auch der Bevölkerung schon im Juni 1919 mitgeteilt:

„Aus der Antwortnote. Eupen und Malmedy gehören zwar seit 1814 zu Preußen, die wallonische Sprache hat sich zwar nur bei ein paar tausend Menschen erhalten, aber das Land ist eine ‚Angriffsbasis ge-gen Belgien’ geworden. ‚Strategische Linien führen hindurch’. Dem-nach sei die Vereinigung dieses Landes mit Belgien gerechtfer-tigt.“269

Doch auch die Tatsache des Bruches der belgischen Neutralität durch Deutschland und das oben zitierte Versprechen Bethmann-Hollwegs zur Wie-dergutmachung führten zu den belgischen Forderungen.270 Die Übertragung Moresnets und der Malmedyer Wallonie (der auch der Süd- und Ostteil des Kreises Malmedy mit der Stadt St.Vith hinzugerechnet wurden) fand schon zu Beginn der Verhandlungen die Zustimmung der Mitglieder der „Commission of Belgian Affairs“.271 Sowohl auf belgischer als auch auf deutscher Seite be-stand Interesse an diesem Grenzgebiet, und beiderseits begründete man dies mit der Existenz nationaler Minderheiten272. Die deutsche Delegation protes-tierte in ihrer Antwort auf die am 7.Mai überreichten Friedensbedingungen entschieden gegen die Abtretung Eupen-Malmedys und wies auf das preußi-sche Nationalgefühl nicht nur der deutschsprachigen Bevölkerung, sondern auch der Malmedyer Wallonen hin.273 Diese überwiegend deutsch geprägte Identität betonte auch der Kreistag des Kreises Malmedy, der sich dagegen

266 Vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 8. 267 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 68. 268 Vgl. ROSENSTRÄTER , Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 125. 269 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.06.1919. 270 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 23. 271 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 257; (Die vom Obersten Rat der Alliierten eingerichtete Kommission für die belgischen Angelegenheiten, der Vertreter der fünf Großmächte Frankreich, England, Amerika, Italien und Japan angehörten, sollte über die belgischen Ge-bietsforderungen beraten und entscheiden; vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 69). 272 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 60. 273 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 260.

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aussprach, „den Kreis Malmedy oder einen Teil desselben vom Deutschen Reiche loszureißen“, da er

„in seinem ganzen Umfange einschließlich der preußischen Wallonie während 1200 Jahren stets zu Deutschland und niemals – die kurze Zeit der französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß ausge-nommen – zu einem anderen Staatengebilde gehört hat. Der Kreistag bittet aufs dringendste, bei der kommenden Friedenskonferenz auch dem Kreise Malmedy das allen Volksstämmen zugesicherte Selbstbe-stimmungsrecht, gegebenenfalls durch Erwirkung einer Geheimab-stimmung der Bevölkerung zu wahren.“274

Die Grundsätze des Selbstbestimmungsrechtes mussten auch für das deutsch-belgische Grenzgebiet eine entscheidende Bedeutung haben, die rund 10.000 Wallonen hatten die gleiche Sprache und Kultur wie das angrenzende Belgi-en, sie würden die Möglichkeit bekommen, über die Zugehörigkeit ihrer Hei-mat zu entscheiden275, ebenso forderte die deutschsprachige Bevölkerung an-gesichts der drohenden Abtretung ihr Recht auf Selbstbestimmung. Der Ver-trag von Versailles wurde am 28.Juni 1919 unterzeichnet und trat am 10.Januar 1920 in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt erhielt Belgien die Souveränität über Eupen-Malmedy und übernahm die Durchführung der Volksbefra-gung.276

B. DIE VOLKSBEFRAGUNG – UNRECHTSERFAHRUNG ALS STÄRKUNG DER „IMAGINED COMMUNITY“

Schon im März 1919 wurde den Bewohnern des deutsch-belgischen Grenzge-bietes der auf sie zukommende Wechsel der Staatsangehörigkeit bekannt ge-geben.

„Reuter meldet aus Paris vom 8. d. M.: Die Kommission für belgi-sche und dänische Angelegenheiten hat im Prinzip ihre Zustimmung zu den belgischen Forderungen betr. Malmedy und Umgebung gege-ben. In belgischen Kreisen erklärt man, daß dies zur Folge haben wird, daß die Friedenskonferenz ihre Zustimmung zur Angliederung dieses Gebietes an Belgien geben wird.“277 „Die Zukunft Eupens und Malmedys. Laut Meldung aus Paris wer-den während der sechs Monate, die auf die Inkraftsetzung des Frie-densvertrages folgen, durch die belgischen Behörden in Eupen und Malmedy Listen ausgelegt werden. Die Bewohner der genannten Ge-biete werden das Recht haben, darin schriftlich ihrem Wunsche Aus-druck zu geben, ob diese Gebiete ganz oder teilweise unter deutscher Oberherrschaft erhalten bleiben sollen.“278

274 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 08.03.1919. 275 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 68. 276 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 83. 277 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 12.03.1919. 278 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 14.05.1919.

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Die englischen und amerikanischen Mitglieder der Kommission hatten eine einfache Annexion des Kreises Eupen abgelehnt und verlangten zumindest die Möglichkeit eines förmlichen Protestes der Bevölkerung. Dementsprechend wurde jedoch keine Volksabstimmung, sondern nur eine Volksbefragung er-reicht. So formulierte der Artikel 34 des Versailler Vertrages im ersten Absatz die Angliederung, im zweiten Absatz das Selbstbestimmungsrecht der Bevöl-kerung Eupen-Malmedys, die die Chance bekommen sollte, die Rückgliede-rung ihrer Heimat unter die deutsche Souveränität zu bewirken.279 Doch in der Volkszeitung wurde bereits im Juli 1919 ein Artikel veröffentlicht, der den Lesern deutlich machte, dass es keine mit den anderen Abstimmungsgebieten vergleichbare Volksabstimmung geben werde, und der die in der Bevölkerung vorherrschende Stimmung veranschaulicht:

„Wird eine Volksabstimmung sein? Nein, es wird keine Volksab-stimmung geben. [...] Artikel 34 des Friedensvertrages erklärt, daß diejenigen Einwohner der Kreise Malmedy u. Eupen, die nicht damit einverstanden sind, belgisch zu werden, gegen diese Einverleibung protestieren können, indem sie ihre Na-men in die in Malmedy und Eupen offen liegenden Listen eintragen können. Dieser Artikel ist trotz aller Einwendungen Brockdorffs nicht geändert wor-den. [...] Das ist auch eine Art Volksabstimmung; aber eine negative Volks-abstimmung. Die Unzufriedenen mögen sich melden! – Wer sich nicht mel-det, zeigt, daß er zufrieden ist. Anm. d. Red.: Fortgesetzt hört man Zweifelsäußerungen, nämlich, daß es noch nicht sicher sei, daß unsere Gegend belgisch würde. Die-se Zweifel werden nun vollends durch folgendes, vom 15. d. Mon. datierendes Telegramm aus Berlin aus dem Wege geräumt. Es lautet: [...] Deutsche Regierung bittet in Note an Clemenceau um Namhaft-machung einer Kommission zur ‚Durchführung des Friedensvertra-ges hinsichtlich Eupens und Malmedys’. ‚Durchführung des Friedensvertrages hinsichtlich Eupens und Mal-medys’ bedeutet mit anderen Worten Uebergabe der Verwaltungsge-schäfte bezw. des Gebietes Eupens und Malmedys an Belgien.“280

Die Unzufriedenheit mit den für Eupen-Malmedy getroffenen Friedensbedin-gungen wird ebenso deutlich wie eine Resignation, die sich aus der Überzeu-gung ergibt, das Schicksal der Kreise sei ohnehin bereits beschlossen. So be-tonte die durch die Redaktion eingefügte Anmerkung explizit die Übertragung der Gebiete an Belgien, nannte aber nicht die Möglichkeit, diese Entscheidung rückgängig zu machen. Die betroffene Bevölkerung scheint in der anstehen-den Volksbefragung keine wirkliche Chance der Einflussnahme auf ihr Schicksal, d.h. auf ihre zukünftige Staatsangehörigkeit, gesehen zu haben. Der Einzug der belgischen Truppen im August 1919, die Versorgung mit belgi- 279 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 78. 280 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 19.07.1919.

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schen Lebensmitteln und insbesondere die Versicherung der Siegermächte, dass die Kreise nun zu Belgien gehörten, sowie die Absperrung vom besetzten deutschen Gebiet schienen die neue Zugehörigkeit zum belgischen Staat zu einer unabänderlichen Tatsache zu machen.281 Hinzu kam, dass es der deut-schen Regierung nicht mehr möglich war, die Bevölkerung der Kreise auf offiziellem Wege über ihre Bemühungen in der Sache Eupen-Malmedy zu unterrichten, sodass das Gefühl eines ungerechten Schicksals und der Macht-losigkeit in den Kreisen wuchs, was wiederum zu einer Stärkung des Zusam-mengehörigkeitsgefühls der „imagined community“ der betroffenen Bevölke-rung führen musste. Die neue Situation ließ eine stärkere Orientierung nach dem Vaterland Deutschland sowie einen größeren Zusammenhalt innerhalb des Eupen-Malmedyer Bevölkerung im Sinne einer Schicksalsgemeinschaft entstehen. Meldungen wie die folgende, die – für Moresnet, das sofort und ohne Volks-befragung an Belgien übergehen sollte – davon berichteten, man habe bei ei-ner Entscheidung für die deutsche Staatsangehörigkeit das Land zu verlassen, sorgten für die Verbreitung eines Gefühls der Unsicherheit, da man für die Kreise Eupen und Malmedy ebenfalls fürchtete, im Falle eines Einspruchs gegen die Angliederung des Landes verwiesen zu werden.

„Die Zukunft Moresnets [...] Die Bewohner werden Belgier. Diejenigen, welche deutscher Ab-stammung sind, haben innerhalb zweier Jahre das Recht, sich für die deutsche Nationalität zu erklären. Sie müssen dann in einem Jahre das Land verlassen. (Art. 34ff des Friedensvertrages).“282

Insgesamt zeugt die Berichterstattung von einer großen Resignation und scheint in der Bevölkerung aufgrund der noch unklaren Verhältnisse und der Unvollständigkeit der Informationen beträchtliche Unsicherheit hervorgerufen zu haben. In Eupen gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass die Bevölkerung einen Wechsel der Staatsangehörigkeit wünschte283, und der bäuerliche Teil der Re-gion (um Malmedy und St.Vith) war vorwiegend prodeutsch eingestellt, auch da landwirtschaftliche Produkte in Deutschland besser abzusetzen waren. Im Kreis Malmedy wohnte nur eine geringe Zahl von Arbeitern, die aber auf-grund der großzügigeren deutschen Sozialfürsorge ebenfalls eher prodeutsch waren; die Arbeiter des Kreises Eupen, die größtenteils in der Aachener bzw. Stolberger Industrie arbeiteten, waren folglich radikal prodeutsch einge-stellt.284 Ab dem 23. Januar 1920 (bis Juli) gab es für die wahlberechtigten Einwohner der Kreise Eupen und Malmedy die Möglichkeit, sich in Listen

281 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 110. 282 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 22.10.1919. 283 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 76. 284 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 91.

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einzutragen, um so ihre Wünsche zu äußern, ob das Gebiet entweder komplett oder teilweise unter deutscher Souveränität bleiben sollte. Es wurden zwei Listen ausgelegt, eine in Eupen und eine in Malmedy, die wochentags für fünf Stunden und Feiertags für drei Stunden geöffnet waren.285 Diese Verfahrens-weise brachte es mit sich, dass viele potentielle Wähler kaum die Möglichkeit hatten, sich in die Listen einzutragen, da sie entweder durch die zu große Ent-fernung oder aber durch die begrenzten Öffnungszeiten daran gehindert wur-den.286 Eben diese Umstände der Volksbefragung wurden im Nachhinein wie-derholt kritisiert und dienten als Argumente für eine Ungültigkeit des Ergeb-nisses, da

„es für die Bewohner vieler Ortschaften nur möglich war, zur Ab-stimmung zu gehen, wenn sie sich einen bis anderthalb Tage auf Rei-sen nach Malmedy begeben hätten.; ganz abgesehen davon, daß sie damals wegen der Besatzung wirklich nicht den Mut dazu hatten“287

Die Distriktkommissare Xhaflaire und Schnorrenberg hatten die Aufsicht über die Listen, Eintragungen waren nur in ihrer Anwesenheit möglich.288 Ab-stimmungswillige wurden von den Kommissaren durch längere Befragungen über die Gründe ihres Protestes und auch durch Überredung, bürokratische Einwände oder gar durch Drohungen an der Abgabe ihrer Stimme gehin-dert.289 Der Kreis der Personen, die berechtigt waren an der Volksabstimmung teilzunehmen, umfasste 33.726 Einwohner der Region (von insgesamt 63.940).290 Da aber, wie auch die Volkszeitung am 31.07.1920291 berichtete, nur 271 Personen durch Eintragung in die Listen namentlich Protest gegen die Angliederung an Belgien erhoben, wurden die beiden Kreise am 20.September 1920 durch den Völkerbundsrat endgültig Belgien zugespro-chen.292 Im Nachhinein erscheint es fragwürdig, dass man die Durchführung solch eines entscheidenden Plebiszits der am Resultat interessierten Macht Belgien überließ. Man konnte nicht von einer neutralen Vorgehensweise aus-gehen, wie es beispielsweise bei der Volksabstimmung im Saargebiet im Ja-nuar 1935 der Fall war, die nach Artikel 49 des Versailler Vertrages zum ers-ten Mal unter der Aufsicht des Völkerbundes stand. Eine Volksabstimmung, wie sie für die übrigen deutschen Grenzgebiete teil-weise vorgesehen war, setzt voraus, das jeder Abstimmungsberechtigte in ei- 285 Vgl. ENSSLE, Stresemann’s territorial revisionism, S. 27. 286 Vgl. ENSSLE, Stresemann’s territorial revisionism, S. 27. 287 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 09.08.1924. 288 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 123. 289 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 283. 290 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 123. Eintragungsberechtigt waren alle Männer und Frauen deutscher Staatsangehörigkeit, die mindestens 21 Jahre alt wa-ren und schon am 01.08.1914 in den Kreisen gewohnt hatten; vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 9. 291 Vgl. Malmedy-St.Vither Volkszeitung , 31.07.1920. 292 Vgl. LEJEUNE, Die deutsch-belgischen Kulturbeziehungen, S. 119.

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ner geheimen Wahl für das eine oder andere Land stimmen kann.293 In Eupen-Malmedy allerdings wurde die Befragung von den belgischen Behörden durchgeführt, die ein Interesse an der Beibehaltung der Angliederung hatten. Zwar sollte der Völkerbund die endgültige Entscheidung über die Zugehörig-keit des Gebietes treffen, doch beaufsichtigte er nicht die Abstimmung, die zudem nicht geheim war. In allen anderen Gebieten, denen durch den Versail-ler Vertrag eine Abstimmung zugesprochen worden war, wurde diese mit den Mitteln eines demokratischen Wahlverfahrens durchgeführt294, es gab keine Parallele zu den Verhältnissen in Eupen-Malmedy. Dies trug sicher dazu bei, dass die Bevölkerung Eupen-Malmedys sich besonders ungerecht behandelt fühlte, was den anstehenden Assimilationsprozess erschweren sollte und die Entwicklung einer kollektiven „Widerstands-Identität“295, die sich aus der Re-sistenz gegen eine ungerechte Herrschaft legitimiert, zur Folge haben könnte. So kam es beispielsweise vor, dass der für Büllingen zuständige belgische Unterkommissar alle Personen, die sich in die Listen eingetragen hatten, von allen durch das Gouvernement verfügten Vergünstigungen (Zuteilung belgi-scher Lebensmittel, Umwechslung der Mark in Franken, Ausfuhr von Waren usw.) ausschloss. Obwohl Baltia die Anwendung dieser Verordnung verbot, war sie in einem derart begrenzten Gebiet bald allen Einwohnern bekannt, was dazu führte, dass die Bevölkerung fürchtete, durch Wahrnehmung ihres Protestrechtes wirtschaftliche Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Hinzu kam, dass sich die Meinung gefestigt hatte, die Kreise blieben in jedem Falle belgisch, und so unter den Abstimmungsberechtigten die Befürchtung be-stand, der Listeneintrag sei mit einer Option für Deutschland gleichzusetzen und man könne nach der endgültigen Angliederung des Landes verwiesen werden.296 Diese Besorgnis führte gerade in einem bäuerlichen Gebiet wie dem Kreis Malmedy, in dem die Bevölkerung von ihrem Besitz und dem Land abhängig war, dazu, dass die Abstimmungsbereitschaft zurückging. Während der Zeit der Abstimmung konnte die Eupen-Malmedyer Lokalpresse – und somit auch die Malmedy-St.Vither Volkszeitung – aufgrund der Best-immungen Baltias das gesellschaftliche Gespräch in den Grenzkreisen nicht adäquat wiedergeben. Der einzige zu diesem Thema vermittelte Inhalt war das von Baltia am 26.01.1920 erlassene Dekret zur Ausführung der Volksbefra-gung297 und die Bekanntgabe des Ergebnisses (s.o.). Die außerordentlich rege geführte Diskussion konnte in der Lokalpresse nicht ausgedrückt werden.298

293 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 262. 294 So Schleswig, Oberschlesien, Westpreußen, usw.; vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 79. 295 Vgl. S. 24. 296 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 128. 297 Vgl. Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 31.01.1920; „Beschluß, die Volksabstimmung be-treffend“. 298 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 163.

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Hinweise auf die Stimmung in der Bevölkerung und die Einschätzung der Volksbefragung bieten nur Artikel wie der oben zitierte vom 19.07.1919 (S.57f.) und vor allem auch die in Folge der Volksbefragung gehäuft auftre-tenden Meldungen zu Protesten der deutschen Regierung gegen die Verfah-rensweise in Eupen-Malmedy beim Völkerbundsrat. Aufgrund der Anweisun-gen Baltias durfte die Presse zwar nur die Antwortnoten der Alliierten und nicht die Noten der deutschen Regierung abdrucken, die um eine Milderung der Friedensbedingungen ersuchten299, doch hielt die Presse durch die regel-mäßige Berichterstattung zu den deutschen Versuchen den Gedanken auf-recht, dass diese ungerechte Abtretung und Abstimmung nicht akzeptiert wer-den könne. So informierte sie am 18.09.1920, dass am folgenden Tage Ver-handlungen im Völkerbundsrat über Eupen-Malmedy stattfinden werden und berichtete von einer belgischen Note an den Völkerbundsrat in Erwiderung einer deutschen Note, die verlangt hatte, „dass das Ergebnis der Volksbefra-gung für nichtig erklärt und vom Völkerbund eine neue vorgenommen wer-de“300. Geschickt vermittelte sie auf diesem Wege, dass die deutsche Regie-rung gegen die Abtretung der Kreise vorging. Derartige Meldungen zum „deutschen Protest gegen die Volksbefragung in Eupen und Malmedy“ und den alliierten Antwortnoten erschienen in regelmäßigen Abständen301, ergänzt von Artikeln, die beispielsweise Einwände gegen die Friedensbestimmungen als „Stimmen der Vernunft“, die „die Revision des Vertrages von Versailles verlangen“, bezeichneten.302 Nach der endgültigen Angliederung infolge der Volksbefragung waren die Einwohner nun gezwungen, sich tatsächlich und ohne Hoffung auf Revision auf die neue Situation einzustellen. Die strenge Abriegelung von Deutschland intensivierte in Eupen-Malmedy das Gefühl der Verlassenheit und die kollek-tive Identität der Bevölkerung als abgetrennte Minderheit in einem fremden Staat. Doch wurde die sogenannte Volksbefragung in den folgenden Jahren zum Kristallisationspunkt der gesamten lokalen Diskussion und Politik in Eu-pen-Malmedy. Die geradezu unvorstellbar niedrige Zahl derjenigen, die von ihrem Protestrecht Gebrauch gemacht und sich in die Listen eingetragen hat-ten, war eines der Hauptargumente gegen die Gültigkeit und für eine Wieder-holung der Volksbefragung.303 Auch in den folgenden Jahren der fünfjährigen Übergangszeit war Kritik an dieser Abstimmung aufgrund der Zensur und des möglichen Verbotes durch den Kommissar nur bedingt möglich. Die Stel-lungnahmen der Volkszeitung zu dieser zweifelhaften Befragung und zum Gouvernement der folgenden Jahre - soweit sie möglich waren - werden im Folgenden genauer betrachtet.

299 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 148. 300 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 18.09.1920. 301 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 25.09.1920. 302 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 27.11.1920. 303 Vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 10.

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C. ÜBERGANGSZEIT UNTER BALTIA (1920-25) – UNZU-FRIEDENHEIT MIT DEM GOUVERNEMENT

Die Einsetzung des Gouverneurs Baltia zum 10.1.1920 organisierte Eupen-Malmedy unter einem wenig demokratischen System. Baltia vereinigte die gesetzgebende und ausführende Gewalt in einer Hand. Ob unter einem derar-tigen System eine demokratische Volksbefragung überhaupt möglich gewesen wäre, ist zweifelhaft. Der einzelne Bürger hätte gegen einen Gouverneur, der mit Hilfe seiner Kommissare die Ausgabe der Lebensmittel kontrollierte, über große Militär- und Polizeikräfte verfügte und praktisch Vollmachten eines Alleinherrschers besaß, protestieren müssen.304 Nach der Übernahme der Verwaltung Eupen-Malmedys durch das Gouver-nement machte Baltia im März 1920 drei Lokalzeitungen zu seinen amtlichen Bekanntmachungsorganen:

„Alle Dekrete und Beschlüsse des Gouvernements Eupen-Malmedy sind jeden Samstag in folgenden Zeitungen bekanntzugeben.: 1. La Warche in Malmedy 2. Die Malmedy-St.Vither Volkszeitung in St.Vith 3. Das Korrespondenzblatt in Eupen […]“305

Die Volkszeitung wurde so zum einzigen deutschsprachigen Blatt des Kreises Malmedy, das die Bekanntmachungen Baltias veröffentlichte, und der Status der „Amtlichkeit“ hob die Zeitung im Ansehen der Leser. Über diese Amtli-chen Bekanntmachungen hinaus vermittelten die Zivilkommissare den Redak-teuren der Zeitungen Richtlinien für die Art und Weise der Darstellung der Politik des Gouvernements in Eupen-Malmedy. So wurde die Volkszeitung dazu angehalten, ihren Lesern deutlich zu machen, dass „der jetzige politische Zustand auf Jahre hinaus bestehen bleibt, was auch schon daran zu erkennen sei, daß Eupen und Malmedy durch den Haut Commissaire royal für sich verwaltet werde.“306 Andererseits berichtete die Zeitung auch von einem Besuch Baltias in St.Vith im Mai 1920 und wiederholte bei dieser Gelegenheit explizit die Aussage ei-ner Begrüßungsansprache, mit der Baltia im Januar in Malmedy empfangen worden war.

„Sie werden von den Bewohnern der neuerworbenen Lande gewiß nicht verlangen, dass sie heute verbrennen, was sie gestern noch ge-liebt haben; daß sie von heute auf morgen verleugnen was sie bisher-an geachtet und verehrt haben. […]“307

304 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 103. 305 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 03.04.1920. 306 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.01.1920. 307 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 12.05.1920.

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Diese Aussage illustriert die Einstellung der Bevölkerung, die nicht bereit war, ihre deutsche Identität und ihre eigene Mentalität als Malmedyer / St.Vither, die sich Deutschland zugehörig fühlten, zu verleugnen und sich den Friedensbedingungen der Alliierten zu unterwerfen und Belgien vorbehaltlos unterzuordnen. So hob Hermann Doepgen in einem Artikel selbst hervor, dass die Teilnahme der Einwohner St.Viths am Besuch des Gouverneurs nur aus „Höflichkeitsgründen“ erfolgt sei:

„Was das Verhalten des St.Vither Publikums anbetrifft, so muß man sagen, dass es in gelassener Weise als Zuschauer zur Seite stand wäh-rend es als selbstverständlich bezeichnet werden muß, daß die vom Staatsoberhaupt geladenen Vereine dem an sie gestellten Verlangen, sich an dem Aufzuge zu beteiligen, aus traditionellen Höflichkeits-gründen entsprechen mußten.“308

Während der Baltia-Zeit in Eupen-Malmedy gab es mehrere Kritikpunkte der neubelgischen Bevölkerung, die die Assimilation in den neuen Staat er-schwerten. Eine einschneidende Konsequenz des Staatswechsels war der Geldumtausch, den die belgische Regierung im März 1920 begann.309 Die Einführung der Frankenwährung war prinzipiell ein Vorteil, da in Deutsch-land bereits die Entwertung des Geldes und Anfänge der Inflation eingesetzt hatten, und sie bedeutete aufgrund des notwendigen großen finanziellen Op-fers des belgischen Staates ein großes Entgegenkommen der Regierung.310 Trotz des günstigen Wechselkurses brachte der Geldumtausch den meisten Einwohnern jedoch Verluste und ließ Unzufriedenheit entstehen. Die Volks-zeitung publizierte mehrere Artikel zur „Unzulänglichkeit des Umtausches“, die „in Stadt und Land eine schlechte Stimmung hervorgerufen“ habe.311 Diese Problematik stellt einen weiteren Faktor in der Identitätsfindung der Eupen-Malmedyer dar, da die entstandene Unzufriedenheit eine Assimilation erschwerte und daher eine Stärkung der kollektiven Identität in Abgrenzung von Belgien begünstigte. Jedoch konnte sie hier nur kurz angedeutet werden, da im Folgenden der Fokus auf den die Kreise ständig belastenden und durchweg diskutierten Themen der Volksbefragung und der Angliederungs-frage liegen soll. Denn spätestens 1923 begann in der Öffentlichkeit und Pres-se Eupen-Malmedys die Diskussion um das mögliche Ende des Sonderre-gimes und die endgültige Angliederung an den belgischen Staat.312 Diese Fra-

308 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 12.05.1920 (mit dem Kürzel hd versehener Artikel). 309 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 310. 310 Vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 133f. 311 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 12.01.1921; weiterhin: 29.01.1921; 25.01.1922. Zur Pro-blematik des Geldumtausches vgl. DOEPGEN, Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy, S. 133f.; PABST, Eupen-Malmedy, S. 310ff.; BARIÉTY J., Le projet de retrocession d’Eupen-Malmedy par la Belgique à l’Allemagne , et la France (1925-26). Un cas d’utilisation de l’arme financière en politique internationale. 312 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation,S. 211.

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ge hing in der Berichterstattung der Volkszeitung allerdings untrennbar zu-sammen mit der Frage nach der Legitimität der Abtretung und der Volksbe-fragung. Um den Schein der gesicherten Pressefreiheit zu wahren, betrieb das Gouver-nement Baltias keine offene Pressezensur, sondern eine unterschwellige Reg-lementierung und versuchte, Verbote von Zeitungen zu vermeiden.313 Doch wurde die Malmedy-St.Vither Volkszeitung – wie in Kap. 1.3 bereits erwähnt – im November 1924 verboten314, da sie sich an der Diskussion zur Angliede-rung der Kreise an Belgien beteiligte und entgegen der Aufforderung des Gouvernements, dies zu unterlassen, wiederholt Meinungsbeiträge eines St.Vithers, möglicherweise Doepgens selbst, vermittelte und die Wiederho-lung einer diesmal geheimen und unbeeinflussten Volksabstimmung verlang-te:

„Solange die Volksbefragung, die uns nach dem Kriege hier vorge-gaukelt wurde, nicht in juristisch einwandfreier Form wiederholt worden ist, solange hat niemand – nota bene! – niemand das Recht, sich in der Angliederungsfrage zu betätigen. Wo bleibt das von den Alliierten geprägte Wort von dem Selbstbestimmungsrecht der Völ-ker, das sie so lange während des Krieges in die Welt hinausposaun-ten, […] Die verfehlte Volksbefragung für die Kantone muß wiederholt wer-den und zwar unter dem Vorsitze eines Neutralen und unter Mitwir-kung von deutschen und belgischen Autoritäten, d.h. in diesem Falle Völkerrechtskundige. Das Volk wird dann entscheiden, nach welcher Seite hin es angegliedert zu werden wünscht. Aber nicht nur in Mal-medy darf eine Liste ausliegen – sondern in jedem Bürgermeisterei-endorfe. […] Und hat das Volk in dieser Art und Weise entschieden – nach Malmedy wagte ja s. Zt. keiner hinzugehen – dann ist eine Rechtsgrundlage geschaffen, nach der entschieden werden kann. Achtung also vor dem Selbstbestimmungsrecht der Völker! Achtung auch vor der Autorität des Volkes! Die Stimme eines Rufenden in der Wüste.“315

Mit der Betonung, dass in jedem „Bürgermeistereiendorfe“ eine Liste auszu-liegen habe, bezog sich der Autor des Artikels darauf, dass in Befolgung des Art.34 des Versailler Vertrages, der besagte, dass „Register in Eupen und Malmedy durch die belgische Behörde offengehalten“ werden sollten, nur in Eupen und Malmedy Listen ausgelegt wurden, was aber „nicht im Sinne der Urheber des Vertrages gelegen“ habe, wie auch ein Artikel im August erneut hervorhob. Unter „Eupen und Malmedy“ sei „der ganze Bezirk zu verstehen gewesen“ und „Die Meinung des Volkes ist jedenfalls die, dass ohne regel-

313 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 75. 314 Extrablatt der Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.11.1924. 315 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.07.1924.

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rechte Abstimmung eine Angliederung an Belgien nicht stattfinden darf“.316 Auch die Angst der Bevölkerung vor zu erwartenden Repressionen wurde angeführt, keiner habe gewagt nach Malmedy zu gehen. Insgesamt verlangte der „Rufer in der Wüste“, der unter der Rubrik „Stimmen aus dem Publikum“ schrieb, also statt der zu erwartenden (und 1925 erfolg-ten) endgültigen Angliederung in mehreren Artikeln eine Wiederholung der Volksbefragung, da „man mit der sogenannten Volksabstimmung, die keine Volksabstimmung war, ganz und gar unzufrieden“ sei.317 In einem Artikel zur Angliederungsfrage argumentierte er mit den Worten des Sozialistenführers Vandervelde, der nun auch zu dem Schluss gekommen sei, „daß der soge-nannte Volksentscheid mit registre ouvert eine Komödie gewesen ist, die kein Bild der wahren Stimmung der Bevölkerung ergeben hat“318. Der Autor der Artikel artikulierte die in der Bevölkerung vorherrschende Stimmung, die sich ungerecht behandelt fühlte, da ihnen keine wirkliche Abstimmungsmöglich-keit geboten worden war. Eine derartige Situation stärkte die Identifikation des Einzelnen mit der Gemeinschaft und mit der kollektiven Identität, deren Stärke, wie in Kapitel 3.1 festgestellt, davon abhängig ist, wie sehr sie im Bewusstsein der Gruppenmitglieder verankert und lebendig ist.319 Das Selbst-empfinden als Minderheit und die Erfahrung der Ungerechtigkeit der Abtre-tung und Volksbefragung wirkten in Eupen-Malmedy als starker Identitäts-stifter. Die Resistenz gegen eine bestehende Herrschaft (hier das Gouverne-ment Baltia) kann laut Kaelble320 Grundlage der kollektiven Identität sein, und die als ungerecht empfundene Behandlung (die Abtretung und Volksbefra-gung) bedingte eine Stärkung oder Weiterentwicklung der kollektiven Identi-tät.321 Obwohl auch die übrigen Zeitungen Eupen-Malmedys (die „Warche“ ausge-nommen) ähnliche Meinungen zur Angliederungsdiskussion äußerten und eine Wiederholung der Volksbefragung forderten – wenn auch nicht in der-selben Deutlichkeit und Schärfe – wurde nur die Volkszeitung per Dekret des Malmedyer Gouvernements verboten322, und zwar für die Dauer vom 25.11. bis 08.12.1924, was sie in ihrem Extrablatt mitteilte.

„Das Dekret gibt als Ursache an, dass in letzter Zeit gewisse Veröf-fentlichungen in der Malmedy-St.Vither Volkszeitung […] geeignet sind, die Bevölkerung zum Aufruhr aufzureizen und die öffentliche Ruhe und Ordnung zu gefährden […]“323

316 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 09.08.1924. 317 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 09.08.1924. 318 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 30.08.1924. 319 Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 132. 320 Vgl. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 19. 321 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 197. 322 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 76. 323 Extrablatt der Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 24.11.1924.

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Noch im folgenden Jahr setzte die Volkszeitung sich erneut mit diesem Ver-bot auseinander und behauptete, sie habe „in ritterlicher Art und Weise für gewisse dem betrogenen Volke vorschwebende Ziele […] die Klinge“ ge-schwungen, der Gouverneur aber habe durch sein

„ungerechtes und robustes Eingreifen in die Existenz einer Zeitung und die flagrante Missachtung der Pressefreiheit sich die Letzten, die noch vom menschlichen Standpunkte aus den Gouverneur achteten, verscheucht.“324

Die Assimilation der beiden Kreise durch Baltia scheiterte demzufolge an der Unzufriedenheit der Bevölkerung, die aufgrund des verlorenen Weltkrieges, der als erbarmungslos empfundenen Friedensbedingungen des Versailler Ver-trages, aber vor allem aufgrund der Abtrennung von Deutschland und der un-korrekt durchgeführten Volksbefragung sowie der Regierung durch Baltia eine nach innen immer gefestigtere Gruppe bildete. Es erfolgte eine Abgren-zung dieser „imagined community“ vom belgischen Staat und eine innere Konsolidierung der kollektiven Identität durch einen Bezug auf gemeinsame Wertvorstellungen und Erinnerungen an die Zugehörigkeit zum deutschen Vaterland.

324 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 15.07.1925.

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VII. DIE WAHLEN ALS AUSDRUCK DES REVISIONIS-MUS IN EUPEN-MALMEDY NACH DER ENDGÜL-TIGEN EINGLIEDERUNG IN DEN BELGISCHEN STAAT

A. DIE WAHLEN 1925 – DIE NEUBELGISCHEN „STIEFBRÜ-DER“ DER KATHOLISCHEN PARTEI

Nachdem die Bewohner Eupen-Malmedys während der Übergangszeit unter dem Gouvernement Baltia (1920-25) nicht an den Parlamentswahlen hatten teilnehmen können, ermöglichte der Beschluss des belgischen Parlaments vom März 1925 zur Eingliederung der Kantone Eupen, Malmedy und St.Vith den Neubelgiern die Teilnahme an den Parlamentswahlen von 1925. Bis 1923 hatte es in Eupen-Malmedy keinerlei politische Organisationen gegeben; erst die Gemeindewahlen und vor allem das seit 1923 immer bedeutender werden-de Thema der Aufhebung der Übergangsregierung führten zu einem wachsen-den politischen Engagement in den Kreisen: die „Christliche Volkspartei für Eupen Stadt und Land“ wurde gegründet, während sich die sozialistische Meinungsgruppe in der „Belgischen Arbeiterpartei“ organisierte, und auch die Liberalen eine Organisation in Eupen-Malmedy hervorbrachten.325 Die Lo-kalpresse übernahm in diesem Prozess sehr bald eine Artikulationsfunktion und setzte sich, sozusagen als Ersatz für die nicht vorhandene parlamentari-sche Vertretung Neubelgiens, für die Interessen der Einwohner ein.326 Vor allem die Diskussionen um die endgültige Angliederung wurden von der Presse aufmerksam verfolgt und nahmen in der Berichterstattung einen hohen Stellenwert ein: Das absehbare Ende des Gouvernements und die Frage, ob die Kantone an den nächsten Wahlen teilnehmen und so über das eigene Schicksal würden mitbestimmen können, waren die meist besprochenen Punkte.327 Zu Beginn des Jahres 1925 häufen sich die Artikel zur Frage der Angliederung und des Status Eupen-Malmedys.328 Das am 6.März vom belgischen König unterzeichnete Gesetz zur Eingliede-rung teilte Eupen-Malmedy dem Verwaltungsbezirk Verviers und der Provinz Lüttich zu.329 Nachdem so die Teilnahme an den Wahlen gesichert war, be- 325 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 16. 326 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 16. 327 Eupen-Malmedy musste vor den Wahlen einem Bezirk zugeordnet werden um an den Wah-len teilnehmen zu können; vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 30. 328 Vgl. z.B. Malmedy-St.Vither Volkszeitung 14.02.1925 („Angliederung der Kreise Eu-pen-Malmedy an das Arondissement Verviers“); 18.02.1925 („Die Frage Eupen-Malmedy“); 21.02.1925 („Die Angliederung“); 28.02.1925 („Der Anschluß Neubelgiens an Altbelgien“) usw. 329 „Loi de rattachement des cantons d’Eupen, de Malmedy et de St.Vith“, 6.3.1925; vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 31.

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zeichnete die Presse die Möglichkeit der politischen Mitbestimmung als histo-rischen Vorgang. Die Möglichkeit, an der Gestaltung der eigenen Zukunft politisch beteiligt zu sein, wurde sehr positiv aufgenommen und hatte ein be-trächtliches politisches Engagement zufolge. Schon wenige Tage nach An-nahme des Angliederungsgesetzes fanden in Eupen-Malmedy Wählerver-sammlungen statt, um „eines der vornehmsten Bürgerrechte“, das „langerwar-tete“ Wahlrecht, wahrzunehmen.330 An den auf den 5.April festgesetzten Parlamentswahlen konnte die Bevölke-rung Eupen-Malmedys nun erstmals teilnehmen und war somit, zumindest politisch gesehen, vollständig in den belgischen Staat eingegliedert, und es war ihr erstmals möglich, ihre politische Meinung offiziell zum Ausdruck zu bringen. Da sie dem Bezirk Verviers zugeordnet worden war, wurde hier die Zahl der Abgeordnetenmandate von fünf auf sechs erhöht.331 Aufgrund des Wahlverhaltens der Eupener und Malmedyer Bevölkerung vor der Abtretung an Belgien konnte sich unter den altbelgischen Parteien die Katholische Par-tei332 die größten Hoffnungen auf Stimmengewinne in Neubelgien machen. Denn das Zentrum war in dieser Region stets unangefochten die stärkste Par-tei gewesen, was größtenteils daran lag, dass es sich wie bereits erläutert bei der Bevölkerung überwiegend um gläubige Katholiken handelte, die aus Glaubens- und Gewissensgründen ausschließlich katholische Kandidaten wählten.333 Die belgischen Sozialisten (Parti Ouvrier Belge/ Belgische Arbeiterpartei) hatten die endgültige Angliederung Eupen-Malmedys abgelehnt, da eine tat-sächliche Volksabstimmung nicht erfolgt sei und zunächst eine nachträgliche Realisierung des Selbstbestimmungsrechtes erfolgen müsse. Sie hatten sogar die Schaffung eines eigenen Wahlbezirks vorgeschlagen, um den Neubelgiern die Chance zu geben, an den zukünftigen Entscheidungen zu ihrer Region mitzuwirken und ihre Meinung zu äußern. Obwohl diese Vorschläge nicht verwirklicht wurden, zeigen sie, dass die Arbeiterpartei die deutschsprachige Minderheit als solche anerkannte und deren Streben nach Selbstbestimmungs-recht unterstützte.334 Sie betrachteten die Teilnahme der Eupen-Malmedyer an den Wahlen als eine Art Ersatz für die Volksbefragung.335 Die Tatsache, dass die Eingliederung in den Wahlbezirk Verviers die Chance der Eupen-Malmedyer auf Entsendung eines eigenen Kandidaten erheblich verminderte und dass man auf das Wohlwollen der altbelgischen Parteien an-gewiesen war (da diese dem Eupen-Malmedyer Kandidaten einen guten Platz auf den Vervierser Listen gewähren müssten), schien den im belgischen

330 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 11.03.1925. 331 Vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 11. 332 Im Folgenden abgekürzt als Kath. Partei. 333 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 12. 334 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 135. 335 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 34f.

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Wahlverfahren unerfahrenen Eupen-Malmedyern und ihrer Presse im März 1925 noch nicht klar zu sein und stieß daher nur auf wenig Kritik.336 Da die altbelgische Kath. Partei den Eupen-Malmedyern die Gelegenheit zur Bestimmung eines eigenen Kandidaten bot, strebten die Christliche Volkspar-tei für Eupen Stadt und Land und die im Kath. Komitee organisierten Katho-liken Malmedys und St.Viths eine Zusammenarbeit mit der Kath. Partei an. Man wollte eine Isolierung des Kandidaten für Eupen-Malmedy in der Kam-mer verhindern, und die Kath. Partei bot sich als Partner an, da man in ihr am ehesten einen Ersatz für die deutsche Zentrumspartei sah.337 Die Kath. Partei Verviers sollte den Kandidaten der neubelgischen Gebiete auf einem sicheren Listenplatz aufstellen. Auf einer Wählerversammlung in St.Vith wurde

„darauf bestanden, daß der erste Kandidat Neubelgiens entweder an sicherer Stelle der Wählerliste des Wahlbezirks Verviers, mindestens aber an dritter Stelle, aufzuführen sei, oder, wenn diese Vergünsti-gung uns nicht gewährt werde, eine Sonderliste für den Kandidat Neubelgiens zu präsentieren sei.“338

Die Forderung wurde erfüllt, indem der zum Kandidat der Neubelgier be-stimmte deutschstämmige Vervierser Anwalt Dr. Jenniges, „ein Kind unserer Gegend“339, den dritten Listenplatz hinter den beiden Spitzenkandidaten der Kath. Partei einnahm.340 Im Wahlkampf mussten sich die Christliche Volks-partei für Eupen Stadt und Land und die Malmedyer und St.Vither Katholiken mit ihrem Kandidaten Jenniges der allgemeinen Aussage der Katholischen Partei anschließen, wonach man von einer endgültigen Angliederung Eupen-Malmedys ausging und eine neue Volksabstimmung nicht in Frage kam. Ob-wohl also seitens der Eupen-Malmedyer Katholiken grundsätzlich bezüglich der Forderung nach Wiederholung der Volksbefragung ein Konsens mit den Sozialisten bestand, musste Jenniges auf die mehrfach an ihn gerichtete Frage, ob er in der Kammer eine neue Volksabstimmung beantragen werde, auswei-chend antworten. Daher führte das Zusammengehen mit der altbelgischen Kath. Partei dazu, dass die besonderen Interessen Eupen-Malmedys und die Forderung nach einer neuen Abstimmung im Wahlkampf der Eupen-Malmedyer Katholiken eine eher untergeordnete Rolle spielen mussten.341 Die Forderung der Sozialisten nach einer neuen Volksabstimmung tat man als lee-re Wahlkampfversprechen ab, der sozialistische Politiker Vandervelde habe schließlich selbst den Versailler Vertrag unterschrieben.342

336 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 241. 337 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 38. 338 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 11.03.1925. 339 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 07.03.1925. 340 Spitzenkandidaten David und Winandy, vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 39. 341 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 39. 342 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 40.

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„…das Eintreten der belgischen Sozialisten für die Nichtangliederung Eupen-Malmedys und geheime Volksabstimmung sei nur Wahlma-növer um möglichst viele Stimmen in Eupen-Malmedy zu erhalten. Erst in der Angliederungsdebatte […] seien die belgischen Sozialis-ten für die genannten Wünsche der Bevölkerung Eupen-Malmedys eingetreten, die sie zuvor nicht beachtet hätten!“343

Nicht nur Plakate und Versammlungen, sondern vor allem auch die lokale Presse dienten der Christlichen Volkspartei und den Katholiken als Mittel zur Verbreitung ihrer Wahlpropaganda, insbesondere die EN und die Volkszei-tung, aber auch die „Semaine“ vertraten die katholische Meinung innerhalb des Wahlkampfes.344 So veröffentlichte die Volkszeitung mehrere Wahlaufru-fe folgender Art, die die Hauptpunkte des katholischen Wahlkampfes deutlich werden lassen:

„An die Christliche Bevölkerung. Wollt Ihr, daß Eure Kinder auch fernerhin christlich erzogen werden? Wollt Ihr den Schutz Eurer reli-giösen Ueberzeugungen? Wollt Ihr, daß Eure Heimat ihren deutsch-sprachigen Charakter bewahrt? Wollt Ihr den Schutz Eurer heimatli-chen Sitten und Gebräuche? Wollt Ihr Freiheit und Ordnung? […] stimmt geschlossen einheitlich für die Liste 2 und sichert damit die Wahl des Herrn Dr. Jenniges, Eures Kandidaten! […]“345

Es wird eine in der kollektiven Identität der Eupen-Malmedyer tief verwurzel-te Heimatverbundenheit deutlich, wobei in den Artikeln und Aufrufen der Kath. Partei - aus genannten Gründen - das Hauptaugenmerk mehr auf der regionalen Heimat und weniger auf der Verbundenheit mit Deutschland (und der damit verbundenen Forderung nach einer Wiederholung der Volksbefra-gung) lag. Die Kath. Partei appellierte also insbesondere an die regional ge-prägte Identität der Bevölkerung, die sich aber innerhalb der Gemeinschaft der Eupen-Malmedyer mit einer nach Deutschland orientierten kollektiven Identität überschnitt, welche allerdings im Wahlkampf der Kath. Partei hinter den regionalen Aspekten zurückstehen musste.

„…wählen wir einen Kandidaten, der durch seine Person und Sprache in der Lage ist, unsere Interessen zu vertreten, der aber auch unsere Eigenart, wie sie jedem Landstrich eigen ist, kennt; der seine ganze Kraft hierfür einsetzt, damit das, was wir als Neubelgier mitgebracht haben, Religion, Sitte und Sprache ihre Würdigung findet.“346

Der Gegenkandidat der Belgischen Arbeiterpartei für Eupen-Malmedy war der junge, altbelgische, deutschstämmige Anwalt Somerhausen, der – im Ge-

343 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 11.03.1925 (Zitiert wird hier der katholische Abgeordnete David). 344 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 41. 345 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.04.1925. 346 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 18.03.1925.

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gensatz zu Jenniges, der vor allem den „katholischen Eifelbauern“ anzuspre-chen versuchte – einen rhetorisch brillanten Wahlkampf betrieb.347 Sein Pro-gramm beinhaltete vor allem Forderungen nach Errichtung eines selbstständi-gen Arrondissements Eupen-Malmedy und nach Wiederholung der Volksbe-fragung. So bezogen die Sozialisten deutlich Stellung zu einer Frage, in der sich der Kandidat der Kath. Partei sehr bedeckt halten musste, was das Inte-resse der Bevölkerung an der Arbeiterpartei klar steigerte.348 Der Wahlkampf verlief 1925 relativ ruhig, was im Vergleich mit den Wahlen der folgenden Jahre noch klarer hervortritt, und was wohl auch daran liegt, dass deutsche Stellen aufgrund deutscher innenpolitischer Probleme noch nicht in den Wahlkampf eingriffen: es flossen (noch) keine Gelder zur Unterstützung pro-deutscher Wahlpropaganda.349 Das in der Bevölkerung nach wie vor vorherr-schende deutsche Nationalgefühl kam nur begrenzt zum Tragen, und ein gro-ßer Teil der neubelgischen Bevölkerung hatte noch Vertrauen in die Kath. Partei, die man als Ersatz für die Zentrumspartei betrachtete und von der man sich doch noch eine neue Regelung des Status Eupen-Malmedys erhoffte. Im „Glauben an die noch nicht endgültige Regelung ihrer Staatszugehörigkeit“350 schloss sich der Großteil der Bevölkerung den Katholiken an und bescherte der Kath. Partei einen Stimmenanteil von 66,4% in Eupen-Malmedy, wobei im Kanton St.Vith sogar 82,6% der Stimmen auf die Kath. Partei entfielen (Malmedy 62,7%; Eupen 57,7%). Auf nationaler Ebene hatten die Sozialisten mit 39,43% aller gültigen Stimmen die Wahl gewonnen, während die Katho-liken und ihre Verbündeten 2,65% der Stimmen verloren und nur 38,64% er-reichten. Dank der Stimmen in Eupen-Malmedy aber konnte sich die Kath. Partei mit einem knappen Vorsprung vor den Sozialisten als stärkste Partei im Bezirk Verviers etablieren.351 Jenniges konnte jedoch, obwohl er zunächst als gewählt galt, aufgrund des komplizierten belgischen Listenwahlrechts nicht in die Kammer einziehen, sodass der Sitz auf die Belgische Arbeiterpartei entfiel und die Mehrheit der neubelgischen Wähler nicht direkt in der Kammer ver-treten war. Der Sozialist Somerhausen erreichte einen Stimmenanteil von 25,2%, was immerhin ein Viertel aller gültigen Stimmen in Eupen-Malmedy darstellte. Besonders erfolgreich waren die Sozialisten im Kanton Eupen, wo sie 33,9% der Stimmen gewannen (u.a. zu erklären durch den hohen Arbeiter-anteil), aber auch im Kanton Malmedy konnte man mit 25,5% ein positives Ergebnis verbuchen. Lag in St.Vith der sozialistische Stimmenanteil auch deutlich niedriger (13,5%), so übertraf auch dies frühere Resultate doch bei

347 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 355. 348 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 42. 349 Eine derartige Deutschtumsarbeit entwickelte sich erst nach den Wahlen 1925, vgl. dazu LEJEUNE, Die deutsch-belgischen Kulturbeziehungen, S. 124ff. 350 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 500. 351 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S.47 ff., zu Wahlergebnissen in Eupen-Malmedy vgl. auch Anhang 10.

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Weitem. Diesen Erfolg verdankte die Arbeiterpartei mit Sicherheit ihrer kla-ren Stellungnahme zur Frage einer neuen Volksabstimmung.352 Die Liberale Partei hingegen, die sich größtenteils gegen ein mit sprachlichen und kulturellen Sonderrechten ausgestattetes Neubelgien ausgesprochen hatte, erreichte nur 3,2% der Stimmen in Eupen-Malmedy.353 Eine Partei, die nicht bereit war, die spezifische Identität der Neubelgier auf die ein oder andere Weise zu unterstützen - entweder wie die Kath. Partei im spezifisch regiona-len Sinne oder wie die Sozialisten mit der Forderung nach Selbstbestimmung - fand keine Wähler. Die Wahlergebnisse sprechen eine deutliche Sprache: Offensichtlich bestand weiterhin eine tiefe Verbindung zum Katholizismus und der entsprechenden Partei, allerdings stieg die Zahl der Wähler, die sich in der Hoffnung auf eine neue Volksabstimmung für die Sozialisten entschie-den. Auch ein Großteil der katholischen Wähler erhoffte sich von ihrem Kan-didaten trotz der offiziellen Stellung der Kath. Partei doch noch eine alternati-ve Regelung der Verhältnisse in Eupen-Malmedy. Man war der Überzeugung, dass mit Jenniges, „der selbst deutscher Abkunft ist, ein Kandidat gefunden [worden war], der unsere Interessen gut vertreten wird.“354 Der Faktor der Heimatverbundenheit - sei es der regionalen oder aber der Verbundenheit mit dem deutschen Vaterland - war entscheidend bei der Stimmabgabe. Am 11.April berichtete die Volkszeitung noch, von der katholischen Liste des Wahlbezirks Verviers seien nicht nur die beiden Spitzenkandidaten, sondern auch Jenniges gewählt, von der sozialistischen Liste ebenfalls drei Vertreter, unter ihnen Somerhausen, sodass Neubelgien in Zukunft zwei Vertreter im Parlament hätte, einen sozialistischen und einen katholischen.355 Im Rahmen der endgültigen Auszählungen und Wahlprüfungen wurde Jenniges Mandat annuliert356 und die Enttäuschung in Eupen-Malmedy war groß – konnte das durch die Eingliederung nun enger werdende Verhältnis zum belgischen Staat unter schlechteren Vorzeichen stehen? Die überwiegende Mehrheit der Eu-pen-Malmedyer konnte sich nicht mit Somerhausen identifizieren und so wurde die Nichtbestätigung Jenniges’ zur ersten von vielen Enttäuschungen der folgenden Jahre, die das Vertrauen der Bevölkerung in den belgischen Staat erschütterten.357 In der Region bildete sich im Anschluss an die Wahlen vielerorts das Gefühl, von der Kath. Partei verraten worden zu sein. Dieses Gefühl des Verrats und der Enttäuschung drückte sich auch in einem Artikel aus, der berichtete, die

352 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 50. 353 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S .50. 354 Vgl. Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 25.03.1925. 355 Vgl. Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 11.04.1925. 356 Vgl. Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 20.05.1925, 27.05.1925 („Die belgische Re-gierungskrise“). 357 Vgl. LEJEUNE, Die deutsch-belgischen Kulturbeziehungen, S. 124.

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Delegierten Malmedys seien zu spät zu einer Versammlung der Delegierten der kath. Wahlvereine in Verviers eingeladen worden.

„Die Delegierten im Kreise Malmedy haben die Einladung also wohl erst zu der Zeit vor Augen gehabt, wo in Verviers die Versammlung tagte. Es klingt wie Hohn, wenn man da liest: ‚Daher ist es notwen-dig, daß die Kantone von Neubelgien recht zahlreich vertreten sind.’ Hätte man denn wirklich nicht die Einladung 8 Tage eher abschicken oder die Versammlung 8 Tage später abhalten und die Einladung auch in die St.Vither Zeitung einrücken können? Man befürchtete wohl, dass die Delegierten wieder so zahlreich (100%) kommen wür-den wie damals und bei einer Abstimmung die Mehrzahl haben wür-den. Damals waren die Delegierten aus Verviers und Umgegend nur zu stark 50% vertreten. Oder kann man in Verviers die Sprache des größten Teils der Bevölkerung nicht hören? Durch die Behandlung, die den Stiefbrüdern bis jetzt zu Teil geworden ist, sind dieselben mißtrauisch und nervös geworden. […] muß der Rat gegeben werden, mehr Rücksicht auf die Stiefbrüder zu nehmen. Andernfalls wählen die weiß, d.h. sie schwärzen bei den Wahlen keinen Punkt. Ein Stief-bruder.“358

Die Wahlen von 1925 wurden als Vertrauensmissbrauch der Kath. Partei an den Eupen-Malmedyer Bürgern betrachtet, und man fühlte sich in Neubelgien „stiefbrüderlich“ behandelt. Dieses Verhältnis sollte für die weitere politische Entwicklung und die Ausformung der politischen wie kulturellen kollektiven Identität eine bedeutende Rolle spielen. Eine Heimatbewegung, die eine zu-nehmende Polarisierung innerhalb der Region mit sich brachte, begann sich zu bilden.

B. DIE CVP IN DEN WAHLEN 1929 – DER REVISIONISMUS AUF SEINEM HÖHEPUNKT

In den folgenden Jahren betonte die Katholische Partei wiederholt ihren Standpunkt, dass die „Frage Eupen-Malmedy“ endgültig abgeschlossen sei. Daher wurde sie zum Ziel revisionistischer Angriffe aus Neubelgien. Der hier behandelte Revisionismus der späten Zwanziger Jahre ist eine einheimische Bewegung, die mit der späteren nationalsozialistischen „Heimattreuen Front“ nicht zu vergleichen ist, sondern von den unten aufgeführten Organisationen getragen wurde. Erst nach der Machtergreifung Hitlers sympathisierten Teile dieser Bewegung mit dem Nationalsozialismus.359 Die Revisionsbewegung entstand einerseits aus Enttäuschung an der Kath. Partei, die in der Zeitspanne bis zu den nächsten Parlamentswahlen 1929 der besonderen Lage und den politischen Ansprüchen der Eupen-Malmedyer zu wenig Beachtung schenkte. Diese Unzufriedenheit äußerte sich in der Agitati- 358 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.09.1925. 359 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd.1, S. 134f.

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on von Organisationen wie dem Landwirtschaftlichen Kreisverband Mal-medy360 und in der Bildung weiterer heimattreuer Organisationen wie dem Heimatbund Eupen-Malmedy-St.Vith im Jahre 1926.361 Dieser tarnte seine politischen Ziele hinter der organisatorischen Tätigkeit eines kulturellen Ver-eines, wurde aber bald verdächtigt, ein Zusammenschluss revisionistischer Kräfte in Eupen-Malmedy zu sein. Die vom Heimatbund veranstalteten Ver-sammlungen mit Vorträgen deutscher Zentrumspolitiker oder Redner des VDA beschäftigten sich zwar meist mit unpolitischen Themen, häufig war aber von „Volkstum“ und „Deutschtum“ die Rede.362 Nachdem deutsch-belgische Verhandlungen zur Rückgabe Eupen-Malmedys an Deutschland gescheitert waren363, forderte die neubelgische Presse – auch die Volkszeitung – in einem gemeinsamen Aufruf eine „unbeeinflußte freie und geheime Abstimmung“ von der Brüsseler Regierung, da „die Eupen-Malmedyer Bevölkerung [seit der Abtrennung von Deutschland] von einer ständigen inneren Unruhe nicht frei geworden“ sei.364 Hinter dieser Aktion wurde bald der Heimatbund als Urheber vermutet365 und dementsprechend aufmerksam von der Sûreté Publique beobachtet.366 Über diese Verbände hin-aus und aufgrund der Enttäuschung durch die Katholische Partei wurde schon 1928 unter den katholischen Revisionisten die Möglichkeit der Gründung ei-ner eigenen regionalen Partei erwogen. Besonders der Präsident des Landwirt-schaftlichen Verbandes Joseph Dehottay und der Vorsitzende der CVP für Eupen Stadt und Land Wilhelm Vanderheyden setzten sich für dieses Vorha-ben ein. Man beschloss die Ausweitung der bisher auf Eupen begrenzten CVP auf ganz Neubelgien und entwarf ein Parteiprogramm, das man vor Veröffent-lichung durch eine große Zahl angesehener Eupen-Malmedyer, durch „alle maßgebenden Führer der Landwirtschaft, der Industrie, des Handwerks, der Gewerkschaften und des Klerus“367, unterzeichnen ließ.368 Ein Gründungsauf-

360 Der Landwirtschaftliche Kreisverband Malmedy gab sich einen unpolitischen Anstrich und tarnte seine politischen Ziele und Aktivitäten hinter den wirtschaftlichen Tätigkeiten einer Bau-ernorganisation. Der „Landbote“ als eigenes Presseorgan des Verbandes wurde herausgegeben von Josef Dehottay. Der Verband nutzte seinen wirtschaftlichen Einfluss auf die Bauern bald zu antibelgischer Agitation. Weitere Informationen zum Landwirtschaftlichen Kreisverband und zu überparteilichen Organisationen als Träger des neubelgischen Revisionismus im allge-meinen vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 376-388. 361 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten der Kantone, S. 61. 362 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 380. 363 Auf diese Rückgabeverhandlungen können an dieser Stelle nicht eingegangen werden, vgl. dazu: NUNN C., Belgien zwischen Deutschland und Frankreich 1925-34, München, 1985, S. 62ff. („Koppelung der Markfrage mit dem Eupen-Malmedy-Problem“), (im Folgenden: NUNN, Belgien zwischen Deutschland und Frankreich). 364 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 01.01.1927. 365 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 381. 366 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten der Kantone, S. 61. 367 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 23.01.1929. 368 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten der Kantone, S. 62.

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ruf in der neubelgischen Presse im Januar 1929 betonte, dass die neue Partei „in ihrem Programm auf dem Boden der Deutschen Zentrumspartei“ stehe, aber im Gegensatz zur belgischen Katholischen Partei „eine Lösung der Frage Eupen-Malmedy durch Vornahme einer freien, unbeeinflußten Volksabstim-mung“ fordere. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, sich „im Kampfe um die bedrohten Güter Heimat und Glaube“ zusammenzuschließen.369 Die Diffe-renzen zu den bestehenden belgischen Parteien wurden hervorgehoben370, ins-besondere der Punkt, dass es für die Kath. Partei eine Frage Eupen-Malmedy nicht gebe, die Neubelgier aber niemals vergessen dürften „was uns mit unse-rer engeren Heimat verbindet, was wir in Sprache und Sitte […] ererbt ha-ben“. Die neugegründete CVP berief sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, indem sie äußerte: „Es gibt ein Recht, das nie verjährt und nie verge-hen kann.“371 So fand der Revisionismus und damit die neue Partei vor allem aufgrund der Fehler der Kath. Partei eine starke Grundlage und Unterstützung bei der Bevölkerung. Ein gutes Wahlergebnis für die CVP würde ein Indiz für die gescheiterten Assimilierungsbemühungen und gleichzeitig eine Absage an die von der Kath. Partei in Neubelgien betriebene Politik bedeuten.372 So be-tonte der Sprecher der CVP373 auf der ersten öffentlichen Wahlversammlung am 12.März 1929, man habe sich nach dem Ende der „Diktatur Baltia“ nicht mehr selbst politisch organisieren können, sondern sofort wählen müssen und „mit dem vorlieb nehmen [müssen], was es an politischen Parteien in Belgien gab“374. Auch die Enttäuschung über den 1925 nicht erfolgten Einzug des Kandidaten Jenniges in die belgische Kammer wurde zum Thema und zum Argument gegen die Kath. Partei:

„…Dr.Jenniges […], den die katholische Partei in Verviers an dritter Stelle ihrer Liste setzte, die angeblich sicher sein sollte. Es wurden viele tausend Vorzugsstimmen in unseren Kreisen für unseren Kan-didaten abgegeben. Am Tage nach der Wahl galt unser Kandidat als gewählt, jedoch aufgrund einer Reklamation (der katholischen Partei) wurde nachher errechnet, daß nicht unser Kandidat, sondern an seiner Stelle ein weiterer katholischer Kandidat der Lütticher Liste gewählt sei.“375

Aus diesen Gründen, aber auch weil die katholische Presse den beleidigenden Ausdruck „Boches“ gebrauche und die Kath. Partei nicht davor zurückschre-

369 Alle drei Zitate aus: Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 23.01.1929. 370 „Von der sozialdemokratischen und der liberalen Partei trennen uns heiligste Güter des Glaubens und der christlichen Sitte und Ueberzeugung…“, Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.01.1929. 371 Beide Zitate aus: Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.01.1929. 372 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten der Kantone, S. 62. 373 Stefan Gierets, zuvor Vorstandsmitglied der CVP für Eupen Stadt und Land, später Gründungsmitglied der Heimattreuen Front. 374 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 16.03.1929. 375 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 16.03.1929.

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cke, „zu erklären, man dürfe mit den gefallenen Boches von Eupen-Malmedy kein Mitleid haben“, bestand in der „gesamten einheimischen katholischen Bevölkerung“376 kein Vertrauen mehr in die Partei, der man in Neubelgien 1925 noch einen Stimmenanteil von 66,4% verschafft hatte. Der Vorsitzende der Katholischen Partei Segers warnte die CVP 1929 vor der Wahl eines eine neue Volksabstimmung fordernden Vertreters für Eupen-Malmedy, da an-sonsten die „günstige Einstellung“ der belgischen Regierung zu den übrigen Anliegen Neubelgiens „zum großen Schaden der wirtschaftlichen Interessen ihrer Gegend mit einem Male aufhören“ würde.377 Doch sollte diese Warnung keine große Wirkung zeigen: vor allem aufgrund der in Eupen-Malmedy als mangelhaft empfundenen Politik der Kath. Partei wurde die Gründung der CVP als eine „bittere Notwendigkeit“ angesehen, sie sollte von der „heimatli-che[n] Seele“ durchdrungen und eine „Waffe des Rechts und der Gerechtig-keit“ werden; von dieser neuen Partei der Eupen-Malmedyer sollte „das Wohl und Wehe des Katholizismus, der deutschen Kultur, der Wirtschaft und nicht zu allerletzt das Selbstbestimmungsrecht in Eupen-Malmedy abhängen.“378 Dabei wurde sie unterstützt durch die „wackere Heimatpresse“ – also auch durch die Malmedy-St.Vither Volkszeitung - die, ebenso wie die anderen neubelgischen Blätter, den Gründungsaufruf der CVP379 unterzeichnet hatte. Die Presse hatte sich mit den Zielsetzungen der neuen Partei identifiziert und vertrat ebenfalls die Forderung nach einer neuen Volksabstimmung und einer Rückgabe Eupen-Malmedys an Belgien. Hatte die Volkszeitung noch 1925 den Standpunkt der Kath. Partei vertreten, wurden nun andere Meinungen als die der CVP kaum noch veröffentlicht.380 Der Verleger der Volkszeitung Hermann Doepgen selbst wurde auf einer Tagung der CVP am 8.April 1929 auf die Ersatzliste der Wahlkandidaten gesetzt. Im Rahmen dieser Tagung, von der die Volkszeitung unter der Titelzeile „Für Religion und Heimat!“ be-richtete, wurde Josef Dehottay als Spitzenkandidat der CVP aufgestellt, und er betonte, man müsse „der ganzen Welt zeigen, daß man uns Unrecht getan“ habe.381 Ihre Rolle als „kleine Minderheit innerhalb des belgischen Staates“ war den Eupen-Malmedyern durchaus bewusst, doch wollte man sich „Ach-

376 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 16.03.1929. 377 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 16.03.1929. 378 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 23.03.1929. 379 Vgl. Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.01.1929. 380 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 68. Nur das 1927 gegründete Grenz-Echo stellte sich fortan in den Dienst der Katholischen Partei, später der Katholischen Union und wurde zum Sprachrohr der Rückgabegegner. Zum Grenz-Echo vgl. z.B. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 369ff. und BRÜLS W., Die Eupener Nachrich-ten und das Grenz-Echo 1933-1940. Zwei Eupen-Malmedyer Tageszeitungen und ihr Deutsch-landbild, Universität Löwen, 1991-1992 (im Folgenden: BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deut-schlandbild). 381 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 10.04.1929.

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tung und Respekt verschaffen“. Im Zentrum des Parteiprogramms stand die „über alles geliebte Heimat“ und das „Volkstum“.382 Als Reaktion auf die Bildung der revisionistischen CVP bildete sich am 27.April 1929 die Kath. Union für Eupen, Malmedy und St.Vith als Zweig der altbelgischen Kath. Partei; man erschuf so eine Art regionale Kath. Partei als Gegenpol zur CVP.383 Doch das Programm der neuen Union entsprach dem der Kath. Partei fast völlig, und die neugebildete regionale Partei wurde von der Volkszeitung als „eine auf Stimmenfang in Eupen-Malmedy berechnete Filiale der Katholischen Partei Altbelgiens“ abgetan.384 Aus den in der Volkszeitung veröffentlichten Äußerungen der CVP wird deut-lich, dass diese Partei und die Zeitung den Wahlen eine enorme Bedeutung zumaßen und das Ergebnis als Bewertung der von der Kath. Partei geführten Politik und auch als Zeichen an den belgischen Staat und die europäischen Mächte werteten. In einer Rede auf einer Wahlversammlung betonte Deho-ttay:

„Man müsse in Brüssel es endlich einmal hören, dass die Eupen-Malmedyer unzufrieden seien, dass sie sich nicht als wiedergefunde-ne Brüder betrachteten, und daß sie auf Grund des Selbstbestim-mungsrechtes der Völker ihre Heimatrechte verlangten.“385

Die Kath. Partei hingegen befinde „durch ihre […] Billigung der Annexion sich in schreiendem Widerspruch zu dem Gebot der Gerechtigkeit“386. Die Wahlpropaganda und schließlich der Ausgang der Wahlen gewähren einen durch objektive Zahlen belegbaren Einblick in die politische Orientierung und somit auch in die kollektive Identität der Eupen-Malmedyer: Warb die CVP mit dem Wahlspruch „Für Religion und Heimat“ und tätigte in ihrem Wahl-flugblatt, das übrigens mit einer Auflage von 15.000 Stück in der Redaktion und Druckerei Doepgen entstand, Aussagen, die betonten, dass die Belgier sich nur „einbilden, wir wären ihre ‚wiedergefundenen Brüder’“ und dass die CVP „unsere gute alte Zentrumspartei“387 sei, während hingegen alle anderen Parteien altbelgische seien, und sich demzufolge nicht wie die CVP „in glei-cher Weise für die religiösen und sonstigen gemeinsamen Güter unserer lie-ben Heimat“388 einsetzten, so kann ein Sieg der CVP als Beweis dafür gese-

382 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 10.04.1929. Zum Wahlkampf 1929 und Parteiprogram-men der Katholischen Partei/ Union, der Belgischen Arbeiterpartei und der Liberalen Partei vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten der Kantone, S. 59-96 und NUNN, Belgien zwischen Deutsch-land und Frankreich, S. 78-84. 383 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 76. 384 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.05.1929. 385 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 08.05.1929. 386 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 08.05.1929. 387 Beilage „Für Religion und Heimat“ vom 10.05.1929, Nr. 1, der Malmedy-St.Vither Volks-zeitung vom 11.05.1929. 388 Beilage „Für Religion und Heimat“ vom 17.05.1929, Nr. 2, der Malmedy-St.Vither Volks-zeitung vom 18.05.1929.

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hen werden, dass auch der Großteil der Bevölkerung diese Heimatverbunden-heit teilte und kein Vertrauen zu den altbelgischen Parteien hatte. In ihren Wahlaufrufen machte die CVP deutlich, dass man durch die Wahlen ein Zei-chen setzen könne gegen die Angliederung an Belgien: „Der kommende Wahltag muß eine geheime Volksabstimmung sein, unsere Stimme um Frie-den und Gerechtigkeit wird nicht überhört werden.“389 Sie bot den Wählern Eupen-Malmedys die Möglichkeit, ihrer Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen und ihrem Wunsch nach Rückkehr zu Deutschland Ausdruck zu verleihen, aber auch ihrer religiösen Gesinnung, d.h. dem Katholizismus, ent-sprechend, zu wählen. Und dieses ‚Angebot’ der neubelgischen CVP wurde von der Bevölkerung Eupen-Malmedys durchaus genutzt. Die CVP scheint der unter den Menschen herrschenden Stimmung, dem Gefühl der Schicksals-gemeinschaft und der Abgrenzung von Belgien, am meisten gerecht geworden zu sein. Als „Belgier wider Willen“ wählte der Großteil der Eupen-Malmedyer die Parteien, die sich für eine neue Volksabstimmung einsetzten (CVP und Sozialisten), und besonders die nicht altbelgische, die „eigene“ Par-tei Eupen-Malmedys, erzielte ein hervorragendes Ergebnis. Für die Kath. Par-tei/ Union hingegen fielen die Wahlen katastrophal aus: Sie erreichte nur noch 19,4% der Stimmen, während die CVP mit 52,1% der Stimmen einen Tri-umph feierte und auch die Sozialisten in der rein katholischen Gegend mit 23,3% ein auffallend gutes Ergebnis erzielten.390 Die CVP konnte im agra-risch geprägten St.Vith den größten Erfolg verbuchen, wo sie 66,5% der Stimmen erhielt. Dort war noch 1925 mit 82,6% die Hochburg der Kath. Par-tei gewesen, 1929 musste die altbelgische Partei bzw. ihre regionale Kath. Union dort einen Verlust von 66,7% verkraften! Im Kanton Eupen erreichte die CVP 50,2%, im Kanton Malmedy 43,1% der Stimmen391, sodass die neu-gegründete Partei insgesamt als moralischer Sieger aus den Wahlen ging und sich in ihren Forderungen bestätigt fühlte. Das Ergebnis bewies, dass der überwiegende Teil der neubelgischen Bevölkerung mit der Politik der Kath. Partei unzufrieden war, und – so interpretierten es die CVP und die deutsch-treue Presse – dass die Bevölkerung bei einer Wiederholung der Volksbefra-gung eindeutig für Deutschland stimmen würde. Der Erfolg der CVP und der Arbeiterpartei beweist, wie stark die Front derjenigen in Eupen-Malmedy war, die das Selbstbestimmungsrecht und die Revision des Versailler Vertrages forderten, die revisionistische Bewegung hatte ihren Höhepunkt erreicht.392 Dem Spitzenkandidaten Dehottay gelang es allerdings trotz der für seine Per-son abgegebenen hohen Stimmenzahl nicht, in die belgische Kammer einzu-ziehen, da im Wahlbezirk Verviers insgesamt die altbelgischen Stimmen vor-herrschten. Noch Ende Mai hatte man den Einzug Dehottays gemeldet: 389 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 25.05.1929. 390 Vgl. NUNN, Belgien zwischen Deutschland und Frankreich, S. 79 391 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 93. 392 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 137.

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„Wir waren von Anfang an davon überzeugt, daß Liste 4 mindestens soviel Stimmen erhalten würde, als zur Erlangung eines Mandats nö-tig sei. Wie uns von verschiedenen Seiten mitgeteilt wird, sei, nach dem Wahlquotient zu urteilen, Herr Dehottay als gewählt zu betrach-ten.“393

Doch sollte sich kurz später herausstellen, dass dieses Hauptziel der CVP nicht erreicht worden war. Trotz des Triumphs in Eupen-Malmedy erreichte man im gesamten Wahlbezirk Verviers nur einen Prozentsatz von 12,1%394 und brachte nicht die zum Gewinn eines Mandates notwendige Stimmenzahl auf.395 Doch sahen die CVP-Anhänger die Wahlen dennoch als einen großen Erfolg an, und in der durch die Volkszeitung getroffenen Bewertung der Wahlergeb-nisse werden das Selbstbild, die Identität und die Wünsche der Mehrheit der Eupen-Malmedyer Bevölkerung erneut offensichtlich: Als „ein kleines Häuf-lein von Menschen hineingepfercht […] in einen fremden Staat“396 gründete man eine Partei, deren Hauptziel in den Wahlen erreicht wurde: „Die Sache Eupen-Malmedy ist wieder ins Rollen gebracht“ und „durch seine Abstim-mung hat Eupen-Malmedy wieder das Recht erobert, sich als Glied des gro-ßen deutschen Volkes zu betrachten.“397 Die CVP-Anhänger betrachteten die Wahlen als einen herausragenden Sieg und addierten die Stimmenzahl der Sozialisten zu den der CVP gegebenen Stimmen, um das Vorherrschen des Heimatgedankens, des deutschen Volkstums in Eupen-Malmedy und des Re-visionismus zu belegen. Mit diesen vereinten Stimmen hatten sich 75% der Wähler in Neubelgien für eine neue Abstimmung ausgesprochen398, „und rechnet man die hier ansässigen Altbelgier ab“, kam man zu dem Ergebnis, dass „über 90% [der Neubelgier] sich zur Sache der Heimat bekannt ha-ben.“399

C. DIE WAHLEN 1932 – BEGINNENDE RADIKALISIERUNG UND EINSETZENDER STIMMEN-RÜCKGANG DER REVISI-ONISTEN

Die folgenden Wahlen des Jahres 1932 sollen an dieser Stelle kurz angespro-chen werden, um die Entwicklung der revisionistischen Bewegung in den

393 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 29.05.1929. 394 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 93. 395 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 01.06.1929. 396 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.06.1929. 397 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.06.1929. Der gleiche Artikel („Eupen-Malmedy vo-ran!“) wurde auch im Landboten (5.6.1929) veröffentlicht. Diese heimattreue Berichterstattung wurde also offensichtlich von einem Großteil der Eupen-Malmedyer Leser auch gewünscht und gelesen. 398 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 104. 399 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.06.1929.

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neubelgischen Kantonen im Auge zu behalten, bevor die weitere Entwicklung unter dem Einfluss des Nationalsozialismus in Deutschland betrachtet wird. Nach dem schlechten Abschneiden der Kath. Partei 1929 begann diese, im neubelgischen Gebiet eine den Bedürfnissen der Eupen-Malmedyer besser angepasste und integrative Politik zu betreiben und strebte eine gewisse Auto-nomie des Gebietes an.400 Das Umdenken der altbelgischen Parteien führte jedoch auch zu einer verstärkten Arbeit deutscher Stellen in Eupen-Malmedy – so verwischte in der Arbeit des VDA die Grenze zwischen wirtschaftlichem, kulturellem und politischem Einsatz. Darüber hinaus wurde die CVP ab Ende des Jahres 1929 durch das deutsche Zentrum und den Sonderbeauftragten des Preußischen Innenministeriums Thedieck finanziell unterstützt.401 Die Parlamentswahlen sollten zeigen, ob der Revisionismus in der Zwischen-zeit weitere Anhänger gewonnen hatte oder ob der Kurswechsel der Kath. Partei in ihrer Neubelgien-Politik bereits dazu geführt hatte, die Eupen-Malmedyer besser in den Staat zu integrieren. Der Hauptgegner, die CVP, betonte im Wahlkampf wie schon 1929 den Faktor der Heimat und trat wiede-rum dafür ein, eine neue Volksabstimmung zu erreichen. Spitzenkandidat war erneut Joseph Dehottay, die Volkszeitung veröffentlichte das Programm und ihren ersten Wahlaufruf am 5.November 1932.402 Anlässlich einer „Versamm-lung der Vertrauensmänner“ der CVP am 9.November in St.Vith setzte Deho-ttay sich mit den übrigen Parteien auseinander und erläuterte das Programm der CVP:

„Ist das Freiheit? Ist das Garantie der heimischen Kultur, der Eigenart unseres Volkes, wie es wider besseres Wissen der Wahlaufruf der ‚Union’ behauptet? Warum wird der Heimatbund unterdrückt? Wenn Belgien loyal sein wollte, müsste es diese Kultureinrichtung von Staats wegen unterstützen. Was verlangen wir also, nachdrücklicher denn je: Kulturautonomie! Selbstbestimmung! Wir sind ein Fremd-körper in Belgien. Man kann unserem Volke nicht das alte Herz aus-reißen, um es durch ein Renegatenherz zu ersetzen.“403

Der Wahlkampf sollte durch ein Eingreifen der belgischen Bischöfe am 6. November eine deutliche Verschärfung erfahren. Ein Hirtenschreiben wurde in allen Kirchen des Landes verlesen, das die Notwendigkeit der „Einigung aller katholischen Kräfte auf dem katholischen Gebiete“ betonte, und somit alle Katholiken aufforderte, einig die Kath. Partei zu wählen, da „nur eine in sich gefestigte katholische Partei das Bollwerk unserer religiösen Freiheit sein könne.“404 Doch insbesondere das Eingreifen des Bischofs von Lüttich, der

400 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 111. 401 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 112; zur Deutschtumsarbeit ab 1930 vgl. LEJEUNE, Die deutsch-belgischen Kulturbeziehungen, S. 127-129. 402 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 05.11.1929. 403 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 12.11.1932. 404 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 09.11.1932.

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ein Hirtenschreiben ausschließlich an die Einwohner Eupen-Malmedys richte-te, das am 13.November 1932 in den Kirchen verlesen wurde, verhärtete die Fronten. Darin hieß es, es gebe nur eine Liste, die katholisch genannt werden dürfe, die der Kath. Partei /Union. „Infolgedessen ist es im Gewissen verbo-ten, für eine andere, auch christlich genannte Liste zu wählen oder dieselbe in jedweder Weise zu unterstützen.“405 Die Volkszeitung druckte daraufhin eine Erklärung der CVP zu den Hirtenbriefen, um die für sie absehbar negative Wirkung dieses Hirtenbriefes abzuwehren: „Der Katholik kann und wird sein Gewissen nicht belasten, wenn er die Christliche Volkspartei wählt“, denn die CVP stehe „naturgemäß auf dem Boden der katholischen Weltanschauung“. 406 Im Ganzen ist von 1929 bis 1932 eine klare Radikalisierung des Wahlkampfes zu erkennen, was sich insbesondere an der weiter erstarkenden Orientierung nach Deutschland und an der Wortwahl in der Berichterstattung verdeutlichen lässt: Die Malmedy-St.Vither Volkszeitung enthielt zu diesem Zeitpunkt schon regelmäßig die Beilage „Die deutsche Glocke. Durch ihren Mund von deutschem Land und Volke tut sie kund“. Das Hauptaugenmerk lag auf dem Kampf des „Volkstums“, die Parolen des Wahlkampfes betonten die Zusam-mengehörigkeit der Eupen-Malmedyer als Gruppe und deren Zugehörigkeit zu Deutschland: „Schließt die Reihen, Landsleute! Schützt den Boden eurer Väter!“407 Sich selbst bezeichneten die CVP-Anhänger als „Zwangsbelgier“ und die „Heimattreuen“, die „stolz [waren] auf einen Kampf“, der ihnen den Hass ihrer Gegner zugetragen habe.408 Diese „Gegner“ waren die altbelgi-schen Parteien (v.a. die Kath. Partei) und der belgische Staat mit der als „Mili-tärs und Chauvinisten in Brüssel“409 bezeichneten belgischen Regierung. Den Belgiern wurde vorgeworfen, „Eupen-Malmedy zu einem befestigten Heerla-ger“ ausbauen zu wollen und die Neubelgier im Krieg als „Kanonenfutter“ einsetzen zu wollen410. Insgesamt war also das Vokabular bei den Wahlen 1932 kämpferischer geworden, aus den „Auslandsdeutschen“ waren „Volks-deutsche“ geworden, man kämpfte für die deutsche Kultur und das „Volks-tum“.411 Als vom Reich getrennte deutsche Minderheit definierten die Eupen-Malmedyer ihre kollektive Identität nicht nur als besonders ungebührlich be-handelte Opfer des verlorenen Weltkrieges, sondern aufgrund der zweifelhaf-ten Volksbefragung, des Übergangsregimes Baltias und auch aufgrund der Vorkommnisse der Wahlen 1925 als unter vielen Ungerechtigkeiten leidende Schicksalsgemeinschaft. Die begriffliche Verschiebung von den „Grenz- und

405 E.N. 14.11.1932, zit. n. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 129. 406 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 16.11.1932. 407 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.11.1932. 408 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.11.1932. 409 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 23.11.1932. 410 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.11.1932. 411 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.11.193 (im Artikel „Auf uns blickt die Welt!“).

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Auslandsdeutschen“ zu den „Volksdeutschen“, die sich in den Zwanziger Jah-ren vollzog und auch in Eupen-Malmedy zu beobachten ist, ermöglichte erst die ideologische Überhöhung nach 1933, die auf der Basis genetischer bzw. rassischer Gemeinsamkeiten das deutsche Volk als Einheit konstruierte und so den „Anschluss“ Österreichs, die Annexion des Sudetenlandes und schließlich auch den Angriff auf Polen rechtfertigte.412 Das Übergreifen dieser Ideologie auf die neubelgische Bevölkerung wird Thema des folgenden Kapitels sein. Letztendlich verlor die CVP bei den Wahlen 1932 ihre absolute Mehrheit und erhielt nur noch 45.8% der Stimmen in Eupen-Malmedy-St.Vith. Ihr Spitzen-kandidat Dehottay konnte erneut nicht in die Kammer einziehen.413 Einen be-deutenden Anteil an diesem Stimmenverlust der CVP dürfte der bischöfliche Hirtenbrief gehabt haben, da er sicherlich einen beträchtlichen Teil der Eu-pen-Malmedyer Wählerschaft unter Gewissendruck gebracht hatte. In allen drei Kantonen fiel der Anteil der CVP-Wähler (Eupen: - 0,5% auf 49,7%; Malmedy: -7,5% auf 35,6%; St.Vith -13,8% auf 52,7%), besonders auffällig war der Verlust allerdings in der vorherigen Hochburg St.Vith,414 was evt. durch die rein agrarisch geprägte und daher dem Katholizismus besonders verwurzelte Bevölkerung zu erklären ist. Hierfür spricht auch, dass die Kath. Partei 1932 wieder 31% der Stimmen in Eupen-Malmedy erhielt und im Kan-ton St.Vith den größten Erfolg erreichte: Ihr Anteil stieg von 15,9% auf 33,8%.415 Es ist insgesamt auffällig, dass die Einwohner der gesamten Region, die grundsätzlich katholisch waren, im Laufe ihrer Geschichte wiederholt mit dem Problem konfrontiert wurden, dass ihre religiöse und ihre politische Überzeugung kollidierten. So waren sie im Kulturkampf gezwungen, die „Ri-valität zweier Bewusstseinskomplexe“, den Kampf um den Vorrang von Deutschtum oder Katholizismus, innerhalb ihrer Identität auszuhandeln, und so wurden die Neubelgier 1932 erneut vor eine ähnliche (Gewissens-)Entscheidung gestellt: sollten sie für eine neue Volksabstimmung und eine mögliche Rückkehr nach Deutschland wählen oder der Aufforderung des Bi-schofs folgen und die altbelgische Kath. Partei wählen? Mit dem aufkommen-den Nationalsozialismus würden sie erneut in einen derartigen Konflikt gera-ten.416

412 Vgl. MÜNZ, OHLIGER, Auslandsdeutsche, S. 377. 413 Vgl. TIMMERMANN R., Zur nationalen Integration fremdnationaler ethnischer Minderheiten und ihren soziopolitischen Konsequenzen, dargestellt am Beispiel der deutschsprachigen ge-sellschaftlichen Gruppen Eupen-Malmedys zwischen den beiden Weltkriegen: eine soziolo-gische Untersuchung, Frankfurt am Main [u.a.], 1989. (Aachener Beiträge zur vergleichenden Soziologie und zur China-Forschung. 5), S.258 (im Folgenden: TIMMERMANN, Zur nationalen Integration). 414 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 137. 415 Vgl. LENTZ, Das Wahlverhalten in den Kantonen, S. 137. 416 Vgl. dazu Kapitel 6.

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Das Ergebnis von 1932 kann offensichtlich als ein Erfolg der neuen Politik der Kath. Union bewertet werden, die den Wünschen der Neubelgier mehr entgegen kam. Hinzu kam der Hirtenbrief, der einen Teil der zumeist tief reli-giösen Bevölkerung in einen Gewissenskonflikt zwischen ihrem Glauben und dem Wunsch nach einer Rückkehr in ihr Vaterland gebracht hatte. Die Front der die Selbstbestimmung Fordernden - CVP und Arbeiterpartei - war von 75% auf 63,6% zurückgegangen, was selbstverständlich immer noch die Mehrheit der Neubelgier darstellte.417 Doch wurden die Verluste der CVP nicht nur durch den Hirtenbrief verursacht, auch die zunehmenden Zuge-ständnisse der belgischen Regierung und wirtschaftliche Interessen werden einige Eupen-Malmedyer davon abgehalten haben, für die revisionistischen Parteien zu stimmen. Pabst argumentiert zudem, der katholische Gewinn sei prozentual doppelt so groß gewesen wie die Verluste der CVP, und die Arbei-terpartei sei auch zuvor schon Ziel bischöflicher Warnungen gewesen. Daraus kann man die begründete Schlussforderung ziehen, dass der Rückgang der Stimmen für die Arbeiter- und die Christliche Volkspartei „auf eine begin-nende allgemeine Schwächung der Revisionsbewegung“ hindeutet.418

417 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 137. 418 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 360f.

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VIII. EUPEN-MALMEDY IM SCHATTEN DES DRITTEN REI-CHES – FRÜHZEITIGE IDENTIFIKATION MIT DEM NATIONALSOZIALISTISCHEN GEDANKENGUT UND DER EINHEIT DES DEUTSCHEN VOLKES

A. DIE MACHTERGREIFUNG DER NATIONALSOZIALISTEN IN DEUTSCHLAND – EINE VIELVERSPRECHENDE PERSPEK-TIVE FÜR DIE HEIMATTREUEN?

Die Ereignisse in Deutschland ab 1933 fanden in Eupen, Malmedy und St.Vith ein besonders starkes Interesse, die „heimattreuen“ Zeitungen berich-teten ausführlich über den Aufstieg des Nationalsozialismus. Anhand der St.Vither Volkszeitung soll aufgezeigt werden, wie die Einwohner Neubelgi-ens über das Geschehen und die Hintergründe informiert wurden, und insbe-sondere, welchen Einfluss diese Art der Berichterstattung auf die Identität der Bevölkerung nahm. Die Meinungs- und Identitätsbildung und die Entwick-lung des Deutschlandbildes der zwischen ihrem Vaterland und ihrem neuen Staat Belgien hin- und hergerissenen Menschen hing zu einem großen Teil von den in der neubelgischen Presse vermittelten Informationen und Ansich-ten ab. Die Informationsquellen der Volkszeitung waren nach 1933 hauptsächlich Agenturen wie das „Deutsche Nachrichtenbüro“, der „Deutsche Auslands-dienst“ sowie die gleichgeschaltete Aachener und Kölner Presse. Mitte des Jahres 1933 sah es das Grenz-Echo als erwiesen an, dass eine „Gleichschal-tung bezw. Umschaltung der hiesigen ‚heimattreuen Presse’ von Brüning-Zentrum auf Hitler-Nationalsozialismus endgültig und kontraktlich durchge-führt“ worden sei.419 Inwiefern dies der Fall war, welchen Standpunkt die Volkszeitung dem Nationalsozialismus gegenüber einnahm, und auch die in der Volkszeitung widergespiegelte Stimmung der St.Vither Bevölkerung in Anbetracht der deutschen Entwicklungen soll im Folgenden genauer betrach-tet werden. Als Adolf Hitler am 30.Januar 1933 vom Reichspräsidenten Paul von Hin-denburg als Reichskanzler vereidigt wurde, stützte er sich auf eine so genann-te Koalition „der nationalen Konzentration“ aus Deutschnationalen und Nati-onalsozialisten.420 Das Zähmungskonzept des Vizekanzlers von Papen, der beabsichtigte, gemeinsam mit anderen scheinbar starken, zuverlässigen natio-nalen Regierungsmitgliedern wie dem Wirtschafts- und Landwirtschaftsmi-nister Hugenberg, dem Außenminister von Neurath oder auch dem Arbeitsmi- 419 Grenz-Echo, 22. & 23.07.1933, „Die Nazis, ihre ‚heimattreuen’ Vertreter und Eupen-Malmedy“; zit. n. BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, S. 20. 420 Vgl. HILDEBRAND K., Das Dritte Reich, (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd.17), 6., neubearb. Auflage, München, 2003, S.1 (im Folgenden: HILDEBRAND, Das Dritte Reich).

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nister Seldte, die Nationalsozialisten in der Regierung in konservativem Sinne zu kontrollieren und „einzurahmen“, endete bekanntermaßen gegenteilig.421 Der Weg zur „Machtergreifung“ Hitlers ist ausreichend erforscht und braucht hier nicht im Detail dargelegt werden.422 Vielmehr soll untersucht werden, wie die Volkszeitung und die Bevölkerung Eupen-Malmedys auf die Ereig-nisse in Deutschland reagierten: Wie wurden beispielsweise die Ernennung Hitlers zum deutschen Reichskanzler, seine Forderung nach Neuwahlen und die Auflösung des deutschen Reichstages in Neubelgien aufgenommen? Am 1.Februar berichtete die Volkszeitung von der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, führte die Kabinettsmitglieder auf und schrieb auch von einem Fackelzug der SA, SS und des Stahlhelms „zu Ehren des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers“.423 In der folgenden Ausgabe wurde noch betont, dass man zwar ein Kabinett Hitler akzeptiert habe, „in dem allerdings als star-ke Gegengewichte Herr von Papen und Herr Hugenberg erscheinen“424, und zur Auflösung des Reichstages und den Neuwahlen wurde kritisch bemerkt, dass das Zentrum überrascht sei über die Begründung der Reichstagsauflö-sung und „daß das Zentrum wohl hätte erwarten dürfen, daß man mit ihm die […] aufgenommenen Verhandlungen wenigstens zu Ende geführt hätte“.425 Noch war die Berichterstattung über Hitler und seine Partei eher zurückhal-tend und dem deutschen Zentrum nahe stehend. Doch druckte die Volkszeitung die Regierungserklärung Hitlers vom 1.Februar, den „Aufruf der Reichsregierung an das deutsche Volk“426 auf der Titelseite ab. Seine Rede, die abgestimmt war auf eine Abrechnung mit 14 Jahren „herzzerbrechende[r] Zerrissenheit“, und dem „erschütternden Schick-sal“, das das deutsche Volk „seit dem November 1918“ verfolge, zielte auf nationale und patriotische Gefühle ab, und musste so gerade in den heimat-treuen Auslandsdeutschen in Eupen-Malmedy begeisterte Zuhörer bzw. Leser finden. Eine Argumentation, die sich gegen die Folgen des Versailler Vertra-ges richtete und außerdem die „Wiederherstellung eines geordneten Volks-

421 Vgl. HILDEBRAND, Das Dritte Reich, S. 2. 422 Die historischen Fakten und Daten als Hintergrund zur Untersuchung der Wirkung der Machtergreifung und der nationalsozialistischen Außenpolitik auf die kollektive Identität der Bevölkerung Eupen-Malmedys stammen in den folgenden Kapiteln überwiegend aus Hand-büchern und Enzyklopädien, vgl. BENZ W. (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart, 1997; HILDEBRAND, Das Dritte Reich; HILDEBRAND K., Deutsche Außenpolitik 1933-1945. Kalkül oder Dogma?, 4. erg. Aufl., Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, 1980 (im Folgenden: HILDEBRAND, Deutsche Außenpolitik); RECKER M.-L., Die Außenpolitik des Dritten Reiches, (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd.8), München 1990 (im Folgenden: RECKER, Die Außenpolitik des Dritten Reiches); WENDT B. J., Deutschland 1933-45: Das „Dritte Reich“, Handbuch zur Geschichte, Hannover 1995 (im Folgenden: WENDT, Deutschland 1933-45). 423 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 01.02.1933. 424 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.02.1933. 425 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.02.1933. 426 Zu dieser Rede vgl. WENDT, Deutschland 1933-45, S. 74.

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körpers“ sowie den Schutz des „Christentum[s] als Basis unserer gesamten Moral“ versprach, stand der Ideologie der CVP sehr nahe. Über den Reichstagsbrand (27.Februar) berichtete die Volkszeitung neutral, aber somit auch unkritisch! Verschiedene Artikel zur „Reichstagbrandverord-nung“, die in Kombination mit dem am 23.März folgenden „Ermächtigungs-gesetz“ zum zentralen Instrument der nationalsozialistischen Machteroberung werden sollte427, unter den Überschriften „Deutsche Notverordnung gegen die kommunistische Gefahr“ und „Die kommunistische Gefahr“ berichteten ganz im Sinne der deutschen Reichsregierung und übernahmen die Feindbilder der Nationalsozialisten. Sie stammten aus offiziellen deutschen Quellen, z.B. dem „Amtlichen Preußischen Pressedienst“428 und wurden kommentarlos in der Volkszeitung abgedruckt. Die Wahlen am 5.März wurden von Goebbels zum „Tag der erwachenden Nation“ stilisiert, mit allen Mitteln der modernsten Propaganda sollten die Wählermassen für Hitler gewonnen werden.429 In der Berichterstattung der Volkszeitung über die Wahlen wurden vor allem die Aufmärsche und die „eindrucksvoll[e]“ Beflaggung der Reichshauptstadt hervorgehoben.430 Spä-testens mit dem Sieg der Koalitionsregierung aus NSDAP und DNVP, die 51,9% der Stimmen erhielt431, schwenkte die Zeitung auf einen Tenor der un-eingeschränkten Begeisterung für die neue deutsche Regierung um. Die Nati-onalsozialisten feierten dieses Ergebnis als grandiosen Sieg und demonstrier-ten ihren Triumph am „Tag von Potsdam“ (21.3.1933)432, den die Volkszei-tung auf fast zwei Seiten dokumentierte.433 Sie veröffentlichte außerdem de-tailliertes Zahlenmaterial zum Wahlausgang434 und mehrere Artikel zu Reak-tionen auf die Wahlen im Ausland435 und bekundete auch auf diesem Wege ihr Interesse - und so auch das ihrer Leser. Insbesondere aber wurde betont, dass Hitler und die NSDAP nicht nur die innenpolitischen Probleme Deutsch-lands bewältigen, sondern auch für die Auslandsdeutschen eintreten würden:

„…vergegenwärtigen wir uns die beispiellose Energie und den Op-fermut dieser Bewegung [der NSDAP] und ihrer Führer, - dann dür-fen die deutschen Menschen im Reich und außerhalb seiner Grenzen

427 Vgl. WENDT, Deutschland 1933-45, S. 83. 428 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.03.1933. 429 Vgl. WENDT, Deutschland 1933-45, S. 84. 430 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 08.03.1933. 431 Vgl. HILDEBRAND, Das Dritte Reich, S. 4. 432 Vgl. PROSS H., Zeitungsreport: deutsche Presse im 20.Jahrhundert, Weimar, 2000, S. 89. 433 Vgl. Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 25.03.1933. 434 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 08.03.1933. 435 Vgl. Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 11.03.1933.

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die Hoffnung hegen, daß dieser unbändige, gesammelte Wille sich al-len Schwierigkeiten zum Trotz durchsetzen wird…daß auch die Schicksalsfragen, die jenseits der Reichsgrenzen zu lösen sind, in Hitler, dem Auslandsdeutschen, ihren Hüter und Vorkämpfer fin-den!“436

Mit der Machtübernahme der NSDAP in Deutschland entstand innerhalb des heimattreuen, prodeutschen Teils der neubelgischen Bevölkerung eine zumin-dest teilweise Identifikation mit der „nationalen Revolution“ und dem natio-nalsozialistischen Gedankengut. Man erhoffte sich von „Hitler, dem Aus-landsdeutschen“ dass er sich auch für die Eupen-Malmedyer Auslandsdeut-schen einsetzen werde. Dies formulierte ein nicht namentlich genannter Be-wohner Neubelgiens im Artikel „Unsere Stellung zu den großen Ereignissen in Deutschland“. Unter Bezugnahme auf das nach Ausschluss der kommunis-tischen Abgeordneten und mit Hilfe des Zentrums am 24.März 1933 be-schlossene „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“/ „Ermächti-gungsgesetz“, das der Regierung weitestgehende Vollmachten erteilte, da es die Verfassung sowie die Trennung von gesetzgebender und ausführender Gewalt aufhob437, äußerte der Autor, der sich als Stellvertreter eines Großteils der neubelgischen Bevölkerung zu sehen schien („Unsere Stellung zu den großen Ereignissen in Deutschland“), dass die deutsche Regierung mit Hilfe dieses Gesetzes „freie Bahn“ habe, um ihr „großangelegtes Reformwerk in Angriff nehmen zu können“. Hitler habe es „in seiner Rede […] in Potsdam als Aufgabe der Regierung bezeichnet, die Einheit des Geistes und des Wil-lens der deutschen Nation wiederherzustellen.“ Für die Auslandsdeutschen, „die in diesen Tagen wie stets an Wendepunkten der vaterländischen Geschichte mit einem besonders heißen Herzen nach Deutschland schauen“ war es „der heiße Wunsch“, diesem einigen deutschen Volk anzugehören. Die Volkszeitung als heimattreues Blatt artikulierte hier den Standpunkt und die Identitätssuche des Teils der neubelgischen Bevölke-rung, der seine kollektive Identität über die Hinwendung nach Deutschland definierte und sich von den Belgiern und probelgischen Eupen-Malmedyern abgrenzte:

„Wir hier in Eupen-Malmedy-St.Vith, die schon wegen der unmittel-baren Nachbarschaft deutsches Schicksal als eignes betrachten, ver-folgen die Entwicklung in Deutschland mit einer geradezu leiden-schaftlichen Anteilnahme. Deutschland ist das Land, das wir lieben und dem wir die Treue unter allen Umständen bewahren.“438

Der heimattreue Teil der neubelgischen Bevölkerung und mit ihm die heimat-treue Presse war fasziniert vom Begriff der Einheit der deutschen Volksge-

436 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 11.03.1933. 437 Vgl. BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, S. 48. 438 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 25.03.1933.

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meinschaft und der daraus erwachsenden Stärke. Die kollektive Identität die-ses heimattreuen Teils der Eupen-Malmedyer war dadurch geprägt, dass sie „jenseits der Barrikade“439 lebten, d.h. durch eine Grenze vom eigenen Volk getrennt waren. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten gab ihnen neue Hoffnung auf Abänderung dieses Zustandes. Eine weitere Stufe der Machtergreifung und ein bedeutender Schritt zur Stär-kung der NS-Herrschaft war die darauf folgende Gleichschaltung, die am 31.März mit der Gleichschaltung der Länderparlamente begann.440 Es folgten unter anderem die Gleichschaltung der Gewerkschaften (2.Mai) und deren Überführung in die am 10.Mai gegründete Deutsche Arbeitsfront, und die „Selbstgleichschaltung“ bzw. endgültige Abschaffung aller Parteien außer der NSDAP. Als letzte der demokratischen Parteien unterwarf sich das Zentrum dem Monopolanspruch des „Einparteienstaates“441 und löste sich am 5.Juli 1933 auf. Das Gesetz vom 14.Juli „gegen die Neubildung von Parteien“ schloss den Prozess der Parteienauflösung ab und sicherte der NSDAP die Rolle der Staatspartei im Einheitsstaat.442 Vor allem das Ende der Zentrumspartei und die Reaktionen in der neubelgi-schen Presse können als weiterer Indikator für die Stimmung der Eupen-Malmedyer und die Aushandlung ihrer kollektiven Identität zu diesem Zeit-punkt fungieren. Ist der heimattreue Teil der Bevölkerung bereit, „ihre“ Partei in Deutschland, die die Lage in der ehemaligen Zentrumshochburg Eupen-Malmedy immer im Auge behalten hatte und die revisionistischen Bewegun-gen sowie die ihr ideologisch nahestehende CVP unterstützt hatte443, aufzuge-ben, da er in die neue nationalsozialistische Regierung größere Hoffnungen setzte? Eigentlich hätte die Auflösung dieser den Neubelgiern immer sehr verbundenen Partei auf Ablehnung der Presse Eupen-Malmedys stoßen müs-sen. Die Eupener Zeitungen äußerten – wie erwartet – Kritik. Das Zentrum als „Schützer von Religion und Vaterland“ dürfe nicht aus dem politischen Leben ausscheiden.444 Besonders im ländlichen, tief katholischen St.Vith würde man ähnliche oder noch schärfere Kritik am Ende dieser Partei erwarten. Doch schon die Reichstagsrede Hitlers am 23.März scheint viele Bedenken zerstreut zu haben. In der Volkszeitung wurde diese Rede nicht wörtlich abgedruckt, sondern zusammengefasst und kommentiert. So hieß es, die Rede habe „Bei-fallsbezeugungen in den Reihen des Zentrums“ ausgelöst und Hitler habe ne-ben der „Herstellung einer wirklichen Volksgemeinschaft“ auch „gleiche Rechte der christlichen Bekenntnisse“ versprochen. Der Verfasser dieses re-

439 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 25.03.1933. 440 Vgl. WENDT, Deutschland 1933-45, S. 88. 441 Vgl. HILDEBRAND, Das Dritte Reich, S. 14. 442 Vgl. BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, S. 52. 443 Vgl. BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, S. 53. 444 Eupener Zeitung, 11.05.1933 zit. n. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommu-nikation, S. 416.

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sümierenden Artikels ist unklar, scheint aber aus Neubelgien zu stammen oder zumindest aus einem neubelgischen Blickwinkel zu urteilen: Er sprach in der 1.Person Plural und ging in der Bewertung der Kanzlerrede auf die religiösen Fragen, d.h. Beziehungen zu den christlichen Konfessionen und der Zent-rumspartei, und auch auf die Minderheitenfrage generell und Eupen-Malmedy im Speziellen ein:

„Mit besonderer Befriedigung haben wir auch vernommen, daß der Kanzler betonte, welch großen Wert seine Regierung auf freund-schaftliche Beziehungen zum Heiligen Stuhl legt. […] „Mit besonderer Genugtuung verzeichnen wir das Versprechen des Kanzlers, für die deutschen Minderheiten einzutreten. […] „Daß die deutsche Zentrumspartei und die bayrische Volkspartei un-ter Zurückstellung aller Bedenken dem Ermächtigungsgesetz ihre Zu-stimmung gegeben haben, wird man in Eupen-Malmedy-St.Vith mit Befriedigung verzeichnen. […] „In die nationale Front einzureihen hatte das Zentrum übrigens nicht nötig, weil es schon immer dazu gehörte. Das Zentrum ist sich von jeher seiner vaterländischen Pflichten bewusst gewesen.“445 (Hervor-hebungen d. Verf.)

Da Hitler das Christentum mehrfach als Teil und Grundlage des neuen Staates bezeichnete und die freie Religionsausübung garantierte, schienen die Interes-sen der Katholiken auch im nationalsozialistischen Deutschland gewährleistet zu sein und man musste innerhalb der heimattreuen Gruppe in Eupen-Malmedy keinen zwingenden Grund sehen, die Partei abzulehnen, die zudem die Zusammenführung der deutschen „Volksgemeinschaft“ beabsichtigte. Hinzu kam, dass die Fuldaer Bischofskonferenz Hitler am 28.März ihre Un-terstützung zusicherte446, und die Aussage der Bischöfe, die „den Frieden zwi-schen der kath. Kirche und der nationalsozialistischen Bewegung wiederher-stellt[e]“, wurde den Lesern der Volkszeitung auf der Titelseite bekannt ge-macht. Die Reichsregierung hatte „öffentlich und feierlich Erklärungen gege-ben“, „durch die der Unverletzlichkeit der katholischen Glaubenslehre […] Rechnung getragen“447 werde. Folgt man also der Berichterstattung der Volkszeitung, so war es für die pro-deutschen Neubelgier durchaus möglich, ihren Wunsch nach einer Rückgliederung an das Deutsche Reich innerhalb ihrer Identität mit ihrem Katholizismus zu vereinbaren. Das Grenz-Echo hingegen wies wiederholt auf die fundamentalen Gegensätze zwischen Nationalsozialismus und Katholizismus hin, berichtete von Miss-handlungen katholischer Geistlicher448 und stellte fest, dass die nationalsozia-

445 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 29.03.1933. 446 Vgl. WENDT, Deutschland 1933-45, S. 115. 447 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 01.04.1933. 448 Vgl. Grenz-Echo, 26.06.1933. Zur Stellungnahme des Grenz-Echo zum Verhältnis Ka-tholizismus-Nationalsozialismus vgl. BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, S. 82-99.

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listische Rassenlehre „die schwerste Häresie gegen die Einheit der großen Menschenfamilie“449 darstelle. Selbst die EN hatten zumindest die Ereignisse der ersten Monate des Jahres 1933 aus der Sicht der deutschen Zentrumspartei beurteilt und erst nach dem Wahlsieg der NSDAP begonnen, sich auf die neu-en politischen Verhältnisse in Deutschland einzustellen und sich sozusagen Schritt für Schritt freiwillig gleichzuschalten, ein Prozess, der fast zeitgleich mit den deutschen Zentrumsblättern ablief und mit der Auflösung des Zent-rums abgeschlossen war. Nur das pro-belgische Grenz-Echo stand dem Natio-nalsozialismus durchgehend und entschieden ablehnend gegenüber.450 Dies sei hier nur kurz angedeutet, um zu verdeutlichen, dass es einen beachtens-werten Teil der Bevölkerung gab, der seinen katholischen Glauben (oder - wie die Anhänger der Sozialisten - ihre politische Gesinnung) nicht mit dem neu-en politischen System in Deutschland vereinbaren konnten, wie auch die bis 1939 sinkenden revisionistischen Stimmen bei den Wahlen zeigten (vgl. An-hang 15). Die „Heimatbewegung“ behielt zwar auch bis 1939 eine relative Mehrheit, allerdings hat gerade der Nationalsozialismus, in dessen Strudel der Revisionismus in Eupen-Malmedy geraten war, nicht unerheblich zu einem Absinken der pro-deutschen Stimmen geführt.451 Die Volkszeitung aber berichtete schon, wie oben verdeutlicht, im März 1933 pro-nationalsozialistisch und machte gewissermaßen eine frühe und freiwilli-ge Gleichschaltung mit. Am 1.Juli erschien auf der Titelseite ein Artikel zum „Ende der politischen Parteien in Deutschland“, der von einem „Neubau des Deutschen Reiches nach neuen, gesünderen Prinzipien“ sprach. Die Auflö-sung der Zentrumspartei, die zu erwarten sei, sah sie als „Teil der großarti-ge[n] Einigung des deutschen Volkes“.452 Die Faszination vom Einheitsge-danken des deutschen Volkes scheint so groß gewesen zu sein, dass man über die Schattenseiten der politischen Vorgänge in Deutschland hinwegsah. Der zitierte Artikel stammte zwar vom Conti-Nachrichtenbüro, gab daher also keine explizit eigene Meinung des Verlegers oder seines Leserkreises wieder; allerdings wäre es H. Doepgen zu diesem Zeitpunkt durchaus noch möglich gewesen, die Verhältnisse in Deutschland generell und die Auflösung des Zentrums im Speziellen zu kritisieren, so wie es einige andere Blätter noch energisch taten.453 Mit fortschreitendem Jahr 1933 waren die EN und EZ und die St.Vither Volkszeitung in ihrer Berichterstattung untereinander und vor allem dem Na- 449 Grenz-Echo, 20.09.1933, zit. n. BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, S. 82. 450 Vgl. BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, S. 61. 451 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 412; zur Verdeutlichung der Polarisierung der Eupen-Malmedyer Bevölkerung vgl. auch ebd., S. 426ff: „Der neubelgische Widerstand gegen die „Heimattreue Front“ und die geistige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus“. 452 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 01.07.1933. 453 Vgl. z.B.: Eupener Nachrichten 15.2.1933 „Politik der Gewalt in Deutschland“ und 23.02.1933 zu Gewaltmaßnahmen gegen katholische Geistliche; Eupener Zeitung 21.07.1933 „Von nah und fern. So sind die Nazis!“ und 29.07.1933 „Nationalsozialistische Flegelei“ usw.

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tionalsozialismus angepasst. So verdeutlichte eine Abhandlung über die neu- und die altbelgische Presse die Aufgaben, die den heimattreuen Blättern zu-kamen, und auch die „mannhafte“ Haltung der Kreispresse:

„Nicht mehr allein die Nachrichtenübermittlung besorgt hier die Presse als bestimmender Faktor des öffentlichen Lebens. In erster Li-nie tritt sie […] mannhaft für die Wahrung der völkischen und kultu-rellen Eigenart der deutschen Bewohner ein. […] Gemeinsam ohne Unterschied der Parteien kämpfen die deutschen Blätter für die Rückkehr zum Mutterland. Gemeinsam wehren sie die Greuelmeldungen über das nationalsozialistische Deutschland ab.“454

Die heimattreue Presse Eupen-Malmedy-St.Viths, die zu einem großen Teil aus Deutschland stammende Artikel und Kommentare abdruckte, vermittelte auf diesem Wege die offizielle (deutsche) Sicht des politischen Geschehens in Deutschland. Fasziniert von den Idealen einer deutschen Volksgemeinschaft und –einheit, und eingenommen von einem fast schwärmerischen deutschen Nationalismus beurteilte die Volkszeitung die Maßnahmen der neuen Regie-rung sehr subjektiv und ließ viele Missstände großzügig außen vor. Der Zweck der Einheit des deutschen Volkes musste wiederholt die harten Maß-nahmen der Nationalsozialisten rechtfertigen, da man sich vom neuen, die „Volksgemeinschaft“ beschwörenden Staat auch den erhöhten Schutz und die eventuelle Rückgliederung der Minderheiten im Ausland versprach.

B. DIE HEIMATTREUE FRONT ALS REVISIONISTISCHE EINHEITSBEWEGUNG ALLER HEIMATTREUEN KRÄFTE

Die sich schon bei den Parlamentswahlen abzeichnende Radikalisierung und Polarisierung der Bevölkerung Eupen-Malmedys wurde durch die Beeinflus-sung seitens der deutschen NSDAP noch verstärkt und wird in der Volkszei-tung ab 1933 besonders deutlich. Die Polarisierung innerhalb der Gruppe der Neubelgier führte zu einer Aufspaltung in die sogenannten Prodeutschen ei-nerseits und die Probelgier andererseits, die sich mit der seit 1933 in Deutsch-land betriebenen Politik nicht identifizieren konnten.455 Diese nun völlige Loslösung des probelgischen Teils der Bevölkerung vom vorherigen gemein-samen, kollektiven Bezugspunkt des deutschen Vaterlandes und Nationalge-fühls führte zu Konflikten mit den prodeutsch verbliebenen Eupen-Malmedyern.456 Diese Konflikte wurden auch über die Presse ausgetragen und artikuliert, sodass man über die Volkszeitung einen guten Einblick in die durch die nationalsozialistische Machtergreifung unumgänglich gemachte neue Aushandlung der Identität der Neubelgier bekommt. 454 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 04.11.1933. 455 Vgl. TIMMERMANN, Zur nationalen Integration, S. 235. 456 Vgl. TIMMERMANN, Zur nationalen Integration, S. 237.

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Ab 1933 fand die nationalsozialistische Ideologie mit ihrem Vokabular der Volksgemeinschaft und des Deutsch- und Volkstums vermehrt Zugang zur Bevölkerung und in die Presse Eupen-Malmedys. Die neuen Anhänger Hitler-Deutschlands erhofften sich vom Nationalsozialismus die unbedingte Wieder-eingliederung Eupen-Malmedys im Rahmen der von den Nationalsozialisten ideologisch und völkisch begründeten Territorialansprüche.457 Nationalsozia-listische Tarnorganisationen wie der 1934 gegründete „Verein für Heimat- und Naturkunde“458 veranstalteten Treffen zur Verbreitung nationalsozialisti-schen Gedankenguts und Bildung eines intensiven Gemeinschaftsgefühls.459 Der Eupener Verein entwickelte sich schließlich zu einer der SA ähnlichen paramilitärischen Organisation, dem „Segelflugverein“.460 Der VDA fungierte dabei als deutsche Vermittlungsorganisation nationalsozialistischen Gedan-kenguts und unterstützte den „Segelflugverein“ sowie andere heimattreue Or-ganisationen wie den Landwirtschaftlichen Verband Malmedy und den Hei-matbund, finanziell.461 Der „Segelflugverein“ bildete ebenfalls Ableger in Malmedy und St.Vith (den „Saalschutz“ und die „Bogenschützen“).462 Die genaue Agitation der einzelnen Verbände kann hier nicht im Detail untersucht werden, als Kriterium für die Frage der kollektiven Identität wurde die einzige als politische Partei angelegte Organisation ausgewählt, die sogenannte „Heimattreue Front“. 463 Die vorhandene Literatur gibt allerdings umfassend Auskunft zu Entwicklung und Tätigkeit sämtlicher heimattreuer Verbände.464 Im Wahlkampf zu den Parlamentswahlen 1936 wurde die „Heimattreue Front“ als revisionistische Einheitsbewegung aller „heimattreuen Kräfte“ ge-gründet, was parteipolitisch die Gleichschaltung der CVP bedeutete, die nach dem ersten Wahlaufruf der HF auf die Aufstellung eigener Kandidaten ver-zichtete,465 um sich „mit den Heimattreuen, die bisher außerhalb ihrer Reihen

457 Vgl. TIMMERMANN, Zur nationalen Integration, S. 237. 458 Dieser Verein stellte sich selbst offiziell die Aufgabe „in volkstümlicher Form das Wissen um alle Geschehnisse in der Natur zu bereichern, heimische Sitten und Gebräuche zu pflegen, die Kenntnis der engeren und weiteren Heimat und ihrer Geschichte zu fördern und in Zusam-menarbeit mit gleichstrebigen Vereinen den Schutz heimischer Natur- und Kunstdenkmäler in die Hand zu nehmen“, aus: Eupener Zeitung, 01.03.1934, zit. nach: CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 443. 459 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 389. 460 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 443. 461 Vgl. TIMMERMANN, Zur nationalen Integration, S. 237. 462 Vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 12. 463 Im Folgenden: HF. 464 Weitere Informationen zu heimattreuen Organisationen beispielsweise bei CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 439ff. (Heimattreue Front; Heimatbund; Segelflugverein; Landwirtschaftlicher Kreisverband usw.) und PABST, Eupen-Malmedy, S. 376-383 (Landwirtschaftlicher Kreisverband und Heimatbund) und ebd. S. 391ff. (HF) und KARTHEUSER B., Die 30er Jahre in Eupen-Malmedy. Einblick in das Netzwerk der reichsdeut-schen Subversion, Neundorf, 2001. 465 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 400.

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standen, zu einer geschlossenen Front aller Heimattreuen“466 zu vereinigen. Der Wahlaufruf der HF füllte die Titelseite der St.Vither Volkszeitung am 25.April, die gemeinsam mit der CVP ihre Leser bzw. die Wähler aufforderte, ihre

„Stimmen bei den Kammerwahlen des 24.Mai zu vereinigen zu ei-nem mächtigen und nicht zu überhörenden Protestschrei gegen diese Behandlung, die wir gegen Recht und Verfassung im belgischen Staat erfahren haben.“467

Das Programm der HF war nach dem Vorbild der NSDAP aufgestellt worden und entsprach den Forderungen der radikalen Revisionisten Eupen-Malmedys, da es das Volkstum und das „Volksempfinden“ als Basis der Staatenbildung betrachtete und die Zugehörigkeit zum belgischen Staat aus diesen Gründen ablehnte.468 Die Gründung der HF bedeutete mehr als eine reine Umorganisa-tion der heimattreuen Kräfte: die Revisionsbewegung Ende der Zwanziger Jahre war von den Sozialisten und der CVP getragen worden und fand in Deutschland Rückhalt bei der katholischen Zentrumspartei.469 Die HF hinge-gen verzichtete auf die katholischen Grundlagen der CVP470, ihre Bildung be-siegelte die Unvereinbarkeit der Meinungslager und verhinderte jeden weite-ren politischen Dialog.471 Die starke Anlehnung an die nationalsozialistische Ideologie zeigt sich auch im organisatorischen Aufbau der HF: die Partei war hierarchisch organisiert, Ortswarte und Ortsgruppenvorsitzende standen unter der Bezirksleitung, de-ren Vorsitzende wiederum die Gesamtleitung der HF bildeten.472 Personell wurde die HF durch ehemalige Mitglieder der CVP und des „Segelflugver-eins“ besetzt, ihre Gründung war allerdings tatsächlich durch den Kölner Gau-leiter Grohé veranlasst worden, und auch ihre Leitung lag faktisch bei einem Beauftragten der Gauleitung.473 Die HF gründete verschiedenste Nebenorga-nisationen, so beispielsweise einen Jugendverband und die „Heimattreue Frauenschaft“, um auf diesem Wege – dem Vorbild der NSDAP entsprechend

466 St.Vither Volkszeitung, 25.04.1936. 467 St.Vither Volkszeitung, 25.04.1936; Die Autoren des Artikels beziehen sich hier auf die als ungerecht empfundene Behandlung der Neubelgier durch den belgischen Staat, auf „Schikanen aller Art, Benachteiligung bei allen Vorgängen des öffentlichen Lebens“ und vor allem auf das Ausbürgerungsgesetz, das im Juli 1934 von der belgischen Kammer „zur Knebelung unserer Bewegungsfreiheit beschlossen wurde“; zum Ausbürgerungsgesetz vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 391ff. und NUNN, Belgien zwischen Deutschland und Frankreich, S. 139 und BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, S. 152-156. 468 Vgl. TIMMERMANN, Zur nationalen Integration, S. 240. 469 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 141. 470 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 401. 471 Vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 11. 472 Vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 12. 473 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 401.

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– alle gesellschaftlichen Gruppen der „Volksgemeinschaft“ zu erfassen.474 Auch ein 1938 geschaffenes Winterhilfswerk der HF, das Eintopfsonntage und Haussammlungen organisierte, entsprach in seinen Aktionen denen der NSDAP475 und diente wie auch in Deutschland zur propagandistischen und öffentlichen Stimulation der „Volksgemeinschaft“476:

„Am nächsten Sonntag haben wir wieder Eintopfessen, und da bietet sich die beste Gelegenheit zu zeigen, daß wir eine Volksgemeinschaft sind, indem sich jeder Volksgenosse beteiligt und seine Spende unse-rem WHW zukommen lässt. Spenden nehmen wie immer die Be-zirks- und Ortsgruppenleitung sowie die Orts- und Blockwarte entge-gen.“477

Die Gemeinschaft der Neubelgier sollte ihre kollektive Identität ganz im Sin-ne der deutschen Volksgemeinschaft neu aushandeln. Doch die unverkennbare Religionsfeindlichkeit der NSDAP führte bei man-chen, dem Katholizismus tief verbundenen Mitgliedern der HF, die vorher der CVP angehört hatten, zu einem persönlichen Gewissenskonflikt, in dem sie sich zwischen der Hingabe für entweder das Vaterland oder die Religion ent-scheiden mussten.478 Die Mehrheit der Wähler der HF blieb weiterhin im Ka-tholizismus verwurzelt, die Parteispitze und die Leiter der heimattreuen Ver-eine allerdings gerieten immer mehr in den Sog der nationalsozialistischen Ideologie.479 Auch wenn die HF und die Volkszeitung als heimattreues Organ sich Mühe gaben, die angebliche Religionsfreiheit in Deutschland herauszu-stellen und so den Konflikt Katholizismus-Nationalsozialismus als nicht exis-tent auszulegen, verhinderte die Kirchenverfolgung der NSDAP die Anhä-ngerschaft eines Teils der Eupen-Malmedyer; vor allem der tiefkatholische bäuerliche Bevölkerungsanteil konnte sich aufgrund ihres Glaubens nicht für die Ideologie der Nationalsozialisten begeistern.480 Der dennoch beträchtliche Anteil der Anhänger der HF in diesem katholischen Gebiet, in dem man zuvor mehrheitlich Zentrum bzw. Kath. Partei bzw. CVP gewählt hatte, zeigt, wie gefestigt der Wunsch nach einer Rückkehr zu Deutschland und der „nationale Traum“ von einem großdeutschen Reich und der eigenen Zugehörigkeit zu diesem in der Identität der Eupen-Malmedyer war. So berichtete die Volkszeitung in einem Artikel im Februar 1936 unter der Überschrift „Religionsfreiheit in Deutschland“, dass „es Grundgesetz des Na-

474 Vgl. TIMMERMANN, Zur nationalen Integration, S. 243. 475 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 402. 476 Zu Volksgemeinschaft und integrierender Funktion von WHW, Eintopfsonntagen usw. vgl. BENZ W. (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart, 1997, s.v. Volksgemein-schaft, s.v. Eintopfsonntage, s.v. Winterhilfswerk. 477 St.Vither Volkszeitung, 07.02.1939. 478 Vgl. TIMMERMANN, Zur nationalen Integration, S. 245. 479 Vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 12. 480 Vgl. TIMMERMANN, Zur nationalen Integration, S. 245.

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tionalsozialismus ist, sich nicht in religiöse Fragen einzumischen“481. Im Rahmen des Wahlkampfes zu den belgischen Parlamentswahlen 1939 wurde dann eine „Meinungsäußerung“ eines „treukatholische[n] Wähler[s] aus St.Vith“ auf der Titelseite abgedruckt, der das Grenz-Echo als „Giftküche in Eupen, die nun schon seit Jahren Gift und Galle über die gut katholische deut-sche Bevölkerung unserer Gegend ausspeit“ bezeichnete, und die „Hauptar-gumente der Gegner der Heimattreuen Front“, die sich auf die „Religionsver-hältnisse in Deutschland“ bezogen, widerlegte, indem der Autor anführte, Hit-ler selber habe den Schutz jeder Religion versprochen und es gebe „über 40 Millionen Katholiken in Groß-Deutschland“.482 Der Konflikt zwischen Hei-mattreue und Katholizismus, in dem sich die Eupen-Malmedyer zur Zeit des Nationalsozialismus befanden, war der HF und der heimattreuen Presse also durchaus bewusst, und es wurde versucht, diesen Gegensatz zu verneinen um es den neubelgischen Wählern zu ermöglichen, beide Aspekte in ihrer Identi-tät zu vereinen und sich am von der HF so bezeichneten „Volkstumskampf“ zu beteiligen. Bei den ersten Wahlen nach ihrer Gründung (1936) bezeichnete die HF die von ihr geforderte Weißwahl als ein „Bekenntnis zu unserem Volkstum, zur Volksgemeinschaft, der leidenschaftlichen Liebe zur Heimat, […]“. Sie baute auf die Verbundenheit der Eupen-Malmedyer mit ihrer Heimat Deutschland und mit der deutschen Kultur (vgl. Wahlplakat der HF, Anhang 12), und schürte außerdem das Gefühl der Unzufriedenheit als Staatsangehörige Belgi-ens. Die Weißwahl sei ein Weg des Protestes:

„Eine solche Kundgebung ist an Wucht nicht zu übertreffen! Der weiße, ungültige Stimmzettel ist in unseren Händen Protest und Be-kenntnis zugleich. Protest gegen die Mißachtung von berechtigten Gefühlen, Ausdruck der Bitterkeit, die sich in langen Jahren in unse-ren Herzen angesammelt hat. Der weiße, ungültige Stimmzettel ist auch der deutliche Ausdruck der Unzufriedenheit über alle Mißstände, […].“483

Abb. 2: Wahlwerbung der Heimattreuen Front; St.Vither Volkszeitung, 16.05.1936, Nr.40, Jg.71.

481 St.Vither Volkszeitung, 01.02.1936. 482 St.Vither Volkszeitung, 01.04.1939. 483 St.Vither Volkszeitung, 29.04.1936.

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Die HF betrieb einen radikalen Wahlkampf, sprengte Versammlungen anderer Parteien durch „Brüllkommandos“ und veranstaltete ideologische Schulun-gen.484 Das Wahlergebnis schien der HF Recht zu geben: 8.882 Stimmen in Eupen-Malmedy waren ungültig485 und der stärkste Gegner, die Kath. Union, erreichte nur 4.989 Stimmen.486 Die HF feierte dies als einen Sieg, doch müs-sen von der genannten Zahl nicht nur der übliche Teil ungültiger Stimmen, sondern auch die Stimmen der faschistischen altbelgischen „Légion Nationa-le“ abgezogen werden, die in den Eifeldörfern einige Anhänger besaß und ebenfalls zur Weißwahl aufgerufen hatte.487 Der dennoch beträchtliche Anteil der Weißwähler zeigt, dass die Heimatverbundenheit und das Anliegen einer Rückkehr zum Vaterland in der kollektiven Identität eines beachtlichen Teils der Bevölkerung ebenso fest verwurzelt war wie die Unzufriedenheit mit der belgischen Nationalität und den politischen Parteien des belgischen Staates. Über die Argumente und Ansichten des Teils der Bevölkerung, der sich bei den Wahlen 1936 für eine der altbelgischen Parteien entschied, wurde in der St.Vither Volkszeitung nicht oder nur in abfälligen Kommentaren, beispiels-weise gegen das Grenz-Echo, berichtet. So ist also eine totale Polarisierung der Meinungsgruppen zu erkennen: die Kath. Partei, die christlichen Gewerk-schaften, das Grenz-Echo und die Sozialisten bezogen Stellung gegen den Nationalsozialismus und die HF. Der Anteil der Befürworter einer Rückgabe Eupen-Malmedys an Deutschland sank von den Wahlen 1932 bis 1936 um 13% (von 63% auf ca. 50%).488 Vermutlich hat auch der Kontakt der Bevölke-rung mit jüdischen Emigranten sowie der Einfluss der meist probelgischen Geistlichkeit eine absolute Mehrheit der HF bei den Wahlen 1936 verhin-dert.489 Dass trotzdem ungefähr die Hälfte aller Stimmberechtigten „weiß“ wählten, veranschaulicht, dass die Hoffnung auf eine Rückgliederung an Deutschland nach wie vor groß war. Zudem war im vorherigen Jahr das Saar-gebiet zu Deutschland „heimgekehrt“, was auch in Eupen-Malmedy neue Zu-versicht hatte aufkommen lassen (vgl. Kap. 6.3), und im Jahr 1936 präsentier-te Deutschland sich im Rahmen der Olympischen Spiele im besten Licht.490 Doch muss man meiner Meinung nach zu diesem Zeitpunkt in der Entwick-lung der kollektiven Identität der Bevölkerung Eupen-Malmedys davon aus-gehen, dass sich im Rahmen der Meinungspolarisierung (die mit der Radikali-sierung der Revisionsbewegung Ende der Zwanziger begann) aus der einen, zwar lokal leicht variierten, aber im Ganzen doch gemeinsamen, kollektiven

484 Vgl. TIMMERMANN, Zur nationalen Integration, S. 247. 485 Vgl. TIMMERMANN, Zur nationalen Integration, S. 246. 486 Liberale: 299, Sozialisten: 1175, Rex: 2452, vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 12. 487 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 407. 488 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 407. 489 Vgl. TIMMERMANN, Zur nationalen Integration, S. 247. 490 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 142.

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Identität der Eupen-Malmedyer zwei verschiedene Wir-Gruppen, zwei „ima-gined communities“ gebildet haben, d.h. mit zwei verschiedenen kollektiven Identitäten. Das würde bedeuten, dass sich die Menschen in Neubelgien spä-testens ab der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland (wenn nicht schon bei den vorhergehenden belgischen Wahlen) für eine der beiden Seiten, für eine der beiden Identitäten, entscheiden mussten. Auf der einen Seite standen die „Heimattreuen“ d.h. diejenigen, die in jedem Fall eine Rückkehr zum Deutschen Reich forderten und in deren kollektiver Identität dieses Zugehörigkeitsgefühl so tief verankert war, dass es den zuvor stets ge-festigten Katholizismus und sämtliche weltanschaulichen Bedenken verdräng-te. Auf der anderen Seite standen diejenigen, die ihrem ehemaligen Vaterland Deutschland zwar ebenfalls verbunden und in den vorherigen Jahren vielleicht sogar revisionistisch eingestellt gewesen waren und dementsprechend gewählt hatten, aber angesichts der Machtergreifung der Nationalsozialisten eine Rückkehr zum Reich nicht mehr wünschten; sei es aufgrund des Verbotes der Sozialdemokraten oder der Auflösung des Zentrums, oder weil sie ihren Ge-wissenskonflikt zwischen Katholizismus und Heimattreue zugunsten der Re-ligion entschieden. Im Wahlkampf 1939 stellte die katholische Geistlichkeit den stärksten Wider-sacher der HF dar, doch wurde beispielsweise die Verlesung eines bischöfli-chen Hirtenbriefes „Contre la chimère racique allemande“, der den Miss-brauch des Volksbegriffs für rassische Irrlehren verurteilte, am 26.3.1939 von Kommandos der HF behindert.491 Die Volkszeitung ging in einem langen Kommentar auf diesen Hirtenbrief ein, der „von der Mehrzahl der Besucher sehr übel aufgenommen worden“ sei. Die im Artikel geäußerten Vorwürfe und Argumente illustrieren den Konflikt, den die neubelgische Bevölkerung innerhalb ihrer kollektiven Identität aushandeln musste:

„Warum werden die kirchlichen Kreise immer gerade vor einer Wahl so aktiv? Doch nur, um zaghafte Wähler von dem Wege, auf den sie gehören, und zwar von dem deutsch-völkischen, abzulenken! […] „Man versucht, den deutschen Bewohnern [Neubelgiens] Deutsch-land graulich zu machen […]. Aber ebensowenig, wie in politischen Zusammenhängen ein Deutscher es erreichen würde, dem katholi-schen Volke seinen katholischen Glauben zu nehmen, ebenso wenig erreicht die belgische kirchliche Behörde es, dem deutschen Volke der Kantone St.Vith, Malmedy und Eupen sein deutsches Volkstum zu vergällen! […]“492

Die Aussagen verdeutlichen die Strategie der Heimattreuen: ein Konflikt zwi-schen Heimattreue und Religion wurde abgestritten, stattdessen die Einmi-schung der probelgischen Katholiken verurteilt. Während das Grenz-Echo als Vertreter des Katholizismus den Wahlkampf unter der Parole „Christenkreuz 491 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 411. 492 St.Vither Volkszeitung, 29.03.1939.

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oder Hakenkreuz“ führte, bemühten sich die HF und ihre Anhänger, auf ihren „Kundgebungen“493 zu vermitteln, dass der Katholizismus der Eupen-Malmedyer keinesfalls unvereinbar mit der Heimattreue sei.

"Es kann auch niemals mit der Religion in Widerspruch stehen, daß wir als deutsche Menschen unserer Heimat und dem deutschen Volke die Treue halten. Wir sind stolz darauf, Mitglieder des großen deut-schen Volkes zu sein. (Langer, enthusiastischer Beifall.) […]“494

Die Volkszeitung betonte weiterhin „In St.Vith geht jeder in die Kirche – was will man denn mehr“, und machte dennoch deutlich, dass die neubelgischen Katholiken nicht die Kath. Union sondern die HF wählen müssten, da erstere „in kindischem Eigensinn niemals für unsere Belange eingetreten ist“ und bei den Wahlen 1925 „dafür gesorgt [habe], daß unserer katholischer Abgeordne-ter aus der Kammer hinausflog!“495 Wie nie zuvor seit Gründung der HF artikulierte die Volkszeitung die Enttäu-schung über die Politik der Kath. Partei sowie den Unmut über die vermeint-lich ungerechte Behandlung durch den belgischen Staat, und sie gab dem un-bedingten Rückkehrwunsch in besonderem Maße Ausdruck. Als treudeutsche Heimatpresse stand die Volkszeitung auf dem Standpunkt der HF und war selber Teil der inner-neubelgischen Polarisierung, die sich ebenfalls im Wahl-ergebnis von 1939 manifestierte. Die Volkszeitung und weitere heimattreue Zeitungen wollten ihre Heimat-treue und ihr Streben nach einer Rückkehr nach Deutschland nicht von den dortigen religiösen Verhältnissen abhängig machen und weigerten sich, den Nationalsozialismus als antichristlich zu sehen. Sie warfen dem Grenz-Echo vor, aus rein politischen Gründen diese Argumentation zu führen, und zwar um die Katholiken Eupen-Malmedys von ihrer deutschen Heimat zu entfrem-den.496 Die Wahlpropaganda der Heimattreuen Front, deren Parteiorgan, zumindest Sprachrohr, die Volkszeitung geworden war, war 1939 eindeutig nationalsozi-alistisch geprägt.

"Diese Vorschlagslisten vereinigen die Namen von Männern, die Blut von unserm Blut und Fleisch von unserm Fleisch sind, von Männern, die mit ihrer Heimat auf innigste verwachsen, im Kampf für deren Rechte seit Jahren in vorderster Linie stehen. […] Es gilt, der Verwirrung im andern Lager die einheitliche und ge-schlossene Front der Heimattreuen gegenüberzustellen, die jeden Ge-

493 Man beachte das nationalsozialistisch geprägte Vokabular! (vgl. St.Vither Volkszeitung, 25.03.1939; Einladung zur Kundgebung der HF) (1929/32/36 handelte es sich noch um Wahl-versammlungen). 494 St.Vither Volkszeitung, 29.03.1939. 495 St.Vither Volkszeitung, 29.03.1939. 496 Vgl. BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, S. 99.

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gensatz der Klassen und der Stände absolut ausschließt und nur Volksgenossen kennt. […] ...daß wir - trotz Versetzung der Grenzpfähle - uns nach wie vor als Glieder der großen deutschen Volksgemeinschaft fühlen, mit der uns tausendfache, unzerreißbare Bande für immer verknüpfen, daß wir zugleich den glänzenden Wiederaufstieg unseres alten Vaterlandes unter der Führung einer genialen Persönlichkeit, mit Stolz, innerster Anteilnahme und heißem Herzen verfolgen. […] Dann wird sich der Sieg an unsere Fahnen heften, dann wird sich die Schicksalsgemeinschaft der Eupener, Malmedyer und St.Vither als unzerstörbar erweisen!"497

Die Betonung des Wahlaufrufs lag deutlich auf dem völkischen Charakter und der Idee der „Volksgemeinschaft“, welche die NSDAP in Deutschland und unter den Auslandsdeutschen propagierte, und der die neubelgische „Schick-salsgemeinschaft“ angehören wollte.

Die HF bediente sich eindeutig des national-sozialistischen Vokabulars: So kündigte sie ihre Wahlveranstaltungen als „Kundgebung“ an, zu der „alle Volksgenossen aus St.Vith“ eingeladen wurden.498 Das Wahlergebnis zeigte ein Abnehmen des Anteils der Revisionisten, der einmal fast drei Viertel der Bevölkerung betragen hatte, auf 45,2%499. Die Bevölkerung Eupen-Malmedys hatte sich in zwei Lager mit zwei verschiede-nen kollektiven Identitäten gespalten, das katholische und das heimattreue, und erstmals stimmte mehr als die Hälfte der Neubelgier gegen die Rückkehr zum Deutschen Reich.500 Die Volkszeitung und die HF führten dieses Ergeb-

497 St.Vither Volkszeitung, 18.03.1939. 498 St.Vither Volkszeitung, 25.03.1939. 499 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 144. 500 Vgl. PABST, Eupen-Malmedy, S. 412, Die Wahlniederlage der HF ist unter anderem auch der gewachsenen Bereitschaft der belgischen Regierung nach 1935, den neubelgischen Forderun-gen nach intensiverer Berücksichtigung ihrer politischen, sprachlichen und kulturellen Eigenar-

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nis auf die Agitation der katholischen Kirche und den Gewissenskonflikt (bzw. Identitätskonflikt) zurück, in den viele neubelgische Wähler aufgrund der Stellungnahme der katholischen Geistlichkeit und des Hirtenbriefes gera-ten waren. Zumindest teilweise scheint diese Beurteilung zutreffend zu sein, letzten Endes aber entsprachen die von der NSDAP und der HF propagierten Werte nur denen des überzeugt heimattreuen Teils der Bevölkerung, der im Bann der Idee der deutschen Volksgemeinschaft jegliche Bedenken ausblen-dete.

C. DIE SAARABSTIMMUNG – DIE SAARLÄNDISCHEN „VOLKSGENOSSEN“ KEHREN „HEIM INS REICH“

Wie bereits in den vorhergehenden Kapiteln deutlich wurde, vertrat die Volkszeitung den deutschen Standpunkt, dass der Versailler Vertrag einen „Gewaltfrieden“, ein „Schanddiktat“501 und eine „Zwangsjacke des status quo“502 darstellte, der dazu führte, dass das Selbstbestimmungsrecht der Eu-pen-Malmedyer „schnöde und feige mit Füßen getreten“503 wurde. Aus die-sem Grund beobachteten die Bevölkerung und die Presse Neubelgiens beson-ders gespannt die außenpolitischen Entwicklungen und Erfolge des Deutschen Reiches, vor allem wenn sie andere von den Versailler Friedensbedingungen betroffene Gebiete und Minderheiten anbelangten. Das Saargebiet war – ähnlich Eupen-Malmedy – ein Konstrukt des Versailler Vertrages. Nach Art.45-50 des Vertrages und der dazugehörigen, 40 Paragra-phen umfassenden Anlage („Saarstatut“), trat das Deutsche Reich die Souve-ränität über einen Gebietsstreifen beiderseits der mittleren Saar sowie einige angrenzende Nachbargebiete ab.504 Das Saarbecken wurde für 15 Jahre einer internationalen, vom Völkerbund ernannten fünfköpfigen Regierungskommis-sion und der Zollunion mit Frankreich unterstellt (das mittels der dortigen Kohlengruben, die in französischen Staatsbesitz übergingen, seine durch die Zerstörung der nordfranzösischen Kohlengruben hervorgerufenen Verluste ausgleichen sollte).505 Im Saarstatut war festgelegt worden, dass die Bevölkerung des Saargebiets fünfzehn Jahre nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages (also nicht vor dem 10.Januar 1935) darüber abstimmen sollte, ob ihre Heimat mit Frankreich o-

ten entgegenzukommen, zu verdanken; vgl. TIMMERMANN, Zur nationalen Integration, S .249. 501 St.Vither Volkszeitung, 28.06.1939. 502 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 08.02.1933. 503 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 26.01.1929. 504 Vgl. ZUR MÜHLEN P., „Schlagt Hitler an der Saar!“ Abstimmungskampf, Emigration und Widerstand im Saargebiet 1933-35, Bonn, 1979, S. 12 (im Folgenden: ZUR MÜHLEN, Schlagt Hitler an der Saar). 505 Vgl. ZENNER M., Parteien und Politik im Saargebiet unter dem Völkerbundsregime 1920-35, Saarbrücken, 1966, S. 31.

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der mit Deutschland vereinigt oder unter der Völkerbundsherrschaft verblei-ben sollte. Wahlberechtigt war jede am Tag der Abstimmung über zwanzig Jahre alte Person, die schon am Tag der Unterzeichnung des Versailler Ver-trages im Saargebiet gewohnt hatte.506 Die Leitung und Durchführung der Ab-stimmung unterlag – in Gegensatz zu Eupen-Malmedy – dem Völkerbundsrat. Als am 13.01.1935 im Saargebiet die Volksabstimmung stattfand, stand die Saar im Blickfeld des internationalen Interesses, und besonders im Blickfeld auslandsdeutscher Bevölkerungsgruppen wie den Bewohnern Neubelgiens. Das Schicksal des Saargebiets war ein in der Zeit vom Inkrafttreten der Frie-densbedingungen bis zur Abstimmung in der Volkszeitung häufig behandeltes Thema, die neben dem regelmäßigen Abdruck von Fotografien aus dem Saar-gebiet507 in den das Thema betreffenden Artikeln wiederholt die Deutsch-stämmigkeit der Saarbewohner herausstellte:

„Ob es Deutschland gut oder schlecht gehen wird, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Saargebiets denkt deutsch und fühlt sich deutsch, und wer auf französischer Seite diese unzweifelhafte Tatsache zu leugnen oder zu bemänteln versucht, der ist wirklich-keitsfremd und treibt Vogel-Strauß-Politik.“508 „So soll die Kundgebung zu einem vaterländischen Ereignis von poli-tischer Bedeutung werden und der Welt mit aller Deutlichkeit ver-künden, daß die Saarbevölkerung den unerschütterlichen Willen zur Rückkehr ins Reich hat und das ganze deutsche Volk kraftvoll eine schleunige Befreiung des Saarvolkes von der Fremdherrschaft for-dert.“509

Aufgrund der Parallelen zwischen dem Saargebiet und Eupen-Malmedy, die in der Volkszeitung mehrfach hervorgehoben wurden, beanspruchte man eine ähnliche Abstimmung für Neubelgien und berichtete umgehend von derarti-gen Forderungen, falls sie auch in Deutschland geäußert wurden, so bei-spielsweise durch das Zentrumsblatt Germania.

„Die Germania weist auf die kommende Abstimmung im Saargebiet hin, die sicherlich für Deutschland die große Mehrheit ergeben wird. Im Interesse der deutsch-belgischen Annäherung verlangt das Blatt dann ebenfalls für das Jahr 1935 eine Volksabstimmung in Eupen-Malmedy.“510

Die Tatsache, dass auch im Vaterland noch Einsatz für eine Rückgliederung Eupen-Malmedys gezeigt wurde, muss innerhalb der heimattreuen Bevölke-rung die Hoffnung auf Rückkehr nach Deutschland wach gehalten und eine

506 Vgl. ZUR MÜHLEN, Schlagt Hitler an der Saar, S. 222. 507 z.B. St.Vither Volkszeitung 12.01.1935, „Ein Rundgang durch schöne Saarstädte“; St.Vither Volkszeitung, 12.01.1935, „Treuekundgebung der 350.000 Saardeutschen“. 508 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 06.05.1933. 509 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 07.06.1933. 510 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 15.03.1933.

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Eingliederung in den belgischen Staat erschwert haben, da die kollektive Identität der „Wir-Gruppe“ der Neubelgier aufgrund der fortdauernden Orien-tierung nach Deutschland nicht ohne weiteres der neuen „Wirtsgesellschaft“ entsprechend modifiziert werden konnte. In der Berichterstattung kurz vor der Abstimmung zeigt sich besonders das enge Verbundenheitsgefühl der Eupen-Malmedyer mit der Saarbevölkerung, das man aufgrund der Gemeinsamkeit der durch den Versailler Vertrag bestimmten Abtrennung verspürte.

„Wir hier in Eupen-Malmedy-St.Vith haben die Entwicklung der Dinge an der Saar stets mit schärfstem Interesse verfolgt. Die deut-schen Saarländer sind unsere Volksgenossen, sind Fleisch von unse-rem Fleisch, Blut von unserem Blut. Gleich uns sind sie Opfer des Versailler Vertrags und niemand kann es uns versagen, wenn wir un-sere Genugtuung darüber äußern, dass nunmehr an der Saar der Ver-sailler Vertrag seine Erfüllung findet.“511

Am 15.Januar verkündete die Kommission das endgültige Ergebnis: Bei einer Wahlbeteiligung von fast 98% stimmte die große Mehrheit (90,4%) für eine Rückkehr nach Deutschland.512 Am 1.März wurde das Saargebiet damit an das Deutsche Reich zurückgegliedert.513 Die Volkszeitung berichtete am 19.01.1935 ausführlich vom Ergebnis der Abstimmung und der „Rückkehr des Saarlandes zu Deutschland“, zeigte ein „Bild aus dem reichgeschmückten Saarbrücken nach der Bekanntgabe des überwältigenden Wahlsieges“ und gab außerdem bekannt, der Vorstand der CVP habe beschlossen, ein Telegramm an die „Deutsche Front“ in Saarbrücken zu senden, und zitierte das Tele-gramm wörtlich: Die CVP-Führung sprach den Saarländern „bewegten Her-zens“ ihre „aufrichtigsten Glückwünsche und brüderlichen Grüße“ aus. Derar-tige Äußerungen lassen den hohen Grad der Identifizierung der Eupen-Malmedyer Heimattreuen mit den Geschehnissen im Saargebiet erkennen. Bis 1933 hatten alle saarländischen Parteien den Wunsch der Saarländer, nach Deutschland zurückzukehren, unterstützt. Der Einfluss der NSDAP jedoch war stets gering gewesen und seit der „Machtergreifung“ hatte das so genann-te Status-quo-Bündnis aus SPD und KPD wiederholt auf den nationalsozialis-tischen Terror in Deutschland hingewiesen. Zudem war auch die Bevölkerung des Saargebietes – wie die Eupen-Malmedys – überwiegend katholisch und hatte außerdem einen beträchtlichen Anteil linksorientierter Arbeiter. Den-noch kam es zu diesem drastischen Votum für Deutschland, was wohl dadurch begünstigt wurde, dass die so genannte „Deutsche Front“514 die Ab-

511 St.Vither Volkszeitung, 09.01.1935. 512 Vgl. MUSKALLA D., NS-Politik an der Saar unter Josef Bürckel. Gleichschaltung – Neuord-nung – Verwaltung, Saarbrücken, 1995, S .48; Wahlmöglichkeiten waren für eine Vereinigung mit Frankreich oder Deutschland, oder aber für die Erhaltung des status quo. 513 Vgl. BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, S. 108f. 514 Vgl. zur „Deutschen Front“: PAUL G., Die NSDAP des Saargebietes 1920-35. Der verspäte-te Aufstieg der NSDAP in der katholisch-proletarischen Provinz, Saarbrücken, 1987, S. 68-75.

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stimmung nicht als Entscheidung für das nationalsozialistische Dritte Reich, sondern als Bekenntnis zum deutschen Staat und der deutschen Volksgemein-schaft darstellte.515 Die Frage nach den Ursachen des Abstimmungsergebnis-ses516 sowie nach eventuellen Einflussnahmen durch die an der Abstimmung interessierten Nationen kann und soll an dieser Stelle nicht beantwortet wer-den.517 Im Rahmen dieser Arbeit ist entscheidender, dass dieser große außenpoliti-sche Erfolg des Dritten Reichs nicht nur innenpolitische, das Regime stabili-sierende Effekte hatte518, sondern vor allem eine große Wirkung auf auslands-deutsche Minderheiten - wie die Eupen-Malmedyer - zeigte. Zudem fallen einige starke Parallelen zwischen diesen beiden Regionen auf, wie beispiels-weise der Katholizismus der Bevölkerung oder die Propaganda einer deutsch-treuen Vereinigung (Deutsche Front/ Heimattreue Front). Der Konflikt zwischen Vaterlandstreue und Katholizismus war im Saarland also ebenso wie in Neubelgien vorhanden und wurde dementsprechend in der Berichterstattung der Volkszeitung zur Saarabstimmung aufgenommen. Sie stellte die „Treue zum eigenen Volk [als] eine katholische Pflicht und Tu-gend“ dar und konstatierte, dass „Religion und Volkstum untrennbare Begrif-fe sind“. In diesem Zusammenhang dienten die Saarabstimmung und die im-mer wieder betonten Parallelen zwischen den „saarländischen Katholiken“ und den „katholischen Auslandsdeutschen und nicht zuletzt den Katholiken von Eupen-Malmedy-St.Vith“519 auch dazu, den Neubelgiern die Aushand-lung ihrer kollektiven Identität zwischen Vaterlandstreue und Katholizismus zu erleichtern. Ganz im Sinne der Heimattreuen wurde dieser Konflikt abge-stritten bzw. als nicht existent betrachtet. Wenn auch die Katholiken im Saar-gebiet für eine Rückkehr nach Deutschland eintraten, was zudem - wie die Volkszeitung herausstellt - von den katholischen Bischöfen unterstützt wurde, warum sollten dann nicht auch die Eupen-Malmedyer für ihren Rückgliede-rungswunsch eintreten können, ohne in Konflikt mit ihrer religiösen Überzeu-gung zu geraten?

„Der für die Zukunft unseres Vaterlandes so folgenschweren Ent-scheidung, die in einigen Tagen an der Saar fallen wird, kann kein wahrhaft Deutscher gleichgültig gegenüberstehen. Als deutsche Ka-

515 Vgl. KAISER W., „Saarland“, in: BENZ W. (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart, 1997, S. 708-709 (im Folgenden: KAISER, Saarland). 516 Vgl. KAISER, Saarland, S. 709 nennt noch weitere Gründe wie die Hoffnung auf eine Teil-habe am wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands, Ängste vor Besetzung durch französische Kolonialsoldaten, Terror und Einschüchterung der Gegner der Angliederung an Deutschland sowie die Unterstützung der katholischen Bischöfe usw. 517 Vgl. zu diesem Thema aber z.Β. ZUR MÜHLEN, Schlagt Hitler an der Saar, S. 230ff. und die sonstige, in diesem Kapitel verwendete Literatur zur Saarabstimmung. 518 Vgl. HILDEBRAND, Das Dritte Reich, S. 23. 519 Alle vier Zitate aus St.Vither Volkszeitung, 09.01.1935.

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tholiken sind wir verpflichtet, für die Größe, die Wohlfahrt und den Frieden unseres Vaterlandes uns einzusetzen.“ 520

Das Ergebnis der Volksabstimmung wurde schließlich auch als Beweis dafür angesehen, dass „die Katholiken sich von niemand an Liebe und Treue zu Volk und Vaterland übertreffen lassen“.521 Alles in allem bewies die heimat-treue Presse Eupen-Malmedys demnach ein großes Interesse an den Entwick-lungen des Saargebietes und stellte einen Bezug zur Lage der eigenen Heimat her, da sie über die Geschehnisse im Saargebiet aus einem ähnlichen Blick-winkel wie über Eupen-Malmedy schrieb. Den Lesern der Volkszeitung wur-den die Parallelen zwischen den beiden Regionen beständig vor Augen ge-führt, sogar Gerüchte über eine bevorstehende Rückgliederung Eupen-Malmedys kamen auf. Die Saarländer waren „Volksgenossen“, die in einer sehr ähnlichen Situation gewesen waren und nun ins Reich „heimkehren“ konnten, und auf dieser Basis identifizierte die neubelgische Bevölkerung sich mit den Ereignissen und hoffte auf eine eigene „Heimkehr“ ins Reich. Die Parallelen zwischen dem Saargebiet und Neubelgien waren aber auch in anderer Hinsicht bedeutend und lassen Rückschlüsse auf Eupen-Malmedy zu: bei der Volksabstimmung an der Saar waren viele Stimmzettel mit Aufschrif-ten versehen, die den Konflikt der Wähler zwischen nationaler Gesinnung einerseits und Bedenken gegen den Nationalsozialismus andererseits bezeu-gen, wie beispielsweise „Für Deutschland – gegen Hitler“ oder „Ich habe für Deutschland gestimmt, weil ich Deutscher bin und nicht anders handeln kann, aber ich will nicht zu Hitler-Deutschland zurückkehren.“522 Eben dieser Konflikt ist innerhalb der „imagined community“ der Neubelgier auch zu finden, auch wenn die St.Vither Volkszeitung als Organ der Heimat-treuen diesen Gewissenskonflikt, dem jeder Eupen-Malmedyer in der Aus-handlung seiner Identität gegenüberstand, zugunsten des Nationalsozialismus ausklammerte.

D. DIE „VOLKSGEMEINSCHAFT“ INNERHALB DER DEUTSCHEN GRENZEN WÄCHST – DER „AN-SCHLUSS“ ÖSTERREICHS

Auch der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich (13.3.1938) wurde in Eupen-Malmedy mit Spannung beobachtet und umfassend in der Presse besprochen. Um die Rezeption der Ereignisse in Neubelgien und die Bericht-erstattung der Volkszeitung entsprechend beurteilen zu können, wird der his-

520 Vgl. St.Vither Volkszeitung, 05.01.1935. 521 St.Vither Volkszeitung, 26.01.1935. 522 Zit. n. MUSKALLA D., NS-Politik an der Saar unter Josef Bürckel. Gleichschaltung – Neu-ordnung – Verwaltung, Saarbrücken, 1995, S. 47.

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torische Hindergrund zum „Anschluss“ an dieser Stelle kurz mit einbezo-gen.523 Hitler beabsichtigte offenbar, den österreichischen Nationalsozialisten zu ei-ner ähnlichen Machtergreifung zu verhelfen, wie sie in Deutschland stattge-funden hatte. Seit dem Juli-Abkommen von 1936, das Österreich zwar seine Unabhängigkeit garantierte, aber auch das Zugeständnis abgenommen hatte, die nationale Opposition in die politische Verantwortung einzubeziehen, war die deutsche Politik darauf ausgerichtet, Österreich politisch und propagandis-tisch „reif“ für den „Anschluss“ zu machen.524 Zur Regelung des angespann-ten Verhältnisses zwischen Deutschland und Österreich war es dem deutschen Botschafter in Wien, von Papen, gelungen, ein Treffen zwischen Hitler und dem österreichischen Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg auf dem Ober-salzberg zu organisieren.525 Im dort geschlossenen „Berchtesgadener Ab-kommen“ vom 12. Februar 1938 zwang Hitler dem österreichischen Bundes-kanzler den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart als Innenminister auf, forderte die freie Betätigung der österreichischen Parteigenossen und die Ab-stimmung der österreichischen Außenpolitik auf die des Deutschen Rei-ches.526 Schuschnigg hatte keinen anderen Ausweg gesehen, als dieser „inne-ren Gleichschaltung“ zuzustimmen, um wenigstens die staatliche Unabhän-gigkeit Österreichs erhalten zu können.527 Um eine nationalsozialistische Machtübernahme zu verhindern, versuchte er noch eine Volksabstimmung auszurichten, bei der die Wähler die Frage beantworten sollten, ob sie mit der allumfassenden Parole der Regierung „für ein freies und deutsches, soziales

523 Weiterführende Literatur zur Volkstums- und Außenpolitik im Dritten Reich generell und auch „Anschluss“ speziell: vgl. Fußnote 384; weiterhin: BOTZ G., Die Eingliederung Öster-reichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen An-schlusses (1938-40), Linz, 1972 (im Folgenden: BOTZ, Die Eingliederung Österreichs); DERS., Zwischen Akzeptanz und Distanz. Die österreichische Bevölkerung und das NS-Regime nach dem „Anschluß“, in: STOURZH G. ZAAR B. (Hrsg.), Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des „Anschlusses“ vom März 1938, Wien, 1990, (im Folgenden: BOTZ, Zwischen Akzeptanz und Distanz); HILDEBRAND K., Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945, Stuttgart, 1995 (im Folgen-den: HILDEBRAND, Das vergangene Reich); LUTHER, Volkstumspolitik des Deutschen Reiches; PAULEY B. F., Hitler and the Forgotten Nazis. A History of Austrian National Socialism, Cha-pel Hill, 1981 (im Folgenden: PAULEY, Hitler and the Forgotten Nazis); SCHMIDL E. A., März 38. Der Deutsche Einmarsch in Österreich, Wien, 1987 (im Folgenden: SCHMIDL, Der Deut-sche Einmarsch); WAGNER W. J., Geschichte Oesterreichs. Daten, Fakten, Karten, St.Pölten, Wien, Linz, 2002; S. 306ff (im Folgenden: WAGNER, Geschichte Oesterreichs); SCHMIDT R. F., Die Außenpolitik des Dritten Reiches 1933-1939, Stuttgart, 2002; WENDT B.-J., Groß-deutschland. Außenpolitik und Kriegsvorbereitung des Hitler-Regimes, München, 1987, (im Folgenden: WENDT, Großdeutschland); usw. 524 Vgl. RECKER, Die Außenpolitik des Dritten Reiches, S. 20. 525 Vgl. HILDEBRAND, Das Dritte Reich, S. 37. 526 Vgl. WENDT, Großdeutschland, S. 142. 527 Vgl. LUTHER, Volkstumspolitik des Deutschen Reiches, S. 162.

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und unabhängiges, christliches und einiges Österreich“ übereinstimmten.528 Doch schon zwei Tage nach ihrer Ankündigung war Schuschnigg aufgrund innerösterreichischer Proteste und des deutschen Drucks gezwungen, die Ab-stimmung wieder abzusagen.529 Hitler nahm Improvisationen in der mangel-haften Wahlvorbereitung, undemokratische Wahlbedingungen530 der für den 13.März angesetzten Volksabstimmung und einen Bruch des Berchtesgadener Abkommens zum Vorwand, von Schuschnigg zu einem Verzicht auf die Ab-stimmung zu zwingen531 und den Anschluss endgültig zu vollziehen. Die durch Schuschnigg geplante Volksabstimmung wurde in der Volkszeitung als „Verrat an der deutschen Sache“ dargestellt.532 Am 11. März 1938 trat Schuschnigg unter dem Druck eines deutschen Ultimatums zurück, das mit dem Einsatz von Truppen drohte, falls er nicht zurücktrete und Seyß-Inquart sein Amt überlasse. Da der österreichische Bundespräsident sich weigerte, den Nationalsozialisten zum Bundeskanzler zu ernennen, gab Hitler den Be-fehl zum Einmarsch.533 Unter diesem schweren außenpolitischen Druck er-nannte der Bundespräsident noch in der Nacht eine neue Regierung unter Seyß-Inquart, sodass die österreichischen Nationalsozialisten die Macht im Staat übernahmen.534 Dennoch marschierten die deutschen Truppen am 12.März in Österreich ein, wo sie von der Bevölkerung enthusiastisch begrüßt wurden. Dem nationalsozialistischen Regime und seiner Presse war es inner-halb einer kurzen Zeit gelungen, ein außergewöhnliches Bild der inneröster-reichischen Zustimmung hervorzurufen, in- und ausländische Berichte von „Begeisterungsstürmen“ füllten die Presse535, so auch die St.Vither Volkszei-tung, die auf mehreren Seiten vom „Umschwung in Oesterreich“, von „Stür-me[n] der Begeisterung in Graz“, und von „Ungeheure[m] Jubel in Inns-bruck“ berichtete.536 Am nächsten Tag erklärte der Ministerrat in Wien Österreich zu einem Land

des Deutschen Rei-ches537 und mit dem am 13. März von

528 Vgl. PAULEY, Hitler and the Forgotten Nazis, S. 206. 529 Vgl. HILDEBRAND, Deutsche Außenpolitik, S. 66. 530 z.B.: Das Abstimmungsalter war auf 24 Jahre angesetzt, um eine große Zahl der natio-nalsozialistischen Jugend auszuschließen; nur Ja-Wahlzettel mit patriotischen rot-weißen Strei-fen wurden verteilt, diejenigen, die mit ‚Nein’ zu stimmen wünschten mussten ihr eigenes Pa-pier mitbringen usw.; vgl. PAULEY, Hitler and the Forgotten Nazis, S. 206. 531 Vgl. HILDEBRAND, Das Dritte Reich, S. 37. 532 St.Vither Volkszeitung, 16.03.1938. 533 Vgl. HILDEBRAND, Das Dritte Reich, S. 37f. 534 Vgl. BOTZ, Die Eingliederung Österreichs, S. 30. 535 Vgl. BOTZ, Zwischen Akzeptanz und Distanz, S. 440. 536 St.Vither Volkszeitung, 16.03.1938. 537 Vgl. WAGNER, Geschichte Oesterreichs, S. 309. Abb. 4: „Der Führer zieht in seine Heimatstadt ein. [...] Jubelzug ohnegleichen.“ St.Vither Volkszeitung, 16.03.1938, Nr.22, Jg.73.

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Hitler unter-zeichneten „Gesetz über die Wiederver-einigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ wurde der Anschluss der „Ostmark“ voll-zogen, was einen weiteren Verstoß Nazi-Deutschlands gegen die Bestim-mungen des Versail-ler Vertrages bedeu-tete.538 In der heimattreuen Volkszeitung aber wurde besonders hervorgehoben, dass „das österreichische Volk selbst aus vollem Herzen die Wendung der Dinge bejaht“. Die „angekündigte freie Volksabstimmung“ werde zeigen, „daß dem neuen Regime in Wien eine volle demokratische Aktivlegitimation zur Verfü-gung steht.“539 Die Volkszeitung druckte in den Tagen des „Anschlusses“ zahlreiche Fotos von jubelnden Menschenmengen und dem Einzug des „Füh-rers“ in sein Heimatland (vgl. Abb. 5). An einer Stellungnahme der Redaktion ist erkennbar, wie entschieden die heimattreue Presse und der heimattreue Teil der Bevölkerung die Ereignisse in Österreich befürworteten.

„In Anbetracht dieses großen, geschichtlichen Ereignisses, das nur die Folge der Bestrebungen zur Zusammenfassung aller Deutschen sein konnte, […], fühlen wir uns verpflichtet, unsern deutschstämmi-gen Abonnenten einen möglichst zusammenhängenden Überblick in Gestalt von Berichten und Bildern über dieses große geschichtliche Ereignis zu geben. […] Für alle, die politisches Verständnis haben, ist der Anschluß Oesterreichs an Deutschland die Erfüllung eines Traums, […]. Dieses große geschichtliche Ereignis beweist uns auch, daß die deutsche Politik bedeutende Fortschritte macht.“540

Die Aufmerksamkeit der Heimattreuen lag auf der nationalsozialistischen Au-ßenpolitik, durch die die Hoffnung auf eine eigene Rückgliederung aufrecht-erhalten wurde. Das neubelgische Gebiet, dem keine faire Volksabstimmung zugebilligt worden war, erlebte die Abstimmung und den „Anschluss“ Öster-reichs und die Saarabstimmung als positives Anzeichen dafür, dass ihre eige-ne Forderung nach einer Wiederholung der Volksbefragung eventuell doch noch durchgesetzt werden könnte. Zu diesem Zeitpunkt war die kollektive Identität des heimattreuen Teils der neubelgischen Bevölkerungsgruppe au-ßerordentlich gefestigt, dies besonders in Abgrenzung vom belgischen Staat und durch Definierung der Gemeinsamkeiten der „imagined community“ – die Rückgabebefürworter vereinten ihren Katholizismus und ihre regionale Heimatverbundenheit mit einer nationalsozialistisch beeinflussten Vaterlands-treue und dem daraus resultierenden Wunsch der Rückkehr zur deutschen „Volksgemeinschaft“. In Österreich wurde in der Tat ein Plebiszit abgehalten, das zur Pseudolegiti-mierung des schon vollzogenen „Anschlusses“ diente: Mehr als 99% der Ab-stimmenden antworteten positiv auf die Suggestivfrage „Bist du mit der am 13.März vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen 538 Vgl. BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, S. 121f. 539 St.Vither Volkszeitung, 16.03.1938. 540 St.Vither Volkszeitung, 16.03.1938.

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Reich einverstanden und stimmst du für die Liste unseres Führers Adolf Hit-ler?“ und damit für die Schaffung eines Großdeutschen Reiches.541 Dieses Ergebnis soll hier nicht diskutiert werden, doch fügt es sich in das Bild der Begeisterung (oder zumindest stillen Zustimmung), das sich beim Einmarsch der deutschen Truppen geboten hatte, ein.542 Nach außen wurde der „An-schluss“ propagandistisch mit der Durchsetzung des völkischen und nationa-len Prinzips und des Selbstbestimmungsrechtes begründet und ausge-schmückt543; eben dies war der Faktor, der auslandsdeutsche Minderheiten ansprach: Auch der Volkszeitung waren die Ereignisse in Österreich eine willkommene Gelegenheit, auf die Zusammengehörigkeit der deutschen Volksgemeinschaft hinzuweisen: Die „Heimkehr“ Österreichs ins Reich weckte in allen an Deutschland grenzenden Minderheitengebieten große Er-wartungen und gab den Eupen-Malmedyern neue Hoffnung. Die Frage Eu-pen-Malmedy bzw. die Frage einer eventuellen Rückgliederung wurde ver-stärkt diskutiert. So veröffentlichte die Volkszeitung einen Artikel aus der Brüsseler Zeitung „Informateur“, der sich angesichts der „Vereinigung Öster-reichs mit dem Reich“ zu folgenden „Betrachtungen veranlaßt“ sah. Es wurde festgestellt,

„daß die Unfähigkeit der Verbündeten, die Verträge zu verteidigen, offenkundig geworden sei. Von Belgien wird gesagt, dass es unfähig sei, sich die Liebe der ‚erlösten Gebiete’ zu erwerben. Man habe für den kleinen Gebietsstreifen große Opfer gebracht, große Kosten auf-gewandt, um sein Gedeihen zu sichern. Es habe aber nichts genutzt: Eupen, wenn nicht auch Malmedy, seien im Herzen deutsch geblie-ben. Wie wolle man es Deutschland verdenken, wenn es alles tue, sich diese Bevölkerung anzugliedern, die ihm eine solche Anhäng-lichkeit beweise […]. Wozu dient es, diesen Leuten eine Freiheit, ein Glück, ein Wohlergehen aufzudrängen, das ihnen mißfällt und sie nicht hindert, im Grunde des Herzens dem Vaterland nachzutrau-ern?“544

Viele Auslandsdeutsche in Eupen-Malmedy hofften, die Regierung in Berlin werde in der folgenden Zeit bestimmter auf eine Revision der im Versailler Vertrag fixierten Grenzen drängen und auch sie „heim ins Reich“ holen.545 Ebenso, wie konstant von der Unterdrückung verschiedener Gruppen von Auslandsdeutschen berichtet worden war, so z.B. auch in Österreich und der Tschechoslowakei546, so berichtete die Volkszeitung auch durchgängig von

541 Plebiszit am 10.April 1938; vgl. HILDEBRAND, Das vergangene Reich, S. 650. 542 Vgl. BOTZ, Zwischen Akzeptanz und Distanz, S. 443. 543 Vgl. WENDT, Großdeutschland, S. 143. 544 St.Vither Volkszeitung, 23.02.1938. 545 Vgl. LUTHER, Volkstumspolitik des Deutschen Reiches, S. 163. 546 Vgl. z.B. Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 21.06.1933, Hochspannung in Oesterreich; zur Behandlung der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei vgl. folgendes Kapitel.

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den Nachteilen, die den Eupen-Malmedyern aus der „Fremdherrschaft“ des belgischen Staates entstanden und hoffte auf eine „Heimkehr“ ins Reich:

„Solange seitens der Landesregierung nicht das Allernotwendigste geschieht, was zum Wohlergehen des Volkes in erster Linie notwen-dig ist, […], solange werden die ‚wiedergefundenen Brüder’ sich in Belgien nicht wohl fühlen.“547

E. EINE ANDERE GRUPPE VON AUSLANDSDEUTSCHEN: DIE SUDETENDEUTSCHEN UND DAS MÜNCHENER AB-KOMMEN ALS HOFFNUNGSSCHIMMER

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten hatte auch unter der sudeten-deutschen Bevölkerungsgruppe548 im Vielvölkerstaat Tschechoslowakei zu einer Verschärfung der Autonomieforderungen und der inneren Spannungen geführt. Die Sudetendeutsche Partei (SdP) unter der Führung Konrad Hen-leins wurde von reichsdeutschen Stellen finanziell unterstützt und hatte 1935 zwei Drittel aller deutschen Stimmen erreicht und ihre Mitgliederzahl bis 1938 auf 1,3 Millionen gesteigert.549 Auf diesem Wege wurde die SdP zu ei-nem wirkungsvollen Werkzeug Hitlers, die Sudentenkrise durch immer schär-fere Selbstbestimmungsforderungen anzuheizen und durch ein Übersteigern der Nationalitätenprobleme die innere Zersetzung der Tschechoslowakei vo-ranzutreiben.550 Die sudetendeutsche Volksgruppe diente dabei als „Spreng-satz“ innerhalb der Tschechoslowakei551. Hitler gab schon wenige Tage nach seinem Erfolg in Österreich dem Sudetendeutschen Parteiführer den Rat, der tschechoslowakischen Regierung unerfüllbar hohe Forderungen zu stellen. Der Staat sollte von innen aufgelöst und, ähnlich wie im Falle Österreichs, ein Anlass für ein Eingreifen der Wehrmacht geschaffen werden, der im Ausland propagandistisch als Vertei-digung des Selbstbestimmungs-rechts der Völker und Hilferuf des bedrohten Auslandsdeutsch-tums dargestellt werden konn-te.552

547 St.Vither Volkszeitung, 06.04.1938. 548 Zu Sudetendeutschen und Sudetenkrise vgl. genannte Literatur zur Außen- und Volkstums-politik des Dritten Reiches und z.B.: GEBEL R., „Heim ins Reich!“. Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938-1945), München, 1999 (im Folgenden: GEBEL, Heim ins Reich); SCHWARZENBECK E., Nationalsozialistische Pressepolitik und die Sudetenkrise 1938, München, 1979; SMELSER, Ronald M., The Sudeten Problem 1933-38. Volkstumspolitik and the Formula-tion of Nazi Foreign Policy, Middletown 1975. 549 Vgl. WENDT, Deutschland 1933-45, S. 434. 550 Vgl. WENDT, Deutschland 1933-45, S. 433f. 551 Vgl. RECKER, Die Außenpolitik des Dritten Reiches, S. 21. 552 Vgl. WENDT, Deutschland 1933-45, S. 434.

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Die Lösung der Sudeten-deutschen Frage folgte bald auf den Anschluss Österreichs, der auch innerhalb dieser Gruppe von Auslandsdeutschen zu ge-steigerten Hoffnungen geführt hatte: Die SdP beanspruchte un-ter dem Eindruck des Anschlus-ses und der gesamten nationalso-zialistischen Politik die Loslö-sung der sudeten-deutschen Ge-biete. Auf den Versammlungen der Sudetendeutschen Partei er-tönte immer häufiger der Ruf „Ein Volk, ein Reich, ein Füh-rer!“553

In Neubelgien nahm man großen Anteil am Schicksal der Sudetendeutschen, und auch die St.Vither Volkszeitung beteiligte sich an der Kampagne der reichsdeutschen Presse gegen die Tschechoslowakei, die berichtete, die Sude-tendeutschen würden dort schlecht behandelt (was tatsächlich auch der Fall war, hier allerdings propagandistisch wirksam „ausgeschlachtet“ wurde).554

„Die Rechtsunsicherheit der Tschechoslowakei nimmt Tag für Tag in erschreckendem Maß zu, und die Gewalttaten gegen Angehörige des Sudetendeutschtums häufen sich derart, daß in der deutschen Presse schärfstens gegen die ‚tschechische Mordhetze’ Stellung genom-menwird.“555 „Tschechenterror schont auch die Frauen nicht.“556 „Komplott gegen die Sudetendeutschen entlarvt. Tschechische Offi-ziere bereiteten einen Staatsputsch vor. Den Sudetendeutschen sollte das Verbrechen in die Schuhe geschoben werden.“557

Der Artikel „Die tschechische Gewaltpolitik“ berichtete von „fortdauernden Ausschreitungen tschechischer Polizeiorgane und Militärpersonen gegen An-gehörige des sudetendeutschen Volkstums“558 und unter der Überschrift „An der Grenze der Geduld“ erfuhren die Leser von einer „nachdrückliche[n] deutsche[n] Protestschrift […] wegen des Angriffs aufs Reichsdeutsche sowie auf die deutsche Nationalflagge.“559 Auch durch verschiedene Fotos und

553 Vgl. LUTHER, Volkstumspolitik des Deutschen Reiches, S. 163. 554 Vgl. HILDEBRAND, Deutsche Außenpolitik, S. 69. 555 St.Vither Volkszeitung, 13.08.1938. 556 St.Vither Volkszeitung, 24.08.1938. 557 St.Vither Volkszeitung, 04.05.1938. 558 St.Vither Volkszeitung, 11.05.1938. 559 St.Vither Volkszeitung, 08.06.1938.

Abb. 5: „Der Terror rast durch Sudeten-deutschland“; St.Vither Volkszeitung 21.9.1938, Nr.76, Jg.73.

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Landkarten wurden die Verhältnisse in der Tschechoslowakei und die Not-wendigkeit eines deutschen Eingreifens den Lesern propagandistisch wirksam vermittelt (vgl. z.B. Abb. 6). Doch führte die Sudetenkrise, die Kriegsgerüchte aufkommen ließ und die Einziehung neubelgischer Militärpflichtiger zur Folge hatte, auch zu Beunru-higung in der Eupen-Malmedyer Bevölkerung.560 H. Doepgen selbst äußerte sich zur Problematik eines modernen Krieges, da durch Angriffe feindlicher „Fliegerkorps“ auf „offene Städte und öffentliche Anlagen“ auch die „Zivil-bevölkerung gefährdet“ sei. Infolge der „militärischen Vorsichtsmaßnahmen“ der belgischen Regierung waren „auch St.Vith und Umgebung betroffen: mehrere Dutzend Mann wurden aus St.Vith allein zu den Fahnen einberufen.“561 Die Sudetenkrise betraf die neubelgische Bevölke-rung also unmittelbar; die Gefahr eines Kriegsausbruchs führte Doepgen (und mit ihm sicher die weiteren Heimattreuen) allerdings allein auf den Versailler Vertrag zurück, und nicht auf die Einmischung der Nationalsozialisten in der Tschechoslowakei:

„Was sich gegenwärtig abspielt, ist die Folge des unseligen Friedens-vertrages von Versailles im Jahre 1919; Unfriedensvertrag nennt man diesen Vertrag am besten; daß aus diesem Vertrage Konflikte entste-hen würden, war nach seiner Ratifizierung jedermann klar. Das Schlimmste daran ist, dass Völker in ihnen fremde Staaten hineinge-zwängt wurden, in denen sie sich wegen der Ungleichartigkeit der Rasse und Sprache weder jemals wohl fühlen können noch werden. Es ist darum notwendig, dass diese gefährlichen Konfliktsstoffe in Europa, wenn nur eben möglich, baldigst beseitigt werden. Darum sei die Losung: Weg mit dem Unfriedensvertrag von Versailles – her mit der Selbstbestimmung aller Völker, die von ihrem Vaterlande abge-trennt wurden! Denn dafür haben ja die Alliierten 1914-18 gekämpft – wie sie damals propagierten – und als die Selbstbestimmung wahr gemacht werden sollte, wurde sie in Zwangsbestimmung umgewan-delt. Aber etwas Gutes kommt nie zu spät. Wir erwarten die Wieder-gutmachung! (hd)“562

Die hier artikulierten Vorwürfe gegen die Nachkriegsordnung bezogen sich eindeutig nicht nur auf die Sudetendeutschen, sondern auch auf die Eupen-Malmedyer, die ihrerseits selbst in einen fremden Staat „hineingezwängt“ worden waren und nun für sich selbst die Rückgliederung zum Vaterland und die „Selbstbestimmung“ einforderten, die den Österreichern schon zuteil ge-worden war und für die die Sudetendeutschen zu diesem Zeitpunkt kämpften.

560 Vgl. CHRISTMANN, Presse und gesellschaftliche Kommunikation, S. 513. 561 St.Vither Volkszeitung, 01.10.1938. 562 St.Vither Volkszeitung, 01.10.1938.

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Ein von Hitler am 15.09.1939 gestelltes Ultimatum, das den sofortigen Ein-marsch deutscher Truppen ins Sudetenland forderte und am 28.09.1938 ablau-fen sollte, bedeutete eine Kriegsgefahr für Europa, die durch das Zusammen-treffen der deutschen, britischen, französischen und italienischen Regierungs-chefs in München am 29.September verhindert werden sollte.563 Das Münche-ner Abkommen erfüllte fast alle Forderungen Hitlers – die nicht eingeladene Tschechoslowakei musste die deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens an Deutschland abtreten (ferner auch Gebietsteile an Polen und Ungarn), der tschechoslowakische Reststaat erhielt durch England und Frankreich eine Be-standsgarantie.564 Die vier europäischen Großmächte einigten sich auf einen Einmarsch deutscher Truppen in das Sudetenland nach einem Stufenplan zwi-schen dem 1. und 10.Oktober.565 Das Münchener Abkommen wurde in der Volkszeitung entsprechend den Meldungen des DNB als „Schlußstrich unter die tschechische Krise“ darge-stellt und als „Sieg des Selbstbestimmungsrechts“ gefeiert. Die „sudetendeut-schen Brüder“ hätten unter der tschechischen Herrschaft „Jahre ununterbro-chenen Kampfes für das Recht der Selbstbestimmung“ erlebt und die „sude-tendeutschen Volksgenossen“ hätten „niemals des Glauben an die Macht des Rechts“ verloren.566 Auf diesem Wege wurden die Sudetendeutschen zum Vorbild, und das Münchener Abkommen zum Hoffnungsschimmer für die Bevölkerung Eupen-Malmedys. Zwar stellte der Artikel fest,

„unter Umständen kann es lange währen (wir sehen es an der sude-tendeutschen Frage), bis das verletzte Recht wiederhergestellt, das Unrecht wiedergutgemacht wird. Dennoch lehrt die Geschichte – man soll dies nicht vergessen -, daß zuletzt die Macht des Rechts sich stärker erweist als das ‚Recht der Macht’. […] Der Geist von Versailles ist tot, mit den ‚Illusionen’ von Versailles ist es aus!“567

Doch wurde deutlich, dass es sich lohnte, an den Forderungen festzuhalten. Die „Heimkehr“ der Sudetendeutschen stärkte auch in Neubelgien die Erwar-tungen auf einen Sieg der „Macht des Rechts“ und einer Rückgängigmachung der als unrecht empfundenen Regelungen des Versailler Vertrages. Die NS-Regierung hatte in der Sudetenkrise das größtenteils in der SdP orga-nisierte „Sudetendeutschtum“ als Instrument ihrer expansiven Außenpolitik eingesetzt568. Die anderen Großmächte waren den deutschen Forderungen nachgekommen und hatten damit die deutsche Großmachtposition bestätigt, was als Bekräftigung der bisherigen deutschen Außenpolitik und auch als gu-

563 Vgl. HILDEBRAND, Deutsche Außenpolitik, S. 70, 76. 564 Vgl. HILDEBRAND, Das vergangene Reich, S. 661. 565 Vgl. RECKER, Die Außenpolitik des Dritten Reiches, S. 23. 566 St.Vither Volkszeitung, 05.10.1938. 567 St.Vither Volkszeitung, 05.10.1938. 568 Vgl. LUTHER, Volkstumspolitik des Deutschen Reiches, S. 169.

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Abb. 6: „Das Sudetenland ist frei! Herzliche Freundschaft, als hätten niemals Grenzen sie getrennt. Die deutschen Soldaten werden von der sudetendeutschen Bevölkerung mit einer Herzlichkeit begrüßt und empfangen, die es jedem offenbar macht, daß die bisherige Grenze nur ein künstliches Hindernis war für die Verbundenheit der Deutschen diesseits und jenseits der Grenze. – Ueber und über mit Blumen besteckt wurden die deutschen Trup-pen…“; St.Vither Volkszeitung, 08.10.1938, Nr.81, Jg.73.

tes Vorzeichen für eventuelle weitere außenpolitische Bemühungen – die die heimattreuen Eupen-Malmedyer für sich erhofften – gesehen werden konnte. Auch in der neubelgischen Presse wurde die Freude der sudetendeutschen Bevölkerung geschildert, die in der Tat zum Großteil von der Richtigkeit des Anschlusses überzeugt war und den Einmarsch der deutschen Truppen feier-te.569 In allen Berichten der Volkszeitung ist vom großen Jubel beim Einzug der Wehrmacht die Rede:

„Der deutsche Einmarsch ins Sudetenland.[…] Alle Meldungen der Truppen bestätigen erneut den begeisterten Empfang durch die Be-völkerung.“570 „Der Führer in Karlsbad. [...]war ganz Karlsbad versammelt, um dem Führer in einer begeisterten Kundgebung seinen Dank für das Frie-denswerk auszusprechen. Unbeschreibliche Szenen der Begeisterung spielten sich ab als der Führer eintraf…“571

Der Erfolg im Sudetenland und die „Heimkehr“ einer anderen Gruppe von

569 Vgl. GEBEL, Heim ins Reich, S. 64. 570 St.Vither Volkszeitung, 05.10.1938. 571 St.Vither Volkszeitung, 08.10.1938.

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Auslandsdeutschen hat die Erwartungen auf eine eigene Rückgliederung an das Deutsche Reich wieder gesteigert und man identifizierte sich mit den Su-detendeutschen, die eine ähnliche „Schicksalsgemeinschaft“ darstellten wie die Eupen-Malmedyer selber, und beanspruchte deswegen eine gleiche Be-handlung.

„Ein Passus aus dem Versailler Vertrag. Zum Nachdenken! Nun ist aber Eupen-Malmedy-St.Vith ebenso wie Sudetendeutsch-land entgegen dem Willen seiner Bewohner und entgegen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, für das die Alliierten vier Jahre lang gekämpft haben wollen, von seinem Stammlande abgetrennt worden! Die Sudetendeutschen kehren jetzt ins Reich zurück! Was aber für den einen Bruder Recht ist, muß für den anderen billig sein!“572

Während das Grenz-Echo im Rahmen der Berichterstattung über das Mün-chener Abkom- men mehrmals betonte, Hitler habe erklärt, „dass es für Deutschland nach der Erledigung der sudetendeutschen Frage keinerlei terri-toriale Forderungen in Europa gebe“573, betrachtete die heimattreue Presse (und damit auch die Volkszeitung) das Münchener Abkommen aus einem an-deren Blickwinkel: Sie legte den Schwerpunkt der Berichterstattung auf die Frage des Selbstbestimmungsrechts der Völker und die Problematik der nati-onalen Minderheiten:

„Das Problem der Nationalen Minderheiten [...] Kein Land in Europa kann sich demselben entziehen. Unter dieser Ueberschrift schreibt das XX.Siècle einen bemerkenswerten Artikel über die Minderheiten, der uns Eupen-Malmedyer ganz besonders angeht. Nachdem es in diesem Artikel zunächst erklärt hat, daß eine der hauptsächlichsten Forderungen des nationalsozialistischen Programms darin besteht, in einem und demselben Staat alle Volksgenossen deutscher Sprache zu vereinigen. [...]“

Das Ziel der nationalsozialistischen „Volkstumspolitik“, alle „Volksgenos-sen“ in einem großdeutschen Reich zu vereinen, führte zu einer vollkommen nach Hitler-Deutschland ausgerichteten kollektiven Identität der deutschtreu-en Neubelgier. Auch die Erklärung Hitlers, sein Anspruch auf das Sudeten-land sei die letzte territoriale Forderung, ließ man nicht gelten, und die Volks-zeitung druckte entsprechende Artikel: 572 St.Vither Volkszeitung, 08.10.1938. 573 Grenz-Echo, 1./2.Oktober 1938, zit. n. BRÜLS, Tageszeitungen und ihr Deutschlandbild, S. 125.

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„Der Kanzler hat in seiner doch sehr leidenschaftlichen Ansprache vom 26.September 1938 erklärt, dass die Wiedervereinigung der Su-deten seine letzte territoriale Forderung in Europa wäre. Dies würde bedeuten, dass weder Danzig noch Memel noch Schleswig noch Eu-pen und Malmedy [...] niemals zum Reiche zurückkehren würden. Es fällt uns schwer daran zu glauben. [...] Aber alles was er sagt, ver-steht sich ‚Rebus sic stantibus’ (solange wie die Verhältnisse so sind d. Red.), morgen oder im nächsten Jahre oder in zwanzig Jahren wird der Führer finden können, dass der Gegner nicht mehr die Bedingun-gen einhält, unter welchen das Reich verzichtet hat, territoriale For-derungen zu erheben. [...] Kein Bürger des 3.Reichs wird das Groß-deutschland als vollständig fertig betrachten, bis unter einem Führer alle Länder vereinigt sind, unter welchen das Ja! Ertönt.“574

Die Heimattreuen sahen sich selbst als Angehörige der deutschen Volksge-meinschaft, denen eine Eingliederung in „Großdeutschland“ gebührte. Deutschland habe zwar „den Schutz der belgischen Grenzen verbürgt, daß jede gewaltsame Aenderung ausgeschlossen bleibt“, dennoch sei die Wahrheit dieser Bürgschaft,

„daß eine friedliche Revision jederzeit möglich ist, dass Vernunft, Einsicht, Verständigungswille, wohlverstandenes Interesse und das Recht im gegebenen Augenblick den Sieg davontragen werden. Dann werden auch die Eupen-Malmedy-St.Vither über ihr Schicksal selbst bestimmen!575

Die Volkszeitung fungierte als Sprachrohr des prodeutschen und des deutsch-nationalsozialistischen Standpunktes - so druckte sie am 3.Juni 1939 explizit einen Satz aus der „Rede des Führers am 1.Mai“ ab, in der er

„eindrucksvolle Worte über die Lebensgrundlagen des deutschen Volkes und Deutschlands Freiheitsbegriff [sprach]. In diesem Zu-sammenhange sprach er u.a. die bedeutungsvollen Worte, daß er "die deutschen Volkgenossen befreien und in die Heimat zurückführen werde."576

Derartige Aussagen Hitlers, die seine Ansprüche auf „Durchsetzung des völ-kischen Rechts“ und die gestiegene Macht Deutschlands in Europa betonten, wurden in Neubelgien stetig publiziert. Ausführungen wie „daß der Führer in 7 Monaten 10 Millionen Deutsche im Reich wieder einreihte“577, hielten die Erwartungen auf eine baldige „Heimkehr ins Reich“ aufrecht. Das wachsende Ansehen Deutschlands aufgrund des Abstimmungsergebnis-ses an der Saar und aufgrund der weiteren außenpolitischen Erfolge ließen mögliche Zweifel am Nationalsozialismus (wie den Konflikt mit dem Katho- 574 St.Vither Volkszeitung, 15.10. 1938. 575 St.Vither Volkszeitung, 01.04.1939. 576 St.Vither Volkszeitung, 03.06.1939. 577 St.Vither Volkszeitung, 04.02.1939.

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lizismus) in den Hintergrund treten, und die Volkszeitung betonte immer wie-der ihre Sympathie für den Nationalsozialismus. Wiederholt wurde auf die Zugehörigkeit zum erstarkenden und geeinten deutschen Volk hingewiesen, und die Rolle als Auslandsdeutsche, die das deutsche „Volkstum“ auch in Belgien aufrechterhalten, nahm einen beachtlichen Teil der Berichterstattung in Anspruch. Der Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes wurden als Beweis dafür gesehen, dass die Treue zum deutschen Vaterland letztendlich belohnt werden und das Selbstbestimmungsrecht sich durchsetzen wird. Doch stand die neubelgische Bevölkerung in den Jahren seit 1933 fortdauernd zwischen zwei Fronten, die sich mit immer härteren Mitteln bekämpften, und musste ihre Identität im Widerstreit zwischen belgischem und deutschem Staat, zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus, zwischen Wunsch nach „Heimkehr ins Reich“ und Zweifeln am Hitler-Regime abwägen. So kam es, wie schon in den Ausführungen zu den Wahlen verdeutlicht wurde, zu einer immer radikaleren Polarisierung der neubelgischen Bevölkerung, und in diesem Rahmen auch zu einer Ausbildung von zwei Gruppen mit unter-schiedlichen kollektiven Identitäten in Abgrenzung voneinander. Diese Radi-kalisierung und Auseinanderentwicklung zu zwei „imagined communities“ fand in der neubelgischen Presse ihren Niederschlag, in der das Grenz-Echo zum entschiedenen Gegner der heimattreuen Presse und des Nationalsozialis-mus wurde.

F. „HEIM INS REICH“ Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges verschärfte sich die Polarisierung der neubelgischen Bevölkerung noch: die Mitglieder der HF hofften auf eine schnelle „Heimkehr“ ins Reich, während die Probelgier hofften, dass Deutschland die belgische Neutralität - anders als im Ersten Weltkrieg - res-pektieren würde. Als die deutschen Truppen am 10.Mai 1940 die deutsch-belgische Grenze überschritten, verletzten sie zum zweiten Mal die belgische Neutralität578 und entschieden mit der Rückgliederung der Kreise ins Deut-sche Reich den inner-neubelgischen Konflikt zugunsten der Heimattreuen. Der offizielle Einmarsch in Belgien fand laut Wehrmachtsbericht um 5.30 Uhr statt, doch hatten schon zuvor bewaffnete Überfälle auf einige strategisch wichtige Punkte in Eupen-Malmedy stattgefunden, zum Beispiel auf ver-schiedene Brücken, Bahnanlagen und das Militärlager Elsenborn usw.579 An allen diesen Aktionen waren Einheimische beteiligt, die im vorhergehenden oder im selben Jahr aus der belgischen Armee nach Deutschland desertiert waren. Diese Einheimischen bezeichnete die Volkszeitung 1941 als „Befreier ihrer Heimat“.580 Auch prodeutsche Zivilisten, die teilweise mit Hakenkreuz-

578 Vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 13. 579 Vgl. SCHÄRER, Deutsche Annexionspolitik im Westen, S. 40. 580 St.Vither Volkszeitung, 20.05.1941.

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binden gekennzeichnet waren, wirkten bei der Einnahme der neubelgischen Ortschaften mit, insbesondere in St.Vith. Diese heimattreuen Bürger leisteten beispielsweise Lotsendienste oder beseitigten belgische Straßensperren.581 Der deutsche Einmarsch erfolgte ohne Kriegserklärung und entgegen mehr-fach abgegebener Grenzgarantien Deutschlands für Belgien und trotz der bel-gischen Neutralitätspolitik.582 Die deutsche Regierung begründete den Über-fall mit einer Zusammenarbeit Belgiens mit den Westmächten und sah die Verletzung der Neutralität ähnlich wie im 1.Weltkrieg als strategisch gerecht-fertigt.583 Die „Befreiung“ Eupen-Malmedys geschah praktisch ohne Kämpfe und nur mit geringen Zerstörungen, da die belgische Armee sich hinter den Lütticher Befestigungsgürtel zurückgezogen hatte, und schon um 14 Uhr wurde am Eu-pener Rathaus die Reichsflagge gehisst.584 Die Volkszeitung – die seit 1936 immer mehr zum Organ der Heimatreuen Front geworden war – berichtete noch am selben Tag in einem Extrablatt von der lange erwarteten „Befreiung“:

„St.Vith ist befreit! Zwanzig Jahre haben wir geharrt! Zwanzig Jahre haben wir gehofft, und nichts hat uns in unserer Zuversicht, in unse-rer Treue wankend gemacht! Keine Drohung und kein Spott! Nun ist der große Tag da! Deutsche Truppen – darunter Söhne unserer engeren Heimat – haben heute morgen um 5,30 Uhr unsere Stadt erreicht, begeistert begrüßt von einer jubelnden Volksmenge. Endlich! Endlich sind wir wieder deutsch! Fahnen heraus! Wir grüßen unsern Führer und Befreier! Heute und immerdar! Heil Hitler! Die Heimattreue Front!585“

Tatsächlich nahm die neubelgische Bevölkerung den deutschen Einmarsch unterschiedlich auf: die Probelgier waren erschreckt und flüchteten teilweise ins belgische Landesinnere (was in Anbetracht der Tatsache, dass nach dem Einmarsch einige Probelgier und die wenigen im Gebiet wohnenden Juden in „Schutzhaft“ genommen wurden, durchaus begründet war); die Heimattreuen empfanden die Heimkehr ins Reich als „Befreiung“ und als „herrliche Schick-salswende“.586

„Dankbaren Herzens aber schauen wir auf den, dem wir unsere Frei-heit verdanken, unseren Führer, dem unsere Herzen schon lange ent-gegengeschlagen haben und dem wir unsern Dank, unsern heissen

581 Vgl. SCHÄRER, Deutsche Annexionspolitik im Westen, S. 41. 582 Vgl. SCHÄRER, Deutsche Annexionspolitik im Westen, S. 42. 583 Vgl. ROSENSTRÄTER, Deutschsprachige Belgier, Bd. 1, S. 149. 584 Vgl. SCHÄRER, Deutsche Annexionspolitik im Westen, S. 43. 585 Extra-Blatt der St.Vither Volkszeitung, 10.05.1940. 586 St.Vither Volkszeitung, 14.05.1940.

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Dank, durch unentwegte opferbereite Treue bezeugen wollen und werden!“587

Die Volkszeitung berichtete jedoch, die deutschen Truppen seien „freudetrun-ken“588 von der Bevölkerung empfangen worden, ihnen seien kleine Geschenke und Lebensmittel überreicht worden, und sie seien mit deutschen Liedern und Fahnen begrüßt worden.589

„...Die St.Vither standen überall auf der Straße mit strahlenden Ge-sichtern und besprachen den plötzlichen, glückhaften Wechsel der Dinge.[…] Alle wurden stürmisch mit „Heil-Hitler“-Rufen begrüßt und mit Mi-neralwasser, Schokolade, Obst und Rauchwaren beschenkt. Schon vorher waren die ersten Hakenkreuzfahnen ausgehängt oder aufgezo-gen worden. […] Dankbaren Herzens aber schauen wir auf den, dem wir unsere Frei-heit verdanken, unserem Führer, dem unsere Herzen schon lange ent-gegengeschlagen haben und dem wir unseren Dank, unseren heißen Dank durch unentwegte, opferbereite Treue bezeugen wollen und werden! Heil unserem Führer! Heil Hitler!“590

In der Volkszeitung erschienen Fotos von der „Befreiung unserer Heimat durch deutsche Truppen, Bilder von der Einnahme der Stadt St.Vith durch die Solda-ten des Führers“ (vgl. Anhang 13), die dokumentierten, dass den „vorbeizie-henden Soldaten Erfrischungsgetränke“ angeboten wurden.591 Insgesamt drück-te die Volkszeitung große Freude angesichts der Einnahme Eupen-Malmedy-St.Viths durch die deutschen Truppen aus, und vom Erlass des Führers zur

Eingliederung berichtete die Volkszeitung unter der Über-schrift „Wir danken unserm Führer! Die Befreiung der Gebiete Eupen-Malmedy-St.Vith von 20jäh-riger Knechtschaft“ (vgl. An-hang 14). Nicht nur die Volkszei-tung, sondern der Großteil der neubelgischen Presse (das Grenz-Echo selbstverständ-lich ausgenom-men), berich-

587 St.Vither Volkszeitung, 14.05.1940. 588 „Volksgenossen und Volksgenossinnen! Am 10. Mai d.J. rückten deutsche Truppen in unse-re Heimat ein. Freudetrunken wurden sie von uns empfangen!....“ Extra-Blatt der St.Vither Volkszeitung, 20. Mai 1940. 589 Vgl. SCHÄRER, Deutsche Annexionspolitik im Westen, S. 45. 590 St.Vither Volkszeitung, 14.05.1940. 591 St.Vither Volkszeitung, 18.05.1940.

Abb. 7 Anzeige aus der St.Vither Volkszeitung, 29.05.1940, Nr.15, Jg.75.

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tete mit Enthu-siasmus von der „Heimkehr“ ins Reich und dokumentierten die Begeisterung der Bevölkerung, so beispiels-weise auch die Eupener Nachrich-ten, die titelten „Unser Führer holte auch uns heim ins Reich!“592 Schon wenige Tage nach der Eingliederung ins nationalsozialistische Deutsch-land bot der Verleger der Volkszeitung Postkarten mit dem Bild Hitlers und Hakenkreuzfähnchen zum Kauf an (vgl. Abb. 8) – der Schritt von der Heimat-treue zum Nationalsozialismus war durch die Angliederung getan, und Anzei-gen dieser Art zeugen von der Begeisterung zumindest des heimattreuen Teils der Bevölkerung. Der Oberstleutnant der deutschen Truppen selbst gab bei der Feier zur „Heim-kehr“ Eupen-Malmedys „der Freude darüber Ausdruck, daß er die St.Vither, die ihm und seinen Offizieren von Anfang an in herzlichster Weise entgegen-gekommen wären, jetzt ganz als deutsche Volksgenossen begrüßen könne. Er schließt mit einem dreifachen, begeistert aufgenommenen Sieg Heil! auf den Führer und obersten Kriegsherrn.“593 Dass allerdings tatsächlich alle St.Vither bzw. alle Neubelgier den deutschen Truppen derart begeistert entgegentraten und an den Dankeskundgebungen teilnahmen, entspricht nicht der Wahrheit. Gewiss standen viele Menschen an den Straßen und begrüßten enthusiastisch die Soldaten, doch fragt sich, wie viele Bewohner sich an den Feiern nicht beteiligten. Ob es sich dabei wirklich nur um „eine verschwindend kleine Zahl […], denen nicht zu helfen ist“594 handelte, wie es die heimattreue Presse schilderte, erscheint zweifelhaft. Bei den Wahlen 1939 hatten sich noch 45% der Eupen-Malmedyer für die heimat-treuen und nationalsozialistischen Parteien und damit für eine Rückkehr ins Reich ausgesprochen. Darüber hinaus gab es eine viele deutschgesinnte, doch dem Nationalsozialismus abgeneigte Neubelgier, von denen einige durch den beeindruckenden Einmarsch der Deutschen und durch die von den Heimattreu-en aufgebauschte Freudenstimmung mitgerissen worden sein könnten. Doch von einer uneingeschränkten Begeisterung aller Neubelgier kann nicht die Re-de sein. Zudem galten die Großkundgebungen und Freude der Menschen nicht in allen Fällen dem Nationalsozialismus, sondern eher dem deutschen Vater-land, von dem man zwanzig Jahre zuvor getrennt worden war.595 Die heimattreue Presse ließ jedoch keine andere Meinung zu und beschrieb die Begeisterung der neubelgischen Bevölkerung angesichts des Führererlasses vom 18.Mai, der die Kreise zum Reichsgebiet erklärte und dem Regierungsbe-zirk Aachen angliederte, mit starken Worten:

„Die Erlösung aus jahrelanger Knechtschaft nahte, Schmach und Schande sind vergessen, die Fesseln von Versailles zerrissen, Groß-Deutschlands Freiheitskampf hat auch uns erfaßt. Durch des Führers

592 Eupener Nachrichten, Nr.113, Jg.32. 593 Extra-Blatt der St.Vither Volkszeitung, 20. Mai 1940. 594 Zit. n. SCHÄRER, Deutsche Annexionspolitik im Westen, S. 46. 595 Vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 14.

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Erlaß vom heutigen Tage sind wir gleichberechtigte deutsche Staats-bürger geworden. Opferbereit wie bisher werden wir weiter kämpfen. Die Parole: ‚Führer befiehl, wir folgen’, gilt nun auch in doppeltem Maße für uns. Männer und Frauen der Heimat! Die Zukunft unseres deutschen Volkes, die Zukunft unserer Kinder geht über alles. Nicht persönliche Vorteile, nicht Eigennützigkeit, nein, rücksichtslos gegen uns selbst, müssen und werden wir uns einsetzen zum Wohle unserer Heimat, zur Stärkung unseres Volkes, zum glorreichen Siege Groß-Deutschlands. In unerschütterlichem Glauben an unseren Führer werden uns auch die kommenden Wochen des Kampfes bereit fin-den. Adolf Hitler, Sieg Heil!.“ „ [...]..das Unerwartete, das kaum zu fassende, das so unsagbar Herr-liche und Schöne: ‚Der Führer hat durch einen Erlaß Eupen-Malmedy-St.Vith und Moresnet zum Reichsgebiet erklärt!’ Ein Schrei! Wir sind wieder deutsch! Alles stürzt auf die Straße! Jubelnd rufen sich die Leute die Nachricht zu. Schnell stürmen Männer zu den verschiedenen Kirchen, und bald jubeln alle Glocken der Stadt ihr ‚Großer Gott, wir danken dir!’ zum Himmel empor. Ueberall strahlende Gesichter! In vielen Augen glänzen Tränen. Selbst bei fremden Offizieren sieht man feuchte Augen angesichts dieser sichtlich aus ganzem Herzen kommenden Freude der St.Vither Bevölkerung. Um 20 Uhr sammeln sich die Vereine der Stadt auf dem Viehmarkt, und ein langer Festzug setzt sich von dort in Bewegung. [...] Durch die mit Hakenkreuzfahnen geschmückten Straßen geht der Zug, überall stürmisch begrüßt von den dicht stehenden Zuschauern. [...] Alsdann tritt Kreisleiter Franz Genten vor und hält eine markige An-sprache: Er weist auf die langen Jahre des Hoffens und Harrens hin, spricht von der niemals aufgegebenen Zuversicht und dankt endlich in bewegten Worten unserem Führer für die Befreiung von dem schmachvollen fremden Joch! [...]“596

Den Heimattreuen war ihr Wunsch auf eine „Heimkehr ins Reich“ und Ein-gliederung in die deutsche „Volksgemeinschaft“ damit erfüllt worden und die Identifikation mit dem Deutschen Reich hatte ihr Ziel erreicht. Man war wie-der Angehöriger des Deutschen Reiches, und die Volkszeitung beschwor, man werde dem Führer den „heißen Dank durch unentwegte, opferbereite Treue bezeugen“.597 Auf der Basis der mit dem Vaterland gemeinsamen Werte und Normen hat sich hier bereits eine starke Solidarität ausgebildet, die ein zentra-les Moment kollektiver Identitäten ausmacht. Ins Reich „heimgekehrt“, wurde diese Solidarität auf der nationalen Ebene deutlich, d.h. beispielsweise in kol-

596 Extra-Blatt der St.Vither Volkszeitung, 20. Mai 1940. 597 St.Vither Volkszeitung, 14.05.1940.

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lektiver Opferbereitschaft, wie der Bereitschaft für das Reich Kriegsdienst zu leisten, dem „Führer“ zu dienen oder gar den Soldatentod zu sterben.598 Der hohen Identifikation mit dem deutschen Vaterland und der Argumentati-on entsprechend, es handele sich bei Eupen-Malmedy um deutsches Land und Angehörige der deutschen Volksgemeinschaft, galten in den ehemaligen bel-gischen Ostkantonen ab sofort die deutschen Gesetze, während Belgien als Besatzungsgebiet behandelt wurde. 599 Eupen-Malmedy durchlief den Gleich-schaltungsprozess: die Vereine wurden in die entsprechenden Reichsverbände eingegliedert und die Beamten und Lehrer mussten ihren Eid auf den „Führer“ ablegen.600 Nachdem die deutschtreue Bevölkerung Eupen-Malmedys zwanzig Jahre „auf den Tag der Befreiung gehofft“601 hatte, war das Ziel des Kampfes um eine Identität als Angehöriger des Deutschen Reiches erreicht.

598 Zu Solidaritäten als zentrales Moment kollektiver Identitäten und zu kollektiver Opferbereit-schaft vgl. S. 26 bzw. KAELBLE, Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten, S. 17. 599 Vgl. WIESEMES E., Die Organisation „Hitlerjugend“ im Gebiet von Malmedy-St.Vith 1940-44, St.Vith, 2000, S. 10. 600 Vgl. CREMER, MIEßEN, Spuren, S. 14. 601 St.Vither Volkszeitung, 14.05.1940.

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IX. SCHLUSSBETRACHTUNG: DER IDENTITÄTS-WANDEL DER BEVÖLKERUNG DER GRENZ-KREISE VON REICHSDEUTSCHER BIS ZU NATIO-NALSOZIALISTISCHER ZEIT – IMMER NEUE HE-RAUSFORDERUNGEN

Die St. Vither Volkszeitung fungierte im betrachteten Zeitraum als „Ort der Öffentlichkeit“602 Malmedy-St.Viths, im Sinne eines Raumes der öffentlichen Kommunikation, in dem die Identität der Population ausgehandelt wurde. In diesem Prozess definierte die Volkszeitung durch ihre Art der Informations-vermittlung und Bildung „öffentlicher Meinungen“ eine „mediale Öffentlich-keit“603, die nicht nur der Meinungsbildung im politischen Sinne sondern auch der emotionalen Orientierung und Wertevermittlung diente. Konkret bedeutet dies, dass sie zum einen durch ihre Deutungen der politi-schen Ereignisse zur politischen Meinungsbildung beitrug, zum anderen durch Betonung der Gemeinsamkeiten (wie Sprache, Traditionen, Religion oder re-gionale Herkunft) der Malmedy-St.Vither emotionale Bindungen innerhalb der „imagined community“ stärkte. In den Jahren nach der Abtretung an Belgien kam vermehrt der Begriff der Schicksalsgemeinschaft auf, und in einem Artikel aus dem Jahr 1929, der die Entwicklung der Identität der Grenzbevölkerung unter dem Titel „Eupen, Malmedy, St. Vith – eine Schicksalsgemeinschaft“ sehr aussagekräftig zu-sammenfasste604, wurde betont, dass die Menschen noch in der Vorkriegszeit keine „wirkliche Gemeinschaft der Seelen“ gebildet hatten, „eine Verbunden-heit der Herzen zwischen den Bewohnern der beiden Kreise“ habe nicht be-standen. Die Tatsache, dass sie „alle miteinander Deutsche waren und [sich] dessen freuten, war selbstverständlich“ – wie auch im 4.Kapitel dieser Arbeit herausgearbeitet wurde, bestand eine feste Verbundenheit zum Deutschen Reich. Die Bismarcksche Politik, der Sieg im Deutsch-Französischen Krieg, vor allem aber die Reichsgründung hatten die Entstehung eines starken deut-schen Nationalbewusstseins und -gefühls zur Folge, das auch durch den Kul-turkampf, der die erste Herausforderung an diese reichsdeutsche Identität dar-stellte, nicht ernsthaft beeinträchtigt wurde. Der Bruch der belgischen Neutralität durch das Deutsche Reich 1914 wurde – nicht nur weil er ein Argument für die Wiedergutmachungsverpflichtungen Deutschlands und damit auch für Abtretung Eupen-Malmedys war – zu einem

602 Vgl. FÜHRER, HICKETIER, SCHILDT, Öffentlichkeit - Medien - Geschichte, S. 7. 603 Vgl. FÜHRER, HICKETIER, SCHILDT, Öffentlichkeit - Medien – Geschichte, S. 15. 604 Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 03.08.1929 (die folgenden Zitate stammen aus diesem Artikel).

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Streitpunkt, der die deutsch-belgischen Beziehungen dauerhaft belastete. Auch aufgrund der internationalen Wahrnehmung Belgiens als Märtyrer und Opfer und Deutschlands als Täter und Kriegsschuldigen erschwerte der Neut-ralitätsbruch eine Assimilation der Bevölkerung Eupen-Malmedys in den bel-gischen Staat und begünstigte eine Abgrenzung nach außen und eine innere Konsolidierung der „imagined community“ der Neubelgier durch Bezug auf gemeinsame deutsche Werte und Erinnerungen. Ebenso erschwerte die Frage des Franktireurskrieges und des Vorgehens der deutschen Truppen in Belgien, die in der Zwischenkriegszeit auch in der Volkszeitung fortdauernd diskutiert wurde, eine Entfremdung vom belgischen Staat und Orientierung nach innen und nach Deutschland, dem man sich ei-gentlich zugehörig fühlte. Wie sollte man sich einem Staat eingliedern, den man durch die Kriegspropaganda als Heimat der Franktireurs kannte, und de-ren Angehörige die Bewohner Eupen-Malmedys als „Boches“ oder deutsche Kriegsschuldige sehen mussten? Die Bestimmungen des Versailler Vertrages, der Kriegsschuldartikel und die Deutschland auferlegten Reparationslasten riefen auch in Eupen-Malmedy ein Gefühl der Demütigung und Erniedrigung hervor. Die territorialen Forderun-gen der Alliierten, deren Objekt Eupen-Malmedy selbst wurde, beförderten ein starkes Gemeinschaftsgefühl innerhalb der Grenzkreise und auch mit dem Deutschen Reich. Man sah sich als Teil des ungerecht behandelten deutschen Volkes, der deutschen „Schicksalsgemeinschaft“. Doch auch innerhalb der Region festigte sich das Gemeinschaftsgefühl: Hat-ten die Einwohner der Kreise Eupen und Malmedy in der Vorkriegszeit keine wirklich gefestigte Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Identität gebildet, so wurden sie in der Zwischenkriegszeit zu einer „Schicksalsgemeinschaft“, „nicht nur äußerlich“, wie die Volkszeitung betonte, „sondern sie sind sich dessen bewußt“. Die Grenzbevölkerung erfüllte somit in der Zwischenkriegs-zeit eine der Grundvoraussetzungen zur Ausbildung einer kollektiven Identität – sie wurde sich ihrer gemeinsamen Grundlagen bewusst. Wie im Kapitel zum Begriff der kollektiven Identität festgestellt, ist nicht das Vorhandensein ge-meinsamer Traditionen und Erfahrungen, sondern das kollektive Bewusstsein von ihnen als Gemeinsamkeiten entscheidend für die kollektive Identität.605 Kollektive Identität ist „so stark oder schwach wie sie im Bewusstsein der Gruppenmitglieder lebendig ist“.606 Die Niederlage ihres Vaterlandes im Ers-ten Weltkrieg und die Eingliederung in den belgischen Staat stärkte dieses gemeinsame Bewusstsein.607

605 Vgl. LANDWEHR, Kulturgeschichte, S. 198. 606 ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 132. 607 „...uns Eupen-Malmedyer von der Brust der großen deutschen Mutter gerissen und uns als Fremdlinge einem uns wesensfremden Staate einverleibt. […] Das Bewußtsein gemeinsam erlittenen Unrechts ist es, welches die Schicksalsgemeinschaft zwischen

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Die Enttäuschung über die Volksbefragung und die mit der Übergangsregie-rung Baltias eingetretene Situation führte zu einem „Kampf um die Seele der neubelgischen Bevölkerung“, die sich gezwungen fühlte ihr „Volkstum“ zu verteidigen. Das Ziel war, alle Eupener, Malmedyer und St.Vither zu einer „einzigen, wirklichen Gemeinschaft der Seelen und der Herzen“ zu ver-schweißen. Man war nicht bereit, sich von der deutschen Identität und von seinen regionalen Eigenheiten und Traditionen zu trennen und dem Gouver-nement unterzuordnen. Die als ungerecht empfundene Volksbefragung und Angliederung wurden zu Kristallisationspunkten der in der Volkszeitung widergespiegelten lokalen Diskussion, und die „imagined community“ der Neubelgier gründete ihre starken Wir-Gefühle auf die gemeinsamen Unrechtserfahrungen und die Re-sistenz gegen die Herrschaft des belgischen „Haut Commissaire royale“. Die Situation als Minderheit und die Betonung dieses gemeinsamen Schicksals durch die Presse wirkten als Stifter von Gemeinsamkeit und einer starken, den belgischen Staat ablehnenden kollektiven Identität. Stattdessen besann man sich auf die gemeinsamen Wurzeln, auf die regionale Heimatverbundenheit und den Katholizismus und wählte 1925 mehrheitlich die Kath. Partei, die sich zwar in der Frage einer neuen Volksbefragung zu-rückhielt, aber durch ihren für Neubelgien aufgestellten Kandidaten den Schutz der deutschen Sprache, der katholischen Werte und der Traditionen und Sitten Eupen-Malmedys versprach. Thematisiert die Presse die gemeinsame bzw. öffentliche Erinnerung histori-scher Ereignisse – wie die Volkszeitung die gemeinsame Vergangenheit als ehemalige deutsche Reichsangehörige unterstrich – bewirkt sie die Bildung „historischer Erinnerungsgemeinschaften“608, eines kollektiven Gedächtnis-ses., das zu wesentlichen Teilen zur inneren Stärkung der kollektiven Identität beiträgt. Mit der auf die Wahlen von 1925 folgenden Enttäuschung erstarkten die revi-sionistischen Strömungen innerhalb Neubelgiens. Die neugeschaffene CVP, die die gemeinsamen Werte und Ziele der Eupen-Malmedyer vertrat und so-wohl für den Katholizismus als auch für die Forderung nach Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechtes eintrat, bot den Neubelgiern bei den Wahlen 1929 die Möglichkeit, ihren politischen Forderungen Ausdruck zu verleihen. Dreiviertel der Wähler demonstrierten durch ihre Stimme (für CVP oder Sozi-alisten) ihren Wunsch nach einer neuen Abstimmung, nach Revision des Ver-sailler Vertrages und auch ihre von katholischen und deutschen Werten be-stimmte kollektive Identität. Der um 1932 langsam einsetzende Stimmenrückgang der revisionistischen Parteien deutet zwar auf eine beginnende Schwächung der Revisionsbewe- Eupen, Malmedy und St.Vith begründet hat. […]“;Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 03.08.1929. 608 Vgl. FÜHRER, HICKETIER, SCHILDT, Öffentlichkeit - Medien - Geschichte, S. 17.

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gung und eine ansatzweise anlaufende Assimilation in den belgischen Staat hin, doch hat die Betrachtung der Berichterstattung der Volkszeitung über die Machtergreifung der Nationalsozialisten verdeutlicht, dass der heimattreue Teil der Bevölkerung, den man in der Volkszeitung repräsentiert sehen kann, durchaus Hoffnungen in die Politik Hitlers und der NSDAP und vor allem in den Gedanken der deutschen Volksgemeinschaft setzte. Man begann, sich mit dem nationalsozialistischen Gedankengut zu identifizieren und war fasziniert vom Einheitsgedanken des deutschen Volkes, dem die Heimattreuen sich zu-gehörig fühlten und dessen Sprache, Traditionen und Werte den essentiellsten Bestandteil ihrer kollektiven Identität ausmachten. Die Radikalisierung und Polarisierung der Bevölkerung Eupen-Malmedys fand ihren schärfsten Ausdruck im Zusammenschluss der heimattreuen Kräfte zur Heimattreuen Front, die dem probelgischen Teil der Bevölkerung gegen-überstand, der sich vom zuvor gemeinsamen Bezugspunkt des deutschen Va-terlandes gelöst hatte. In dieser innerneubelgischen Auseinandersetzung ver-trat die Volkszeitung den Standpunkt der Heimattreuen Front und deutete den ohne Zweifel bestehenden Konflikt zwischen Heimattreue und Katholizismus, den die Eupen-Malmedyer zu diesem Zeitpunkt erneut innerhalb ihrer Identi-tät aushandeln mussten, zugunsten des Ideals der deutschen Volksgemein-schaft. Ziel war es, die Neubelgier für den „Volkstumskampf“ der Heimat-treuen Front zu gewinnen, und die Weißwahl von 1936 (und trotz des Stimmenrückgangs auch das immer noch beachtliche Ergebnis von 1939) zeigt die in der kollektiven Identität eines beträchtlichen Teils der Bevölke-rung tief verwurzelte Heimatverbundenheit – im Sinne von Deutschland als Heimat der Region Eupen-Malmedy und ihrer Einwohner. Der Teil der Bevölkerung, der dem Vaterland zuvor durchaus verbunden ge-wesen war, sich eine Rückgliederung aber aufgrund des Nationalsozialismus nicht mehr wünschten, fand in der Volkszeitung keine Repräsentation. Die Auslandsdeutschen in Eupen-Malmedy beobachteten die Saarabstimmung mit großem Interesse, und anhand der Berichte der Volkszeitung lässt sich ein tiefes Verbundenheitsgefühl mit den saarländischen „Volksgenossen“ feststel-len, die auch aufgrund des Versailler Vertrages vom Reich abgetrennt worden waren, sich nun aber durch eine Abstimmung für eine Rückkehr aussprechen konnten. Die Volkszeitung führte den Eupen-Malmedyern die Parallelen ihrer eigenen Heimat zum Saargebiet vor Augen, was zum einen die Ungerechtig-keit der „consultation populaire“ in Eupen-Malmedy umso mehr unterstrich, zum anderen auch die Hoffnung auf die eigene „Heimkehr ins Reich“ und die Identifikation mit Deutschland aufrechterhielt. Die nationalsozialistische Außen- und Volkstumspolitik wurde durch die Volkszeitung und die Heimattreuen aufmerksam verfolgt, und der „An-schluss“ Österreichs sowie der sudetendeutschen Gebiete weckten große Hoffnungen. Die Frage der eigenen Rückgliederung wurde verstärkt disku-tiert. So boten die Ereignisse in Österreich und der Tschechoslowakei auch

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eine weitere Gelegenheit, die Bestimmungen des Versailler Vertrages zu kriti-sieren, die zur Bildung von Minderheiten in fremden Staaten geführt und das Prinzip Selbstbestimmungsrechts nicht umgesetzt hätten. Es schien sich auszuzahlen, die eigenen revisionistischen Forderungen auf-rechtzuerhalten: die aus der Perspektive der heimattreuen Auslandsdeutschen erfolgreiche nationalsozialistische Volkstumspolitik ließ die kollektive Identi-tät der Eupen-Malmedyer an den Werten der deutschen „Volksgemeinschaft“ und dem Wunsch der Rückkehr ins Reich festhalten. Mit der Einnahme der Kreise durch deutsche Truppen und dem Führererlass zur Eingliederung ins Deutsche Reich wurde der Wunsch der Heimattreuen zur Eingliederung in diese „Volksgemeinschaft“ erfüllt. Die auch während der Zeit der Abtrennung mit dem Vaterland geteilten Werte und Ideale und eine frühzeitige Identifizierung mit der nationalsozialistischen Ideologie seitens der Heimattreuen fanden ihren Ausdruck in den Berichten der Volkzeitung vom Jubel angesichts der Einnahme bzw. „Befreiung“ der Grenzkreise.

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X. ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abb. Motiv Quelle Seite

Abb. 1 Anzeige „Sieges- und Friedens-

Fest in St.Vith“

Kreisblatt für den Kreis

Malmedy, 09.08.1871

Nr. 63, Jg.6

216

Abb. 2 Wahlwerbung der Heimattreuen

Front „Bleib der Heimat treu“

St.Vither Volkszeitung,

16.05.1936, Nr.40, Jg.71

280

Abb. 3 Wahlwerbung der Heimattreuen

Front

„Alle bekennen sich zur Heimat-

treuen Front!“

St.Vither Volkszeitung,

20.05.1936, Nr.41,

Jg.71.

283

Abb. 4 „Der Führer zieht in seine Hei-

matstadt ein...“

St.Vither Volkszeitung,

16.03.1938, Nr.22,

Jg.73.

291

Abb. 5 Landkarte: „Der Terror rast durch

Sudetendeutschland“

St.Vither Volkszeitung

21.9.1938, Nr.76, Jg.73.

294

Abb.6 Fotos „Das Sudetenland ist frei!“ St.Vither Volkszeitung,

08.10.1938, Nr.81,

Jg.73.

298

Abb. 7 Anzeige „Postkarten mit dem

Bildnis des Führers sowie Führer-

Bilder in allen Größen und Preis-

lagen, Hakenkreuzfähnchen...“

St.Vither Volkszeitung,

29.05.1940, Nr.15,

Jg.75.

303

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XI. ANHANG Anhang 1: Beispiel eines Datenbankeintrages Zeitung[ St.Vither Volkszeitung ] Datum der Ausgabe[ 18.05.1940 ] Nummer der Ausgabe[ 12 ] Jahrgang[ 75 ] Titelseite[ Deutsche Truppen im Haag und Amsterdam! Die holländische Regierung geflohen Bilder von der Befreiung unserer Heimatstadt ] Herausgeber[ Hermann Doepgen ] Besonderheiten Inhalt[ Das deutsche Memorandum an Belgien und Holland Ernste Lage für die Westmächte. Die Welt bestaunt den Erfolg von Lüttich Maginotlinie in 100km Breite durchstoßen! Fotos: Die deutsche Luftwaffe beschützt den heimatlichen Luftraum. Bild links: Deutsche Jäger über St.Vith. Bild rechts: So trifft unsere Flak... Flüchtlingsstrom an der belgisch-französischen Grenze Übergang über den Albertkanal erzwungen. Führerhauptquartier, 18.Mai,...": Erfolge der Wehrmacht in Holland und Belgien Deutscher Luftsieg bei Rotterdam Die Bedeutung der deutschen Erfolge an der Maas AB: zur Wiederingangsetzung des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens... Fotos: Die Befreiung unserer Heimat durch deutsche Truppen ] Zusätzliche Autoren[ ] Anzeigen[ Postkarten mit dem Bildnis des Führers sowie Hakenkreuzfähn-chen vorraetig in der Buchhandlung d. Bl. ]

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Datum[ 16.6.2004 Schlagworte[ St. Vith, Zweiter Weltkrieg, Kampfhandlungen, Deutschland,

Frankreich, Belgien, Holland, Maginot-Linie, Flüchtlinge, Eu-pen-Malmedy, Militär, Luftwaffe, Heer, Lüttich, Hermann Do-epgen, Propaganda, Hitler, Nationalismus, Patriotismus, Natio-nalgefühl

] Notiz[ 6-seitige Ausgabe mit 2-seitigem Sonntagsblatt, im Jahrgang 1940, Monat Mai, sind außerdem eingebunden: 3 Ausgaben "Der Stoßtrupp. Westdeutsche Frontzeitung" vom 16.05., 19.05. und 23.05.1940

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Anhang 2: Titelzeile nach Namens- und Formatänderung im November 1905.

Anhang 3: Titelzeile bis 1905.

Anhang 4: Layout Kreisblatt (19.Jahrhundert).

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Anhang 5: Abbildung der Siegessäule in Ber-lin, Malmedy-St.Vither Volkszeitung, 19.03.1921, Nr.23, Jg.56.

Anhang 6: Titelzeile ab 1934 (unter dem Namen „St.Vither Volkszeitung“)

Anhang 7: Beilage „Sonntagsblatt für St.Vith und Umgebung“

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Anhang 8: Beilage „Der Eifelbauer“

Anhang 9: Beilage „Die deutsche Glocke“

Anhang 10: Ergebnisse der Kammerwahlen in Eupen-Malmedy

Wahl Kath. Par-tei

Liberale Sozialisten CVP / HF Andere

1925 66,4% 3,2% 25,2% - - 1929 19,4% 4,5% 23,3% 52,1% - 1932 31,0% 2,9% 17,8% 45,8% - 1936 54,2% 3,2% 12,6% HF Weiß-

wahl 26.6%

1939 38,6% 3,6% 4,0% 45,2% 6,7% Aus: Cremer, Mießen, Spuren, S. 12.

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Erläuterungen: • Die von der HF geforderte Weißwahl 1936 brachte 8.882 ungültige

Stimmen in Eupen-Malmedy. Der stärkste Gegner, die Kath. Union, erreichte nur 4.989 Stimmen (zur genaueren Betrachtung der HF und der Weißwahl 1936 vgl. S.81f.).

• Hinter „Andere“ verbirgt sich die Rex-Partei, die eine Erneuerung des politischen Katholizismus anstrebte, und in Eupen-Malmedy ihre Hauptaufgabe darin sah, „die verschiedenen Parteien, die sich in den Grenzgebieten um die Lehnsherrlichkeit streiten, in Schach zu halten und insbesondere die antinationalen Gruppen zu zerschlagen“. Dies meinte den Kampf gegen die HF, der im übrigen Belgien vorhanden Gegensatz Rex-Kath.Partei wurde in Eupen-Malmedy zum Gegensatz HF. In der heimattreuen Presse wurde die Vermittlung rexistischer Meinungspositionen unterdrückt. Aus diesem Grund wurde die Rex-Partei in dieser Arbeit ausgeklammert. Die Volkszeitung zeigt kaum verwertbare Berichtersattung bzw. Auseinandersetzung mit der Rex-Partei.

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LITERATURVERZEICHNIS

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