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Dieser Text stammt von Rivka Kahana, geborene Grünwald
(1926-2013). Sie hat zusammen mit ihren Schwestern Leah und Esther
das KZ Auschwitz-Birkenau überlebt. Ihre Tochter Vardi hat uns die
Aufzeichnungen zur Verfügung gestellt.
1944 bin ich nach zwei Jahren von Ungvàr nach Bergsas
heimgekehrt, nachdem ich
in dieser Zeit bei Onkeln als Leiterin eines Textilladens
arbeitete. Mein Onkel Leopold
war zur Zwangsarbeit rekrutiert. Meine Mutter hatte in Ungvàr
drei Schwestern. Zwei
von ihnen hatten einen Konfektionskleiderladen und die dritte
einen Textilladen. Eine
der Schwestern hatte drei Kinder, die andere zwei und eine war
unverheiratet. Alle
wurden von den Deutschen in Auschwitz-Birkenau ermordet. Niemand
kehrte nach
Hause zurück.
Im Februar wurde mein Bruder Zeevi 13. Wir haben seine
Bar-Mitzwa im engen Fa-
milienkreis und mit wenigen Freunden gefeiert. In seiner
Ansprache erwähnte der
Junge, wie traurig unsere Situation wäre und warnte vor der
großen Gefahr, die uns
Juden erwartet. Alle hatten Tränen in den Augen. Nur drei Monate
später wurde der
Junge in Auschwitz-Birkenau ermordet.
Am 19. März marschierten die Deutschen ein. Alle Juden gerieten
in Panik. Wir
wussten von den Juden, die zu uns aus Polen geflüchtet sind,
dass die Deutschen alle
Juden brutal umbringen. Als erstes haben sie dafür gesorgt, dass
Terror in der Stadt
entsteht. Sie haben die Gemeinderäte verhaftet, als Geiseln
gehalten und verlangten
eine unvorstellbare Geldsumme für ihre Befreiung. Menschen sind
in den Straßen
herumgelaufen und haben unter den Juden versucht Geldspenden zu
sammeln, um
die Hauptfunktionäre der Gemeinde zu befreien. Die Deutschen
kassierten den
Geldbetrag ein, hatten die Geiseln jedoch zuvor noch getötet.
Die Verfolgungen
häuften sich: gelber Stern, Ausgangssperren, die Pflicht,
nichtjüdische Angestellte in
jüdischen Geschäften anzustellen und so weiter. Zum Pessahfest
schlossen wir alle
Fenster und Jalousien und haben die Haggadah flüsternd gelesen.
Die Angst war
berechtigt, denn der ganze Hof war voll mit deutschen Soldaten
auf Lastwagen. In der
Frühe, als ich die Fenster aufmachte, um die Wohnung zu lüften,
guckte ein Soldat
hinein und fragte: „Schlafen die Juden noch in Betten?!“ Im
April hat uns die ungari-
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sche Polizei befohlen, nur die unbedingt notwendigen Sachen
einzupacken, die aber
ein bestimmtes Gewicht nicht übersteigen sollten, während alles
andere zu Hause
gelassen werden sollte.
Zwei ungarische Polizisten traten bewaffnet in die Wohnung ein
und einer von ihnen
führte meinen Vater in das Schlafzimmer. Ich hatte Angst, Vati
alleine zu lassen und
ging ihm nach. Der Polizist sagte: „Ihr dürft nicht mehr als
dreihundert Pengo behal-
ten. Gib mir den Rest.“ “Ich habe kein Geld,“ antwortete mein
Vater. „Juden haben immer auch ein Vermögen,“ sagte der Polizist.
“Mein Vermögen sind meine Kinder,“ erwiderte mein Vater. „Dann hole
sie heraus, ich muss eure Wohnung sperren,“ be-
endete der Polizist das Gespräch. Wir gingen zum Ausgang hinaus
auf die offene
Veranda.
Vati nahm eine Postkarte aus seiner Tasche heraus und schrieb
einige Wörter
an meinen Bruder Jossi, der in Budapest versteckt lebte. Die
Postkarte ist bis heute
noch als Andenken in unserem Besitz. Etwas später kam ein
Karren, auf den wir die
uns überlassenen Reste unseres Hab und Gut luden und wurden in
das Ghetto ver-
bannt.
Das Ghetto war ein Riesenterrain einer Ziegelei, die einem Juden
namens Vari ge-
hörte.
Familien wurden in Baracken zusammengepfercht, die dem Trocknen
von Dachzie-
geln dienten. Jede Familie, und die meisten waren kinderreiche
Familien, bekam eine
Fläche, die der Größe eines Zimmers glich. Ohne sanitäre
Einrichtungen und ohne
Betten. Wir mussten auf dem bloßen Boden Decken ausbreiten.
Leintücher oder an-
dere Stoffstücke dienten als Vorhänge für die Abtrennung
zwischen den einzelnen
Familien.
Am 12. Mai stellten die Deutschen einen Eimer am Eingang zur
Baracke auf und be-
fahlen uns auf Deutsch und Ungarisch, jedes Schmuckstück in
diesen Eimer zu wer-
fen. Einige Stunden später kamen sie wieder und durchsuchten die
Körper eine Fa-
milie.
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Die Menschen erschraken, schrien und weinten und man konnte ein
Geräusche von
den Dachziegel hören. Es waren auf Dachziegel geworfene
Medaillen und Münzen,
die die Menschen aus sentimentalen Gründen für sich behalten
wollten.
Meine Mutter bemerkte, dass ich noch Ohrringe in den Ohren hatte
und sagte, ich
müsse sie herausnehmen. Ich zeigte ihr, dass es mir nicht
gelang, einen Ohrring zu
öffnen. Meine Mutter versuchte es selbst, doch es ist auch ihr
misslungen. Es fiel mir
auf, dass ihre Hände zitterten und ich fragte sie: „Wovor hast
du Angst? Warum zit-
terst du?“ „Diese Sadisten werden den Ohrring zusammen mit
deinem Ohr ausreißen;
davor habe ich Angst,“ sagte meine Mutter.
Am 15. Mai hielten Güterwaggons in der Nähe des Ghettos. Es
waren eigentlich
Viehwaggons. Ungarische Polizisten durchsuchten jeden und jede
am ganzen Körper.
Man sagte uns: „Ihr werdet zur Arbeit gebracht. Die Alten werden
auf die Kinder auf-
passen, um die Familien nicht auseinander zu reißen. Je
schneller ihr am Ziel seid,
desto größer sind eure Chancen, eine Arbeit zu bekommen.“ Bevor
wir in die Vieh-
waggons hineingepresst wurden, hat man uns alle Dokumente
weggenommen. Mein
Vater reagierte darauf laut: „Wenn man einem Menschen seine
Dokumente weg-
nimmt, beraubt man ihm der Existenz!“. Wir verstanden, was er
gemeint hat, aber die Waffen waren in ihren Händen und es blieb uns
nichts anderes übrig, als uns in den
Waggons zusammenzudrängen. Die ungarischen Polizisten machten
alles, um in den
Augen der Deutschen Gefallen zu finden. Daher haben sie gebrüllt
und uns gehetzt
und wollten uns Juden so schnell wie möglich loswerden –
womöglich, um das nach
uns verbliebene Vermögen unter sich aufzuteilen. Meine Schwester
Lea sagte zu
einem der Polizisten: „Ja, ihr freut euch über unser Leid, aber
ihr werdet die nächsten
nach uns sein.“ Wir haben uns in eine Ecke im Waggon geduckt.
Hoch über uns war
eine kleine Öffnung, aber dieses Fensterchen war zu hoch, um
dadurch hinauszu-
schauen. Am Anfang versuchten wir uns auf den Boden zu setzen,
aber nach und
nach wurden immer mehr Menschen in den Waggon hinein gejagt, so
dass nicht ge-
nug Platz zum Sitzen für alle vorhanden war. Wir haben uns
abwechselnd setzen
müssen. Wir waren an die hundert Menschen im Waggon, mit einem
Eimer Wasser
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und zwei Kübeln für Ausscheidungen. Wir versuchten das Wasser so
weit wie möglich
zu sparen, damit mehr für Kinder und für Kranke blieb. Am
nächsten Tag war dies
bereits viel schwerer. Die Lippen trockneten aus, und die Füße
trugen durch das
Treten von anderen Menschen unterwegs zu den Eimern immer mehr
Verletzungen
davon. In Slowakien wurden die ungarischen Polizisten durch
deutsche ersetzt. Wir
begannen die Täuschung zu verstehen und waren beängstigt. Man
hatte uns belogen,
also musste sich sicher etwas anderes dahinter verstecken. Die
Waggons rollten nach
Diwon in Polen ein. Durch einen Schlitz zwischen zwei Brettern
konnte ich einen pol-
nischen Jungen sehen, der durch einen am Hals langgeschobenen
Finger markierte,
dass wir in den Tod geführt wurden. Ich habe ihm geglaubt, sagte
aber den anderen
kein Wort. Alle waren so erschrocken und still, dass wir nur das
monotone Getöse der
Eisenbahnräder wahrnahmen.
Als der Zug anhielt, war es noch dunkel. Eine halbe Stunde
passierte nichts, was
bedeutete, dass wir angekommen waren. Vati setzte mich auf seine
Knie und bat
mich, über ihn zu steigen und durch das kleine Fenster
hinauszuschauen, um zu be-
richten, was ich sehen konnte. Ich hatte Angst ihm weh zu tun,
aber tat was er wollte.
Der Ort sah wie ein großes Militärlager aus. Ich sah eine Menge
Baracken, umgeben
von einem ziemlich dicht angelegten Zaun, Betonpfeiler mit
Hochspannungsanlagen
und starken Scheinwerfern. In der Luft lag ein Geruch von
verbrannten Knochen.
Vater sagte: „Das ist Auschwitz!“ Ich wusste nicht, was das zu
bedeuten hatte. Ich bin
heruntergeklettert, setzte mich und legte meinen Kopf auf ihn,
und seine heißen Trä-
nen ergossen sich auf mein Gesicht. Ich habe nie zuvor meinen
Vater weinen sehen.
Langsam, sehr langsam, sammelte er seine Kräfte und fing zu
sprechen an: „Bislang
haben wir unsere Kinder zu Gutem erzogen, jetzt aber muss ich
sie verlassen, und
das in welch einem Zustand.“ „Vater, wir sind zusammen. Du
verlässt uns nicht!“ „Wir Alten haben keine Chance, am Leben zu
bleiben.“ “Alte“ - dachte ich vor mich hin.
Mutti ist fünfzig, Vati knapp fünfundfünfzig. „Ihr dürft alles
essen und müsst die Ko-
scher-Gesetze nicht beachten. Falls ihr am Leben bleibt und
befreit werdet, dann
könnt ihr wieder koscher werden. Wenn ihr zusammen bleibt, passt
jede auf die an-
dere auf.“
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Wir nahmen einen Lärm von unten kommend wahr, hörten Wörter auf
Deutsch und
das Bellen von Hunden. Die Waggons wurden aufgesperrt und
geöffnet. Die meisten
Insassen stiegen halb ohnmächtig heraus, und einer versuchte den
anderen zu stüt-
zen. Meine Schwester Surika hielt sich mit allen Kräften an
Mutters Rock fest. Die
Kinder waren in Panik, hungrig, durstig und nicht ahnend, was
vor sich ging. Die
Deutschen schrien: „Schneller! „Schneller! Männer für sich,
Frauen für sich“. Zur
gleichen Zeit kam ein Zug aus Ilosva an. Meine Mutter erkannte
ihre Schwester und
schrie: „Cerna! Cerna! Gsarine“ und lief, um ihr zu helfen.
Meine Schwester Surika
hielt sie immer noch fest. Mir rief meine Mutter laut zu: „Pass
auf das Kind auf! Pass
auf Esther auf!“ Vater, David und Zeevi sind verschwunden, ohne
sich verabschieden
zu können. Deutsche Soldaten hielten Wache, entlang der gesamten
Strecke. Junge
Burschen, gekleidet in ein Gewand, das wie gestreifte grau-blaue
Pyjamas aussahen
schrien: „Zwillinge! Zwillinge! Ikrak! Ikrak!“ Und die Deutschen
stießen und schrien:
„Los! Los! Schneller! Schneller!“ Ich habe einen der Männer im
Pyjama gefragt: „Wo sind wir? Was ist das hier?“ Er hat sich aber
nicht getraut zu antworten, ein Deutscher
war zu nah dran. Gleich nachdem der Soldat sich entfernte kam er
zurück und murrte:
„Nimm das Kopftuch runter, du bist jung und gesund.“ Wir
gelangten zur Rampe. Vor
uns stand Frau Naufeld mit ihrer Tochter Katti. Mengele hatte
Katti nach rechts und
die Mutter nach links geschoben. Frau Naufeld bat in schönem
Deutsch, ihre Tochter
nicht von ihr zu trennen, da sie ja noch ein Kind sei. „Bitte,
dann nehmen Sie Ihre
Tochter.“ Und so ging Katti mit ihrer Mutter in den Tod. Nun
waren wir an der Reihe.
Wir zogen, die eine an der anderen, in Richtung der Wohnungen.
In die Richtung von
Esther schrie Mengele: "Du, du, wie alt bist du?“ Ich flüsterte
ihr zu, nicht nach hinten zu sehen und rief: „Achtzehn!“ Dann
gingen weiter. Ihr war, als ob der Himmel ein-
stürzen würde. Mit fünfzehn verstand sie nicht, dass dies ihre
Lebensrettung bedeu-
tete. Wir bläuten ihr ein, sie müsse wissen, dass sie ab heute
achtzehn sei. Die Se-
lektion war sehr streng; wer unter achtzehn war, blieb nicht am
Leben. Von Esters
Schulklasse sind nur drei Mädchen am Leben geblieben. Alle 14-,
13- 12- und
11-Jährigen und jüngere Kinder, einschließlich der Säuglinge,
wurden in Birkenau mit
ihren Müttern ermordet. Wir wurden dann schnell zu einem großen
Gelände geführt.
In einiger Entfernung vor uns standen die Männer aus unserem
Transport. Ich habe
David gesehen. Er sah sehr traurig aus. Vater und Zeevi waren
nicht dort. Wir haben
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nicht geschrien, alle waren zu erschrocken. Ich wollte ihn
ermuntern und zeigte ihm
Leah und Esther, er verstand aber, dass auch wir ohne Mutter und
ohne Surika wa-
ren. Der Geruch in der Luft hatte uns mit Angst erfüllt, und wir
haben das Ärgste
vermutet. Erst später erfuhren wir, was eine „Selektion“
bedeutet und was dieser
schreckliche Geruch war: Alle, die nach links gingen, wurden
direkt den Krematorien
zugeführt. Der Geruch in der Luft stammte von verbrannten
Knochen. Wir haben das
Gelände betrachtet. In einiger Entfernung sah ich einen
viereckigen Schornstein, aus
dem sich dichter Rauch hob, der noch hohe Flamen enthielt. Wir
fingen an zu raten,
was das sein könnte. Die optimistischen Mädchen beschlossen,
dies sei eine Fabrik.
„Vielleicht werden wir dort arbeiten?,“ sagte eine. Aber wir
hatten alle Angst.
Nach einiger Zeit wurden wir in ein Gebäude geführt, das
Waschraum hieß. Man be-
fahl uns, uns zu entkleiden. Aber alle blieben angezogen. Wir
wurden zur Keuschheit
erzogen und konnten nicht glauben, dass jemand im Ernst gemeint
haben könnte, wir
sollten uns ausziehen, während dort Männer in diesen Pyjamas
gearbeitet haben und
deutsche Soldaten herumstanden. Eine deutsche Soldatin schrie
wieder: „Schneller,
schneller, alles runter! Alles runter!“ Sie fuhr mit einer
dünnen Peitsche übers Gesicht
eines der Mädchen. Wir versuchten die intimen Körperstellen mit
den Händen zu ver-
stecken. Wir fühlten uns so gedemütigt; als ob man uns der
ganzen Menschenwürde
entblößte. Die Deutsche mit der Peitsche befahl uns, die Haare
zu schneiden Vier
Mädchen haben das Haar wie befohlen geschnitten. Es hörte sich
so an: „Schneiden,
nicht schneiden, schneiden...“ Auf meinen Kopf zeigte sie mit
der Peitsche: „Nicht
schneiden.“, auf Esthers: „Schneiden.“ Und auf Leah: „Nicht
schneiden.“ Esther wurde
kahl geschoren. Wir wussten nicht, was das zu bedeuten hatte,
aber es ging uns auch
nichts an. Wir hatten wahrlich größere Sorgen, die uns voll und
ganz beschäftigten.
Am Schluss wurden wir zum Duschraum geführt. Das war wirklich
nötig. Seit einigen
Tagen mussten wir ohne sanitäre Ausstattung auskommen. Von einem
Fenster aus,
das wie ein Schaufenster aussah, hat man uns Kleider zugeteilt.
Dabei wurden die
Maße nicht beachtet. Das Kleid konnte lang, kurz, breit sein,
die Körpergröße wurde
dabei nicht berücksichtigt. Wir sahen alle wie für es Purimfest
verkleidet aus, aber in
schlechter Verkleidung. Auch das zeigte uns, dass das normale
Leben vorbei war. Wir
wollten nur die Wahrheit wissen. Ich näherte mich einer der
Haarschneiderinnen und
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fragte: „Was geht hier vor? Wo sind wir?“ Sie antwortete
nicht.
Eine junge Mutter fragte: „Wo ist mein Kind?“ Aber auch sie
bekam keine Antwort.
Ich begann auf Jiddisch zu fragen. Vielleicht würden sie diese
Sprache verstehen.
Und so war es auch.
Ich fragte das Mädchen, das die Kleider austeilte: „Was ist
dieser Schornstein?“ Sie antwortete leise: „Dort werden die
Transporte verbrannt. Nur die, die du hier gesehen hast, bleiben am
Leben.“ Esther fragte mich: „Was hast du mit ihr gesprochen? Kennst
du sie?“ „Ja“ antwortete ich. „Auch sie ist Jüdin, es erwartet uns
das gleiche Schicksal.“ Leah neigte sich zu mir: „Hast du etwas
erfahren?“ „Ja, leider.“ „Was?“
„Gott gäbe, es wäre nicht wahr.“ Weiter hat sie nicht mehr
gefragt. In einem großen
Raum mussten wir uns in Fünferreihen anordnen. Eine Soldatin
teilte jeder Frau ein
Medikament und ein Glas mit einer bitteren Flüssigkeit aus. Sie
wartete und verge-
wisserte sich, dass wir das Medikament eingenommen hatten.
Später erfuhren wir
den Zweck dieses Medikaments. Es bewirkte, dass wir keine
Menstruation mehr be-
kamen. In der Tat hat das „Medikament“ sehr gut gewirkt. Keine
von uns hat mehr ihre
Regel bekommen. Diese Substanz wurde von ihnen jeder Nahrung und
jedem Ge-
tränk beigemischt. Eine Offizierin gab der Soldatin den Befehl:
„FKL“. Das bedeutete
„Frauenkonzentrationslager Block 13“.
Die Soldatin marschierte mit uns und versuchte, uns den
Militärdrill beizubringen:
„Reihen gerade halten.“ Das war nicht gerade das, was wir am
Herzen hatten.
Wir erreichten Block 13. Die Aufseherin und die Blockälteste
zählten uns und trugen in
das Journalbuch ein, wie viele Häftlinge angeliefert wurden.
Dann verschwand die
Aufseherin. Daraufhin wandte sich die Blockälteste an uns und
sagte: „Ich bin Gizka
Moskovitschova. Tut mir sehr leid, dass ihr hierhergekommen
seid. Versucht diszipli-
niert zu sein. Nur so können wir versuchen, uns gegenseitig zu
helfen.“ Sie hat sofort
Esther (ich nannte sie Ettuka) bemerkt, ging in den Block hinein
und brachte ein paar
Schuhe mit hohen Absätzen, damit Esther erwachsener aussah. Wir
begannen sofort
zu fragen, ob das, was wir über die Geschehnisse im Lager gehört
hatten, wahr sei.
„Man redet nicht draußen, wir werden drinnen reden und nur
flüsternd“, war die Ant-wort. Wir gingen hinein und bekamen
Schlafplätze zugewiesen. Es waren Holzprit-
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schen, die dort „Kojen“ hießen.
Erst einmal werdet ihr zu zehnt auf einer Koje sein. Es war uns
egal, in welchem Ge-
dränge wir leben würden. Wir hatten wahrlich größere Sorgen. „Am
Morgen wird man
euch sehr früh zum Zählappell wecken. Vor jedem Block wird
gerade in Fünferreihen
zum Appell gestanden. Die Blockälteste, eine Deutsche und ein
Deutscher werden die
Reihen zählen und im Journal eintragen.“ Nach dieser Aufklärung
habe ich mich der
Blockältesten genähert und bat: „Ich will die bittere Wahrheit
erfahren. Stimmt es,
dass hier Menschen verbrannt werden?“ „Ich kann das leider nicht
leugnen“, antwor-
tete sie. „Wie werden die Menschen getötet?“, fragte ich. „Durch
Gas und dann wer-den sie verbrannt, ihr wisst aber nichts. Sie
glauben, dass niemand hier weiß, was vor
sich geht. Wenn sie erfahren, dass es jemand weiß, schießen sie
ihn nieder“, warnte
sie. „Klopft die Decken aus und versucht euch zu beruhigen.“ Das
war aber nicht möglich. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.
Ich sah vor den Augen das Lei-
den meiner Eltern, wie sie erlebten, wie ihre Kinder Zeevi und
Surika erstickten. Oder
vielleicht war es umgekehrt. Vielleicht sahen die Kinder, wie
die Eltern vor ihrem Tod
litten? Ich versuchte zu erahnen, wie lange sie gelitten haben
mochten, bis sie die
Seele ausgehaucht hatten. Ich habe den Mund mit beiden Händen
zugehalten, damit
niemand mein Schluchzen hörte und ich nicht laut aufschreien
musste. Dieses Bild
begleitet mich bis heute ständig, Tag und Nacht in meinen
Träumen. Leah flehte mich
an: „Versuch doch zu schlafen. Du hast bereits vier Nächte
keinen Schlaf gehabt.“
Draußen herrschte noch Dunkelheit als man schrie: „Aufstehen!
Aufstehen!“ Wir
stiegen von den Pritschen herunter und begannen Wasser zu
suchen, um uns etwas
zu erfrischen. Das blieb aber ein Traum. Nirgends war Wasser zu
finden. Am nächs-
ten Tag liefen wir zu einem anderen Block hinüber, um uns zu
waschen. Hähne waren
zwar vorhanden, aber die Rohre waren an keine Wasserleitung
angeschlossen. Die
Deutschen haben die Hähne nur als eine Tarnung hingebaut. Als
Tarnung für den Fall
einer Visite vom Roten Kreuz. Das Rote Kreuz kümmerte sich aber
nicht darum, was
hier seit vier Jahren mit den Juden geschah. Das hat uns sehr
wehgetan. Wir bildeten
Fünferreihen. Unsere Reihe enthielt uns drei Schwestern sowie
zwei Fried-
mann-Schwestern. Auch sie waren aus Bergsas. Hier begann unsere
Freundschaft
fürs Leben. Nach dem Zählappell bekamen wir etwas zu trinken,
das einem Tee äh-
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nelte, aber wahnsinnig dunkel aussah, obwohl es auch kein Kaffee
war. Auch diesem
Getränk war das Medikament zur Unterbrechung der natürlichen
Vorgänge im Körper
beigemischt.
Ein neuer Befehl: „Nicht auseinandergehen, in Fünferreihen
bleiben“, die Blockälteste würde uns wohin bringen. Wir folgten ihr
und kamen zu einem Gebäude. Aber noch
bevor wir eintraten, baten uns zwei Häftlinge, die Ärmel von der
linken Hand aufzu-
krempeln und erst dann einzutreten. Am linken Unterarm wurde uns
eine Nummer mit
einem Schreiber, ähnlich einem Rapidograf, eintätowiert. Esther
bekam die Nummer
A-7760, Leah A-7761 und ich A-7762. Von diesem Tag an waren wir
nicht mehr unter
den Namen existent, die uns die Eltern gegeben hatten, wir waren
nur noch eine
Nummer. Der Spruch meines Vaters kam mir sofort wieder ins
Gedächtnis: „Wenn
man uns die Identität nimmt, beraubt man uns unserer
Existenz.“
Auf dem Weg zurück bat man uns um Hilfe, die Suppe aus der Küche
zu holen. Die
Suppe wurde in einem sehr schweren Kessel geliefert, der
schwerer war als der ge-
samte Inhalt. Die Frauen haben einander unterwegs abgelöst. Auch
die Henkel waren
unbequem zum Tragen. Im Block wurde die Suppe in Schüsseln
verteilt, je eine
Schüssel für zehn Frauen. Löffel gab es nicht. Meine Schwester
Leah wollte nur einen
Schluck, dafür aber als erste, bevor die anderen mit ihren
Lippen die Schüssel be-
rührten. Wir haben es ihr gestattet.
Am nächsten Tag kam ein neuer Transport in dem Block an. Er war
aus Siget. Jetzt
waren wir nicht mehr nur zehn Frauen pro Pritsche, sondern
dreizehn. Ungefähr tau-
send Frauen insgesamt waren in der Baracke, die hier Block hieß.
Wir haben die
Neuankommenden betrachtet und trauerten jenen nach, die direkt
in die Krematorien
gingen. Mir fiel ein junges Mädchen auf, das ankam und ungefähr
im Alter von Esther
sein musste. Am nächsten Tag sah ich, dass sie sehr hübsch war.
Man hatte ihr das
blonde Haar nicht abgeschoren. Sie ist die älteste zu Hause
gewesen. Ihre Mutter und
jüngeren Brüder gingen direkt in das Krematorium, so dass sie
völlig allein blieb.
Gegenüber dem Eingang in die Baracke war ein kleines Fenster.
Das dadurch ein-
fallende Licht beleuchtete den Eingangsbereich. Dort stand eine
Pritsche, aber nur mit
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einer Ebene. Sie saß auf der Pritsche. Ich ging auf sie zu und
fragte: „Wie heißt du?“ „Edith Klus“, antwortete sie. „Willst du
meine Schwester kennenlernen?“, fragte ich weiter. „Sie ist
ungefähr in deinem Alter, du wirst eine Freundin haben.“ Sie
aber
antwortete: „Bitte störe mich nicht, ich spiele gerade.“ Sie
begann, ihre schönen Fin-
ger auf dem Fensterrahmen zu bewegen, als ob sie Klavier
spielte. Ich stand hinter ihr
und wartete. Nach ziemlich langer Zeit hörte sie zu spielen auf.
Sie legte ihre Hände in
den Schoß und begann zu sich selbst auf Ungarisch zu reden:
„Mami, wo bist du?
Mami, warum küsst du mich nicht? Warum sagst du mir nicht,
Editka hat so schön
gespielt?!“
Ich bemerkte, dass das Mädchen „überschnappt“ war, was in dieser
Situation völlig
verständlich war. Sie sprach mit niemandem und spielte nur auf
dem Fenster für Mami
Klavier. Eines Nachts hat die Wächterin bei der Tür nicht
aufgepasst und das Mäd-
chen ging aus dem Block, um nach ihrer Mutter zu suchen. Ein
SS-Mann brachte sie
zurück und warnte die Blockälteste: „Wenn ich sie noch ein Mal
finde, werde ich sie an
Mengele abgeben.“ Die Frauen im Block versuchten, sie zu
beschützen. Sie standen
für sie Appell und versuchten ihr zu sagen, dass der Krieg
einmal zu Ende gehen
würde. Aber niemand wagte es, ihr die Wahrheit zu sagen, dass
ihre Mutter nicht
mehr lebte.
Eines Tages kam Mengele zum Appell. Wir mussten alle die Hände
ausstrecken, und
er betrachtete die Finger von jeder von uns. Er holte gerade
eine rothaarige junge
Frau heraus, als plötzlich kommt Editka ankam und Mengele
fragte: „Wo ist meine
Mutti?“
Er antwortete: „Du willst zu deiner Mutti? Komm!“ Weder Editka
noch das rothaarige Mädchen lebten danach noch lange.
Hinter den Baracken befand sich statt Toiletten die Latrine. Ein
langes, blockartiges
Gebäude mit runden Löchern im Zementboden, in Abständen von
einem halben Meter
und je 40 cm Durchmesser. In der Nacht haben wir unsere
Bedürfnisse in ein Fass
erledigt. Das hieß dort „Beczka“ auf Polnisch. Neben der
„Beczka“ saß die Nacht-
wächterin, damit niemand zu flüchten versuchte. Man könnte
glauben, man hätte ir-
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gendwohin flüchten können, aber wir waren von einem
Hochspannungszaun umzin-
gelt.
Es war fürchterlich, in der Nacht die Flammen zu sehen.
Eigentlich fühlten wir uns, als
wären wir in der Hölle. Wir fragten immer wieder laut: „Gott,
wie kannst du zusehen, was hier den Juden angetan wird?
Rechtschaffenen Menschen, Kindern, Säuglingen,
die zeitlebens nie eine Sünde begangen haben.“ Darauf bekamen
wir bis heute keine
Antwort. Ich frage mich: Wie ist es möglich gewesen, dass all
das geschah?
Es vergingen noch zwei Wochen, die wir in unserem Block
verbracht haben. Wir ha-
ben uns mit der Block-Ältesten und ihren Gehilfinnen
angefreundet. Eines Nachmit-
tags kam ein Befehl, uns alle in den Waschraum zu bringen. Das
war gefährlich, denn
in dem Bad pflegte Mengele seine Selektionen durchzuführen. Die
Blockälteste und
ihre Gehilfinnen hatten die Pflicht, jeder Selektion
beizuwohnen, um von ihren Listen
diejenigen Frauen zu streichen, die die Selektion nicht
durchstanden. Unterwegs be-
kamen wir den Rat, unsere Gesichter abzudecken, um nicht blass
auszusehen, ge-
rade und aufrecht zu stehen und möglichst gesund zu imponieren.
Vor lauter Angst
und Aufregung waren alle blass. Mengele kam mit noch zwei
Offizieren. „Ganz aus-
ziehen!“, lautete der Befehl. Die Angst war stärker als die
Scham und die Demütigung.
Wir standen völlig nackt da und er prüfte mit seinen Augen jede
von uns ganz genau.
Wer ihm nicht gefiel, wurde aus dem Saal entfernt. Als Mengele
herausging, um den
zwei Offizieren seine Befehle zu erteilen, kletterten einige
wendige Mädchen auf das
Fenster und sprangen hinaus. So retteten sie sich vor einem
sicheren Tod.
Nach der Selektion konnten wir duschen und erhielten graue
Gewänder aus Baum-
wolle und weiße Kopftücher.
„Ab morgen werdet ihr in Brzezinka arbeiten.“ Das weiße Kopftuch
aus Baumwolle
war das Markenzeichen dieser Arbeit. Es waren auch rote
Kopftücher, die hießen
„Kanada“. Eine deutsche Soldatin begleitete uns zur Arbeit,
unterwegs gesellten sich
auch männliche Soldaten dazu. Wir wurden durchweg überwacht. Wir
passierten das
T-Lager, wobei ein doppelter Stacheldrahtzaun unter elektrischer
Hochspannung sie
von uns trennte. Plötzlich hörte ich „Ribetchu! Ribetschu!“ (das
war mein Kosename
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zu Hause). Ich sah in die Richtung, au der die Stimme kam, und
erkannte meine
Schulfreundin aus der gleichen Klasse, Genvat Evi. Es war
ziemlich schwer, sie zu
erkennen, ohne Haare und mit einem komischen Kleid. Evi
erzählte, dass sie mit ihrer
Mutter da sei. Wir waren froh, dass endlich auch eine Mutter
überlebt hatte. Allerdings
war die Freude äußerst kurz. Unser Arbeitsplatz war in leeren
Baracken. Die Vorar-
beiterin reichte jeder von uns Pakete, und am Boden sitzend
sollten wir jedes darin
befindliche Stück nach seiner Art sortieren; Waschartikel für
sich, Kleidungsstücke für
sich, Augengläser, Schmuck und Medikamente, alles separat. Die
Vorarbeiterin hat
alles in den dafür bestimmten Block hinübergetragen. Und von
dort wurden die Sa-
chen nach Deutschland geschickt. Es waren die Sachen, die vor
den Gaskammern
und den Krematorien den zum Tod Bestimmten genommen wurden.
Evi wartete jeden Tag auf mich, als wir von der Arbeit
zurückgingen. Es ist mir immer
gelungen, ihr etwas mitzubringen, einen Speiserest, Zahnpasta
oder ähnliches.
Ich war nicht die einzige, die Sachen in das T-Lager
hineingeworfen haben. Jede von
uns hatte dort eine Bekannte. Tausende junge Frauen aus Ungarn
waren dort inter-
niert. Den Arbeitslosen im Block 13 gaben wir unsere Unterwäsche
und wir selbst
besorgten uns andere in Brzezinka. Wir mussten aber äußerst
vorsichtig sein, dass
wir nicht ertappt wurden, denn für den Diebstahl des deutschen
Guts (ja, als solches
wurden die Pakete betrachtet) drohte eine Körperstrafe mit
schwerer Prügel. Ein
buchstäblicher Fall von „ermordet und enterbt.“
Von unserem Arbeitsplatz aus sahen wir deutlich die Schornsteine
der Krematorien
und auch diejenigen, die in den Tod geführt wurden. Es war ein
unbeschreiblich
schreckliches Gefühl, all das zu sehen. Aber sowohl sie wie auch
wir wurden von
bewaffneten Soldaten bewacht, und sehr viele Drahtzäune trennten
uns voneinander.
Als wir in der Nacht arbeiteten, konnte Esther nicht wach
bleiben. In der Toilette war
eine gutwilliger Capo damit einverstanden, dass Esther in dessen
Zimmer auf dem
Boden schlief. Sie weckte Esther immer auf, bevor wir die
Schicht beendet hatten, so
dass sie in die Baracke zurück und mit uns Appell stehen konnte.
Bei dieser Arbeit
waren viele Kontrollen. Wenn die Frau, die am Eingang Wache
stand, „Regen“ rief,
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war das für uns das Zeichen, dass ein Soldat sich näherte, um
eine Kontrolle durch-
zuführen.
In einer Nacht hörten wir Schreie: „Blocksperre! Blocksperre!“
Jemand hat wahr-
scheinlich versucht, vor dem Krematorium zu flüchten. Ich lief,
um Esther aus der
Toilette zu holen. Wir waren uns im Klaren, welche Gefahr sie
auch für den weibli-
chen Capo gewesen wäre. Die Deutschen schossen, der Himmel war
rot von den
Flammen aus dem Schornstein gefärbt und ich zog Esther, die fast
noch schlief, lau-
fend in den Block.
Wir kamen nur Sekunden vor dem Appell an. Alle waren froh, da
die Deutschen jede
Ecke durchsucht hatten und prüften, ob sich nicht vielleicht
jemand im Block versteckt
hielt. Wir konnten nicht verstehen, wo das Gesetz über
Menschenrechte versteckt
blieb. Die ganze Welt sah doch zu, wie Juden vernichtet werden.
Sie sah zu und kol-
laborierte oder schwieg, während die Deutschen mit einem
sarkastischen Lächeln
weiterhin unschuldige Menschen in die Krematorien steckten.
Woher nahmen sie so
viele Ideen für ihre Täuschungen und Lügen?
Im Juni war eine Jüdin namens Mela oder Mali mit einem
polnischen, nicht jüdischen
Jungen geflüchtet. Wir standen stundenlang beim Zählappell. Die
Deutschen ließen
Ballons (Zeppeline) in die Luft steigen, um nach den
Flüchtlingen zu suchen. Wir be-
teten, dass sie sie nicht finden mögen, aber leider wurden
unsere Gebete nicht erhört.
Sie wurden zwei Wochen später gefasst und nach Birkenau
zurückgebracht, Mela ins
Frauenlager und der Junge in das Männerlager. Beide wurden in
Einzelhaft gehalten.
Sie wurden nicht gleich getötet, sondern erst im September
hingerichtet. Während der
ganzen Zeit hat man sie gefoltert und befragt, wer ihnen bei der
Flucht geholfen habe.
Die Torwache bat mich, dass ich sie ablöse möge, weil sie Mela
persönlich kannte
und sie auf ihrem letzten Weg begleiten wollte. Als sie zum
Block zurückkehrte, er-
zählte sie uns, was für eine Heldin Mela gewesen war. Als die
Lagerälteste das Urteil
laut vorgelesen hatte, nahm Mela eine Rasierklinge heraus und
schnitt sich die Venen
durch. Der Henker fasste ihre Hand und drehte sie herum. Mela
verpasste ihm eine
Ohrfeige.
-
14
Der deutsche Soldat schrie sie an: „Du willst dich selbst
umbringen? Dafür sind wir
da.“
„Ich werde wie eine Heldin sterben, ihr aber als schändliche
Mörder“, erwiderte ihm
Mela. Wir waren alle in Trauer. Wir waren tausend Frauen in der
Baracke, und es
wurde kein einziges Wort gesprochen. Alle saßen tief traurig auf
den Pritschen. Leah
Matelmanova hat Psalmen gelesen, eine junge Frau aus Siget sang
das traditionelle
Trauergebet „El male rachamim“ (hebr. Gott voller Erbarmen) und
dann, mit einer sehr
schönen Stimme: „Meine jüdische Mamme.“ Alle weinten furchtbar
leise. Unsere ei-
genen Mütter waren ja auch von diesen niederträchtigen Sadisten
ermordet worden.
So marschierten wir weiter Tag für Tag den langen Weg zur
Arbeit. Sie verlangten von
uns einen militärischen Marsch. Dazu war Leah nicht imstande und
wurde wegen
dieser Lappalie oft mitten in den Fünferreihen geschlagen.
Unterwegs zur Arbeit sa-
hen wir oft Frauen auf dem elektrisierten Drahtzaun liegen. Sie
lebten nicht mehr, weil
sie durch die Hochspannung einen elektrischen Schock erlitten
hatten. Die Bewacher
wollten uns aber einen Schrecken einjagen, damit wir sahen, was
geschehen würde,
wenn man sich dem Zaun nähern würde. Während all dieser Monate
hörten die
Flammen aus dem Schornstein nicht für eine Sekunde auf. Der
Rauch und der Ge-
ruch verbrannter Knochen muss sicher in der ganzen Umgebung
wahrzunehmen
gewesen sein, und doch haben alle geschwiegen.
Die Juden aus Ungarn kamen täglich mit Zügen an und die
Deutschen waren stolz auf
ihren Erfolg, so viele Menschenleben vernichten zu können, Tag
für Tag, Stunde für
Stunde. Eines Tages kam Mengele mit einer deutschen Frau zum
Appell. Ich stand in
der ersten Reihe. Die Blockälteste Gizka gab das Journal der
Soldatin zur Unterschrift
und Mengele sagte zu ihr: „Wie schön, die Olympiade brennt.“ Er
zeigte in die Rich-tung des Schornsteins mit der riesigen Flamme
darüber. Ich fühlte meine Beine zit-
tern, die Kräfte verließen mich und alles rundum verschwammen.
Gizka bemerkte,
dass ich erblasste, sprang auf mich zu, gab mir einige Ohrfeigen
und schrie: „Kannst du immer noch nicht aufrecht stehen?!“ Als
dieser Mörder, der den Namen Dr. Men-
gele trug, sich entfernte, führte mich Gizka in den Block und
gab mir etwas zu trinken.
Sie sagte dann: „Hagenka (das ist mein anderer Name), du hörst
nichts, siehst nichts
-
15
und verstehst nichts, falls du am Leben bleiben willst, und auch
das nur für bestimmte
Zeit.“ Seither kann ich das Wort „Olympiade“ nicht leiden.
Verschiedene Länder wol-
len Gold-, Silber- oder Bronzemedaillen gewinnen. Ich bekomme
dabei immer einen
Schauder und es bringt mich nach Birkenau zurück.
Eines Tages rief die Schriftführerin: „Grinwaldova“. Es hat mich
überrascht, dass je-mand meinen Namen nannte. Ich näherte mich und
sie reichte mir einen kleinen Zet-tel mit schönen
bleistiftgeschriebenen Buchstaben, der einen Abschiedsbrief auf
Un-
garisch enthielt:
„Rivka, danke für alles, wobei du uns bisher geholfen hast.
Werft nichts mehr herüber. Meine Mutter ist bei einer Selektion
durchgefallen und ich werde zusammen mit ihr gehen. Seid nicht
traurig, es wird uns nicht kalt sein, wir werden nicht hungrig sein
und nicht mehr krankheitsbedingt leiden. Ihr aber versucht
durchzuhalten, wenn möglich. Küsse alle Mädchen aus Bergsas!
Evi“
Ich möchte hier hinzufügen: Sie waren zwei Kinder, Evi und ihr
Bruder, der hieß
Pischo. Als Pischo, nachdem er Fürchterliches erlitten hatte,
nach Hause kam und
sah, dass die gesamte Familie umgekommen war, nahm er sich das
Leben.
Nach einiger Zeit wurden wir von dieser Arbeit befreit. Es tat
uns nicht leid. Es war
schon besser, an Hunger zu sterben und nicht diesen
Schornsteinen so nahe zu sein.
Nach einigen Tagen wurden wir wieder in den Waschraum gerufen.
Wir wussten
schon, dass dort eine Selektion stattfinden würde. Diesmal hatte
ich Angst um mich
selbst. Mein ganzes Gesäß war voll eitriger Wunden. Die
Blockälteste und noch je-
mand von ihren Gehilfinnen mussten mit dem Journal dabei sein,
um die Nummern
aus der Liste zu streichen, die die Selektion nicht bestanden.
Ich habe Gizka mit
Angst erzählt, in welchem Zustand ich war und bat sie,
behilflich zu sein, soweit es
überhaupt möglich wäre. Sie versprach nichts, hat es aber nicht
vergessen. Ich bin
ziemlich hinten geblieben, um zu beobachten, was vor sich geht.
Leah und Esther
hatten die Selektion schon bestanden und waren um mich sehr
besorgt. Nun war ich
-
16
an der Reihe. Sobald Mengele mich von vorne betrachtet hatte,
stellte sich Gizka
hinter mich und verdeckte mich mit ihrem Körper. Sie schrie:
„Geh schon, los geh, los,
schneller“. So hat sie mein Leben gerettet. Wir haben uns umarmt
und waren sehr
aufgeregt, da wir schon auf das Ärgste vorbereitet gewesen
waren. Wir bedauerten
die anderen, die bei der Selektion durchgefallen waren, da dies
einem Todesurteil
glich.
Man wies uns eine andere Arbeit zu, in der Weberei, die einige
Kilometer weit entfernt
war. Wir haben keine Stoffe weben müssen, sondern nur 6 cm weite
Streifen, die mi-
litärischen Zwecken dienten. Aus den Kleidern der in Birkenau
ermordeten Menschen
wurden solche ausgespart, die den Ansprüchen des deutschen
Volkes nicht genüg-
ten. Daraus wurden dünne, 1 cm breite Streifen geschnitten, aus
denen wir Zöpfe
flechten mussten.
Von denen wurde eine große Anzahl benötigt, und wir mussten sehr
schnell arbeiten.
Die Vorarbeiterin war eine junge Frau aus Griechenland namens
Flora, eine gute
Seele mit einem klugen Kopf. Ein hoher Offizier
(Oberscharführer) hat die Menge der
von uns erzeugten Zöpfe überwacht. Eines Tages, anlässlich einer
solchen Kontrolle,
trat er an Esther heran und fragte: „Was macht das Kind denn
da?“ Flora erwiderte mit sicherer Stimme: „Keine Erwachsene
arbeitet so gut und schnell wie das Mäd-
chen.“ So hat sie Esther gerettet. Sie gab ihr bei jeder
Gelegenheit das beste Roh-material und manchmal schob sie ihr auch
ein Stück Brot oder einen anderen Nah-
rungsrest hin.
Nach dem Holocaust haben wir Flora in Israel lange gesucht, und
am Schluss auch
gefunden. Ab unserem ersten Treffen entwickelte sich zwischen
uns eine starke Ver-
bindung.
Unsere physischen Kräfte schwanden. Nach dem langen Marsch kamen
wir müde
und hungrig zur Arbeit. Bei Leah war der körperliche Verfall
besonders deutlich. Sie
konnte keineswegs die verlangte Menge von Zöpfen liefern. Esther
und ich sprangen
abwechselnd ein, um ihr zur Seite zu stehen. Einige Male stürzte
Leah auf dem
-
17
Rückweg von der Arbeit. Wir versuchten immer, sie so bald wie
möglich auf die Beine
zu stellen, damit ihre Schwäche nicht bemerkt wurde. Denn dies
würde einer Le-
bensgefahr gleichkommen.
Eines Tages, wir waren unterwegs von der Arbeit zum Block, hat
uns ein starker Re-
gen erwischt, der bald zu einem echten Guss wurde. Wir hatten
alle nur dünne
Baumwollkleider an und man befahl uns, hinzuknien. Wir mussten
stundenlang so im
Regenguss aushalten, und die Deutschen hatten ihre helle Freude
daran. Die La-
geraufseher mit ihren Motorrädern hatten Regenmäntel an und
inspizierten uns, um
sicherzustellen, dass unsere Knie nicht angehoben waren, sondern
auf den Kiesel-
steinen ruhten. Das Regenwasser rann von den Kleidern in die
Schuhe. Man kann gar
nicht beschreiben, wie wir von dem Regen durchnässt waren. Ja,
diese Sadisten
waren in Europa geboren und haben eine Erziehung genossen! Wir
kamen am
Schluss in den Block zurück, haben die Kleider ausgewrungen,
aber es gab keinen
Platz, wo man sie hätte trocknen könnten, und es war kein
anderes Kleid als Ersatz
da. Die Frauen der Blockverwaltung haben uns bemitleidet, aber
helfen konnten sie
nicht. Am nächsten Morgen mussten wir wieder die durchnässten
Kleider und Schuhe
anziehen und wieder zur Arbeit gehen. Leah erkrankte an einer
Lungenentzündung.
Nach einiger Zeit wurden wir zu Block 3 ins B-Lager versetzt.
Wir waren vom Be-
nehmen der Blockältesten schockiert. Sie hieß Etta Laksova,
schlug uns, brüllte uns
dauernd an und hat keine von uns „normal“ angesprochen. Wir
waren eine solche
Behandlung nicht gewohnt und einige von uns schlichen sich in
der Nacht in den
Block von Gizka hinüber, wo wir am Boden schliefen. So sehr
hatten wir vor Etta
Angst. Sie hat ihrerseits gespürt, was vor sich geht und hat uns
bei den Deutschen
denunziert.
Diese riefen mitten in der Nacht zum Appell in beiden Blöcken,
dem von Gizka und
dem von Etta Laksova. Wir liefen so schnell wir konnten, um am
richtigen Appellplatz
zu stehen. Ettuka und mir gelang es, uns in die Reihen
hineinzuschleichen, aber Leah
ertappte man und sie wurde erbärmlich geschlagen. Leah ist immer
das Opfer ge-
wesen.
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18
Es war ein „normaler“ Herbsttag, wir saßen bei der Arbeit und
plötzlich hörten wir eine
Explosion und danach Schüsse aus verschiedenen Richtungen. Wir
hatten keine
Armbanduhren, weil sie alle beschlagnahmt worden waren und
wussten daher nicht,
wie spät es war. Wir haben gespürt, dass etwas geschehen war und
liefen zum
Fenster. Ein deutscher Offizier mit einem Revolver in der Hand
schrie „Blocksperre!
Blocksperre!“ und verjagte uns von den Fenstern. Die Schüsse
dauerten an und noch
eine weitere Explosion folgte, die noch stärker war als die
erste. Wir waren sicher,
dass man Auschwitz-Birkenau mit uns zusammen, vernichten wollte.
Die Explosionen
hörten aber auf und wir setzten uns nieder und warteten, bis uns
jemand erzählte was
geschah. Bald erfuhren wir es von der Vorarbeiterin. Sie
erzählte: „Das Sonderkom-
mando hat Krematorium 3 in die Luft gesprengt und einige
deutsche Soldaten und
Offiziere erledigt.“ Das gab uns die geringe Hoffnung, dass das
vielleicht in den
Nachrichten erscheinen und die Welt endlich erfahren würde, was
hier geschah. Leah
war immer diejenige, die uns aufzumuntern versuchte. Aber dieses
Mal war sie passiv
und es war deutlich erkennbar, dass sie krank war. „Was soll man
da unternehmen?“
Wir hatten Angst, sie in das Krankenrevier zu schicken, weil
dort die Gefahr noch viel
größer war. Drei Schwestern aus Bergsas arbeiteten in der Küche.
Eine von ihnen hat
sich heimlich und spät in der Nacht zu uns geschlichen. Anci
brachte uns einige ge-
backene Erdäpfel mit. Es ist unfassbar und kaum zu beschreiben,
welch unschätz-
baren Wert das für uns hatte und was das für eine Delikatesse
für so hungrige Men-
schen war. Anci hat sich über uns lustig gemacht: „Ihr könnt
nicht einmal betteln!“ Wir
wollten aber nicht, dass sie wegen uns Schläge bekommt. Die
Frauen haben übli-
cherweise unter den Küchenfenstern nach Kartoffelschalen
gesucht. Wenn wir das
Glück hatten, welche zu finden, aßen wir sie ohne sie zu waschen
und ohne sie zu
kochen. Der Hunger war stärker als jede menschliche Gewohnheit,
Würde und Er-
ziehung.
Wir hatten Anci erzählt, dass Leah krank sei und wir nicht
wüssten, wie wir ihr helfen
könnten. Sie versprach, sich mit ihren Schwestern zu beraten und
zu versuchen, eine
Lösung zu finden. Leah versuchte eine Beruhigungspille zu finden
und wurde an das
Revier (Krankenstube) verwiesen. Zu dieser Zeit hat das
Krematorium schon nicht
mehr gearbeitet und der Schornstein wurde abgebaut. Aber die
Deutschen fanden
-
19
immer einen Grund und einen Weg zu töten. Wir hatten Angst
davor, dass man fest-
stellen würde, dass Leah an einer ansteckenden Krankheit leide
und sie getötet
würde.
Die Grinfeld-Schwestern besuchten Leah im Revier. Durch die
Küche hatten sie eine
Verbindung dorthin und konnten uns erfreulicherweise berichten,
dass ihr Zustand
sich besserte. Sie hatten uns nur nicht erzählt, dass Leah
bereits bewusstlos war.
Inzwischen brach ein schwerer Winter an. Wir hatten keine
Winterkleidung. Die Füße
froren ein und schwollen an. Ich konnte in die holländischen
Holzschuhe nicht mehr
hineinschlüpfen, da das höllisch weh tat. Ich habe einen Teil
der Decke abgerissen
und damit die Füße eingewickelt, obwohl auch das ein Grund
gewesen wäre, Prügel
zu bekommen. So etwas wurde „Sabotage“ genannt. Das natürlich,
obwohl alle De-
cken mit den Transporten der Juden angekommen sind und
beschlagnahmt wurden.
Die Front näherte sich und wir hatten Angst, dass sie uns alle
vernichten würden, um
die Spuren des größten Verbrechens der Menschengeschichte zu
vertuschen.
Am 18. Januar bekamen wir den Befehl, uns auf dem Appellplatz in
Fünferreihen
aufzustellen und zu warten, bis auch andere Blöcke hinzukamen.
Das dauerte sehr,
sehr lange und die Kälte war erbärmlich. Es schneite und wir
hatten nur Fetzen am
Leibe. Wir hatten Angst, was mit Leah geschehen würde und
guckten uns um. Es
fehlen die Worte, diesen Ort zu beschreiben. Es war kein
Friedhof, denn es gab kein
einziges Grab. Nicht einmal die Asche. Die Asche haben sie mit
Lastwagen entfernt
und in den Wisla-Fluss geworfen, der nur einige Kilometer von
Auschwitz entfernt ist.
Trotzdem haben wir uns weinend von der Mutter, vom Vater, meinem
Bruder, meiner
Schwester, von so vielen Mitgliedern unserer weiteren Familie
verabschiedet und von
so vielen anderen Juden, die alle aufrichtige Menschen gewesen
oder schuldlose
Kinder und Säuglinge, die brutal und grausam ermorden worden
waren.
Als wir auf der offenen Straße waren, konnten wir kaum unseren
eigenen Augen
trauen, da bisher noch kein Jude lebend von hier heraus gekommen
war. Auf der
Straße zogen viele Skelette wie ich, in Fetzen und Holzschuhen,
ihre Beine schwer
-
20
dahin. Die Kolonne der Skelette, die aus dem Konzentrationslager
marschierte, war
einige Kilometer lang. Von beiden Seiten überwachten uns
deutsche bewaffnete
Soldaten. Januar, Schnee, eisige Kälte in Polen. Sehr viele sind
in diesem Todes-
marsch zusammengebrochen und konnten nicht weitergehen. Die
Deutschen er-
schossen sie an Ort und Stelle am Rande der Straße. So lagen an
beiden Straßen-
rändern viele Leichen im getrockneten Blut. Manchmal erschossen
sie zwei Schwes-
tern mit einer einzigen Kugel. Am Vorabend versuchten alle sich
vorwärts zu drängen.
Wer hinterher tappte, musste mit Sicherheit mit dem Tod rechnen.
Mengen von
Menschen haben sich zusammengedrängt und zusammengeballt und so
verlor ich
Esther. Ich stand unter Schock und schrie ihren Kosenamen:
„Ettuka! Ettuka! Ettuka!“
Ich ging nach vorn, ging nach hinten und schrie: „Ettuka!
Ettuka!“ Ein Mädel hörte die Schreie und das Heulen und fragte:
„Heißt du Ribacso?“ „Ja.“ „Dort hinten weint ein
Kind und schreit ‚Ribacso’, sie muss deine Schwester sein.“ Ich
begann nach hinten
zu laufen, während man alle paar Minuten Schüsse vernahm. Nach
langer Suche in
der Dunkelheit haben wir uns gefunden. Wir umarmten uns und
weinten und künftig
haben wir uns nicht mehr getrennt.
Eines Nachts packten sie uns in eine riesige Scheune. Wir
wussten nicht, zu welchem
Zweck diese Lagerhalle diente. Wir versuchten uns niederzulegen,
haben die Decke
auf den Boden gelegt und trotzdem Steine gespürt. Wir waren aber
von dem langen
Marsch so erschöpft, dass wir uns unbedingt ausruhen mussten.
Esther fragte mich:
„Wie kannst du auf Steinen schlafen?“ Ich war aber nicht
imstande, länger wach zu
bleiben. Am Morgen haben wir einander nicht erkannt. Wir waren
alle schwarz wie
Schornsteinfeger, denn es war ein Kohlelager. Wir haben uns im
Schnee gewaschen;
das ganze Gelände herum wurde schwarz. Mit dem Schnee konnten
wir zwar den
Ruß vom Körper entfernen, aber die Kleider blieben schwarz.
Wir marschierten weiter. Wir passierten die Hauptstraße von
Katowitz. Menschen
schauten aus Fenstern heraus. Aus gut gewärmten Wohnungen sahen
sie diesem
grausamen Todesmarsch zu. Plötzlich rief ein Mädel laut: „To
jest nasz dom!“, über-
setzt „Das ist unser Haus.“ Fremde Menschen, auch Kinder
schauten aus einer war-
men Wohnung durchs Fenster, und sie, hungrig und erfroren, zog
sich mit letzten
-
21
Kräften durch den Schnee und konnte sich nicht beruhigen. Es
verging noch ein
schwerer Tag. Unsere Kräfte verließen uns zunehmend. Mit letzter
Kraft näherten wir
uns dem Abend. Bei Dunkelheit hat man uns in einen weiten Hof
geführt so etwas wie
ein Bauernhof, mit einem Pferdestall, Scheunen, Strohdächern und
Hütten, Heu usw.
Die Mädel haben die Wärme, die die Pferde ausstrahlten, gespürt
und gingen in den
Stall. Es war dunkel und sie haben nicht gesehen was geschah.
Mehr und mehr
Frauen drängten sich hinein. Die Pferde erschraken und einige
Frauen wurden von
ihnen zu Tode getrampelt. Wir hörten die Schreie aus dem Stall
und beschlossen
daraufhin, draußen auf dem Schnee zu schlafen. Wir haben die
Decke ausgebreitet,
uns eng zusammen gekuschelt und sagten uns, dass es gar nicht so
schlecht wäre,
zu erfrieren. Dies wäre kein so grausamer Tod. Das Schicksal
wollte es allerdings
anders.
Wir sind wahrscheinlich tief eingeschlafen, weil wir plötzlich
von wilden Schlägen der
deutschen Soldaten erwachten, die uns befahlen, auf die Dächer
zu steigen. Eine
polnische Frau hörte die Schreie der deutschen Soldaten, kam
heraus und war über
unser Aussehen erstaunt. Sie hatte eine Einzimmerwohnung und lud
uns ein. Ich bat
sie, so viele Frauen wie möglich hinein zu lassen. Auf dem Boden
sitzend, haben wir
die ganze Stube gefüllt. Die Wärme der Stube ließ meinen Körper
langsam wieder
reagieren. Ich hatte schreckliche Schmerzen am ganzen Körper,
aber meine erfrore-
nen Füße taten am meisten weh. Ich weinte und schrie und die
alte Polin hatte Er-
barmen mit mir. Sie fand irgendeine Beruhigungspille, kochte mir
einen schwarzen
Kaffee und ich schlief wahrscheinlich ein. Frühmorgens schrien
die Soldaten: „Antre-
ten! Aufstehen! Alle antreten!“ Ich versuchte aufzustehen, aber
merkte, dass ich kei-neswegs weiter konnte. Ich kroch auf allen
Vieren hinaus, da ich nicht wollte, dass die
Alte Opfer ihres guten Willens würde und sagte zu Esther:
„Versuch es allein weiter,
ich bin nicht mehr imstande.“ Ich wusste genau was folgen würde.
Wir hörten die
Schüsse und wussten, dass es noch Frauen gab, denen es so ging
wie mir. Esther
war verzweifelt. „Ich will nicht einmal einen Tag ohne dich
leben!“, sagte sie und hatte
plötzlich eine Idee. Sie ging zurück in das Zimmer der Alten.
Unter dem Ofen stand
eine Kiste mit Holz, das für die Heizung bestimmt war. Sie
entleerte das Holz und
nahm die Kiste mit. Sie hat einen Streifen von ihrem Kleid
abgerissen, an die Kiste
-
22
gebunden, setzte mich hinein und zog die Kiste wie einen
Schlitten durch den Schnee.
Es war verwunderlich, dass die Deutschen darauf nicht
reagierten. Mittags kam eine
polnische Frau mit einer Milchkanne heraus, steckte sie in
Esthers Hände und rannte
aus Angst vor den Soldaten sofort zurück. Die Frauen haben sich
von allen Seiten auf
meine Schwester gestürzt und ich hatte Angst, dass sie sie tot
treten würden. Ich
hörte Esther die anderen anflehen: „Lasst aber doch einige
Schlückchen für meine
kranke Schwester!“ Diese unmenschlichen Bedingungen und der
Hunger hatten zur
Folge, dass die Menschen ihre gesamten Hemmungen und
Selbstkontrolle verloren.
Jede zog die Milchkanne mit aller Kraft in ihre Richtung.
Ich will aber die Beschreibung dieses grausamen Marsches
abkürzen. Wir sind dann
endlich nach Gleiwitz gekommen. Viele, wenn nicht die meisten
von uns, blieben tot
auf der Strecke. In Gleiwitz gab es Züge in alle Richtungen. Wir
wurden auf offene
Waggons mit Plattformen geladen, obwohl es ein kalter Januar war
und es schneite.
Ich war sehr krank, meine Zähne klapperten und die Lippen waren
voller Fieberbla-
sen. Die Füße waren bis zu den Knochen durchgefroren. Es wurden
so viele Frauen
auf den Waggon geladen, dass es nicht möglich war zu sitzen. Man
konnte nur ste-
hen. Esther stand neben mir und passte auf, dass mir niemand auf
die geschundenen
Füße trat. Ich habe versucht, etwas Schnee von einer Stange
abzuschlecken, aber
die Zunge blieb an dem Metall haften. Ich weiß nicht, wie lange
wir gefahren sind,
aber am Schluss kamen wir an einen Ort, der mit Betonmauern und
elektrischem
Stacheldrahtzaun umgeben war. Es waren auch einige Schilder zu
sehen mit der In-
schrift „Vorsicht“ und einem Totenkopf mit zwei gekreuzten
Knochen darunter. Es
waren Wachtürme da, Baracken und sogar ein Krematorium wie in
Birkenau. Der Ort
hieß Ravensbrück. Man führte uns in ein riesiges Zelt. Es waren
keine Pritschen da,
nur Stroh auf dem Boden, wie in einem Kuhstall. Aber das war uns
egal, Hauptsache
es wir waren drinnen und nicht draußen im Schnee. Die Probleme
begannen, als wir
uns niedergelegt hatten. Das ganze Stroh war voller Läuse, die
in die Kleider ein-
drangen, stachen und ein Jucken erzeugten. Dies war eine neue
Art des Leids. Wir
waren zutiefst unglücklich.
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23
Am Morgen wurden wir hinaus geführt, um das Lager zu
besichtigen. In der Luft stand
ein schwerer Geruch von verstopfter Kanalisation, die
Fensterscheiben waren zer-
splittert, die Blöcke dreckig und die Bewohner in gleich
miserabler Lage wie wir selbst.
Es waren hier auch viele Nichtjuden. Wir fragten nach dem
Krankenrevier, da ich eine
Schmerztablette benötigte. Die alten Lagerbewohnerinnen zeigten
mir den Weg. Eine
Capo saß an der Eingangstür und erlaubte keinen Eintritt;
natürlich haben wir auch
kein schmerzstillendes Mittel bekommen. Wir versuchten, durch
eine gebrochene
Fensterscheibe hineinzuschauen um zu verstehen, warum die
Krankenstation so
überwacht wurde. Ein erschreckendes Bild zeigte sich uns: Auf
den Betten lagen
Kranke, fast regungslos. Ein stickiger Geruch von Harn und Kot
herrschte rund herum,
und auf dem Boden neben dem Fenster lagen einige Leichen in
einer Reihe ange-
ordnet. Wahrscheinlich wurden sie in der Nacht gesammelt, um sie
dann am Tag in
das Krematorium zu überführen. Die Capo bemerkte, dass wir
hineinspähten, erhob
sich und schlug mich mit einer mehrsträhnigen Peitsche. Ich war
nur Haut und Kno-
chen und es tat schrecklich weh. Wir verstanden, dass man hier
weg musste. Wir
hörten, dass man im Zelt Frauen für ein anderes Lager zur Arbeit
auswählte. Wir wa-
ren schwach, sicher nicht für eine Arbeit geeignet, aber
andererseits war uns ganz
klar, dass wir hier gar keine Chance auf Überleben hatten. Wir
bemerkten ein Last-
auto, auf das Frauen aufstiegen und haben uns in diese Richtung
geschleppt. Als wir
ankamen, stiegen gerade die Grinfeld-Schwestern auf, und nach
ihnen hat man dann
die Planenabdeckung heruntergelassen. Der Lkw fuhr ohne uns ab.
Wir haben es
sehr bedauert, weil wir mit ihnen zusammen sein wollten und
beschlossen, nicht in
das Zelt mit den Läusen zurückzugehen. Die ganze Zeit haben wir
Schnee ge-
schleckt, das ersetzte uns Essen und Trinken. Nach einiger Zeit
kam ein anderer
Lastwagen, der alle anderen Frauen aus dem Gelände abfuhr. Auch
wir stiegen da
ein, sind aber nicht dort gelandet, wo die vorherigen Frauen
ankamen. Nach einigen
Stunden Fahrt in einem mit Plane bedeckten Lastwagen sind wir in
ein anderes Lager
gekommen, das Malchow, wie die benachbarte Stadt, hieß. Neben
dem Tor standen
viele Frauen, die noch vor uns aus Birkenau gekommen waren. Sie
waren mit dem
Zug und nicht wie wir per Todesmarsch hergekommen. Zwei Mädel,
die mich kannten,
waren schockiert und schrien auf Polnisch: „Reginka, jak ty
wyglądasz?“ Übersetzt:
„Reginka, wie siehst du denn aus?“ Es waren Golda und Rosika,
die zusammen mit
-
24
uns im Block 13 in Birkenau gewesen waren. Sie gingen uns nach,
um zu sehen, in
welchen Block wir geführt wurden. Nach einer Stunde kamen sie
zurück mit einem
Kübel warmen Wassers.
Das war wie die Erfüllung eines heiß ersehnten Wunsches für uns.
Sie arbeiteten in
der Wäscherei und ihre Aufgabe war es, die Kleider der SS-Leute
zu waschen. Um zu
überleben, war das eine ganz gute Stelle, von dort hatten sie
auch das Wasser geholt.
Esther und ich tranken und wuschen uns. Danach war das Wasser
zwar schmutzig,
aber die anderen ließen es uns nicht ausschütten. Einige Mädchen
verwendeten es
ebenfalls noch zum Waschen. Wir bekamen saubere Kleidung,
Bandagen für die
Füße und schmerzstillende Tabletten. Die beiden haben uns echt
gerettet und halfen
uns zwei Wochen lang so gut sie nur konnten.
Sie rieten uns, sich zur Arbeit zu melden, da man so mehr Essen
bekam. Ich schickte
Esther, um uns beide zur Arbeit anzumelden, weil ich überzeugt
war, dass man mich
wegen meiner erfrorenen Füße nicht annehmen würde. Wir wurden
angenommen und
man führte uns in den Block der Arbeiterinnen. Dort bekamen
jeweils zwei Frauen ein
enges Bett. Frühmorgens wurden wir geweckt und mussten zum
Zählappell draußen
bei Frost und Schnee. Wir zitterten vor Kälte. Man gab uns zwei
Scheiben Brot und
Tee und wir ordneten uns wieder in Fünferreihen an. Deutsche
Soldaten mit Geweh-
ren führten uns über einen sehr langen Weg zur Arbeit und
bewachten uns streng.
Einer der Soldaten fragte mich: „Warum hast du Lumpen an den
Füßen?“ „Ich habe
keine Schuhe“, antwortete ich, weil ich Angst hatte zuzugeben,
dass meine Füße er-
froren waren. Wir kamen in einem künstlichen Wald an. Grün und
gelb gefärbte
Stoffstücke waren an Pfeilern befestigt, und aus der Entfernung
sah das wie ein Wald
aus. Unter der Erde, auf einer riesigen Fläche, befanden sich
moderne Waffenfabri-
ken. Hier arbeiteten nicht nur Juden, auch Franzosen, Deutsche
und andere.
Wache hielten natürlich deutsche Soldaten und Soldatinnen. Das
Arbeitskommando
hieß „SK“.
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25
Wir arbeiteten abwechselnd zwei Wochen Tagschicht und zwei
Wochen Nachtschicht.
Auch hier mussten wir zur Arbeit durch den Schnee marschieren.
Mit der Zeit hat mir
Golda Männerschuhe besorgt, die groß genug waren, um auch die
Bandagen aufzu-
nehmen. Da die Anlage tief unter der Erde lag, war uns nicht
kalt, aber die Arbeit war
ziemlich gefährlich. Wir haben Revolverkugeln mit Schießpulver
befüllt. Geschlafen
haben wir in zweistöckigen Betten, zwei unten und zwei oben.
Esther und ich schlie-
fen unten und über uns waren zwei Schwestern aus Berlin. Bei
einem der Zählappelle
hielt der deutsche Offizier bei unserer Fünferreihe und fragte
erstaunt: „Pummel und Lilli?!“ „Jawohl, das sind wir“, sagten die
Frauen. „Früher waren wir Nachbarn.“ Er kam nie mehr, uns zu
zählen, sondern schickte andere.
Bis Mitte April arbeiteten wir so und dann hörte die Arbeit
plötzlich und ohne jede
Vorwarnung auf. Ganz einfach kam niemand mehr, um uns zur Arbeit
zu holen. Wir
begannen uns, im Lager umzusehen. Es herrschte eine große
Unordnung und von
Tag zu Tag war weniger zu essen da. Eines Tages standen wir beim
Tor und sahen,
wie sich ein Auto vom Roten Kreuzes näherte. Wir waren neugierig
auf das, was sich
ereignen würde. Ein deutscher Offizier ging aus dem Büro heraus
und reichte der
Delegation die Hand. Diese aber weigerte sich, ihm die Hand zu
reichen und wir sa-
hen zu und klatschten. Trotzdem dachten wir: Wo ist das Rote
Kreuz bis jetzt gewe-
sen?!
Etwas später gingen die Rot-Kreuz-Leute in das Lager und nahmen
einige kranke
Mädchen mit. Wir hofften, dass dies auch mit uns passieren
könnte, aber es geschah
leider nicht. Wir fühlten, dass der Krieg dem Ende zuging. Würde
es aber möglich
sein, bis dahin noch durchzuhalten? Viele verloren ihr Leben
auch in diesen letzten
Wochen und sogar Tagen. Nicht alle bekamen ihre kleine
Essensration. Wer keine
Kraft hatte sich vorzudrängen, blieb hungrig. Eines Tages
brachen die hungrigen
Frauen die Fenster der Brotkammer auf und begannen damit, Brot
auszuteilen an
jede, die in der Nähe war. Ich habe Esther mit beiden Händen
festgehalten, damit sie
sich nicht dem Lagerhaus näherte. Als die Deutschen den Einbruch
entdeckten, fin-
gen sie an zu schießen. Einige Mädchen wurden getötet, andere
verwundet. Die Front
näherte sich und die Deutschen beschlossen, das Lager zu
liquidieren und zusammen
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mit uns nach Westen zu gehen, um nicht in die Hände der
russischen Befreier zu fal-
len. Sie haben uns wieder einmal in Fünferreihen antreten
lassen. Und wir begaben
uns wiederum unter Bewachung auf einen neuen Todesmarsch. Zum
Glück war der
Winter schon vorbei.
Die Soldaten beeilten sich besonders und waren äußerst gespannt.
Die ganze Zeit
schrien sie: „Schneller! Los!“ Jetzt marschierten wir auf
deutschem Boden. Als es dunkel wurde, baten wir uns ausruhen zu
dürfen. Es wurde uns erlaubt, am Straßen-
rand zu sitzen. Das war ziemlich gefährlich, weil Soldaten von
der Front flüchteten und
ihre Fahrzeuge oft Menschen auf der Straße überfuhren. Eine
unserer Freundinnen
kam so ums Leben - ein deutscher Panzerwagen überfuhr sie.
Später hat man uns
erlaubt, in der Nacht in Lagerhäusern und Bauernhöfen zu
schlafen. Am Morgen
durchsuchten die Soldaten die Höfe und sammelten uns ein. Wieder
hörten wir die
Schreie: „Schneller! Schneller!“ Wir waren wahnsinnig müde und
hungrig, die deut-schen Bewohner der Städtchen und Dörfer, die wir
passierten, halfen uns jedoch nicht
einmal mit einer Scheibe Brot. Die Wahrheit ist, dass auch sie
verwirrt waren und nicht
wussten, was sie tun sollten. Eines Nachts fanden wir ein großes
Heulager und gin-
gen dort schlafen. Die Schüsse waren sehr nahe, Gewehrkugeln
sausten herum und
leuchteten über der Scheune. Wir hatten Angst, dass eine Kugel
uns treffen oder ein
Funke das Heu anzünden könnte. Am Morgen hörten die Schüsse auf.
Wir warteten,
wie üblich, bis uns die Soldaten weckten. Aber als wir
hinausschauten, sahen wir,
dass alle geflüchtet waren.
Trotzdem hatten wir Angst auf die Straße zu gehen, da wir nicht
wussten, was ge-
schehen würde. Wir setzten uns an den Rand des Hofs, nicht weit
von der Straße.
Nach einiger Zeit kam ein Militärwagen vorbei und die Soldaten
warfen uns einen
Rucksack voll trockener Nahrung (Biskuits, getrocknete Pflaumen
und sogar Scho-
kolade) zu. An meinem gestreiften Gewand erkannten sie, dass wir
Lagerhäftlinge
waren und riefen: „You‘re free.“ Ihr seid frei. Ich umarmte und
küsste Esther:
„Wir sind frei! Was für eine Freude!“ Und sie antwortete:
„Unsere Eltern wurden er-
mordet und wir sind Waisen und krank.“ Befreit wurden wir in
einer Stadt namens
Parchim. Hier trafen sich amerikanische, englische und russische
Streitkräfte. Die
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Straßen waren voll befreiter Häftlinge aus verschiedenen Lagern.
Die meisten waren
krank, so wie wir. Die deutschen Bewohner zogen kleine und große
Wagen und
wollten weiter nach Westen, um zu den Amerikanern zu gelangen.
Sie hatten Angst,
in die Hände der russischen Befreier zu kommen. Wir kamen dann
nach Pritzwalk. Ich
war krank, mein Magen war zusammengeschrumpft, ich konnte nicht
essen, hatte
Durchfall und war schwach. Ich wollte nicht in ein Krankenhaus,
da ich Angst hatte,
vergiftet zu werden. Wir hatten den Glauben an das gesamte
deutsche Volk verloren.
Mit verschiedenen Autostopps erreichten wir Lancberg. Hier habe
ich eine Gruppe älte-
rer Männer, nicht Juden, getroffen, die Tschechisch sprachen.
Sie waren politische
Häftlinge. Ich näherte mich ihnen und bat um Hilfe. Ich hatte
damals schon sehr hohes
Fieber. Zuerst rieten sie mir, überhaupt nicht zu essen. Sie
haben mir eine Kanne Tee
besorgt und warnten mich, nur in kleinen Schlucken zu trinken.
Sie wandten sich an den
Bürgermeister und bekamen ein leeres Gebäude zur Verfügung, wo
sie mehrere aus
Konzentrations- und Arbeitslagern befreite Frauen einquartieren
konnten. Sie besorgten
uns Lebensmittel und Betten und behandelten uns sehr liebevoll.
Am Eingang zum
Gebäude standen sie Wache, weil die russischen Soldaten wild
herumliefen und warn-
ten jeden Soldaten, der sich dem Haus näherte, dass es sich um
Frauen mit anste-
ckenden Krankheiten wie Typhus und Dysenterie handle. So gelang
es ihnen, uns von
Belästigungen zu beschützen. Eines Tages „organisierten“ die
Tschechen einen Traktor
mit einem offenen Schlepper und auch eine Fuhre mit Pferden, wo
sie uns hineinsetzten.
Wir kamen aber nicht weit, da uns russische Soldaten anhielten
und den Traktor be-
schlagnahmten. Wir saßen ruhig am Straßenrand und hofften, dass
sie den Traktor zu-
rückgeben würden, aber am Schluss gingen wir in das Haus zurück,
um dort auf andere
Transportmittel zu warten.
Wir wollten in eine Stadt, wo es eine Eisenbahn gab. Am nächsten
Tag gelang es un-
seren Beschützern, einen Lastwagen zu ergattern, der uns in die
gleiche Richtung fuhr.
Unterwegs sahen wir den Pferdekarren, worin ein Teil der Frauen
am vorigen Tag ge-
fahren war, zerstört und in Stücke gerissen und daneben alle
Insassen tot. Das Gefährt
war von einer Miene in die Luft gesprengt worden. Wir konnten
ihnen nur nachtrauern.
Es war Zufall, dass nicht wir in dieser Fuhre gesessen hatten.
Wir verstanden nun, wa-
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rum uns die Russen den Traktor weggenommen hatten. Alle Wege
waren noch voll von
nicht entschärften Mienen.
Wir passierten größere Städte voller Ziegelhaufen, die früher
Häuser gewesen waren.
Totale Zerstörung durch Bombardierungen. Über den
Brückenpfeilern, die als Über-
reste einer gesprengten Brücke über die Oder geblieben waren,
sahen wir Pferde-
kadaver hängen. Die Bilder, die wir unterwegs sahen, waren
grauenhaft, aber unser
eigenes Unglück war noch schmerzhafter. Man hatte unsere Eltern
ermordet. Unsere
Brüder und unser kleines Schwesterchen waren grausam umgebracht
worden, auch
alle Onkel und Tanten und Cousins, zusammen mit Millionen
anderen Juden.
Lasst uns die Schoah nicht verleugnen!!
A-7762
Rivka Regina Greenvald (Grünwald) Kahana