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Zur Systematik und Entwicklungsgeschichte der griechischen
Nominaldeklination Author(s): Hansjakob Seileb Source: Glotta, 37.
Bd., 1./2. H. (1958), pp. 41-67Published by: Vandenhoeck &
Ruprecht (GmbH & Co. KG)Stable URL:
http://www.jstor.org/stable/40265761Accessed: 19-05-2015 03:51
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41
Zur Systematik und Entwicklungsgeschichte der griechischen
Nominaldeklination
Von Hansjakob Seileb, Hamburg Einleitung. Die hier dargelegten
Gedanken befassen sich mit
den Deklinationsausgngen1) des Altgriechischen (des Attischen,
wo nichts besonderes vermerkt ist) und des Neugriechischen. Ziel
dieser Studie ist es, die in einem System enthaltene Dynamik
aufzuzeigen. Damit hoffen wir in einigen wesentlichen Punkten der
Entwick- lungsgeschichte der griechischen Nominaldeklination vom
Alt- griechischen zum Neugriechischen zu einer mglichst klaren und
przisen Erfassung der Einzeltatsachen zu gelangen2). Es handelt
sich darum, diejenigen bisher vielleicht geahnten, aber nie scharf
herausgestellten Zusammenhnge zu finden, die es uns erlauben
werden, den Einzeltatsachen an Stelle einer einseitigen deskriptiv-
isolierenden und statt einer ebenso einseitigen historisch-atomi-
sierenden Betrachtung diejenige Behandlung zukommen zu lassen, die
sie als Teile eines Ganzen sichtbar werden lBt.
Freilich ist und bleibt der erste Schritt einer wissenschaftlich
adquaten Erfassung eines Systems - und die Deklinations- ausgnge
werden hier als ein solches gefafit - die reine Beschrei- bung.
Aber Deskription, Synchronie und Strukturdenken sind nicht
gleichzusetzen mit Statik. Gerade die jlingste Sprachforschung und
Sprachtheorie kommt immer eindeutiger zu dieser Auffassung3).
Struktur besteht in dem Erfassen von Zusammenhngen von Form-
1) Der Terminus ,,Ausgnge" ist dort angewendet, wo hinsichtlich
der morphologischen Analyse nichts prjudiziert werden soil. Dagegen
sind ,,Endung", ,,Stamm" dort verwendet, wo man sich auf
entsprechende Morpheme festlegen kann und will. ,,Der Ausgang -o"
heit, ebenso wie ,,der Ausgang -" nichts weiter als dafi die
letzten Lautelemente des betreffenden Wortes
-o bzw. -g sind. 2) Man vergleiche mit unseren Ausfhrungen E.
Schwyzers Aufsatz ,,Zur
Systematik der griechischen Nominaldeklination" Glotta 25 (1936)
205ff., der zugleich Begrundung fur die Anordnung des Materials in
Gr. Gr. I, 553ff. ist.
3) K. Jakobson, zuletzt in Reports for the Eighth International
Congress of Linguists, Supplement, Oslo 1957, 9ff. mit weiterer
Literatur. A. Martinet, z.B. in Economie des changements
phontiques, Bern 1955. Vgl. auch die Diskussion ber das Verhaltnis
von synchronischer und diachronischer Sprachwissenschaft in der
Akademie der Wissenschaften der UdSSR: Diskussija o sootnosenii
sinchronnogo analiza i istorieskogo issledovanija, Iswestija
Akademii Nauk, Moskau, XVI -6, 1957.
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42 Hansjakob Seiler
elementen und Funktionen. Und das Erkennen von Zusammen- hngen
ist auch zugleich das Erkennen von Dynamik: ber- legungen der
Symmetrie oder Asymmetrie, des Gleichgewichtes, der Okonomie, des
strukturellen Druckes und schlieBlich der Entwick- lungsgeschichte
gehen hervor aus einer konsequent zu Ende ge- dachten Systematik.
In einer mehr oder weniger bewuBten Weise waren solche Prinzipien
bei alien Sprachforschern lebendig, die sich mit unserem Thema
beschftigt haben1). Es fehlt daher nicht an Systematisierungen
gerade der altgriech. Deklinationsendungen. Lange vor dem Entstehen
einer historischen Sprachwissenschaft haben die Bediirfnisse des
Schulunterrichtes - dem die Synchronie nher liegt als die Histori -
zu solchen Versuchen gefuhrt2). Ganz kunstgerecht imSinne der
modernen Beschreibungstechnik ist keine dieser Systematisierungen.
Doch anzunehmen, daB hier noch einmal alls von Anfang an
durchexerziert werden musse, ware tricht und bedeutete
Zeitverschwendung. Es ist also nicht Leichtsinn, wenn wir uns auf
ein paar besonders intressante Punkte der Beschrei- bung
beschrnken.
Unser Vorgehen setzt ein mit einer Reihe von deskriptiven
Feststellungen. Die Fragestellung ist dabei einfach und eindeutig:
Welche Funktionen werden durch welche Formelemente unter- schieden?
In dieser Fragestellung ist das hier zu whlende Verfahren bereits
in zweierlei Richtung festgelegt: 1. Es werden nur solche
Formunterschiede als distinktiv anerkannt, denen entsprechende
Unterschiede der Funktion parallel gehen. 2. Es werden nur die
Funktionsunterschiede als sprachlich relevant anerkannt, denen
Unterschiede in der Form entsprechen.
Wenn gesagt wurde, daB sich aus dem System Dynamik ersehen laBt,
so will das nicht mit Voraussage des weiteren Ganges der
Sprachentwicklung verwechselt werden. Nur die Ausgangs- positionen
derselben lassen sich przisieren; was sich in der Ent- wicklung
letzten Endes durchsetzt, kann etwas Unerwartetes sein. Nur ex
eventu kann der Sprachwissenschaftler hier Prophtie treiben, d.h.
dann, wenn er den friiheren und den spteren Sprachzustand kennt.
Doch ist eine solche Prophezeiung ex eventu, im Gegensatz zu dem,
was man sonst etwa darunter versteht, kein muBiges Unterfangen;
vielmehr verleiht gerade sie dem Strukturdenken und
1) Die wichtigsten Auffassungen bespricht Schwyzer, Gl. 1. c.
205ff. *) TJber die xavve oder Typen der alten Nationalgrammatik
(seit
Herodian) und uber deren Vereinfachung (z.T. nach lateinischem
Muster) vgl. Schwyzer, 1. c.
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Zut Systematik und Entwicklungsgeschichte usw. 43
den berlegungen zur Dynamik die ntige Substanz. Die Be-
obachtungen von Spannungen, von dynamischen Verhltnissen innerhalb
eines synchronischen Systems erhalten ja erst dann ihren vollen
Spannungswert, wenn die Entwicklung, zu der die Dynamik gefuhrt
hat, nicht verschwiegen wird. Unser Objekt ist in diesem Sinne
gewhlt: Koin und vor allem Neugriechisch als der End- punkt der
Entwicklung bieten sich zum Vergleich mit dem Alt- griechischen
an.
1. Beschreibung des altgriechischen Zustandes. Zur Bescbran-
kung unseres Aufgabenkreises schlieBen wir hier das Neutrum aus
unserer Betrachtung aus. Es hat vom Attischen bis zum Neu-
griechischen kaum eine nennenswerte Entwicklung erlebt. Im Neu- gr.
ist es immer noch lebendige Kategorie mit beinahe unverndert
denselben Formen wie im Altgr. Immerhin ist es fur die im Zentrum
unserer Betrachtung stehenden beiden Kategorien Mask, und Fern, von
Interesse, da sie und das Neutrum so wenig Interferenz zeigen.
Zur leichteren Orientierung seien die Ausgnge in tabellarischer,
mglichst komprimierter Form dargestellt :
I II in Ha Hb
Sg.V -e N
-o -a, -rj -, -rj - / Dehnst. G -OV
-, -tJ -OV -O, -), -OV
A 'OV -v -v, -rjv -v, -a
D -i -ai, -7)i -i
PL NV -oi -ai -e G 'Cov -v -0)v A
-ov - -a D
-o* -a* -o*t
Hinsichtlich der Art der Analyse bietet das in Gruppe III
Gebotene, also die sog. konsonantische Deklination, kaum AnlaB zu
Dis- kussionen: Die Kasusendungen heben sich scharf von den Stamm-
auslauten ab. Umstritten bleibt die Abtrennung in I und II, also
den vokalischen Deklinationen. Mit der in der Tabelle gegebenen
Gestalt der Ausgnge haben wir uns eigentlich schon auf eine be-
stimmte Abtrennung festgelegt. Es ist nicht gesagt, daB dise alien
Kriterien einer Beschreibung im strengeren Sinne standhlt. An das
,,naturliche Sprachgefuhl" der Athener kann hier unmglich
appel-
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44 Hans jakob Setter liert werden1); denn wenn wir etwas
dariiber wissen, so doch nur auf Grand systematischer Uberlegungen
: die Zirkularitt ist offenbar.
Immerhin lBt sich die hier gebotene Abtrennung der Ausgnge von I
und II vor dem ,,Stammvokal" durch sticbhaltige Argumente
vertreten, was hier nicht nher ausgeflihrt sei. Die Formenreihen I,
II und III knnen in der gegebenen Gestalt als durch Analyse
hinlnglich fundiert angeseben werden. Wichtig aber ist, daB die
vertikale Dimension der Tabelle bereits Funktionan angibt : nur die
Gleichartigkeit der funktionellen Relationen ermglicht die An-
ordnung der den jeweiligen Funktionen entsprechenden Formen. Das
funktionelle Verhaltnis ist gleich in:
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Zur Systematik und Entwicklungsgeschichte usw. 45
einer indogermanistischen Sicht her sind manche Forscher1)
geneigt, den formaJen Unterschied von o- und a-Stamm im Altgr. vom
Funktionsunterschied Mask./Fem. zu trennen. Dabei wird aber Histori
iber Gebuhr ausgedehnt, wo allein konsequente Beschrei- bung am
Platze ware. Wir setzen hier mit einigen Feststellungen ein.
Aile Nomina mit den Ausgngen Norn. Sing, - (-rj)9 Gen. Sing. -
(-ri) sind Feminina, whrend die entsprechenden Ausgnge von I,
nmlich -o, -ov nicht zugleich den Kasus und ein bestimmtes Genus
markieren (d noA/Mo, rov -ov wie f\ do, xfj -ov). Aber die Ausgnge
unter lib tun dies, wenn auch wieder, wie bei lia, nur im Nom. und
Gen. Sing. ; dise Ausgnge charakterisieren neben der Kasusfunktion
die Genusfunktion Maskulinum. Die Ausgnge f ur die restlichen
Singular- sowie f tir die gesamten Pluralkasus haben Ha und lib
gemein; diese Elemente charakterisieren also nur Kasus und Numerus,
nicht auch das Genus2). Es prsentiertsichalsoindem von uns hier
beschriebenen Sprachzustand neben oder richtiger innerhalb des
Gesamtbereicbs, auf dem Kasus und Numeri unter- schieden werden,
ein Sonderbereich, in dem zugleich mit Kasus und Numerus auch das
Genus unterschieden wird; der Sonderbereich erstreckt sich nach
unseren bisherigen Erfahrungen auf die Aus- gnge Nom. und Gen.
Sing, der Typen Ha und lib. Wie lautet nun die Beschreibung der
formalen Kennzeichen dieser mit Kasus und Numerus gekoppelten
Genusfunktion?
Im Norn, stehen sich gegenuber Mask, -as. Fern, -a; aber das -a-
ist beiden gemeinsam, d.h. nicht unterscheidend. Der Kontrast l fit
sich also reduzieren auf -s gegen Nicht- -s; fur Nicht- -s setzen
wir Null (0) (Begriindung unten). Im Gen. stehen sich gegenuber
Mask,
-ou, Fern. -as. Aber auch dieser Formgegensatz lfit sich auf
einen einfacheren zuruckf Iihren, worauf uns folgende tJberlegungen
bringen: Fern. Gen. -as gehrt formal enger zusammen mit Fern. Nom.
- als mit einem der ubrigen Kasus des Paradigmas, etwa -on ; die
beiden haben das Element -a- gemeinsam; das Verhltnis von Nom. - zu
Gen. -as lafit sich also reduzieren auf Nom. = Nicht- -s (0), Gen.
= -s. Also drngt sich die Isolierung des -s als kleinste
sinntragende Einheit (Morphem) nicht nur in der Dimension Grenus,
sondern auch in der Dimension Kasus auf; und der Umstand, dafi
x) A. Meillet, ,,Essai de chronologie des langues
indo-europennes", BSL. 32 (1931) 1-28; vgl. Introduction l'tude
comparative des langues indo-europennes, Paris 1937, 281ff.; ferner
Schwyzer, 1. c. 210.
2) Von dem zu einem femininen Nom. Sing, auf -d gehrigen Akku-
sativausgang auf -v, der nur Femininen eignet, sehen wir hier
ab.
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46 Hansjakob Seller
der Kontrast zwischen der Anwesenheit eines Konsonanten (s) und
seiner Abwesenheit in zwei fanktionellen Dimensionen relevant ist,
berechtigt zu der Annahme, daB innerhalb dieses Systems die Ab-
wesenheit des betreffenden Konsonanten selber als ein Zeichen gilt.
Dise Realitt steht hinter unserem Ansatz Null. Als Folge dieser
tberlegungen kann man nun auch bei der Opposition der Genitive
Fern, -as : Mask, -ou im s die entscheidende Kennmarke des einen
Oppositionspartners sehen. Der Gegensatz lautet jetzt: -s : -ou;
aber noch allgemeiner lBt er sich fassen als -s : Nicht- -s (0).
Die Interpretation des Gegensatzes oxi : vsaviov als s : 0, wobei
-ou ein Spezialfall von Nicht- -s oder 0, heiBt, daB s : 0 das
allgemeine Modell ist, in das sich der Gegensatz s : ou einordnet
und nicht um- gekehrt. Aber auch diese letztere Interpretation
bleibt nicht in der Abstraktion stehen, sondern sie erfaQt
sprachliche Realitt, nam- lich dann, wenn man liber die
Beschreibung des Einzeldialektes Attisch hinausgeht, bezieht sie
doch eine Reihe von Dialekt- varianten ftir -ov der Gruppe lib ein:
horn., ol. -o (Opposition Fern. -8 zu Mask,
-o), ark. -av (allerdings auch Fern, r aiiiav), lesb. dor. el.
-d (also Opposition Fern, s : Mask. 0, wie in unserer
Generalformel). Der entsprechende Nom. lautet in alien diesen
Dialekten
-. Diese Situation ist bezeichnend und bekrftigt unsere
Formanalyse: In dem Subsystem von Nom. und Gen. des Typus lib kommt
es fur den Gen., damit er zugleich als Genusmarke diene, nur darauf
an, daB er im Gegensatz zum Nom. kein -s hat; was an Stelle dieses
-s steht> ob 0 oder -ou oder -o usw., ist hinsichtlich der
Unterscheidungskraft sekundar und infolgedessen der Variation
unterworfen. Der Nom. aber muB unter alien Umstnden ein s haben,
das nicht mit etwas anderem variieren kann; daher die Konstanz
seiner Form1). Nun findet sich die Form -ou als Gten. Sing, auch
unter I; und auch hier hindert nichts, sie zu beschreiben als
-s-los in Opposition zum -s-haltigen Nominativausgang -o; das
Verhltnis ist also wieder Nom. s : Gen. 0 wie bei lib. Bei lib war
diese Verteilung des s in bezug auf Nom. und Gen. die Kennmarke
fiir Maskulinum im Gegensatz zu lia, wo die Verteilung genau um-
gekehrt ist und als solche das Femininum ksnnzeichnet. Bei I
schlieBt die genannte Verteilung freilich nicht nur Maskulina
ein,
x) Es gibt allerdings botisch und nordwestgriechisch den Typus
von Maskulina Nom.
-a, Gen. -, z.B. (inschr.) 'OAv/imovtx, Gen. Thessal. Nixia.
Dieses System, das allerdings gar keine Genus-Unterschiede am Nomen
kennt, fllt nicht unter unsere Ausfuhrungen. Die Gesamtentwick-
lung des Griechischen ging andere Wege.
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Zur Systematik und Entwicklungsgeschichte usw. 47
sondern auch Feminina; sie kann also nicht durchaus als Mask.-
Kennzeichen gewertet werden; stellt man sich aber den gesamten
Wortbestand vor, so fallen unter I und seine Ausgnge zweifellos
viel mehr Mask, als Fern., und dieses statistische tbergewicht ist
f iir unser formal-f unktionelles Problem nicht unerheblich. Man
kann deshalb sagen: ,,nahezu" wird in Hauptgruppe I ebenso wie
durch- weg in Hauptgruppe II (mit If a und lib) in einem durch Nom.
und Gen. Sing, limitierten Subsystem das Genus unterschieden nach
der Formel: Mask. Nom. = s, Gen. = 0, Fern. Nom. = 0, Gen. = s. In
diesem Subsystem sind demnach die Formen fur Nom. (~o), -, - und
fur Gen. (-ov), -, -ot>, oder, aufs Wesentliche reduziert, s, 0,
nicht Allomorphe (nicht-distinktive Varianten), sondern
reprsentieren Morpheme, die Genusunterscheidend sind. Dagegen ist
in Typus III Nom. Sing. -$ bloBe Variante von 0 bzw. Dehnung, da
diesem Formunterschied kein erkennbarer Funktions- gegensatz
entspricht (d yvfiv/j wie f\ fazk, 6 nariJQ wie rj firjrr]Q),\xnd
ebensowenig entspricht ein Funktionsgegensatz denGenitiv varianten
.
Was an dieser Beschreibung von Interesse sein diirfte, das ist
die Erkenntnis von einem Sondersystem (fiir das wir uns hier die
Bezeichnung ,,Subsystem" erlauben). Im Rahmen eines lngst be-
kannten groBen Systems (,,allgemeinen Systems") zeichnet sich das
Subsystem durch Formen- und Funktionsgegenstze aus, die fiir das
allgemeine System nicht gelten. Um aber fiir das Subsystem die
Beschreibung noch konsequent zu Ende zu denken, kann folgendes
beigefugt werden: die hier isolierten Morpheme sind ein Konsonant
im Auslaut (*) und dessen Fehlen (0). Dise zwei Mor- pheme sind
hinreichend, um zwei miteinander kombinierte, aber nicht
voneinander abhngige Funktionsunterschiede zu markieren, nmlich 1.
Nom. Mask, s : Nom. Fem. 0, 2. Gen. Mask. 0 : Gen. Fem. s, 3. Nom.
Mask, s : Gen. Mask. 0, 4. Nom. Fem. 0 Gen. Fem. s. (Ein solches
Verhaltnis kann als Solidaritt bezeichnet werden.) Die Konsequenz:
Das Morphem fiir Kasus- und fur Genusunter- scheidng wird
reprsentiert durch den Endkonsonanten, und zwar durch ihn allein,
also nicht durch Vokal plus Konsonant wie in dem allgemeinen System
der Typen I, II, teilweise (im Plur.) auch III. Das ist also eine
prinzipiell andere Abtrennung. Was nach der Ab- trennung des
Endkonsonanten verbleibt, ist ein vokalisch endender Stamm. Die
Nominativformen der Feminina stellen diesen rein dar und ebenso tun
dies die Genitivformen der Maskulina, wobei in dieser Sicht der
Gegensatz zwischen
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48 Hansjakob Seiler
2. Die im System enthaltene Dynamik ist damit bereits gekenn-
zeiohnet; sie besteht in der Spannung zwischen dem Subsystem mit
seinen ganz besonderen Verhltnissen und dem allgemeinen System, zu
dem sie in Gegensatz stehen. Die geschilderte Situation besteht
nicht nur f tir das Attische, das f ur uns Grundlage der
Beschreibung bildete, sondern offenbar fur Sprachzustnde, die
wesentlich weiter zeitlich zuriickliegen, z.B. fur Homer; das
Mykenische zeigt bereits Genitive auf -ao von Eigennamen1). Die
Dynamik im System hat sich also Jahrhunderte lang gehalten, ohne
sich aufzulsen.
Aber die reine Betrachtung des Systems und der Dynamik hilft uns
nun nicht mehr weiter fur folgende Fragestellungen : 1. Welches ist
die Vorgeschichte des Subsystems? 2. Wie hat sich das Subsystem im
Rahmen des Hauptsystems weiterentwickelt? Theoretisch kommen fur
beide Blickrichtungen: nach riickwrts und nach vorwrts mehrere Wege
in Betracht. Beispielsweise kann sich das Subsystem im Laufe der
Weiterentwicklung auf Kosten des Gesamtsystems ausgebreitet haben;
oder aber es kann im Gegenteil sich zuriickgebildet haben und
verschwunden sein. An diesem Punkte der Sprachbetrachtung - aber
eben erst an diesem - ist es geboten, die historische Perspektive
einzuschalten, d.h. zeit- lich vor oder nach dem Ausgangssystem
liegende Sprachzustnde in Betracht zu ziehen. Der Beschreiber wird
nun zum propheta ex eventu. Die zeitlich nach riickwrts gerichtete
Betrachtung wiirde sich vor allem mit der Herausbildung des
Formgegensatzes -o (immer mit -s) : -ov (immer ohne s) gegeniiber -
(immer ohne s) :
- (immer mit s)2), weiter mit dem genetischen Verhltnis der
x) M. Ventris und J. Chadwick, ,,Evidence", JHS. 73 (1953) 93.
2) Das s ist im Gen. Sing, der -Stmme alteingesessen. Das hangt
damit zusammen, da die idg. -Fle^on , ursprunglicheine
konsonantische ist {-a < ?ea) (vgl. etwa H-JP^eraen^La
2J!1X!J^!!I^ ji^^^*1^11 Ifij:^^ 19);
~"cTas s steht im Gen. der -Stmme mit demselben Recht wie im
Gen. von Klasse III (konsonantische Dekl.). Der Gen. der maskulinen
-Stmme in der Gestalt -ov oder -ao erweist sich als nach dem Gen.
der o-Stamme um- gebildet. Also wird, was man auch allgemein
annimmt, das Nominativ-5 dieser Maskulina ebenfalls eine bertragung
von den -o-Nominativen sein. Das setzt zweierlei voraus: 1. dafi
man die o-Flexion als charakteristisch fur die Funktion Maskulinum
empfand - was sie ja an sich nicht ausnahmslos war (vgl. oben S. 46
f.); 2. da von dem Element -o der Konsonant fur die Signalisierung
der Funktionen Nom. und Mask, wichtiger erschien als der Vokal. Zum
Gen. Sing, der Stmme im Mykenischen und zu einer mg- licherweise
ausgedehnten Heteroklisie zwischen konsonantischer und voka-
lischer Deklination vgl. S. Luria, ber die Nominaldeklination in
den mykenischen Inschriften, La Parola del Passato LVI 1957, 321
ff.
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Zur Systematik und Entwicklungsgeschichte usw. 49
sigmatischen und der asigmatischen Nominative Sing, von Klasse
III zueinander und zum Genitiv auf
-1), sowie schlieBlich mit der Herausbildung des
Mengenverhltnisses der Funktionen bei Typus I (Mehrzahl der
Bildungen maskulin) zu befassen haben. Hier soil einzig die
Weiterentwicklung verfolgt werden.
2. 1. Noch an Hand des Ausgangszustandes (Attisch) laBt sieh
fiir den Fall einer Ausbreitung des Subsystems eine starke Ver-
mutung uBern: Die Ausbreitung wird ihren Weg am sichersten liber
diejenigen Ausgnge nehmen, die konsonantisch auslauten; denn das
Subsystem beruht ja auf dem Auslautskonsonanten. Unter den
Singular-Kasus kommt der Akk. in Betracht. Wenn nun die Vermutung
zutrifffc, so muB die Ausbreitung des Subsystems darin bestehen,
daB der auslautende Konsonant, also n, fiir sich allein das Morphem
darstellt, dem die Funktion Akk. (Sing.) obliegt. Die Endung hat
danach nicht mehr die Gestalt Vokal plus Konsonant -(or, -dv,
-rjv), sondern nur noch Konsonant -n. Infolgedessen lautet dann der
Stamm vokalisch aus. Aber das Morphem in der Gestalt -n kann nicht
nur in den Typen I und II, sondern genau so auch innerhalb des
Typus III erblickt werden: ov-v, noXi-v. Durch die Neufassung des
Akk.-Morphems in den Typen I, II ist eine starke Briicke zu III
oder jedenfalls zu einigen Subtypen von III ge- schlagen. Lassen
wir den Plural vorlufig auBer Betracht (zur Be- griindung unten 2.
4. 1.), so ist der Akk. auf -n ein - und zwar der einzige - den
Flexionen I, II und III genmeisamer Ausgang. Akkusativformen wie
IleQixU, paad, neu&) bestanden bei einer derartigen Analyse aus
dem bloBen, vokalisch auslautenden Stamm. Das bedeutete aber eine
starke formale Disproportion, wenn, wie soeben ausgef tihrt, bei
alien anderen Flexionstypen das Morphem mit der Funktion Akk. Sing,
gerade im auslautenden Konsonant -n und nicht in Vokal plus n oder
im reinen Stamm bestand. Die Konsequenz muBte sein, daB das Morphem
-n den vokalisch auslautenden Aioyvrj, vga usw. zugeftigt wurde.
Genau das ist bekanntlich auch geschehen. Die Zeitanstze sowie das
Dialektgebiet sind dabei nicht unwesentlich.
x) ber das genetische Verhltnis zwischen dem s des Nom. und dem
8 des Gen. vgl. N. van Wijk, Der nominale Genitiv Singular im Idg.
in seinem Verhltnis zum Nominativ, Zwolle 1902; grundlegend fur
dise Pro- blme ist J. Kuiyiowicz? Judes indo-europennes, I 131 ff.,
bes. 160ff.
Glotta XXXVII 1/2 4
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50 Hansjakob Seiler
Aber am wichtigsten ist die Einsicht, da8 hnliche Ausgangsposi-
tionen (Systme und Dynamik) und parallle Entwicklungen in
verschiedenen Dialekten und verschiedenen Zeiten zu gleichen oder
analogen Resultaten gefiihrt haben1). Im Att. hat man von s- Stmmen
Akkusative auf -v (-tjv) inschriftlich seit dem 4. Jh. v. Chr.,
einige Beispiele gehen sogar ins Ende 5. Jh. zuruck2). Es sind
zuerst fast nur Eigennamen: 'AQiaxonei&rjv IGII I2 107, 33 (368
v.Chr.), seit 300 v. Chr. die auf
-kMj ; Eigennamen auf -rjv sogar bei Attizisten
Arjjbioo&vriv, 9Axxix Moeris p. 123, Appellative wie XQirJQrjv
seit Mitte 4. Jh. Es besteht nun m. E. kein Grand, von diesen
Erschei- nungen etwa die lesbischen (nrjfeyvrjv Alkaios 106,11;
avabr\v Sappho 33, 53); inschr. seit 4. Jh. v. Chr.) oder die
delphischen (seit 220 - 200 v.Chr.) oder kypr. xeXrjv, boot.
AapoxeXeiv usw. zu trennen4).
Etwas anderes, was aber unbedingt in diesen Zusammenhang gehrt,
ist die Einfiihrung des -n bei den Akkusativen auf -a. Hier hat man
es auch mit zeitlich und dialektisch geschiedenen Fakten zu tun;
das heiBt aber eben nicht, da8 sie nicht ihre Existenz doch
gleichen Ursachen verdanken. Eine Form jaxqav zeigt bereits die
Tafel vonEdalion, hnlich (v)Qij(v)rav aus Tamassos (350 v. Chr.)5),
xiovav thessalisch 2. Jh. v.Chr. Im Attischen begegnen Formen
fapvav, naxqiav, %qixav in der spteren Kaiserzeit6). Hufig finden
sich diese Bildungen auch im NT, etwa oxfjgav, aaqxav,
afauyyav1).
!) So schon Meillet, MSL. 13 (1905/06) 52f., der die Situation
hin- sichtlich des -v richtig, wenn auch nur andeutungsweise,
beurteilt.
2) Meisterhans-Schwyzer, Gramm. d. att. Inschr.3 132. 136f. 8)
Vgl. E.-M. Hamm, Gramm. zu Sappho und Alkaios, 157. 4) Schwyzer,
Gr. Gr. I 579, erklrt jungatt. HxQarrjv, rguJQrjv usw. auf
Grund des Zusammenfalls von -^ aus -as und -es. Von dieser
falschen
Position aus dann seine Polemik gegen Meillet (1. c. Anm. 1) :
da im Lesb., Boot. usw. -as und -es geschieden blieben, konnte -es,
- durch -as, -an nicht beeinfluBt werden. Schwyzer erwagt eine
andere Herleitung, die aber wenig berzeugt. - Uns geht es hier
gerade darum, zu zeigen, dafl die Neuerungen in den verschiedenen
Dialekten zwar voneinander unabhngig sind, aber als parallle
Entwicklungen auf demselben Prinzip beruhen: namlich der
Auffassung, der Trger der Akk.-Funktion sei -n und nicht Vokal plus
n (weiteres unten S. 52 f.).
5) Bechtel, Dial. I 428. fl) Meisterhans-Schwyzer, 130; vgl.
Dieterich, Unt. 159; E. Schweizer,
Gramm. d. pergamen. Inschr. 156f. mit weiterer Lit. 7)
Blafi-Debrunner, Gramm d. neutest. Griech.9,32f.; ausfuhrlich
uber
diese Bildungen J. Psichari, ,,Essai sur le grec de la
Septante", Quelques travaux ... I (1930) 831ff.
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Zur Systematik und Entwicklungsgescliiclite usw. 51
Schwyzer1) sieht keinen Zusammenhang zwischen den alten Fallen
(kypr.) und den hellenistischen, da er von -rj, -rjv bzw. -, -v
einerseits und -a anderseits ausgeht. Anders dachten Bechtel, 1. c.
und Kretschmer, Einleitung 28. Unsere Ausgangsposition haben wir
oben beschrieben, und von ihr aus gesehen gehren all genannten Flle
eindeutig zusammen. Es ist aber ntig, das, was die Gramma- tik von
Schwyzer, 1. c, zu dem ganzen Problemkomplex vorzu- bringen hat,
einer Kritik zu unterziehen. Die Anschauungen iiber diese
fundamentalen Problme sind sehr unsicher: ,,Hellenistisch -av fiir
-a (vqav . . .) braucht nicht mit den alten Fallen zusammen-
zuhngen (so Kretschmer . . .), sondern wird auf dem Ausgleich der
Quantitten und dem teilweisen Schwund von -v beruhen (da -v [neben
Nom. -, -] als bloBes -d erscheinen konnte, restituierte man -ar
falschlich auch flir altes -d und brauchte andererseits dies auch
als Nom.: a Pap., f\ yvvalxa Gloss., wie im Neugr.)." Es gbe hier
viel zu fragen. Was soil ,,teilweiser Schwund von -v" heiBen? Auf
welche Zeit ist das bezogen? Die Tatsachen des aus- lautenden -v
(Assimilation, Schwund, zuerst beim Artikel, dann beim Subst.)
ordnen sich in eine zeitliche Sequenz, die bereits Dieterich,
Untersuch. z. Gesch. d. griech. Spr. 88ff. herausgearbeitet hat.
Die Assimilationserscheinungen (-v des Artikels an folgenden
Anlauts- kons. wie Gutt., Lab. usw.) sind bekanntlich alt; Schwund
des -v beim Artikel setzt im 2. Jh. v. Chr. ein, Schwund des -v im
Auslaut von Substantiven aber erst seit dem 2./3. Jh. n. Chr. und
zwar in gypten. Aber ailes deutet darauf hin, daB die letztere
Erscheinung in ihrem AusmaB und ihrer geographischen Ausdehnung von
Anfang an beschrnkt war und auch beschrnkt blieb. Auffallend ist,
daB sich gerade das Akk.-v in der sptaltgriechischen Zeit sehr zh
ge- halten hat. So ist aus den Pap. (Mayser I1 2, 39ff.) kein
einziges Bei- spiel von alten A toy vrj u. . zu belegen, sondern
nur Aioyvrjv. In der Literatur ist der Schwund des v erst seit dem
10. Jh. nachweisbar2). In hnlicherWeise ist auch das auslautende -v
der Gen. Plur. in der Koine fest; und im Gemein-Neugr. ist solch
auslautendes -v auch nur bedingt gesch wunden; es wird im Gen.
Plur. zumindest ebenso hufig durch Anfugung eines Vokals, d.h.
Offnung der Silbe, gestiitzt3): rc5 (piXco neben r tpiXwvs. In
manchen neugr. Dialekten aber ist das -n bis heute durchaus
fest4).
!) Gr. Gr. I 563. 2) Vgl. Sophokles, Lex. Introd. 35, 4. 3) A.
Mirainbel, Grammaire du grec moderne, Paris 1951, 29; vgl.
Verf., Glotta 36 (1958) 220. 4) Verf., 1. c.
4*
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52 Hansjakob Seiler
Die Entwicklung der Akkusative -a > -av setzt, wie man sieht,
zeitlich fruher ein und auf viel breiterem Areal als der Schwund
von auslautendem -r bei Substantiven. Aber selbst wenn man diesen
Schwund so beurteilen knnte, wie es Schwyzer vennutlich tat, so
bliebe unverstandlich, weshalb bei einem Schwund von -v die Akk.
auf -d sich dann doch denen auf -v (zu -, -) angeglichen haben
sollen und nicht vielmehr umgekehrt die -v nach dem Ausgleich der
Quantitten ebenfalls zu -a geworden sind. Diese Ungereimt- heiten
kommen m. E. daher, daB man allgemein fur die nach- klassische
Situation und sogar noch furs Neugr. mit Suffixen von der Gestalt
Vokal plus Konsonant, also -o, -av (I) und -, -v bzw. -rj, -rjv
rechnet. Wir glauben in dieser Untersuchung bisher ein- gesehen zu
haben, dafi zu einer Zeit, da Ijaxeqav oder ExQxrpt u.. gebildet
werden konnte, die Kasusendungen des Sing, virtuell bereits nur
mehr bestanden in -s, 0, -n, mit einer spezifischen Verteilung von
0 und 8 auf Nom. und Gen. je nach dem Genus. Von einer solchen
Sicht, und nur von ihr aus, lafit sich das klar verstehen, was im
Zuge der Weiterentwicklung geschehen ist.
2. 2. Schalten wir hier zuerst wieder einige systematische
t)ber- legungen ein. Der Plur. bleibt wie bisher aus dem Spiele (s.
unten 2. 4. 1.). Die Zerlegung in Stamm und Endung bei (plXo-,
-
Zur Systematik und Entwicklungsgeschichte usw. 53
im Subsystem I, IT markierten: s = Mask. Nom., woraus die ent-
sprechende Grenitivform 0 folgte; 0 = Fern. Norn., woraus Gen.
-$.
2. 3. Damit sind bereits die Haupttatsachen der Entwicklung von
der Koine bis zum Neugr. genannt. Sie lassen sich wie folgt
zusammenfassen: 1. "Obertragung des ,,functional load" der Kasus-
und Genusunterscheidung auf die Zeichen Endkonsonant und Null. 2.
Damit hngt zusammen die Auflsung der konsonantischen Flexionsweise
im Sing.1) : aile Singularflexionen erhalten vokalischen
Stammauslaut; zu a-, i-, o-Stmmen kommen in der zum Neugr.
fuhrenden Entwicklung auch solche auf e- und u- (vgl. unten S. 61).
3. Damit hngt ferner zusammen, daB die vokalischen Stammaus- laute
eines und desselben Paradigmas einander gleichgemacht werden.
Nach den Ausfuhrungen unter 2. 2. durfte es nun verstndlich
werden, weshalb iiberhaupt die konsonantische Deklination des
Altgr. in vokalische Flexionen uberfuhrt wurde. Man pflegt diese
Entwicklung viel selbstverstandlicher zu nehmen als sie im Grunde
ist. War doch gerade die konsonantische Deklination im alten Zu-
stand morphologisch weit durchsichtiger in der Zusammensetzung aus
Stamm und Endung als die vokalische; auBerdem umfaBte sie die
Mehrzahl aller Flexionstypen. Ferner hoffen wir hinlnglich
plausibel gemacht zu haben, weshalb ausgerechnet dem Akk. Sing, die
Schliisselposition zufiel, von der aus der ganze Flexionstyp neu
geregelt wurde.
Es seien fur die Einzeletappen der Entwicklung hier einige Daten
beigebracht. Nach dem, was wir beim jetzigen Stand der Aufarbeitung
der Zeugnisse wissen, ist nicht ailes gleichzeitig vor sich
gegangen. Fur die Neuregelung der maskulinen Genitive der Klasse
III reichen Zeugnisse bis ins 4. Jh. v. Chr. zurtick; bei den
Femininen setzen solche Zeugnisse erst in den ersten nachchrist-
lichen Jahrhunderten ein. In diese Jahrhunderte fallen auch die
scheinbar ersten Zeugnisse f iir neugeregelte Nominative bei Mask,
und Fern. ; durchgefiihrt ist diese letztere Neuregelung aber erst
im 9. Jh. GewiB liegt, wo nicht die besondere Art der tberlieferung
bzw. ihr gnzliches Versagen die Rolle des Zufalles spielen, eine
ratio in dem friihen bzw. spten Einsetzen einer Entwicklungs-
etappe; es kann dies im Rahmen dieser Studie nicht bis in aJle
Einzelheiten verfolgt werden. Wichtig bleibt, daB die Einzeletappen
einer gemeinsamen Entwicklungstendenz folgen, die aus einer be-
stimmten, systembedingten Ausgangsposition verstndlich wird.
x) Einzelheiten s. Dieterich, Unt. 162ff.
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54 Hansjakob Seiler
Verallgemeinerung der Gen. auf -ov (statt -ov bei s-Stammen) :
In Attika sporadisch seit 350 v. Chr. ; seit 300 v. Chr. gelangen
diese Formen weitgehend zur Herrschafb1) und erscheinen auch auBer-
halb Attikas: tuxqoltov, Tlayxqxov (Olbia, 3. Jh. v. Chr.), Zcoxqa-
xov (ibid., 2. Jh. n. Chr.) u. a.2).
Gleichmachung des Stammauslautes : -xqxri, Gen. -xqdxrj (statt
-xqxov), z.B. IlaaixqxTj, TZnrjipvri (rmisch), ro# Mww^fLXX passim,
nqeaf}evxfj (Afrika 170 n. Chr.). Genitive von Femininen: xfj va/ii
Pap. Leid. II 17, col. 4a Z. 7 (3./4. Jh. n. Chr.). Zeug- nisse fur
die Neuregelung des Nom. bei Dieterich, Unt. 160f., G. N.
Hatzidakis, Einleitung in die neugriech. Gramm., Leipzig 1892, 79f.
Genitive auf -a statt ~ov zu Maskulina auf -etc sind in einigen
auBerattischen Dialekten seit jeher dagewesen (oben S. 46). Ein
attisches Beispiel IG I2 661 Xaiqedrniov &da stammt aus dem 5.
Jh. v. Chr. Zuerst scheinen sich diese Genitive bezeichnender-
weise wieder bei Namen durchgesetzt zu haben (vgl. unten), und zwar
zuerst bei fremden3), danach hufig auch bei griechischen. Herodian
(II 665, 10) muB bereits Regeln aufstellen fiir die Genitiv-
bildung auf -a und die auf -ov. Literarisch finden sich diese
Genitive zuerst bei Polyb, z.B. xov Tqepla, Mqia 91, 17. 265.
Herodian, 1. c, verwirft Genitive wie ta/nia statt -ov; also hat es
sie gegeben. - In den gleichen Zusammenhang gehrt die Ausgleichung
zwischen den Ausgngen auf -rj und auf -a der Feminina. Auch sie
kann nur darin wirklich plausibel erscheinen, wenn man annimmt, daB
in einem bestimmten Sprachzustand fiovoa - fiaarj zu zerlegen sind
in die Morpheme iiovaa\r\- und -. Dabei setzt sich im Spt-Alt-
griechischen der Ausgang -a weit hufiger durch als der auf -77 4).
Auch das ist verstndlich. Gregentiber alien anderen Kasus des Sing,
und Plur. nimmt der Nom. Sing, eine Sonderstellung ein (daruber
unten Abschn. 2. 4. 3.). Da es mehr feminine Flexionstypen mit Nom.
auf -a als solche mit Nom. auf
-r\ gab, hatte -a eine strkere Ausgangsposition. Beispiele: %Xa,
Ki%ka, oiii%ka Hdn. II, 525; 560, 8; iQfia, xoXfxa ebd. I, 255;
318, 8. Eindringen des a impurum in den Gen. : Qeodovkat;, fiaaa u.
a.6).
Durchgehend fllt auf, daB sich die meisten dieser Analogien
zuerst der Eigennamen bemchtigt haben. Doch lBt sich dies leicht
begreifen: die Hinterglieder der meist zweiteiligen Namen
x) Meisterhans-Schwyzer 106. 2) Vgl. Dieterich, Unt. 172. 8)
Khner-Bla I 385, 9. 4) Dieterich, I.e. 173. 5) Dieterich, 1. c.
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Zur Systematik und Entwicklungsgeschichte usw. 55
standen nur noch in schwachem Zusammenhang mit den ent-
sprechenden Appellativen (etwa -xQdrrj mit xqaroc)] mit der
Lockerung dieses Zusammenhanges wird aber auch die Einreihung in
einen der bestehenden Flexionstypen (III oder II) unsicher. Bei
-ngvri, -HQatrjv half gewiB auch der Gleichklang mit den vielen
Substantiven mit Hinterglied auf ...rrj (-prrj, -eQytrj, eArrj,
-ardrrj) die tJberfiihrung in die Flexion lib beschleunigen.
2. 4. Das voile AusmaB der Vernderungen wird dann erst er-
sichtlich, wenn der Beschreibung des alten Zustandes (Attisch) eine
Beschreibung des Endzustandes der Entwicklung (Neugriechisch)
gegentibergestellt werden kann. Die Beschreibung des neugr. Zu-
standes erfolgt in Kap. 3. Zum Schlusse von Kap. 2 jedoch seien
noch drei in diesen Zusammenhang gehrige wichtige Problme
wenigstens kurz gestreift.
2. 4. 1. Die Entwicklungsgeschichte der griechischen Nominal-
deklination, so wie sie hier skizziert wurde, ist die Geschichte
des Singulars. berblickt man die altgriechischen (attischen) Dekli-
nationsausgnge des Plurals, so fllt im Gegensatz zum Sing, deren
geringe Variation zwiscben den Typen I, II, III (Allomorphie) auf,
eine Variation, die oflfenbar noch geringer wird, wenn man zeitlich
nach riickwrts geht. Durchaus identisch, wenn man vom Akzent
absieht, sind in I, II und III die Genitivausgnge. Die Akk.-
Endungen zeigen relativ geringfiigige Allomorphie (nur Quantitt und
Qualitt des dem gemeinsamen s vorausgehenden Vokals). Die
Dativendungen von I und II stehen sich, wenn mit III verglichen,
nher; doch enthielten alte bzw. dialektische -oiai und -ai das -ai
von III. Im Nom. lauteten die Vorgnger von -oi, -ai einmal *-co, *-
und waren mit dem -e der iibrigen Typen vergleichbar. Kaum eine
nennenswerte Umgestaltung hat sich aus diesen Ausgangs- positionen
ergeben. Der Dat. ist in der Entwicklung zum Neugr. geschwunden,
wie imSing. (vgl. 2. 4. 2.). Auf die verbleibenden drei Funktionen
verteilen sich bei Typus I drei Endungen wie im Sing., und es sind
dieselben Endungen wie im Altgr. Typen II und III haben sich im
Plur. zu einem Zweiformensystem entwickelt, ganz entsprechend den
Verhltnissen, wie sie sich bei diesen Typen im Sing, durchgesetzt
haben; und auch die Gestalt dieser beiden Formen, -e und -cov, ist
bereits aus dem Altgr. ererbt.
Whrend das System der singularischen Endungen sich in der
geschilderten Weise gewandelt hat, hat sich in dem der Plural-
endungen keine durchgreifende Wandlung vollzogen. Dieses macht den
Eindruck einer uBerlichen Angleichung an die Verhltnisse
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56 Hansjakob Seiler
des ersteren; aber diese Angleichung vermag nicht liber die
starke formale Diskrepanz zwischen Sing, und Plur. hinwegzutuschen
: Durch Ausbreitung des alten Subsystems auf den ganzen Sing,
beruht dessen Flexion auf der Anwesenheit bzw. dem Fehlen von
Endkonsonanten; die Stamrne enden vokalisch. Aber im Plur. be-
stehen die Endungen, auch noch im Neugr., nach wie vor aus Vokal
plus Konsonant, und nach Abtrennung der Endungen bleibt ein in den
meisten Fallen konsonantischer Stamm. Es erhebt sich trotz allem
bisher Vorgebrachten noch einmal die Frage, ob unsere Ana- lyse der
Singularformen, ausgehend von denjenigen des Subsystems und
schliefilich auf den ganzen Sing, sich beziehend, den Sprach-
tatsachen voll Rechnung trgt. Denn die Konsequenz ist doch, daB wir
in einer Deklination vom nachklassischen bzw. sptgr. Typus nicht
mehr mit einem die Sing.- und Pluralformen verbindenden gemeinsamen
Stamm zu rechnen haben, daB also der Aufbau aus Stamm und Endung im
Sing, prinzipiell anders ist als im Plur. Zweierlei sei hierauf
geantwortet: 1. Der formalen Gegenstzlich- keit zwischen Sing, und
Plur., wie wir sie sehen, entspricht ein fundamentaler Unterschied
in der Funktion ; denn im Sing, spielt, wie wir gesehen haben, die
Bezeichnung des Genus eine wichtige Rolle. Im Plur. dagegen ist das
Genus (d.h. der Unterscbied zwischen Mask, und Fern. ; vom Neutrum
sehen wir ab) im Altgr. schon nicht bezeichnet worden und wird auch
weiterhin nicht be- zeichnet. Die in Kap. 3 gelieferte Beschreibung
der neugr. Situation zeigt dies eindrucklich (vgl. die tbersicht S.
64). 2. Die Entwick- lung von der Koine zum Neugr. zeitigt
massenweise pluralische Flexionsformen, die sog. ungleichsilbigen,
die in plausibler Weise aus einer solchen formalen Diskrepanz
zwischen Sing, und Plur. hergeleitet werden konnen und somit
ihrerseits die tatschliche Existenz dieser Spannung wahrscheinlich
machen (dariiber unten 4. 2.).
2. 4. 2. Scbwund des Dativs1). Als Grunde werden meistens an-
gegeben formale, losgelst von den semantisch-syntaktischen (Schwund
der Quantitten, Zusammenfall von Endungen2)), oder
semantisch-syntaktische, losgelst von formalen; dabei halt man die
semantisch-syntaktischen jetzt allgemein fiir wichtiger. Aus der
angeflihrten literatur erfahren wir vieles liber die
,,Schwachung"
1 J. Humbert, La disparition du datif (du Ier au Xe sicle),
Paris 1930; dazu Rezension von A. Debrunner, IF. 51, 22 If.;
Debrunner, Gesch. d. griech. Spr. II, 118ff.; dazu Rezension von
Verf., Language 32 (1956) 323f.
f) Dieterich, Unt. 149f.
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Zur Systematik und Entwicklungsgeschichte usw. 57
des Dativs1), iiber die Konkurrenz seitens der mit Gen. oder
Akk. konstruierten Prapositionen. Hier sei nur eine bisher u. W.
nicht beachtete Mglichkeit der ,,Schwchung" des Dat. angezeigt, die
uns allerdings schwerwiegend zu sein scheint. Keine der alten Dat.
Sing.-Endungen lautete auf Konsonant aus. Wenn sich nun das auf dem
Endkonsonanten beruhende Subsystem ausbreitete, so gab es in der
neuen Situation fur den Dat. keine Endung mehr, d.h. es existierte
kein Zeichen mehr fur den Dat., das sich etwa dem Zeichen n fur den
Akk. oder s fiir den Nom. htte vergleichen lassen. Zwar sind die
maskulinen Gen. Sing, und die femininen Nom. Sing, auch endungslos,
doch stehen diese endungslosen Formen in einem Solidarittsverhltnis
zu Formen, die mit (konsonantischer) Endung versehen sind, und dem
Formverhltnis entspricht das Verhltnis cler Genusfunktionen : dem
Fehlen des Endkonsonanten im einen Genus entspricht, bei
gleichbleibendem Kasus, die Anwesenheit des Kons. im anderen Genus
(vgl. oben S. 47 und unten 2. 4. 3.). Der Dat. stand aber von
Anfang an nicht in einem hnlichen Solidari- ttsverhltnis. Da die
Entwicklungsgeschichte des gesamten Deklinationssystems im
wesentlichen durch die Entwicklungs- geschichte des Sing, bestimmt
ist (oben 2. 4. 1.), vermochte der Dat. Plur. den Dat. Sing, nicht
zu stiitzen. Dazu gesellen sich zweifellos weitere
lautlich-morphologische Imponderabilien2).
2. 4. 3. Formate und funktionelle Solidaritt zwischen Nom. und
Gen. Sing, ist charakteristisch fiir das Subsystem. Aber weshalb
bilden gerade Nom. und Gen. zusammen dieses Solidarittssystem und
nicht etwa Norn, und Akk.? Die Frage stellen heiBt auch bei- nahe
schon sie beantworten; vieles muB hier allerdings noch der
Einzeluntersuchung iiberlassen bleiben.
Die Herausbildung neuer Systme (wie unseres Subsystems) besteht
in der Herausbildung oder Verschrfung von Kontrasten, von scharf
geschiedenen Formen und Funktionen. Auf unser Pro- blem angewendet
heiBt das, daB der Nom. Sing, einerseits und der Gen. Sing,
anderseits in dem Kontrast zueinander eine hervor- stechendere
Rolle spielen als all andern Kasus des Sing, und all Pluralkasus.
Was gibt es iiberhaupt fur Mglichkeiten der Stellung von Kasus
innerhalb eines Paradigmas und damit der Gruppierung von Kasus?
Daruber bietet W. Schulzes Aufsatz ,,Zur Bildung des Vokativs im
Griechischen und Lateinischen" (II)3) wichtige Be-
x) Debrunner, Gesch. d. griech. Spr., 1. c. 2) Nheres bei
Dieterich, Unt., 1. c. 8) AvtIcoqov, Festschrift J. Wackernagel
(1923) = KL Schr. 90ff.
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58 Hansjakob Seiler
lehrung. Aus dem Altindischen gewinnen wir ein Bild von einem
Deklinationssystem, in welchem die Kasus als gleichberechtigte
Formelemente einander gegentiberstehen. Im Sing, stehen Nom. und
Akk. sowohl durch die Gesetze der Betonung wie die des Ab- lautes
nahe beieinander, im Plur. aber trennt sich der Akk. vom Nom. und
gesellt sich zu den Iibrigen Kasus. Aber die Grundlage des
altindischen Systems bildete eben nicht eine bestimmte Grup-
pierung der Kasusformen, sondern der alien Formen gemeinsame
Nominalstamm. Vermutlich hatte eine hnliche Situation flir die
Ursprache Giiltigkeit. Aber im Griechischen sind die Verhltnisse
von jeher anders gewesen - um so leichter ist es begreiflich, da6
das Prinzip des durchgehenden, alien Formen gemeinsamen Stam- mes
schlieBlieh ganz aufgegeben wurde (oben 2. 4. 1.). Abgesehen von
Fallen wie t&vyxrjQ, {hyaxeQa oder vrj>, vQa (gegen vQo, -I
usw.), wo sich Gen. und Dat. durch Vokalstufe und Akzent nahe
stehen und wo der Nom. von den beiden ebensoweit abgesondert ist
wie der Akk., hat der Nom. Sing, eindeutige Vorzugsstellung, und
zwar nicht nur innerhalb der Singular- Reihe, sondern auch
gegenuber alien andern Formen : qyjxcoq gegenuber qyjxoqo . . . ,
qyjxoqs ... ; faci gegenuber htio . . . , faite ... ; yv gegenuber
ygovxo . . . , yQovre usw. Das ganze System zerfllt also in zwei
Gruppen: Nom. Sing, und ailes iibrige. Alleiniger Vertreter der
einen ist also der Nom. Sing. Als Vertreter aller andern Kasus kme
theoretisch freilich auch der Akk. Sing, oder irgendeine andere
Form in Betracht. Weshalb die Wahl auf den Gen. Sing, fiel, scheint
uns klar; ent- scheidend war hier das Prinzip der maximalen
Distinktivitt : Der Akk. kann auch gleich dem Nom. sein
(nei&cb, Neutra, Plur. der t-Stmme) ; dagegen ist der Kontrast
zwischen Nom. und Gen. Sing, immer prsent; so wird er zum Prototyp
des Kontrastes nxai oQ^Yj - nxaei nXyioi1). Eine Manifestation
dieses Prinzipes sehen wir nun darin, daB sich gerade aus dem
Kontrast von Nom. und Gen. Sing, das Subsystem mit seiner
besonderen Struktur heraus- gebildet hat. Und der formale Kontrast
ist in der Tat nicht nur durch seine standige Prasenz, sondern
durch sein Ausmafi maximal; er lBt sich als Kontrast nicht weiter
reduzieren, ist es doch der Gegensatz zwischen einem Morphem und
dessen Abwesenheit; und die Gegenstzlichkeit wird noch dadurch
verfestigt, daB mit diesem Verhltnis dessen Umkehrung (Abwesenheit
des Morphems gegen- uber Anwesenheit) solidarisch ist.
*) Vgl. H. Koller, oben S. 6 mit Anm. 2, S. 34 ff.
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Zur Systematik und Entwicklungsgeschichte usw. 59
3. Das neugriechische System. Ein Sprachsystem kann niemals
verstanden werden aus der Addition der Entwicklungen, die zu ihm
geftihrt haben. So geniigt es auch ftir das Verstndnis der neugr.
Nominaldeklination nicht, wenn wir die Summe aller im voran-
stehenden behandelten Entwicklungstatsachen ziehen, auch wenn diese
Tatsachen Voraussetzungen f iir den modernen Sprachzustand
bildeten. Grundlage der Betrachtung muB abermals systematische
Beschreibung sein. Von da aus ist es allerdings fruchtbar, zu er-
kennen, welche Bestandteile altrer Systme im neuen Verwendung
gefunden, welche Dynamiken sich durchgesetzt haben. Zudem hat das
neue System wieder seine neue Dynamik. Die Fragestellung ist auch
bei dieser Beschreibung wieder dieselbe: Welche Funktionen werden
durch welche Formelemente unterschieden? Zur besseren Orientierung
folgt zunchst ein conspectus der wesentlichen Para- digmen (vom
Neutrum wird hier wieder abgesehen)1).
I II Art. I la Ib Art. II II
Sp. V file N o filos patras i mitera G tu fflu patra tis miteras
A ton fflo patera tin mitera
PL N i ffli patres i mitres G ton fflon patron ton mitron A tus
fflus patres tis mitres
3. 1. Betrachten wir zuerst die Formelemente, indem wir sie zu
isolieren suchen. Zunchst kurze Erluterungen zu unserer Auf-
stellung des Paradigmas. Man sieht, da8 hier, im Gegensatz zum
Altgr., der Artikel mit einbezogen ist. Unser Vorgehen sowohl fiirs
Altgr. wie hier fiirs Neugr. hat seine Griinde. Im Altgr. gehen mit
wenigen Ausnahmen (araei : ai oder r ; nev&d) : r\ oder rrjv)
die formalen Unterschiede am Nomen parallel denen am Artikel. So
war es mglich, vom Artikel abzusehen. Dazu kommt die syntak-
1) Entscheidend fur diese formalen Belange ist
selbstverstandlich die Aussprache, nicht die (historische)
Schreibung; deshalb unsere Wiedergabe des Paradigmas in einer
(nicht detaillierten) phonetischen Schreibung. Die Formen unseres
Schmas lauten orthographisch : Artikel I Sing. 6 rov, rov; Plur.
oi, rv, rov. la Sing.
-
60 Hansjakob Seiler
tische Gsbundenheit bzw. Ungebundenheit zwischen Artikel und
Nomen. Bei Homer ist die Ungebundenheit grBer als im Attischen. Im
Neugr. dagegen ist es ntig, Artikel und Nomen zusammen zu
betrachten. Hauptgrund: Am Artikel wird in anderer Weise unter-
schieden als am Nomen1). So wird z.B. im Artikel unterschieden
zwischen tu und ton, wo beim Nomen Gleichheit der Ausgnge besteht:
tu patera, ton patera. Oder umgekehrt besteht Gleichheit im
Artikel: i, aber Distinktion beim Nomen: i mitera, i mitres. Nun
ist die Andersartigkeit der Unterscheidungen beim Nomen und beim
Artikel sebst wieder Mittel der Distinktion 2). Der Zusammen-
schluB der beiden Reihen ermglicht uns ja erst, den conspectus der
Formen in der Weise anzuordnen, wie wir es taten. Ohne das ware
eine Trennung patera (Gen.) und patera (Akk.) jedenfalls morpho-
logisch nicht zu rechtfertigen (zur Zusammenlegung in eine Kate-
gorie casus subjective bei gesonderter Betrachtung des Nomens vgl.
unten S. 65).
Unsere Anordnung beruht zunchst auf dem leicht ersichtlichen
Faktum, daB Nomina vom Typus la und Ib denselben Artikel an-
nehmen; also ist das, zusammen mit diesem Arfcikel, die Gruppe I im
Gegensatz zu Gruppe II, die andere Artikelformen hat. Funktio- nell
entspricht dem der Kontrast zwischen Mask, und Fern. Ihm wurde sich
weiterhin noch der zum hier nicht berucksichtigten Neu- trum
zugesellen. Betrachtet man die Nominalformen gesondert von den
Artikeln, so zeigt sich Gruppe I von Gruppe II im Sing, ge-
schieden, ganz eindeutig im Nom. und Gen., nur zum Teil (Typus la)
im Akk. Aber die Pluralausgnge von Ib sind identisch mit denen von
II.
Hier nun in verkiirzter Form die Einzelanalyse, zunchst des
Sing. Der Vokativ (nur Sing., nur Typus I a, ohne Artikel) ist ftir
uns von untergeordneter Bedeutung, um so mehr als er in vielen
Fallen nicht auf
-e, sondern auf -o auslautet (also Nom. minus s, gleichwie der
Akk.) z.B. yqo - yqo ,,Alter!", oder mit der Nom.-Form identisch
ist, z.B. xvqio ,,mein Herr!". Im tibrigen ist der Sing, aller
Nominalformen aufgebaut nach der Formel s : 0 = Mask. Nom. : Gen.
Akk. (mit Differenzierung zwischen Gen. und Akk. durch den
Stammauslaut bei la filu : filo) ; 0 : s = Fern. Norn. Akk. : Gen.
All Singularformen (auBer denen der Neutra) sind da- mit erfaBt.
Die Flexionszeichen bestehen also aus -s und dessen
1) S. darber Mirambel, Morphologie et rle fonctionnel de
l'article dans les parlera no-hellniques, BSL. 51 (1955) 57f.
2) Mirambel, 1. c.
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Zur Systematik und Entwicklungsgeschichte usw. 61
Abwesenheit1). Nach Abtrennung dieser Zeichen bleibt in jedem
Fall ein vokalisch auslautender Singularstamm. Es gibt solche auf
-a, -e, -i, -o, -u. Man kann sie als a-, e- usw.-Stamme bezeichnen
und ihren Flexionen, da sie sich nicht in alien Punkten gleich ver-
halten (vgl. unten S. 62 liber ungleichsilbige Plurale) den Bang
von Subtypen zubilligen. Aber bei alien Subtypen regeln sich die
Verhltnisse nach der oben genannten Formel. Es verhalten sich also
gleich : mask. a-Stmme patras : patra = e-Stmme kndes ,,Graf" :
knde = i-Stamme xaspis ,,Schuster" : xaspi = o-Stamme filos : filu
= -M-Stmme paps ,,GroBvater" : pap. Es zeigt sich, daB die Typen
der Gruppe I unseres conspectus, nmlich la und Ib, durch eine sehr
verschiedene Zahl von Subtypen vertreten sind: la ist durch den
einzigen Subtypus filos reprsentiert, Ib dagegen durch vier
Subtypen (a-, e-, i-, M-Stamme). la hat das Dreiformen- prinzip im
Sing, (wenn man vom Vok. absieht, vgl. oben S. 60), Ib hat dagegen
das Zweiformenprinzip im Sing.; dasselbe Zwei- formenprinzip
herrscht bei Gruppe II, also den Femininen, mit alien ihren
Subtypen : a-Stmme mitera : mitra-8 = e-Stamme nen ,,GroBmutter" :
nen-s = i-Stmme aerfi ,,Schwester" : aerfi-8 = o-Stmme nkso :
nhso-s ,,Naxos" = %-Stmme alep ,,Fiichsin" : alep-s. Mithin
besteht, wenn man die Nomina fur sich betrachtet, ein starkes
bergewicht der Typen Ib und II mit vielen Subtypen (9)
(Zweiformensystem) gegeniiber Typus la mit nur einem Sub- typus
(Dreiformensystem). Aber zu dem tJbergewicht gibt es inso- fern ein
Gregengewicht als Artikel I (mask.) dasselbe System hat wie Typus
la. Es kommt dazu die unverkennbare hnlichkeit der Aus- gnge, die
im Plur. sogar identisch sind: -i in i und fili, -on in ton und
filon, -us in tu8 und filvs; hnlich Sing, -o in o und filo-s, -u in
tu und filu, -o in ton und filo. Artikel II (fern.) hat ebenfalls
ein Dreiformensystem; aber seine Ausgnge zeigen keine formale
hnlichkeit mit entsprechenden Nominalausgngen.
Im Plural der Nomina sind die Verhltnisse anders. Zwar stehen
sich auch hier wieder gegeniiber Artikel (I und II) plus la mit
Drei-
x) Vergleichbare Situationen schent es auch in anderen Sprachen
zu geben; ich denke besonders an das Solidaritts-Verhltnis im
Englischen the car stops gegeniiber the cars stop; zweideutig ist
(naturlich vom Stand- punkte der Aussprache) nur the cars stop j
the car* s stop, weil stop hier Verbum oder Nomen sein kann,
eindeutig Verbum ist es in the car stops, eindeutig Nomen in the
car's stops. Man knnte geradezu eine Mglichkeit der Defini- tion
von Nomen und Verbum des Englischen in dieser Solidaritt sehen (so
auch R. Jakobson mndlich) : Nomen gekennzeichnet durch Sing. 0,
Plur. -s, Verbum gekennzeichnet durch 3. Person Sing, -s, 3. Person
Plur. 0.
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62 Hansjakob Seiler
formensystem und Ib plus IT mit Zweiformensystem. Aber bei alien
Nominalformen des Plur. knnen die Endungen nur gefaBt werden als
aus Vokal oder Vokal plus Konsonant bestehend. Es sind -i, -o(n),
-m beim Typ la und -es, -o(n), -es bei den tibrigen Typen,
Maskulinen in gleicher Weise wie Femininen. Trennt man sie ab, so
bleiben konsonantisch endende Stammelemente : patr-es usw. ; sie
stehen im Kontrast zu vokalisch endenden im entsprechenden Sing.:
patra-s.
Gerade im Lichte dieses Kontrastes ist die sog. ungleichsilbige
Pluralbildung zu betrachten1). Im Gegensatz zu der gleichsilbigen
hat bei der ungleichsilbigen der Nom. Plur. eine Silbe mehr als der
Nom. Sing. Diese Pluralbildung kommt im Neugr. vor zu alien
Singular-Subtypen (a-, e-, i-, o-, w-Stmme), oft sogarbei denselben
Wrtern, die auch gleichsilbigen Plur. haben2). Zu -a: patras -
pateres neben patres; zu -i: klftis - klfties neben klftes.
Maskuline o-Stmme haben nur gleichsilbige Plurale : nur filos -
fili (vgl. gleich unten, wo auch liber feminine o-Stamme, ferner S.
63). Dagegen haben e- und w-Stamme nur ungleichsilbige Plurale :
kfs - kafes, paps - papes. Entsprechend sind die Verhltnisse bei
der Feminin-Deklination. Zu a: mitera - miteres neben mitres,
ferner mna ,,Mutter" - manes; zu -i: aerfi ,,Sch wester" - aerfes
neben aerfs. Allerdings gibt es bei diesen t-Stmmen kaum Wrter mit
nur ungleichsilbiger Pluralbildung wie das etwa der Fall ist bei -a
(mna, Plur. nur manes) oder -e (Plur. immer nur -es), vielmehr
steht neben der ungleichsilbigen immer eine gleichsilbige
Pluralbildung. tlberhaupt knnen aile i-stmmigen Feminina
gleichsilbigen Plur. haben. Damit ist ver- gleichbar, daB aile
o-stmmigen Maskulina immer gleichsilbigen Plur. haben. Die
femininen o-Stamme dagegen kennen beide Arten: par&no
,,Jungfrauu - par&nes und Mario (PN) - Maries. Die e- und
i^-Stmme sind, wie die entsprechenden maskulinen, nur
ungleichsilbig.
*) Das soil nicht besagen, daB nicht eine ganze Reihe von
Impondera- bilien bei der systematischen Etablierung der
ungleichsilbigen Pluralbildung mitgewirkt haben, so z.B. auch die
Tendenz, dem funktionell gegenber dem Singular merkmalhaltigen
Plur. einen grfieren Wrtumfang zu geben; solche Tendenzen lassen
sich vielerorts beobachten. Prof. H. Hartmann wies mich auf die
sehr zahlreichen progressiven Verlngerungen der Pluralformen im
Neuirischen hin.
2) ber Vorkommen und Frequenzverhltnisse konsultiere man
Mirambel, Grammaire 48ff.
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Zur Systematik und Entwicklungsgeschichte usw. 63
Zusammenfassend kann man also iiber die Verteilung von
gleichsilbigen und ungleichsilbigen Pluralen sagen : Bei Maskulinen
und Femininen pluralisieren e- und w-Stamme nur ungleichsilbig ;
bei a-, i- und o-Stmmen stehen ungleichsilbige Plurale allo-
morphisch neben gleichsilbigen, mit zwei Ausnahmen, die sich durch
die ihnen entsprechenden Funktionen komplementr verhalten:
maskuline o-Stmme kennen nur gleichsilbige Plurale auf -i, feminine
i-Stmme knnen immer gleichsilbigen Plur. haben (Endung -es),
fakultativ daneben ungleichsilbigen. Dieser Aus- nahmebereich von
ausschlieBlich bzw. vorherrschend gleichsilbigen Pluralen ist
zugleich ein Ausnahmebereich in anderer Hinsicht: Pluralische
Nominative auf -i und Akkusative auf -us knnen nur maskulin sein.
Es sind dies also die einzigen Formen innerhalb des Plurals aller
Typen, die Genus-distinktiv sind (vgl. unten S. 65).
Was bedeutet nun aber das Nebeneinander von paieras - pateres,
kafs - kafes, klftis - klf tides usw., von mna - manes usw. fur die
Analyse der Formen? Doch wohl, da6 der vokalische Stamm des
Singulars patera-, kaf- usw. auch im Plural durchgeftihrt ist. Die
formale Diskrepanz zwischen Singularstamm und Pluralstamm ist durch
dise Bildungen, die innerhalb des Neugr. offensichtlich einen
bedeutenden Raum einnehmen, ausgeglichen. Wir haben also eine
Spannung innerhalb eines Systems, nmlich die Diskrepanz der
Stammgestalten des Sing, und des Plur., die inner- halb eines
Sprachzustandes wie Neugr. eine betrchtliche Dynamik erzeugt; und
wir sehen innerhalb desselben Sprachzustandes bereits
Parallelbildungen, welche die Auflsung dieser Dynamik reprsen-
tieren. Das gilt, auch wenn einzelne dieser ungleichsilbigen
Plural- bildungen nicht den gleichen Stammvokal wie im Sing, haben,
z.B. ma&itis ,,Schiler" - ma&ites, nicht ^maities, kndes -
kndies, aerfi - aerfes (iiber den letzteren Subtypus vgl. jedoch
oben S. 62). -es scheint sich auf Kosten namentlich von -ies usw.
ausgebreitet zu haben, in einigen Fallen ist es aber auch
umgekehrt1).
3. 2. Welche Funktionsunterschiede werden durch die in 3. 1.
isolierten Elemente ausgedrtickt? Es kommen in Betracht die Unter-
schiede im Numrus, Genus und Kasus. Aber wie und wann werden dise
Funktionen unterschieden? Jede der bloBen Nominalfbrmen (ohne
Artikel) ist Numerus-distinktiv. Aber weder ist jede dieser nach
Numerus geschiedenen Formen zugleich auch Kasus- und/oder
Genus-distinktiv, noch ist jede Genus-distinktive Form zugleich
x) Vgl. Mirambel, Grammaire 50, 52.
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64 Hansjakob Seiler
Kasus-distinktiv, noch jede Kasus-distinktive Form zugleich
Genus- distinktiv. Urn einen klaren tTberblick tiber die
verwickelten Ver- hltnisse der Distinktionen bei Nomen und Artikel
zu bekommen, bedienen wir uns der Symbolisierung nach Art einer
zweiwertigen Logik: 1 = formaler Unterschied; 0 = kein formater
Unterschied. Was die Funktionsunterschiede im Numerus, Kasus und
Genus anbelangt, so wird jeweilen nur eine dieser drei Klassen
betrachtet, whrend die beiden anderen konstant gehalten werden; z.
B. bei der Untersuchung der Kasusdistinktionen sind Genus und
Numerus als jeweils gleichbleibend zu denken. Die Distinktionen
erhalt man durch Konfrontierungen, wobei wir in folgender
Reihenfolge ver- fahren: a) beim Kasus: Nom./Gen., Nom./Akk.,
Gen./Akk , dies zuerst ftir Sing. (Mask, und Fern.), dann fur Plur.
(Mask, und Fern.), b) beim Genus in der Reihenfolge der Kasus, also
Nom. Mask./Nom. Fern., Gen. Mask./Gen. Fern., Akk. Mask./Akk. Fern,
und ebenso durch den Plur. c) beim Numerus ebenfalls in der
Reihenfolge der Kasus, zuerst fiir Mask., also Nom. Sing. Mask. /
Nom. Plur. Mask., Gen. Sing. Mask. / Gen. Plur. Mask., Akk. Sing.
Mask. / Akk. Plur. Mask, und dieselben Konfrontationen durchs
Femininum. Den Flexionstypus I a samt Artikel fassen wir wegen der
oben S. 61 bereits erwahnten Gemeinsamkeiten zusammen in ein System
hoherer Ordnung, genannt ,,System A"; Flexionstypus Ib und II
bilden ,,System B". Es ergibt sich folgendes Bild:
System A System B Artikel Nomen la Nomen Ib, II
a) Kasus Sing. Mask. Ill 111 110 Fern. ill 101
Plur. Mask. Ill 111 101 Fern. Ill 101
b) Genus Sing. Ill 111 110 Plur. 001 101 000
c) Numerus Mask. Ill 111 111 Fern. 0 11 111
Aus diesem Schema lBt sich unmittelbar folgendes ablesen: Dort,
wo die Angaben liber Distinktionen beim Artikel, beim Nomen Typus
la und bei den Typen Ib und II miteinander verglichen werden knnen
(in einer Horizontalen stehen), ist es Typus la filos, welcher die
meisten Unterscheidungen hat. Er iiberbietet noch den Artikel,
allerdings nur um eine Stelle unter b) Genus Plur. Der Typus la ist
also punkto Gtenus unterscheidungskraf tiger als der
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Zut Systematik und Entwicklungsgeschichte usw. 65
Artikel, der von den drei Stellen unter Genus Plur. nur eine
distink- tive hat, und er ist erst recht unterscheidungskrftiger
als die Typen Ib und IJ, die das Genus im Plur. tiberhaupt nicht
unter- scheiden. Abgesehen von der einen Stelle hat Typus la aile
seine Distinktionen mit dem Artikel gemeinsam. Man knnte also
sagen: Fiir das Distinktionensystem des Artikels ist dasjenige des
Typus filos konstitutiv, die Basis. Soweit zu System A. System B,
be- stehend aus Ib und II, zeigt zwei typische Arten von
Distributionen : 110 und 10 1. Die zwei Arten kontrastieren im
Singular. Dagegen haben die Kasusdistinktionen im Plur. genau
dieselbe Distribution in Mask, und Fern.
Allgemein unterscheidet System B immer den Numerus. B ist hier
sogar unterscheidungskrftiger als der Artikel, wie der Ver- gleich
c) Fern. Oil gegen 111 zeigt. A hingegen unterscheidet immer den
Kasus. A unterscheidet aber auch das Genus in mehr Fallen als dies
B tut. Insbesondere ist A, genauer la, durch einen Sonderbereich im
Plur., ein Subsystem, ausgezeichnet, innerhalb dessen allein von
alien Pluralformen des Nomens Genusdistinktion herrscht:
Pluralische Noninative auf -i und Akkusative auf -us knnen nur
maskulin sein (vgL 10 1 unter c) Grenus Plur.), Nom. und Akk. auf
-es hingegen Mask, und Fern. Dem Gegensatz der Endungen -i und -es
(aerfi eqyol und aerfs) entspricht der von Mask, und Fern.
SchlieBlich ist es auch erlaubt und sogar ntig, B als System fur
sich und ohne Riicksicht auf A zu behandeln. Dann gebietet es eine
folgerichtige Beschreibung, im Sing, mit anderen Kategorien als
,,Nom., Gen., Akk." zu rechnen. Der Gegensatz von paieras zu patra
ist funktionell der von casus subiectiwis zu casus obiectivus
(welch letzterer sowohl Gen. wie Akk. umfafit). Der Gegensatz von
mitera zu miteras dagegen ist der von casus directis (umfassend
Nom. und Akk.) zu casus indirectus.
4. Historische Riickwrts-Schau. Es ist verhltnismBig leicht, von
dieser Beschreibung aus, in der die Dynamik mit beriicksichtigt
ist, in einer jetzt zeitlich nach rtickwrts gerichteten Schau die
Ver- bindungen zu den lteren Sprachzustnden zu ziehen und damit das
in Kap. 2 gezeichnete entwicklungsgeschichtliche Bild zu ver-
vollstndigen.
Aus der Flille der Erscheinungen, die hier noch gewiirdigt
werden knnten, seien nur zwei besonders typische herausgegriffen
und kurz besprochen.
Glotta XXXVII 1/2 5
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66 Hansjakob Seiler, Zur Systematik und Entwioklungsgeschichte
usw.
4. 1. Die alten Femina auf -o, -ew (r\ 7iaQ&vo9 rrj
naQ&vov)
verlieren ihr - im Nom. und erhalten dafiir eins im Gen.; der
vokalische Stammauslaut wird dabei ausgeglichen: -o, -os (fj nagvo,
rrj noQ&vo ; r) No, rrj No). Das hat in keiner Weise etwas mit
lautlichen Vorgangen zu tun: Der Ausgang -o existiert bei den Mask,
seit altgr. Zeit unangetastet fort bis ins Neugr., desgleichen der
Gen.-Ausgang -ov. Bei den femininen o-Stammen wurden die Ausgnge
verndert, weil dise Veranderungen im Plane einer all- gemeinen
Tendenz lagen, auf deren Sichtbarmachung es uns in dieser Arbeit
besonders ankam. Es ist die schon im altgr. Subsystem an- gelegte
Tendenz, deren Ziel in unserer Solidaritts-Formel (3. 1.)
festgelegt ist. Der Gegensatz altgr. naQ&vo, Tza&vov zu
neugr. noQ&vo, nag&vo ist eines der eindrucklichsten
Zeugnisse fur die reale Existenz der von uns beschriebenen
Tendenz.
4. 2. Von der Diskrepanz zwischen Singular (Stamm vokalisch
auslautend, Endung aus Konsonant bestehend) und Plural (Stamm
konsonantisch auslautend, Endung aus Vokal oder Vokal plus Kons.
bestehend) war im beschreibenden Teil die Rede. Da das Prinzip des
vokalisch auslautenden Singularstamms sich bereits im klassischen
und besonders nachklassischen Griechisch weit- gehend durchsetzt,
muB auch die Ausbildung der formalen und zugleich funktionellen
Spannung zwischen Sing, und Plur. in jene Zeiten zuruckgehen. Aus
unserer Beschreibung ging bereits hervor, daB die ungleichsilbigen
Pluralbildungen mit groBer Wahrscheinlichkeit ihr Aufkommen und
Wuchern eben diesen Spannungsverhaltnissen verdanken. In der
Riickwrts- Sicht vom Neugr. her ist es bezeichnend, daB die
Subtypen, welche nicht eine unmittelbare Entsprechung im Altgr.
haben, nmlich auf -e und
-u9 nur ungleichsilbigen Plur. kennen. Es gibt in sptklassischer
und hellenistischer Zeit eine ganze Reihe von Bildungen, die die
Anstze lieferten, namentlich die ungleichsilbigen Flexionstypen im
altgriechischen Sinne, bei denen also der Gen. Sing, eine Silbe
mehr hatte als der Nom. Die historischen Details dieser Bildungen
sind viel zu komplex und z.T. noch zu ungeklrt, als daB sie hier
mit Gewinn errtert werden konnten. Sicher ist, daB die Volkssprache
daran von Anfang an entscheidenden Anteil hat. Eine wichtige Rolle
spielten Eigennamen und Berufsbezeichnungen auf
-etc, Gen. -a, -ro, -do1), kyprisch -fo2). Die Heraus- *) Vgl.
G. Bjrk, a impurum 271. 8) Vgl. neuerdings O. Masson, Sybaris
(Festschrift H. Krhe), 68 f.,
bes. 71.
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Hans Reynen, Die Partikel o$v bei Homer 67
bildung von -, Plur. -be beruht offenbar auf der Flexionsweise
-etc, -odo, deren Stammsitz Jonien gewesen zu sein scheint1). Eine
ebenfalls wichtige Rolle spielten Feminina auf -ov, Gen. -ot>,
-ovro, -ovdo2). Auch sie scheinen auf jonischem Sprachgebiet
erwachsen. Schon in spt-altgr. Zeit gehren - und -ov eng zusammen
als Mask, und Fern. : TEnaxpq - *EnaxpQov. Daraus ist das moderne,
geradezu grammatikalisierte Verhaltnis - : -ov geworden, z.B. ipcop
,,Bcker", ipjuov ,,Bckerin". Eine Neuuntersuehung aller dieser
Bildungen im Rahmen der von uns hervorgehobenen Zu- sammenhange
wiirde sich sicher lohnen.
Die Partikel ovv bei Homer Fortsetzung
Von Hans Reynen, Briihl bei Kln
II. fi o$v Der Gebrauch des o$v in einem ,,temporalen" co-Satz
ist von
den enel o^v-Satzen aus ohne weiteres verstndlich. Die Besonder-
heiten der cog o^v-Stellen im ganzen gegeniiber den nei
ot5v-Stellen gehen wohl allein auf die Eigentmlichkeit des &
zuriick8).
So begegnet ein ^ temporales" d> bei Homer fast nur mit einem
Verbum der Wahrnehmung als Prdikat4). Auch verbindet sich nirgendwo
ein d>-
x) Naheres s. Hatzidakis, Einleitung 76, 81; Schulze, Kl. Schr.
300ff.; Bjorck, 1. c; Dieterich, Unt. 167; Psaltes, Gramm. d.
byzant. Chron. 169.
) Schulze, Kl. Schr. 308H7. 8) Zu eg s. die bei G. Thomas, De
particulae d> usu Herodoteo, Diss.
Leipzig 1888, 1, angefhrte Literatur, ferner F. Naumann, De
d> parti- culae apud Aeschylum vi et usu, Diss. Leipzig 1877, L.
Christ, Der Sub- stantivsatz mit der Relativpartikel eg bei den
zehn att. Rednern, Diss. Er- langen, Wurzburg 1905 (berucksichtigt
blo Aussagestze), W.Brandt, Griechische Temporalpartikeln
vornehmlich im ionischen und dorischen Dialekt, Strab. Diss.,
Gttingen 1908, 47ff., und H.Kallenberg, 5rtund eg bei Plato, Rh.
Mus. 68, 1913, 465 - 476 (dazu C. Ritter, Bursians Jahres- berichte
187, 1921, 219 - 227). Es fehlt eine moderne Darstellung, die die
Entwicklung der verschiedenen Gebrauchsweisen aus einer
einheitlichen Vorstellung heraus aufzeigte. Was hier speziell ber
das sogen. temporale gesagt wird, mge man nur als eine grobe Skizze
auffassen.
4) Spater hat sich das Gebrauchsfeld des ,,temporalen" d>g
sehr er- weitert. S. Schwyzer-Debrunner, Griechische Grammatik H
665f.,
5
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Article Contentsp. 41p. 42p. 43p. 44p. 45p. 46p. 47p. 48p. 49p.
50p. 51p. 52p. 53p. 54p. 55p. 56p. 57p. 58p. 59p. 60p. 61p. 62p.
63p. 64p. 65p. 66p. 67
Issue Table of ContentsGlotta, Vol. 37, No. 1/2 (1958), pp.
1-162Volume InformationFront MatterDie Klangfiguren im 2. Epigramm
des Kallimachos [pp. 1-4]Die Anfnge der griechischen Grammatik [pp.
5-40]Zur Systematik und Entwicklungsgeschichte der griechischen
Nominaldeklination [pp. 41-67]Die Partikel bei Homer [pp.
67-102]Resolutions in the Trochaic Tetrameter [pp. 102-105]Zwei
minoische Gefbezeichnungen [pp. 106-112]Notes on Mycenaean Texts
[pp. 112-118]Verschiedenes zu homerisch [pp. 118-127] im epischn
Wortschatz [pp. 127-130]Latin -ensis in Verse Texts [pp.
130-149]Die etruskischen Zahlwrter von "eins" bis "sechs" [pp.
150-160]mute cum liquida [p. 160-160]Neue Deutungen minoischer
Zeichen aus dem verwandten Termilischen und Kleinasiatischen in
zwei Tafeln [pp. 160-162]