ARBEITEN ZU TEXT UND SPRACHE IM ALTEN TESTAMENT Begründet von Wolfgang Richter Herausgegeben von Walter Groß, Hubert Irsigler, Theodor Seidl 89. Band EOS VERLAG ERZABTEI ST. OTTILIEN
ARBEITEN ZU TEXT UND SPRACHE
IM ALTEN TESTAMENT
Begründet von Wolfgang Richter
Herausgegeben von Walter Groß, Hubert Irsigler, Theodor Seidl
89. Band
EOS VERLAG ERZABTEI ST. OTTILIEN
STEPHANIE ERNST· MARIA HÄUSL (HRSG.)
Kulte, Priester, Rituale
Beiträge zu Kult und Kultkritik
im Alten Testament und Alten Orient
Festschrift für Theodor Seidl
zum 65. Geburtstag
2010 · EOS VERLAG ERZABTEI ST. OTTILIEN
INHALTSVERZEICHNIS
Kultvorstellungen und –praxis im Alten Ägypten und im Alten
Orient
MARTIN ANDREAS STADLER
Metatranszendenztheologie im Alten Ägypten.
Pyramidentextspruch 215 und der ramessidische Weltgott 3-31
GERNOT WILHELM
Zur Struktur des hethitischen "Kantuzzili-Gebets" 33-40
HERBERT NIEHR
Die Grabstelen zweier Priester des Mondgottes aus Neirab
(Syrien) im Licht alter und neuer Funde 41-60
Fragen zu Kultvorstellungen im Pentateuch und den
alttestamentlichen Geschichtsbüchern
NORBERT RICHARD WOLF
Schöpfung als narrative Ordnung. Zeitlinguistische und
narratologische Überlegungen zum Schöpfungsbericht
Gen 1,1-31 in Martin Luthers Textfassung 63-75
ANDREAS MICHEL
Opfer, Brüder und Dämonen. Von Genesis 4 bis
Lukas 15 77-102
DAVID VOLGGER
Gen 15: Opferszene, Schwurritual oder …? 103-120
MANFRED GÖRG
Einige Beobachtungen zur Kultterminologie in
Lev 7,28-36 121-131
X
CHRISTIAN FREVEL
„… dann gehören die Leviten mir“ Anmerkungen zum
Zusammenhang von Num 3; 8 und 18 133-158
STEPHANIE ERNST
Jahwe als Kriegsherr in den Eroberungsberichten von Jericho
und Ai (Jos 6 und 8). Ein Vergleich der erzählerischen Mittel
von „Schreibtischstrategen“ 159-174
WALTER GROSS
Michas überfüllte Hauskapelle.
Bemerkungen zu Ri 17+18 175-194
ERASMUS GASS
Die kultischen Vergehen Manasses, die Königebücher
und das Deuteronomium 195-229
MARIA HÄUSL
Feste feiern.
Zur Bedeutung der Feste im Buch Esra/Nehemia 231-251
Kult in den alttestamentlichen Büchern der Weisheit und der
Propheten
HANS RECHENMACHER
Kult und Ethos. Anmerkungen zum Opferhandeln Ijobs
(Ijob 1,5) 255-274
JOHANNES P. FLOSS
YHWH [gehört] die Erde und was sie füllt [das] Festland
und dessen Bewohner. Psalm 24 gelesen nach dem Modell
des semiologischen Konstruktivismus 275-294
HUBERT IRSIGLER
Neuer Mensch – neues Jerusalem. Zur kultischen und
eschatologischen Dimension in Psalm 51 295-345
XI
SIGURÐUR ÖRN STEINGRÍMSSON
Ohne Liturgie keine Lebensfreude. Literaturwissenschaftliche
Beobachtungen zu Jes 24,7-12 347-374
HERMANN-JOSEF STIPP
Jeremia und der Priester Paschhur ben Immer
Eine redaktionsgeschichtliche Studie 375-401
MARTIN MULZER
Wasser vom Tempel (Ez 47,1-12) 403-418
Kult und Kultkritik in der Antike
BERNHARD HEININGER
Gnostische Kultkritik. Der „Eucharistiedialog“ des
Judasevangeliums (EvJud 33,22–34,18) 421-450
KARLHEINZ MÜLLER
Das mangelnde Interesse der Neutestamentler an den neuen
Einsichten der Qumranforschung 451-471
MICHAEL ERLER
Lukrez und Apollonios Rhodios.
Zur Frage des Proömiums zu Buch IV 473-482
Kult, Rituale und ihre Bedeutung für den Menschen
GÜNTER KOCH
Ritual und Relation.
Die beziehungsstiftende Kraft von Ritualen, erörtert an
alt- und neutestamentlichen Beispielen 485-506
XII
ELMAR KLINGER
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“
Die Anfragen des Kranken und die Ratlosigkeit des
Seelsorgers 507-521
PAUL-WERNER SCHEELE
Gottesdienst für die Einheit des Gottesvolkes 523-535
Zur Struktur des hethitischen "Kantuzzili-Gebets"
Gernot Wilhelm, Würzburg
Das "Kantuzzili-Gebet" gehört nach den Worten eines seiner Übersetzer
"zu den am häufigsten untersuchten und übersetzten Texten im Corpus der
hethitischen Gebete".1 Diesen Status verdankt es der literarischen Qualität
seiner Sprache, der bewegenden Klage des Beters in schwerer Krankheit2
und der Formulierung elementarer Gegebenheiten der conditio humana3
ebenso wie den um die Theodizee-Frage und das Problem der Abwendung
des persönlichen Gottes kreisenden theologischen Gedanken. Das gegen
Ende des 15. oder im frühen 14. Jh. v.Chr. niedergeschriebene Gebet des
hochrangigen, sicherlich der hethitischen Königsfamilie angehörigen
Priesters Kantuzzili liegt auch in weithin damit übereinstimmenden Versi-
onen vor, die als Beter einen König oder ganz allgemein ein
1 I. SINGER 2002a, 310. Für (Teil-)Übersetzungen s. A. GOETZE 1950, 400-401; R.
LEBRUN 1980, 111-120 (mit Translit. und philolog. Kommentar); C. KÜHNE 1985, 188-191;
I. SINGER 2002b, 31-33; J.V. GARCÍA TRABAZO 2002, 273-287. Eine Kopie des
Keilschrifttextes wurde von H. EHELOLF angefertigt und 1939 aus seinem Nachlass als KUB
30.10 veröffentlicht. Zu hethitischen Gebeten allgemein s. G. FURLANI / H. OTTEN 1957-
1971; Ph.H.J. HOUWINK TEN CATE 1969; H.G. GÜTERBOCK 1978; R. LEBRUN 1980, 1986;
A. ÜNAL 1986-1991; J. DE ROOS 1995; I. SINGER 2002b. 2 "Mein Haus ist mir wegen der Krankheit zu einem Haus der Angst geworden. Vor Angst
entweicht meine Seele ständig an einen anderen Ort. Wie ein ganzjährig Kranker, so bin auch
ich geworden. Jetzt aber ist mir die Krankheit und die Angst zu schwer geworden, und Dir,
meinem Gotte, sage ich es. In der Nacht in meinem Bette überkommt ("ergreift") mich kein
erquickender Schlaf, kein Heil wird auf mir sichtbar." KUB 30.10 Rs. 14-19. H.A. HOFFNER
– H.C. MELCHERT 2008, 258 ziehen den ersten Satz als konsekutiven Fragesatz trotz eines
trennenden Abschnittsstrichs zu dem vorausgehenden Satz ("Ich aber, was habe ich meinem
Gott getan?"); dieser jedoch gehört – in zweimaliger Wiederholung – zu einem anderen
Zusammenhang, nämlich zur Kontrastierung des Tuns des Beters, welcher sich keines
Vergehens gegen seinen Gott bewußt ist, mit der offenen Unrechtshandlung des Gewichte
fälschenden Kaufmanns. 3 "Das Leben ist mir an das Verderben gebunden, und das Verderben ist mir wiederum
auch an das Leben gebunden. Das Kind der Sterblichkeit lebt nicht ewig, seine Lebenstage
sind gezählt. Wenn aber das Kind der Sterblichkeit ewig lebte, jedoch die Übel der
Menschen, die Krankheit, bestehen blieben, wäre ihm das nicht Beschwer?" KUB 30.10 Vs.
20'-23'; s. I. SINGER 2005, 560; E. RIEKEN 2004, 251; Th. VAN DEN HOUT 2001, 425.
34 Gernot Wilhelm
"Menschenkind" nennen.4 Elemente dieses Gebets sind noch ein knappes
Jahrhundert später in Königsgebete eingeflossen.5 Anregungen zu dem
Gebet sind zweifellos im außeranatolischen Raum zu suchen, und zwar –
wahrscheinlich vermittelt über Syrien und Kilikien – in Mesopotamien.6
Außer spezifischen Übereinstimmungen ist hier auch die Disposition des
Gebets insgesamt zu nennen, die mit der des "Bittgebets des Einzelnen" in
wesentlichen Zügen übereinstimmt, wie es aus den sog. "Gebetsbe-
schwörungen" Babyloniens7 und den biblischen Psalmen bekannt ist:
Anrede mit Epitheta, die hymnisch erweitert werden kann, Selbstvor-
stellung des Beters, Klage, Tun des Beters, Bitte und Gebetsschluss.
Anlaß des "Kantuzzili-Gebets" ist die Krankheit des Beters, aus deren
Fortdauer dieser schließt, dass sich sein persönlicher Gott trotz all seiner
Bemühungen um ein gottgefälliges Leben von ihm abgewandt habe. Das
Gebet richtet sich daher an den Sonnengott und bittet diesen, dem persön-
lichen Gott des Beters dessen Klage und Bitte zu übermitteln.
Der Gebetstext ist auf einer ohne Kolumnenunterteilung beschrifteten
Tafel niedergelegt, von der der obere Teil der Vorderseite und damit auch
der untere Teil der Rückseite abgebrochen ist. Das Verhältnis von Vs. und
Rs. ergibt sich aus der Abschnittslinie am Anfang der Rs. Die Länge des
verlorenen Textes ist nicht genau zu ermitteln, ist aber erheblich.
Der zerstörte Anfang der Tafel enthielt nach den Paralleltexten eine
hymnische Anrede an den Sonnengott, in der babylonische Motive beson-
ders deutlich werden.8
Die Themen der hymnischen Anrede heben vor allem auf die Eigen-
schaft des Richtergottes ab, dessen besonderes Wohlwollen den zu
Unrecht Benachteiligten gehört. In den Hymnus sind kunstvoll Elemente
der Vorstellung, des Tuns und der Bitte des Beters verwoben. Nach einer
Anrede, die die Eigenschaften anspricht, auf die der Beter im Besonderen
4 E. LAROCHE 1971, CTH 372 und 374; M. MARAZZI – H. NOVICKI 1978; für eine
verbesserte Textzusammenstellung s. H.G. GÜTERBOCK 1980, 42, für eine Transliteration mit
französischer Übersetzung und Kommentar s. R. LEBRUN 1980, 93-111, 121-131, für eine
deutsche Übersetzung von CTH 372 s. A. ÜNAL 1986-1991, 796-799. 5 H.G. GÜTERBOCK 1958, 1980.
6 W.G. LAMBERT 1974; H.G. GÜTERBOCK 1974; G. WILHELM 1994; I. SINGER 2002a.
7 W. MAYER 1976; S. 7-13 zur Kritik des Terminus.
8 Eine zeilensynoptische Transliteration mit englischer Übersetzung der hymnischen
Gebetseinleitung unter Berücksichtigung auch der jüngeren, in Gebete Muršilis II.
eingebauten Fassungen liefert H.G. GÜTERBOCK 1980, für eine deutsche Übersetzung mit
Hinweisen auf die babylonischen Elemente s. H.G. GÜTERBOCK 1978, 226-227.
Kantuzzili-Gebet 35
baut (Barmherzigkeit, Erfüllung von Bitten, Vorliebe für den recht-
schaffenen Menschen), heißt es:
"Hier ist ein Menschenkind, dein Diener, vor dir niedergefallen und
spricht zu dir." Ebenso wie im verschrifteten Text babylonischer Gebete
und Beschwörungen an der Stelle, an der in der konkreten Verwendung
des Textes der Name des Beters bzw. des Ritualklienten auszusprechen
war, die Leerformel annanna mār annanna "Soundso, Sohn des Soundso"
stand, war in der Rezitation des hethitischen Gebets gewiß die Leerformel
"Menschenkind" durch den Namen des Beters zu ersetzen. Im Kantuzzili-
Gebet ist diese Stelle nicht erhalten, sie darf aber nach den Paralleltexten
rekonstruiert werden. Da im folgenden mehrfach der Name des Kantuzzili
erscheint, darf man annehmen, dass er an dieser Stelle erstmals genannt
wurde und dass hier also die Selbstvorstellung des Beters erfolgte. Hierauf
setzt sich die hymnische Anrede über ein längeres Textstück fort, bis der
Beter sie abermals unterbricht, und zwar nun mit einer Segensbitte, einem
Opferversprechen und einem Hinweis auf sein Gerstenopfer für die vier
Tiere, die den Wagen des Sonnengottes ziehen:
"Segne dieses Menschenkind, deinen Diener, dann wird er dir stets Brot
und Bier zu opfern fortfahren; nimm ihn, Ištanu, als deinen recht-
schaffenen Diener bei der Hand! Die vier (Tiere), die du, Ištanu,
angespannt hast, dieses Menschenkind hat ihnen hier Gerste aufgeschüttet,
und deine Vier sollen sie fressen. Während deine Vier die Gerste fressen,
sei du, Ištanu, willkommen! Dieses Menschenkind hier, dein Diener,
spricht ein Wort zu dir, und hört auf dein Wort."9
Abermals wird die hymnische Anrede mit einer Bezugnahme auf den
Wandel des Sonnengottes am Himmel in Begleitung seiner vier Wesire
fortgeführt, bis der Beter zu seinem zentralen Anliegen kommt, nämlich
der Bitte, dem persönlichen Gott ein Gebet zu überbringen. Kurz nach
Beginn dieses Gebetes setzt der erhaltene Text auf der Vorderseite der
Tafel mit dem Kantuzzili-Gebet ein; er ist durch die Partikel -wa als
zitierte Rede gekennzeichnet.
"[...]..., se[in] Auge wandte er anderswohin und gewährte ("gab") dem
Kantuzzili kein Wirken. Ob dieser Gott im Himmel ist oder ob er auf der
Erde ist –, du, Ištanu (Sonnengott), sollst zu ihm gehen, und dann sprich
9 Die Übersetzung ist mit geringen Veränderungen die von H.G. GÜTERBOCK 1978, 226-
227.
36 Gernot Wilhelm
zu diesem meinem Gott [und] übermittle [ihm] die Worte des
Kantuzzili!"10
Hier folgt nun nach einem Abschnittsstrich ohne besondere Kenn-
zeichnung als zitierte Rede das Gebet an den persönlichen Gott, in dem
folgende Themen angesprochen sind:
Vom Mutterleib an hat der Gott für Kantuzzili gesorgt und ihn zum
Dienst an seinem, des Gottes, tuekka- (Körper) und ištanza(n)- (Sinn,
Geist, Wille, Seele11), d.h. zum Priesterdienst, berufen. Kantuzzili hat alle
Vorschriften beachtet, kein Tabu gebrochen, seine kultische Reinheit
bewahrt und den Besitz der Gottheit nicht verkürzt. Er drückt sein
Vertrauen und seine Bindung an seinen Gott mit der Formulierung aus:
"Wenn ich jetzt gesund würde, würde ich nicht durch dein, der Gottheit,
Wort gesund? Wenn ich jetzt erstarken würde, würde ich nicht durch dein,
der Gottheit, Wort erstarken?" (Vs. 17'-19') Hier schließen sich
Betrachtungen über das Verhältnis von Leben und Tod und das Leben in
Krankheit an (s. oben Anm. 3).
Es folgt die Bitte, die Gottheit möge sich dem Beter wieder zuwenden
und ihn durch ein Orakel seine Verfehlung (waštul) erkennen lassen, so
dass er sie "anerkennen" (ganeš-) und – so die unausgesprochene Implika-
tion – sie durch rituelle Handlungen beseitigen und die Gottheit durch
Opfer versöhnen kann.
Mit der folgenden einzeiligen und das Gebet auf den entscheidenden
Punkt bringenden Bitte ist der untere Rand der Tafel erreicht: "[... und
Kra]ft gib mir, mein Gott, zurück!"
Die horizontale Linie am unteren Rand der Vorderseite einer Tafel und
die Linie am Anfang der Rückseite sind normalerweise keine text-
gliedernden Paragraphenstriche, sondern gehören zur Vorzeichnung der
Tafel wie auch die senkrechten Linien, wenn der Text in Kolumnen
gegliedert ist. Aus diesem Grund haben die Übersetzer des Kantuzzili-
Gebetes ohne Absatz den Wortlaut der ersten Zeilen der Rückseite an die
eben zitierte Bitte angeschlossen.12
Eine Analyse des Textes der Rückseite macht dies aber fraglich. Die
erste Zeile enthält den Beginn eines Gebetes an den Sonnengott; wie in der
10
Zur Übersetzung s. zuletzt M. POPKO 2003, 69. 11
Im hethitischen Totenritual werden dem ištanza(n)- des Verstorbenen (akkant-) Opfer
dargebracht. 12
A. Goetze 1950, 400; C. KÜHNE 1985, 190; A. ÜNAL 1986-1991, 799; I. SINGER 2002b,
32 § 7.
Kantuzzili-Gebet 37
nach den Paralleltexten rekonstruierten hymnischen Anrede an den
Sonnengott auf der Vorderseite der Tafel sind auch hier die hymnischen
Attributionen durch andere Aussagen unterbrochen, in diesem Falle mit
einer Klage über die Abwendung des persönlichen Gottes:
["Ištanu, der Hirte von allen]13 bist du! Für jeden hast du eine [gute]
Botschaft. Mein Gott, der mir zürnte und mich verwarf, [der möge mich
wieder berücksichtigen und mich] am Leben erhalten. Mein Gott, der mir
die Krankheit gab, sei mir wieder gnädig. Ich habe mich wegen der
[Krank]heit abgemüht und angestrengt(?) und habe doch keinen Erfolg.
..."
Nach einem weitgehend zerstörten und daher unverständlichen Satz
fährt der Beter mit dem Preis des Sonnengottes fort und stellt sich dann
namentlich vor:
"Ištanu, erwachsener Sohn von Enlil und Ningal, dein Bart ist aus
Lapislazuli.14 Ich, Kantuzzili, dein Diener, rief dich ... und ich spreche zu
dir."
Er schließt die Bitte an, der Sonnengott möge den persönlichen Gott
konsultieren, und dieser möge den Beter anhören. Der folgende Text ist
dann das vom Sonnengott zu überbringende Gebet. Es beginnt mit der
Frage nach einer etwaigen Verfehlung des Beters gegenüber der Gottheit
und fährt dann mit der Klage über die Krankheit fort (s. oben Anm. 2). Am
Ende der erhaltenen Textes folgt die Bitte um Erhörung und Wieder-
herstellung der Gesundheit.
Es zeigt sich demnach, dass der Text auf der Rückseite der Tafel alle
Strukturelemente des Gebets auf der Vorderseite enthält und damit nicht
als dessen Fortsetzung, sondern als eine Parallelkomposition zu betrachten
ist. Hierfür könnten mindestens zwei Erklärungen geboten werden: Die
beiden Gebete an den Sonnengott mit jeweils inkorporiertem Gebet an den
persönlichen Gott könnten beide sukzessive in einem größeren, sich viel-
leicht sogar über einen längeren Zeitraum, z.B. zwei Tage, hinziehenden
Bittritual vorgetragen worden sein, ohne dass die rituellen Handlungen
niedergeschrieben wurden. Eine andere Möglichkeit wäre die Annahme
einer "Sammeltafel",15 in der zwei einander ähnliche und durch denselben
Auftraggeber miteinander verbundene Gebete zusammengestellt wurden.
13
Ergänzt nach CTH 372 A Vs. II 61f. 14
In diesem Satz ist der babylonische Einfluss besonders deutlich; vgl. CAD Z 125, ziqnu,
für sumerisch-akkadische Belege. 15
Zur Begriffsbestimmung s. VAN DEN HOUT 2008 mit Lit.
38 Gernot Wilhelm
Allerdings ist keineswegs erkennbar, dass der Schreiber der Tafel seine
Vorlage in dieser Weise verstanden hat. Die Einzeltexte auf (vor allem im
13. Jh. entstandenen) "Sammeltafeln" werden normalerweise mit einer
Doppellinie voneinander getrennt, was hier offenkundig nicht der Fall ist.
Dass auch spätere Abschreiber den Übergang von dem einen zu dem
anderen Gebet nicht mehr erkannt haben, zeigt die Abschrift des Gebetes
CTH 372 aus dem 13. Jahrhundert v.Chr., in der die letzten Worte des
ersten Gebetes an den persönlichen Schutzgott und die einleitende Anrede
an den Sonnengott in dem zweiten an ihn gerichteten Gebet innerhalb ein
und derselben Zeile unmittelbar aufeinander folgen.16 Dass das
Verständnis der Parallelität von Texten verloren gehen kann und die Ein-
zelkompositionen durch eine "lectio continua" in wenig plausibler Weise
umgestaltet werden konnten, hat Verf. an einem hethitischen Gewitter-
ritual zeigen können;17 das "Gebet des Kantuzzili" (oder nun wohl besser:
die Gebete des Kantuzzili) stellt anscheinend ein weiteres Beispiel dafür
dar.
Literatur
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GÜTERBOCK Hans Gustav, An Addition to the Prayer of Muršili to the
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16
KUB 31.127+ Vs. II 61: EGIR-pa DINGIR-IA pa-a-i DUTU-uš ḫu-m[a-an-da-aš " ... gib
mir, mein Gott, zurück!" "Ištanu, von allen (Menschen der Hirte bist du! ...)" 17
G. WILHELM 1995.
Kantuzzili-Gebet 39
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40 Gernot Wilhelm
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