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Zur Quelle des Narziss Ovid, Metamorphosen, III, 339-510 von Henri de Riedmatten Die 1 Erzählung von Narziss, wie sie uns von Ovid überliefert ist, findet sich im dritten Buch der Metamorphosen. 2 Das Buch beginnt mit der Geschichte von Cadmus, dem Sohn des phönizischen Kö- nigs Agenor: Nach seiner Ankunft in Griechenland, in das er kam, um seine Schwester Europa zu suchen, die von Zeus entführt wor- den war, besiegte er den Drachen, den Sohn des Mars, und gründete 1 Ich möchte herzlich Jörg Dünne für die Übersetzung dieses Textes ins Deutsche danken, ebenso wie denjenigen, die mich während der Entste- hungszeit dieser Ausführungen unterstützt haben, allen voran Professor Victor I. Stoichita und meinem Freund Etienne Parrat für ihre kritische Lektüre des Textes. Ein Teil der Überlegungen in diesem Beitrag ist be- reits erschienen unter dem Titel »Narziss in trüben Wassern – Medien- reflexion und Selbstrepräsentation im Werk des Photographen Jeff Wall«, in: Jörg Dünne/Christian Moser (Hg.), Automedialität. Subjekt- konstitution in Schrift, Bild und Neuen Medien, München 2008, S. 195- 216. 2 Ich zitiere den Originaltext der Metamorphosen nach der zweisprachi- gen Ausgabe von Georges Lafaye: Ovide, Metamorphosen, [lat.-frz.], Bd. I (I-V), hg. u. übers. v. Georges Lafaye, Paris 1928. Als Übersetzung wird im gesamten Artikel folgende Ausgabe zugrunde gelegt: Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. Epos in 15 Büchern, hg. u. a. d. Latein. v. Hermann Breitenbach, Zürich 1964 [erste Auflage 1958]; der lateini- sche Text wird bei Bedarf in Klammern zitiert. Zum Mythos von Nar- ziss nach Ovid vgl. Ovid, Metamorphosen, III, 339-510.
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Zur Quelle des Narziss. Ovid, Metamorphosen, III, 339-510

Jan 17, 2023

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Zur Quelle des Narziss

Ovid, Metamorphosen, III, 339-510

von

Henri de Riedmatten

Die1 Erzählung von Narziss, wie sie uns von Ovid überliefert ist, findet sich im dritten Buch der Metamorphosen.2 Das Buch beginnt mit der Geschichte von Cadmus, dem Sohn des phönizischen Kö-nigs Agenor: Nach seiner Ankunft in Griechenland, in das er kam, um seine Schwester Europa zu suchen, die von Zeus entführt wor-den war, besiegte er den Drachen, den Sohn des Mars, und gründete

1 Ich möchte herzlich Jörg Dünne für die Übersetzung dieses Textes ins Deutsche danken, ebenso wie denjenigen, die mich während der Entste-hungszeit dieser Ausführungen unterstützt haben, allen voran Professor Victor I. Stoichita und meinem Freund Etienne Parrat für ihre kritische Lektüre des Textes. Ein Teil der Überlegungen in diesem Beitrag ist be-reits erschienen unter dem Titel »Narziss in trüben Wassern – Medien-reflexion und Selbstrepräsentation im Werk des Photographen Jeff Wall«, in: Jörg Dünne/Christian Moser (Hg.), Automedialität. Subjekt-konstitution in Schrift, Bild und Neuen Medien, München 2008, S. 195-216.

2 Ich zitiere den Originaltext der Metamorphosen nach der zweisprachi-gen Ausgabe von Georges Lafaye: Ovide, Metamorphosen, [lat.-frz.], Bd. I (I-V), hg. u. übers. v. Georges Lafaye, Paris 1928. Als Übersetzung wird im gesamten Artikel folgende Ausgabe zugrunde gelegt: Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. Epos in 15 Büchern, hg. u. a. d. Latein. v. Hermann Breitenbach, Zürich 1964 [erste Auflage 1958]; der lateini-sche Text wird bei Bedarf in Klammern zitiert. Zum Mythos von Nar-ziss nach Ovid vgl. Ovid, Metamorphosen, III, 339-510.

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die Stadt Theben. Cadmus nahm Harmonia, die Tochter von Mars und Venus, zur Frau.3 Ihre Kinder waren Autonoë, die Mutter von Actaeon, Agaue, die Mutter von Pentheus, Semele, die Mutter von Bacchus, und Ino, die Frau des Athamas und Mutter des Melikertes. Ein weiterer Sohn trug den Namen Polydoros.

Aufgrund dieser Genealogie macht es den Eindruck, als sei das dritte Buch (und teilweise auch das vierte Buch) der Metamorpho-sen eine Abfolge thebanischer, und im weiteren Sinn böotischer Le-genden – Theben war in der Antike die Hauptstadt Böotiens –, de-ren größter Teil mit der Familie von Cadmus in Verbindung steht.4

Das Buch III gliedert sich in der Tat folgendermaßen auf: Cad-mus – Actaeon – Semele – Tiresias – Narziss – Pentheus – Acoetes (die thyrrhenischen Seeleute).5 Man kann von dieser Zusammen-stellung vor allem die umfassende Rolle ablesen, die Bacchus in Be-zug auf den Mythos von Narziss spielt: Der Gott ist direkt an den Erzählungen beteiligt, die Semele, Pentheus und Acoetes gewidmet sind.

Allerdings ist es der Seher Tiresias, der am Ursprung der ovidi-schen Struktur des Mythos von Narziss steht.6 Tiresias hatte beim Spaziergang im Wald mit seinem Stock die Paarung zweier großer Schlangen gestört und wurde daraufhin wundersamerweise vom Mann zur Frau verwandelt und behielt diese Gestalt sieben Jahre lang. Im achten Jahr sah er dieselben Schlangen wieder und sprach: »[…] Wenn ein Schlag auf euch eine Wirkung erzielt, dass des Täters Geschlecht sich ins Gegenteil wandelt, kriegt ihr auch jetzt einen Streich! […]«. (Ovid, Metamorphosen III, 328-330)

3 Ich bevorzuge logischerweise die lateinischen Namen der olympischen Götter, da ich dem Text Ovids folge.

4 Ovide, Les Métamorphoses, übers. eingeleitet und komm. v. Joseph Chamonard, Paris 1966. S. 409-410, Anm. 152.

5 Man kann hierzu das Schema von Hubert Cancik heranziehen: »Spiegel der Erkenntnis. (Zu Ovid, Met. III 339-510)«, in: Der altsprachliche Unterricht, X, Heft I, 1967, S. 42-53; hier: S. 46, Anm. 12.

6 Heinrich Dörrie, »Echo und Narcissus (Ovid, Met. 3, 341-510). Psy-chologische Fiktion in Spiel und Ernst«, in: Der altsprachliche Unter-richt, X, Heft I, 1967, S. 54-75, hier: S. 59-60.

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Und so nahm Tiresias endlich wieder seine ursprüngliche Gestalt als Mann an. An dem Tag, als Jupiter nach vergnügten Spielen mit Juno behauptete, dass die Frau mehr Lust als der Mann beim Ge-schlechtsakt empfinde, widersprach Juno dieser Behauptung und beide beschlossen, das Urteil dem gelehrten Tiresias zu überlassen. Dieser kannte ja die Freuden der Venus bei beiden Geschlechtern und unterstützte die Ansicht Jupiters. Darüber war Juno betrübter als es die Sache verdiente, und beleidigt, wie sie war, »verdammte [sie] die Augen des Richters zu ewigem Dunkel« (Met. III, 335).

Da es keinem Gott gegeben ist, das Werk eines anderen Gottes zu zerstören, verlieh Jupiter dem Tiresias jedoch als Ersatz für das Licht, dessen er nun beraubt war, die Sehergabe. In der Tat gab Tiresias, dessen Ruf sich in den Städten Aoniens7 verbreitet hatte, den Leuten, die ihn um Rat fragten, unfehlbare Antworten.8 Und als Beweis für diese Behauptung erzählt uns Ovid das erste Ereignis, das die Wahr-haftigkeit seiner Weissagungen bezeugt: das Schicksal des Narziss.

Narziss ist der Sohn des Gottes Cephisus, ein böotischer Fluss, der die Nymphe Liriope in seinen verschlungenen Lauf verstrickte und, als sie dort gefangen war, vergewaltigte. Sie war von seltener Schönheit und brachte ein Kind zur Welt, das die Liebe der Nym-phen verdiente; sie gab ihm den Namen Narziss. Liriope war die erste, die Tiresias um Auskunft bat, und zwar über das Lebensalter ihres Kindes.

[…] Und als man den Schicksal-Kündenden Seher befragte, ob je dieser Knabe zu hohemAlter gelange, da gab er zu Antwort: »Ja, wenn er sich fremd

bleibt!« (Si se non nouerit)Lang schien nichtig das Wort des Propheten, doch bracht’ es

der AusgangEndlich zu ehren: ein seltsames Rasen, ein sonderbar Sterben.(exitus illam/Resque probat letique genus nouitasque furoris)

(Met. III, 346-350)

7 Region in Böotien, deren Name sich auf ganz Böotien ausgedehnt hat. Vgl. Ovid, Metamorphosen, hg. u. übers. v. Georges Lafaye, S. 80, Anm. 2.

8 Ovid, Metamorphosen, III, 316-340. Vgl. auch Dörrie, »Echo und Nar-cissus« (Anm. 6), S. 59-60.

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Der Aufweis der Unfehlbarkeit des Orakels, das Züge einer Um-kehrung der delphischen Weisheit – gnøthi seautón9 – annimmt und hier dem Mythos zugrunde liegt, drängt Ovid dazu, von Beginn der Erzählung an das Ereignis des Todes von Narziss zu verraten und auf das Schicksal hinzuweisen, von dem er getroffen werden wird. Von hier an besteht das Ziel der Erzählung darin, das explizit wer-den zu lassen, was Narziss in diesen eigenartigen Wahnsinn treibt (novitas furoris. Met. III, 350), und die verschiedenen Gesichter zu zeigen, die dieser Wahnsinn bis zum tragischen Ende des Jünglings annehmen wird.

Die Geschichte von Narziss ist mit derjenigen der Nymphe Echo verbunden. Es ist außerdem wahrscheinlich, dass Ovid am Beginn dieser Verbindung steht, indem er etwa die Person aus einem ande-ren Kontext herausgenommen und in einer Art und Weise in die Erzählung eingefügt hat, die sich dieser perfekt anpasst.10

Als Juno eines Tages die Nymphen in Jupiters Begleitung über-raschte, ermöglichte Echo ihnen die Flucht, indem sie die Göttin mit langen Reden aufhielt. Nachdem Juno dies bemerkt hatte, be-strafte sie Echo damit, dass sie ihre Sprache nur noch dazu benutzen konnte, die letzten Wörter aus den Sätzen ihrer Gesprächspartner zu wiederholen.

Narziss, zu diesem Zeitpunkt etwa fünfzehn Jahre alt, kann ebenso als Kind wie als junger Mann wahrgenommen werden. Er erregt das Begehren zahlreicher junger Männer und Frauen, aber seine zarte Schönheit umgibt sich mit einem solchen Hochmut (dura superbia), dass keiner der jungen Männer oder Frauen ihn je berühren kann.

9 gnøthi seautón bedeutet bekanntlich »Erkenne dich selbst«. Genauere Ausführungen zu dieser möglichen Anspielung finden sich bei Dörrie, »Echo und Narcissus« (Anm. 6), S. 61; vgl. auch Cancik, »Spiegel der Erkenntnis« (Anm. 5), S. 47-48.

10 Vgl. Samson Eitrem, »Narkissos«, in: Paulys Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, 16, 2, Stuttgart 1935, S. 1721-1733; hier: S. 1725; vgl. Dörrie, »Echo und Narcissus« (Anm. 6), S. 56; vgl. Cancik, »Spiegel der Erkenntnis« (Anm. 5), S. 45; siehe auch Louise Vinge, The Narcissus Theme in Western European Literature up to the Early 19th Century, Lund 1967, S. 11-12.

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Echo, die Nymphe, die nur Töne wiederholen kann, erblickt den jungen und schönen Narziss auf der Jagd nach den furchtsamen Hirschen und verliebt sich auf der Stelle in ihn. Sie sieht ihn, wie er durchs Land irrt und folgt verstohlen den Spuren des jungen Man-nes. Wiederholt hätte sie ihn gerne mit schmeichelnden Worten an-gesprochen. Doch sie kann nicht als erste sprechen und lauert da-rum auf die Töne, auf die hin sie ihre eigenen Worte zurückgeben kann.

Durch Zufall wird der junge Mann jedoch von der Gruppe seiner Begleiter getrennt und ruft:

»Ist jemand zugegen?«(ecquis adest?)»Zugegen!« (adest) sagt Echo. (Met. III, 380)

Nach einem Moment der Verblüffung blickt sich Narziss nach allen Seiten um und ruft weiter. Doch er bekommt immer nur die Worte, die der selbst gesprochen hat, als Antwort, hört aber nicht auf, be-fangen in dem Glauben an eine Stimme, die auf die seine antwortet (Perstat et alternae deceptus imagine vocis)11:

»Wir wollen hier uns vereinigen!« (Huc coeamus)Gab’s einen Laut, dem Echo so freudig

Jemals erwiderte? »Hier uns vereinigen!« (coeamus) rief siezur Antwort;

Und sie trat aus dem Wald, getreu ihren Worten, und wollte Gehen und sogleich mit den Armen den Hals des Ersehnten

umschlingenAber er flieht und schreit: »Fort! Fort mit den Händen und

Armen!Eher würde ich sterben! Du meinst, dir würd’ ich mich schenken?

(Emoriar quam sit tibi copia nostri)Jene erwiderte nichts als die Worte: »Dir würd’ ich mich

schenken!« (sit tibi copia nostri) (Met. III, 385-392)

Wir werden hier Zeugen eines Spiels der stimmlichen Reflexion [imago vocis (oder einfach imago, was natürlich in erster Linie ›vi-suelles Bild‹ oder ›Spiegelung‹ bedeutet) ist bereits vor Ovids Zeiten

11 Ovid, Metamorphosen, III, 385.

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die lateinische Redewendung für den Ausdruck ›Echo‹, als akusti-sches Spiegelungsphänomen],12 dessen ›Spiegelung‹ sich in Bezug auf das Vorbild als genau, aber unvollständig erweist, da nur die Satzenden hier wiederholt werden.

Die Echo auferlegte Strafe hat zum Ziel, den Dialog zwischen den beiden Protagonisten auf die Einheit von Narziss’ eigenen Worten zu reduzieren, den die Nymphe im Prinzip nur papageien-artig, als reiner Spiegel der Stimme, wiederholen kann. Nun aber wird durch die fragmentarische Wiedergabe der von Narziss geäu-ßerten Worte hier wieder ein Keim von Alterität eingepflanzt. Die kaum verstümmelten Worte des Jünglings werden plötzlich zum Vektor der erotischen Aufladung, die Echo ihm zu vermitteln ver-sucht, während er sich eher wegen der Abwesenheit seiner Begleiter Sorgen zu machen scheint.

Aber Narziss weist jede Liebe zurück und begegnet Echo mit der gleichen Verachtung, die bereits all den anderen zahlreichen jungen Männern und Frauen zuteil geworden war, die ihn begehrten. Zurückgewiesen verbirgt sich Echo im Wald, verhüllt ihr von Scham bedrücktes Gesicht mit Laub und lebt fortan in einsamen Höhlen. Aber ihre Liebe bleibt, während der Kummer und die Sorgen ihren armen Körper entstellen. Vor Abmagerung trocknet ihre Haut aus, und bald schwindet auch der Saft aus ihrem Körper, bis nichts als die Stimme und die Knochen übrig bleiben. Die Stimme bleibt ihr erhalten, aber man sagt, dass die Knochen die Form eines Felsens angenommen haben. So verbirgt sie sich in den Wäldern und man sieht sie auf keinem Berg mehr. Doch sie ist von allen vernehmbar – ein Klang ist alles, was von ihr überlebt.13

So wurden Echo und viele andere Wasser- und Bergnymphen, nicht zu vergessen eine Menge weiterer junger Leute, von Narziss

12 Vgl. Vinge, The Narcissus Theme (Anm. 10), S. 12. Sie bezieht sich in einer Fußnote (Anm. 29, S. 333) auf vorgängige Beispiele dieser Meta-pher, u. a. bei Vergil, Horaz und Cicero, wie sie von Wieseler zusam-mengestellt wurden: Vgl. Friedrich Wieseler, Die Nymphe Echo. Eine Kunstmythologie Abhandlung, Göttingen 1854, S. 15 (Anm.). Siehe auch Philip Hardie, Ovid’s Poetic of Illusion, Cambridge University Press 2002, S. 143-172 (»Narcissus. The mirror of the text«), hier: S. 152.

13 Vgl. Ovid, Metamorphosen, III, 393-401.

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verschmäht. Eines seiner Opfer erhob die Hände zum Himmel und rief:

»Möge er selbst so lieben und nie das Geliebte besitzen!« (Sic amet ipse licet, sic non potiatur amato)

Sprach’s; die berechtigte Bitte erhörte die Göttin von Rhamnus[Nemesis, die Göttin der Rache, wurde mit einem Heiligtum in

Rhamnus in Attika verehrt].14 (Met. III, 405-406)

Die Strafe des Narziss, folgt, dem Fluch des Opfers entsprechend, dem antiken Talion-Gesetz Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es be-steht in der Wechselseitigkeit von Verbrechen und Strafe. Narziss erhält seine Strafe dort, wo er gefehlt hat. So wie die, die ihn geliebt haben, ihn nie besitzen konnten, wird er lieben müssen und doch den Gegenstand seiner Liebe nie besitzen dürfen.15

Der Wahnsinn des Narziss (novitasque furoris. Met. III, 350) wird gerade zum Werkzeug der Vollstreckung seiner Strafe, was uns letztlich, wie wir sehen werden, zu einem doppelten Verständ-nis der Weissagung des Tiresias führen wird.

Narziss kommt, erschöpft von der Jagd, zu einer klaren Quelle, um von dem klaren Wasser zu trinken, das niemand zuvor, weder Hirten noch ihr Vieh und nicht einmal ein von den Bäumen gefalle-ner Ast, berührt hatten. Dort entbrennt er in Liebe zu seinem eige-nen Bild, das von der Wasseroberfläche gespiegelt wird. Das Spiel der akustischen Reflexion zwischen Narziss und Echo war also der Vorbote einer anderen Begegnung zwischen Narziss und seinem Spiegelbild, das nunmehr das Thema der visuellen Spiegelung zum Gegenstand hat.16

14 Vgl. Ovid, Metamorphosen, übers. eingeleitet und komm. v. J. Cha-monard , S. 411, Anm. 168.

15 Vgl. Pierre Hadot, »Le mythe de Narcisse et son interprétation par Plo-tin«, in: Narcisses, Paris 2000 [erste Auflage 1976], S. 127-160, hier: S. 138-139; siehe auch Dörrie, »Echo und Narcissus« (Anm. 6), S. 64-65.

16 Diese Beziehung wird vor allem als zusätzliches Argument für die These angesehen, nach der die Vereinigung der Mythen von Echo und Narziss eine Erfindung Ovids ist. Vgl. Françoise Frontisi-Ducroux/Jean-Pierre Vernant, Dans l’œil du miroir, Paris 1997, S. 211; vgl. auch

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Bevor der Ovidschen Erzählung genauer nachgegangen werden soll, gilt es festzuhalten, dass es in dieser Gründungserzählung zwei Phasen, zwei Stadien gibt, wie Narziss sein eigenes Bild auf der Wasseroberfläche wahrnimmt: Diese Stadien sollen im Folgenden die Phase des Anderen (A) und die Spiegelphase (B) genannt wer-den.

Die Phase des Anderen (A). Zunächst erkennt Narziss sich nicht in der Quelle. Er legt sich auf den Boden,

doch wie den Durst er zu stillen begehrt, erwächst ihm ein andrer Durst (Dumque sitim sedare cupit, sitis altera creuit).Beim Trinken erblickt er herrliche Schönheit; ergriffen / Liebt er ein Körperlos Schemen: was Wasser ist, hält er für Körper (Dumque bibit, uisae correptus imagine formae, / spem sine cor-pore amat; corpus putat esse quod unda [umbra]17 est).

(Met. III, 415-417)

Narziss kommt in der Tat zur Quelle, um zu ›trinken‹, nicht um zu ›sehen‹. Er nimmt das Quellwasser als flüssige ›Materie‹ wahr, die seinen Durst stillen soll, und stellt sich darunter in diesem Augen-blick in keinster Weise eine Oberfläche vor, und schon gar keine spiegelnde Oberfläche. Daher rührt seine Überraschung und sein Interesse, als er jemanden – von unvergleichlicher Schönheit – als sein Gegenüber wahrnimmt. Narziss entbrennt in Leidenschaft für die Schönheit der Form, die sich ihm darbietet und begeht hier einen zweifachen Irrtum: Er hält das, was nur ein Reflex und ein Schatten ist, für einen Körper. Dieser Körper, in den er sich verliebt, ist obendrein, ohne dass er sich dessen bewusst wäre, sein eigener Kör-per: »Sich begehrt er, der Tor, der Liebende ist der Geliebte (Se cu-pit inprudens et, qui probat, ipse probatur)« (Met. III, 425).18

Starr vor Erstaunen ähnelt er einer Statue. Der Autor warnt ihn vor seinem Fehler und beschreibt, was ihn täuscht. Dieses Bild ist nur eine Illusion, es ist nichts an sich selbst. Es ist nicht zu ändern:

Vinge, The Narcissus Theme (Anm. 10), S. 12; Hardie, Ovid’s Poetics of Illusion (Anm. 12), S. 152.

17 In manchen Handschriften steht umbra an der Stelle von unda. Vgl. Ovid, Metamorphosen, hg. u. übers. v. Georges Lafaye, S. 83, v. 417.

18 Vgl. Vinge, The Narcissus Theme (Anm. 10), S. 12

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Narziss erkennt sich nicht und sieht durch sein Spiegelbild hin-durch das Gesicht eines Anderen, der zum Objekt seiner plötz-lichen Leidenschaft wird.19

Darauf kommt der Augenblick der Identifikation, das Spiegel-stadium (B). Narziss wird bewusst, dass er es mit seinem Spiegel-bild zu tun hat. Er lässt sich nicht mehr von seinem eigenen Bild täuschen, es betrügt ihn nicht länger. Er erkennt sich fortan im Ant-litz des Anderen: »Ach, ich bin es ja selbst! Ich merk’ es, mein Bild ist mir deutlich! (Iste ego sum! sensi, nec me mea fallit imago)« (Met. III, 463).

Den Prozess der Selbsterkenntnis kann man jedoch noch deut-licher erfassen, wenn man aufmerksam beobachtet, was ihn die ganze Erzählung über begleitet, nämlich das Fortschreiten Narziss’ zu einer Medienerkenntnis. Diese Bewusstwerdung der Präsenz des Mediums artikuliert sich in einer Poetik, die ausgehend von der völ-ligen Illusion schließlich zur Anerkennung der Spiegelfunktion der Wasseroberfläche gelangt.20

19 Vgl. Hadot, »Le mythe de Narcisse« (Anm. 15), S. 139-142, v. a. S. 139: »La démence de Narcisse consiste précisément dans le fait qu’il ne se reconnaît pas et la punition dans le fait que Narcisse est voué ainsi à une passion et à une soif qu’il ne pourra jamais assouvir.«

20 Ich folge hier der Entwicklung der verschiedenen medialen Phasen, die Christiane Kruse vom Vortrag übernimmt, den Reinhart Herzog an der Universität Konstanz im Juni 1992 gehalten hat (Reinhart Her-zog, Ovid: Narziss und Echo. Zur Ästhetik der Illusion, Antrittsvor-lesung, gehalten an der Universität Konstanz, Juni 1992). Herzog be-zieht sich selbst auf Karlheinz Stierle bei seiner Entwicklung dieses ›Dreistufenmodells‹ (Karlheinz Stierle, »Was heißt Rezeption bei fik-tionalen Texten?« [1975], in: Ders., Ästhetische Rationalität. Kunst-werk und Werk begriff, München 1997, S. 289-326). Vgl. Christiane Kruse: »Selbst erkenntnis als Medienerkenntnis. Narziss an der Quelle bei Alberti und Caravaggio«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissen-schaft 27 (1998), S. 99-116, hier: S. 102-103. Dieser Aufsatz erscheint in leicht veränderter und vervollständigter Form in einem unlängst ver-öffentlichten Buch der Autorin: Wozu Menschen malen. Historische Begründung eines Bildmediums, München 2003, S. 307-343 (»Selbst-erkenntnis und Medienerkenntnis: Narziss an der Quelle«). Für eine Erläuterung der Illusionsmechanismen, die die Geschichte von Narziss nach Ovid prägen, vgl. auch Hardie, Ovid’s Poetics of Illusion (Anm. 12), S. 143-172.

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Das Stadium des Anderen

Der erste Moment ist derjenige einer völligen Unkenntnis des Me-diums. (A.1) Narziss spiegelt sich in der Quelle und sieht dort nicht sein Spiegelbild, sondern wirklich einen anderen, der ihm gegen-über ist und Teil derselben räumlichen Wirklichkeit ist. Die Illusion ist vollkommen.

Reglos staunt er sich an, mit unbeweglichem Antlitz,Starr, einer Statue gleich, die aus parischem Marmor geformt ist.Liegend am Boden erschaut er das Doppelgestirn seiner Augen,Sieht seine Haare – sie hätten Apollo geziert oder Bacchus –,Sieht die Wangen der Jugend, den Hals, der wie Elfenbein

schimmert,Seinen so zierlichen Mund und die Farbe von Schnee und von

Rosen.Alles bewundert er jetzt, weshalb ihn die andern bewundern:Sich begehrt er, der Tor, der Liebende ist der Geliebte,Und der Ersehnte der Sehnende, Zunder zugleich und

Entflammter.(Met. III, 418-426)

Ovid macht sich hier an eine detaillierte Beschreibung, eine ekphra-sis21 des Narziss und dessen, was er verblüfft betrachtet. Der Jüng-ling scheint ein Kunstwerk ohnegleichen darzustellen, eine »Statue aus Marmor von Paros«, und seine Schönheit ist der der Götter Bacchus und Apoll würdig. Außerdem ist der Blick, den Narziss hier auf sich selbst wirft, dem eines Zuschauers ähnlich, der vor einem illusionistischen Kunstwerk an die Wirklichkeit des Bildes glaubt, das er sieht.22

21 Ekphrasis (Ekfrasis) [phrazô [frázw], zu verstehen geben, erklären, und ek [ek], vollständig]. Die ekphrasis, ist eine genaue Beschreibung eines wirklich existierenden oder fiktiven Kunstwerks, die in eine Er-zählung eingelassen ist.

22 Vgl. auch Hardie, Ovid’s Poetic of Illusion (Anm. 12), S. 146. Philip Hardie bezieht sich in dieser Passage vor allem auf JaŚ Elsner, »Natura-lism and the erotics of the gaze. Intimation of Narcissus«, in: Natalie Boymel Kampen (Hg.), »Sexuality in Ancient Art. Near East, Egypt,

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Die ›Poetik der Illusion‹ konzentriert sich hier auf den Sehsinn. Doch sehr schnell gibt sich Narziss nicht mehr mit dieser Betrach-tung zufrieden. Diese sinnliche Faszination breitet sich sehr bald auf den Tastsinn aus. Narziss wird von einem haptischen Fieber ergriffen; er begehrt das, was er sieht, und sucht es mit allen Mitteln zu umarmen.

Oh, wie küßt’ er so oft – vergeblich ! – die trügende Quelle,Tauchte die Arme so oft in das Wasser, den Hals umschlingen,Den er erschaut, und kann sich doch selbst im Gewässer nicht

fassen.Was er ersieht, nicht weiß er’s; er sieht’s, und es setzt ihn in

Flammen,Und seine Augen betrügt und entzündet der nämliche Irrtum …

(Met. III, 427-431)

In diesem Augenblick seiner Erzählung tritt Ovid aus dem Schutz seiner reinen Erzählerrolle heraus und spricht Narziss an. Er warnt ihn vor seiner Illusion durch ein rhetorisches Verfahren, das gleich-zeitig bei seinem Zuhörer/Leser einen kurzen Augenblick lang die Illusion einer möglichen Interaktion mit einer rein textuellen Per-son schafft:23

Gläubiger Knabe, du haschest vergeblich nach flüchtigenBildern!

Nirgends ist, was du ersehnt; was du liebst, du wirst es vernichten,

Wenn du dich wendest; du siehst nur ein nichtiges Spiegelbilde;(Ista repercussae, quam cernis, imaginis umbra est)

Eigenes Wesen gebricht ihm: mit dir erscheint es und dauert,Mit dir geht es hinweg – wofern du zu gehen vermöchtest!

(Met. III, 432-436)

Narziss wird also von dem erfasst, was nichts als ein Simulakrum ist, er entbrennt in Liebe zum Schatten eines gespiegelten Bildes (reper-

Greece, and Italy«, Cambridge University Press 1996, S. 247-261, hier: S. 252.

23 Vgl. Hardie, Ovid’s Poetic of Illusion (Anm. 12), S. 147; Vinge, The Narcissus Theme (Anm. 12), S. 15.

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cussae […] imaginis umbra), eines unsicheren, trüben Bildes in der Tiefe des Wassers.24 Aber er bleibt taub für die Empfehlungen Ovids. Weder Hunger noch Müdigkeit können ihn von diesem Ort fortbe-wegen, Narziss bleibt und betrachtet dieses trügerische Bild, an dem er sich nicht satt sehen kann: Er stirbt, »[…] ganz durch die eigenen Augen vernichtet.«25 (Perque oculos perit ipse suos. Met. III, 440)

Bald verweist Narziss’ Frustration in Folge der Unmöglichkeit einer taktilen Begegnung mit dem ›Anderen‹ auf eine neue Ebene der Medienerkenntnis: die naive Wahrnehmung des Mediums als bloßes Hindernis (A.2):

Und daß wachse mein Leid: nicht das Meer, das gewaltige,trennt uns,

Nicht eine Straße, kein Berg, Keine Wand mit verschlossener Pforte,

Nur ein winziges Wasser! (exigua prohibemur aqua) Er selbst wünscht meine Umarmung!

Denn so oft ich zum Kuß nach dem klaren Gewässer mich neige,

Gleich oft strebt er mir zu mit empor sich wendendem Munde.Möglich scheint die Berührung: die Liebenden trennt nur ein

Kleines. (Posse putes tangi; minimum est quod amantibus obstat) (Met. III, 448-453)

24 Es sei daran erinnert, dass die Ausdrücke, die »Schatten« und »Spiege-lung« bedeuten, lang austauschbar waren und auch den Schatten der Toten im Hades bedeuten konnten. Vgl. Joachim Schickel, »Narziss. Zu Versen von Ovid«, in: Antaios, 3/5, Januar 1962, S. 486-496; hier: S. 488: »Anderswo trennen sich zwar die Namen eher, doch überall bleiben sie lange austauschbar: »skiá« [skia] oder »umbra«, das trau-rige Wort für Eurydikes Dasein im Hades, wird auch zum Spiegelbild des Narziss gesagt; gerade im Gegenschein von Welle und Wasser glaubt man den Schatten zu finden« (das Ende dieses Abschnitts wird insbes. zitiert von Vinge, The Narcissus Theme (Anm. 12), S. 12; siehe auch S. 13). Vgl. auch Victor I. Stoichita, Brève histoire de l’ombre, Genève 2000, S. 29-40, hier: S. 32 [dt.: Victor I. Stoichita, Eine Kurze Geschichte des Schattens, a. d. Frz. v. Heinz Jatho, München 1999, S. 29-41, hier: S. 33].

25 Ovid, Metamorphosen, Bd. I (I-V), hg. u. übers. v. Georges Lafaye, S. 83.

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Das Medium – diese feine Wasserschicht – wird als transparentes Hindernis inmitten eines einheitlichen Realitätsraums wahrgenom-men und nicht als Träger einer anderen Realität als der, in der sich Narziss bewegt. Die Illusion, die noch im Stadium des Anderen verhaftet bleibt, schreibt sich von nun an in die Vermischung und das Ausbleiben der Unterscheidung zwischen realem und virtuel-lem Raum ein.

Narziss’ Verhalten ist in genau diesem Stadium der Illusion mit dem eines heutigen Zuschauers vergleichbar, der versucht, in den Fernsehbildschirm einzudringen, ihn zu durchqueren und an der zügellosen Jagd teilzunehmen, die 22 Akteure auf einen Ball voll-führen, oder einem energischen jungen Mann, der die Kinoleinwand zu zerreißen versucht, um der Heldin des Films zu Hilfe zu eilen. Narziss ist nicht in der Lage, die Zäsur zwischen dem realen und dem virtuellen Raum, die durch das Medium hervorgebracht wird, wahrzunehmen. Er kann sich nicht vorstellen, dass dieser Andere ein Bild ist, das eines Mediums als Träger bedarf, um zur Sichtbar-keit zu kommen.26

Caravaggio, Narziss (1598-1599)

Der Narziss Caravaggios verdeutlicht eindrücklich das Stadium des Anderen, wie es im Mythos berichtet wird (Abb. 1).27

Das Bild wird horizontal durch die Trennlinie zwischen Land und Wasser geteilt und strukturiert sich vertikal im Verhältnis des

26 Vgl. die Definition des Mediums von Hans Belting, Bild-Anthropolo-gie, Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 27: »[…] In der Kunstgeschichte dagegen werden Medien als Gattungen und Mate-rialien aufgefasst, in denen sich Künstler ausdrücken, also als Medien der Kunst. Dagegen verstehe ich Medien als Trägermedien oder Gast-medien, deren die Bilder bedürfen, um sichtbar zu werden, also als Me-dien des Bildes.«

27 Für eine eingehendere Interpretation dieses komplexen Bildes, die nicht allein auf eine mediale Interpretation reduziert werden kann, vgl. Hu-bert Damisch, »D’un Narcisse l’autre« [1976], in: Jean-Bertrand Ponta-lis (Hg.), Narcisses, Paris 2000, S. 161-214, hier: S. 161-165; vgl. auch Kruse, »Selbsterkenntnis als Medienerkenntnis« (Anm. 20), S. 111 f.

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Narziss zu seinem spiegelbildlichen Doppel. Die Szenenfügung ist auf ein close-up beschränkt und zeigt den Jüngling in Licht getaucht vor schwarzem Hintergrund, fasziniert vor seinem eigenem Bild, das im Halbdunkel auftaucht. Der Jüngling überstrahlt das Bild in diesem Hell-Dunkel-Effekt und das Doppel zieht sich zerbrechlich in die Dämmerung zurück. Dieser beredte Gegensatz zwischen den beiden Akteuren des Bildes hebt ihre Alterität hervor. Die Figur des Doppels ist im Verschwinden begriffen. Sie scheint sich darauf vor-zubereiten, jederzeit zu verschwinden, wieder in den Abgrund ein-zutauchen, aus dem sie kommt.

Verschiedene körperliche Details thematisieren in subtiler Weise die beiden Arten sinnlicher Faszination des Jünglings an der Quelle. Seine rechte Hand stützt sich am Rand des Wassers auf und spiegelt sich dort, ohne die Oberfläche zu berühren. Sein Gesicht, sein Kör-per ab halber Höhe und sein Knie – Letzteres mit ›phallischem‹28 Beiklang – spiegeln sich ebenfalls darin. Narziss betrachtet den ›Anderen‹ und ergötzt sich an dem, was er sieht.

Seine linke Hand ist dagegen schon Teil des Begehrens, den An-deren zu berühren. Sie möchte ihn liebkosen. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, geht es nunmehr darum, von der Betrachtung zur Umarmung überzugehen. Narziss bleibt im Bann dieses Gesichts, während wir beobachten können, wie diese Hand schon ins Wasser taucht, was aber keinerlei Brechungseffekt hervorruft, und sich dort noch fast zur Gänze spiegelt. Eine ganz leichte Welle, die um die Handfläche der linken Hand herum – gleichsam entlang der gespie-gelten Kontur – glitzert, lässt uns ahnen, dass dort die Oberfläche ist.29 Zwei Augenblicke im Versuch des Narziss, diesen Anderen sinnlich zu erfassen, treten also zwischen der einen Hand und der anderen miteinander in Dialog.

Diese beiden Hände sind zugleich die Verbindungspunkte an der Wasseroberfläche, die die Figur des Narziss mit der seines Doppels zu einer ununterbrochenen kreisförmigen Form versiegeln, die je-doch über den Bildrand hinaus versetzt ist. Matteo Marangoni sieht

28 Vgl. Damisch, »D’un Narcisse l’autre« (Anm. 27), S. 163.29 Ebd., S. 162.

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darin ein »ideales Rad«, bei dem das hervorgestreckte Knie – la palla del ginocchio – wie die Achse erscheint.30

30 Matteo Marangoni, Il Caravaggio, Firenze 1922, S. 43: »[…] la quale forma coll’altra riflessa nell’acqua un cerchio di serrata composizione […] dove la palla del ginocchio in tensione, degno ›pezzo‹ caravagge-sco, appare quasi il fulcro della ruota ideale che formano le due figure unite.«

Abb. 1: Michelagnolo Merisi da Caravaggio, Narziss, 1598-1599Öl auf Leinwand

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Das nackte, voll beleuchtete rechte Knie des Jugendlichen nimmt, zusammen mit seiner Spiegelung, das Zentrum der Bildkomposi-tion ein und bildet damit die Achse dieses Kreises homoerotischer Illusion, dieses im Spiegel verdoppelten Halbkreises.31

Diese angeschwollene Gliedmaße verweist in Verbindung mit dem nicht gespiegelten linken Knie, das von einem Kleidungsstück mit einem markanten Riss in der Mitte bedeckt ist,32 auf den sexuel-len Trieb, der Narziss im Bann seines Spiegelbildes beherrscht.

Schließlich lässt sich dieses hervortretende Glied, das sich ge-fährlich dem Zuschauer entgegenreckt, auch als ein Symbol für den Kontakt und die Durchdringung der Oberfläche verstehen, die viel-leicht hier ebenso sehr ›Bildoberfläche‹ wie Wasseroberfläche ist. Es erinnert uns an bzw. verweist uns auf ein Dispositiv der media-len mise en abyme, in dem der Zuschauer durch den leinwandarti-gen Bildschirm hindurch dem Rausch des Narziss für sein Doppel im spiegelhaften Bildschirm beiwohnt.

Der Text Ovids fährt fort, und Narziss ermuntert diesen unver-gleichlichen Jüngling dazu, hervorzukommen, und das dünne Hin-dernis zu durchdringen, um zu ihm zu kommen. Er begreift die Tragik der Situation umso weniger, als der Jüngling seine Hoffnung noch nährt, indem er mit gleicher Leidenschaft jede der Gesten und jeden der Affekte, die er ihm zukommen lässt, erwidert.

Wer du auch seist, komm heraus! Was täuschst du mich, einziger Knabe?

Wenn ich dich fasse, wo schwindest du hin? Du kannst doch vor meiner Jugendschönheit nicht fliehn? Selbst Nymphen ersehn-ten mich einstmals.

31 Vgl. Damisch, »D’un Narcisse l’autre« (Anm. 27), S. 162: »Cercle, mais qui ne se referme ici qu’à emprunter le relais du miroir; unité mais fon-dée sur le dédoublement, la réflexion dans un autre élément, le détour par l’apparence, la ›déception‹.«

32 Vgl. ebd., S. 163; vgl. auch einen Artikel aus dem Jahr 1996, in dem Damisch einige seiner bereits 1976 angestellten Überlegungen wieder aufgreift: »Narcisse baroque?«, in: Christine Buci-Glucksmann u. a. (Hg.), Puissance du Baroque, les forces, les formes, les rationalités, Paris 1996, S. 29-41, hier: S. 32 [dt.: »Barocker Narziss?«, a. d. Frz. v. Vera Beyer, in: Vera Beyer u. a (Hg.), Das Bild ist der König: Repräsentation nach Louis Marin, München 2006, S. 191-204].

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Eine verborgene Hoffnung verspricht mir dein freundliches Antlitz;

Streck’ ich die Arme nach dir, von selber streckst du die deinen;Lache ich, lachst du mir zu; und oftmals habe ich deineTränen bemerkt, wenn ich weinte; […] (Met. III, 454-460)

Das Spiegelstadium

Ovid gibt hier zu verstehen, dass Narziss die Synchronität zwischen den Bewegungen des Anderen und seinen eigenen erkennt (Met. III, 457-463).33 Endlich kommt der Moment der Identifikation. Narziss erkennt den Anderen als sein eigenes Bild auf der Wasseroberfläche, als sein Spiegelbild (B): »Ach, ich bin es ja selbst! Ich merk’ es, mein Bild ist mir deutlich! (Iste ego sum! sensi, nec me mea fallit imago)« (Met. III, 463).

Die medialen Eigenschaften der Wasseroberfläche enthüllen sich ihm. Narziss befindet sich im Angesicht einer spiegelnden Oberflä-che, ein natürlicher Spiegel, der ihm seine eigenen Züge zurückwirft. Er versucht nun nicht mehr, ein Hindernis zu überwinden, das einen gleichen Raum zerteilt, wie z. B. eine Glastür. Die Illusion ist jetzt durch die korrekte Wahrnehmung des Mediums unterbrochen. Das Medium ist Träger eines Repräsentationsraums, der als Bild – d. h. als ein Raum, der sich vom Zuschauerraum unterscheidet – zu ver-stehen ist, und in diesem speziellen Fall obendrein als Selbstbild.

Dieser Augenblick wird von Narziss als Drama erlebt – als Drama der Identifikation. Von diesem Augenblick an bedauert er, sich nicht von seinem Körper lösen zu können, um sich selbst wie einen anderen zu lieben.

Mein ist, was ich ersehne; ich möchte mich schenken und kann nicht

O, wenn ich doch von dem eigenen Leib mich zu trennen vermöchte!

War es denn je eines Liebenden Wunsch, was er liebt, möge schwinden? (Met. III, 466-468)

33 Vgl. auch Hadot, »Le mythe de Narcisse« (Anm. 15), S. 141.

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(Quod cupio mecum est; inopiem me copia fecit / O utinam a nos-tro secedere corpore possem! / Votum in amante nouum, uellem quod amamus abesset) (Met. III, 466-468)

Bei Ovid will sich Narziss von dem, was er liebt, trennen, um es wie etwas Abgetrenntes zu lieben. Er liebt sich nicht in der Art einer Selbstgefälligkeit oder der Selbstzufriedenheit seinem Bild gegen-über. Seine Liebe bezieht sich in keinster Weise auf sich selbst zu-rück. In diesem Sinn ist er nicht ›narzisstisch‹ und noch weniger eitel.

Die überwältigende Mehrheit der Kommentatoren des Textes stimmen in der Annahme überein, dass zu keinem Zeitpunkt der Erzählung, sei es vor oder nach seiner Identifikation mit dem natür-lichen Spiegel, Ovids Narziss im eigentlichen Sinn ›narzisstisch‹ sei.34 Aber Narziss sinkt nieder und die Kräfte, die in ihm wohnten, schwinden nun:

»Und schon raubt mir die Kräfte der Schmerz; es bleibt mir vom Leben

Nur noch wenig: ich muß in der blühendsten Jugend erlöschen.Schwer ist der Tod mir nicht – er wird vom Leid

mich erlösen –!Meinem Geliebten – ich wünschte ihm wohl ein längeres Leben!Doch jetzt sterben wir beide, vereinigt in einzigem Hauche.«

(Met. III, 469-473)

Narziss fühlt, ja er weiß jetzt, dass er stirbt. Denn in der Tat er-scheint das Motiv des Todes vor demjenigen der Erkenntnis. Nar-ziss ist schon verurteilt, bevor er sich erkennt. Der skopische Trieb,

34 Vgl. als einige Beispiele unter vielen Schickel, »Narziss« (Anm. 24), S. 492; Vinge, The Narcissus theme (Anm. 10), S. 16-17; Dörrie, »Echo und Narcissus« (Anm. 6), S. 72-73; Damisch, »D’un Narcisse l’autre« (Anm. 27), S. 175-177; Ursula Orlowsky/Rebekka Orlowsky, Narziss und Narzissmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psycho-analyse: vom Mythos zur leeren Selbstinszenierung, München 1992, S. 19-21 u. S. 29-65; Frontisi-Ducroux/Vernant, Dans l’œil du miroir (Anm. 16), S. 213-214; Gérard Wajcman, »Le drame du corps ou Nar-cisse au XXe siècle«, in: Albertiana IV, 2001, S. 229-232; Kruse, Wozu Menschen malen (Anm. 20), S. 309.

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der ihn bei seiner ersten Konfrontation mit der Quelle erfasst, ist ein skopischer Todestrieb. Die Prophezeiung des Sehers Tiresias – als er zum Schicksal des jungen Mannes befragt wurde, »ob je dieser Knabe zu hohem Alter gelange«, da gab er zur Antwort: »Ja, wenn er sich nicht wahrnehme/erkenne« (Si se non noverit. Met. III, 348) – erweist sich als ambivalente und bereits zweideutige Aus-sage, die mit der Doppelbedeutung von ›novi‹ spielt: Man muss den Ausdruck zunächst verstehen im Sinn von: »wenn er sich nicht sieht« und erst dann als: »wenn er sich nicht erkennt«. Narziss ist tat sächlich verurteilt, Opfer seiner eigenen Augen (Met. III, 440: »Perque oculos perit ipse suos«), bevor er sich selbst erkennt.35

Bevor er sich jedoch in diesem Spiegelbild erkennt, das er für einen Anderen hielt, ist sich Narziss aller Wahrscheinlichkeit nach seines Todesurteils, das schon über ihm schwebt, nicht bewusst und nährt stattdessen die Hoffnung, bald mit dem geliebten Wesen ver-eint zu sein. Erst nach dem Iste ego sum (Met. III, 463) weiß er, dass er wahrhaft verloren ist, und mit ihm auch der Gegenstand seiner Zärtlichkeit, von dem er sich nie ablösen können wird.36

Nachdem er das Ereignis seines bevorstehenden Todes erwähnt hat, kehrt Narziss in seinem Wahn zu seiner Betrachtung zurück, und dabei nimmt sein Verhältnis zum Medium noch einmal eine allerletzte Wende:

Und er trübte mit Tränen die Flut: durch des Wassers Bewegung

Wurde verdunkelt das Bild. Als er sah, wie es schwand, rief er kläglich:

»Oh, wohin fliehst du davon? So bleibe, du Grausamer, laß mich,

der dich liebt, nicht allein! Was mir zu berühren versagt ist,Darf ich doch wenigstens sehn und die Wut, die unselige

schüren!« (Met. III, 475-479 )

35 Vgl. Hadot, »Le mythe de Narcisse« (Anm. 15), S. 138-144; vgl. Da-misch, »D’un Narcisse l’autre« (Anm. 27), S. 196-197. Vgl. auch Fron-tisi-Ducroux/Vernant, Dans l’œil du miroir (Anm. 16), S. 213.

36 Vgl. auch Dörrie, »Echo und Narcissus« (Anm. 6), S. 70.

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Die Oberfläche wird unruhig, und die Welle macht das Bild von nun an undeutlich. Seine Eignung zur Widerspiegelung ist beein-trächtigt, sodass Narziss erneut sein Gesicht anspricht und dabei die zweite Person Singular gebraucht, somit also sein eigenes Bild mit einer starken Alterität belegt. Er spricht wie schon zuvor (in A.2) sein spiegelbildliches Doppel an, so als ob dieses sich physisch von dem Modell ablösen könnte, dessen reflektierte Form es dar-stellt, als ob es sich individualisieren und sich nach Belieben in der Welt jenseits der Oberfläche aufhalten könnte.37

Oh, wohin fliehst du davon? So bleibe, du Grausamer, laß mich,der dich liebt, nicht allein! […] (Met. III, 477-478)

Aber Narziss hat bereits zuvor dieses Andere als sein eigenes Bild erkannt. Es handelt sich also nicht um einen regressiven Prozess, der uns zur zweiten Phase des Stadiums des Anderen zurückführen würde,38 in der Narziss das Medium als bloßes Hindernis im selben Raum der Realität betrachtet; ein transparentes Hindernis, das ihn daran hindert, zu einem völlig autonomen Anderen zu gelangen, und der ihn ebenfalls zu begehren scheint. (Es handelt sich also nicht um eine Rückkehr zu A.2.)

37 Im zweiten Moment des Stadiums des Anderen (in A.2) ist die Existenz des Anderen völlig unabhängig von der Oberfläche. Diese ist nichts als ein reines Hindernis, das die beiden Menschen trennt, aber den Glau-ben des Narziss an die vollständige Autonomie des Anderen zu diesem Zeitpunkt in keinster Weise beeinträchtigt. So könnten zu diesem Zeit-punkt der Erzählung nicht einmal die Bewegungen an der Oberfläche, die durch das Eintauchen der Arme ins Wasser und durch die Küsse, die dem trügerischen Wasser verabreicht würden, entstünden, etwas am Status der Oberfläche als einfaches Hindernis und genauso wenig etwas an der Individualität des Anderen ändern. Ovid selbst themati-siert im Übrigen die Trübung der Oberfläche zum Zeitpunkt des Stadi-ums des Anderen nicht (in A.2) – die Trübung wäre hier nur eine wei-tere Facette des Hindernisses. Das Hindernis wäre dann nicht mehr transparent, sondern in gewisser Weise opak und würde Narziss fortan daran hindern, den Anderen klar zu unterscheiden, wie es ihn jetzt schon daran hindert, ihn zu berühren.

38 Vgl. hierzu auch Bernd Manuwald, »Narcissus bei Konon und Ovid«, in: Hermes 103 (1975), S. 349-372, hier: S. 364.

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Denn Narziss weiß nunmehr um die ontologische Unmöglich-keit, einen gemeinsamen Raum mit seinem Spiegelbild zu teilen. Er versucht nicht mehr, dieses sogenannte Andere zu berühren, es zu erreichen. Seine Tränen und nicht seine Körperteile sind es, die jetzt die Oberfläche trüben. Er weiß auch, dass die Existenz dieses An-deren zerbrechlich ist und notwendigerweise von der Oberfläche abhängt, die ihn trägt. Er will ihn nur sehen, denn der ›klare‹ Spiegel erlaubt ihm, sich wenigstens wie einen anderen zu betrachten, wenn er sich schon nicht als anderen berühren kann:

[…] Was mir zu berühren versagt ist,Darf ich doch wenigstens sehn und die Wut, die

unselige schüren! (Met. III, 478-479)

Dieser Augenblick stellt die Antwort auf die Konfrontation Nar-ziss’ mit seinem ›trüben Spiegel‹ dar. Der ›trübe Spiegel‹ zerstört nicht die Substanz des Spiegels als solche, auch wenn er dessen Fä-higkeit zur Spiegelung stark herabsetzt. Die Szene vor dem ›trüben Spiegel‹ ist insofern keine eigene Phase der Medialität, als sie keine strenge Veränderung in der Erkenntnis der dem Medium eigenen Qualitäten beinhaltet, sondern sie ist eher das Negativbild des Spie-gels, der normalerweise klar ist, im Spiegelstadium.39 Es handelt sich

39 Sobald Narziss im Stadium des Anderen (A) das Medium als Hindernis wahrnimmt, das keine Zäsur zwischen den beiden Welten impliziert (A.2), kann er nicht mehr dezent sein Vorhandensein ignorieren und zum Moment (A.1) zurückkehren, in dem er nichts zwischen sich und dem jungen Mann, den er betrachtet, wahrnimmt (A.2 ~A.1). Und auch als er sein eigenes Bild erkennt (B), kann er das Medium nicht mehr so sehen, wie er dies zuvor getan hat (A.2). Der Zugang zu einem neuen Status der Medienerkenntnis im Zuge der verschiedenen Phasen impliziert das Verlassen und die Zurückweisung der vorangegangenen Phasen. (B ~A). Im Spiegelstadium (B) jedoch tritt der ›trübe Spie-gel‹ dem ›klaren Spiegel‹, der seine ganze Eignung zur Widerspiegelung besitzt, zur Seite; der Dialog zwischen den beiden Spiegeln schließt nun nicht die vorangegangene Erkenntnis dieser Oberfläche als Spiegel aus, um ein neues Stadium der Medienerkenntnis zu erreichen. Wir werden vielmehr Zuschauer eines zyklischen Spiels zwischen der ›Klarheit‹ und der ›Trübung‹ des Spiegel-Mediums, so wie in A.2 ein Spiel zwi-schen ›Transparenz‹ und ›Opazität‹, das das Medium als Hindernis be-trifft, möglich gewesen wäre. (S. o., Anm. 37).

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um zwei mögliche und entgegengesetzte Momente des natürlichen Spiegels, den die Wasseroberfläche darstellt.

Die Beeinträchtigung der Oberfläche bei der Berührung mit den Tränen des Narziss ist dennoch von großem Interesse, was die Be-ziehung des Narziss zum Spiegel-Medium betrifft. Insbesondere scheint es so, als könne sie die Alterität, die bereits in jedem Spiegel, in jeder ›klaren‹ spiegelnden Oberfläche präsent ist, noch deutlicher hervortreten lassen: Diese Alterität des Spiegels besteht im Weg, auf den er uns schickt, ein Weg, der ›von sich zu sich über den Anderen‹ verläuft. Wenn der Spiegel uns für uns selbst in einem taktilen Sinn unerreichbar werden lässt, so lässt er doch zumindest zu, dass wir uns wie einen Anderen beobachten. Er erlaubt uns, zu einer Selbst-sicht zu gelangen, die in sich einen Keim von Alterität trägt: Diese Sicht stellt uns eine umgekehrte Figur von uns selbst dar und stellt uns in einen Raum, in dem wir uns nicht befinden.40 Der trübe Spie-gel erlaubt es, die substanzielle Ambiguität des Spiegels zu benen-nen und dabei dieses ›andere Bild‹ von uns selbst noch fremder zu machen, bis es im eigentlichen Sinn undeutlich wird.

Aber die Trübung der Oberfläche bewirkt etwas noch Tragi-scheres als die einfache Akzentuierung dieses Alteritätseffekts, der Teil jedes Selbstbildes ist. Sie ruft bei Narziss eine Verzweiflung hervor, die umso größer ist, als ihm seine dem Spiegel vorauslie-gende Erkenntnis nicht so leicht zu nehmen ist. Der getrübte Spie-

40 Vgl. Michel Foucault, »Von anderen Räumen«, a. d. Frz. v. Michael Bischoff, in: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel De-fert/François Ewald, Frankfurt/M. 2005, Bd. 4, S. 931-942, hier: S. 935: »Denn der Spiegel ist eine Utopie, weil er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich dort, wo ich nicht bin, in einem irrealen Raum, der virtuell hinter der Oberfläche des Spiegels liegt. Ich bin, wo ich nicht bin, gleichsam ein Schatten, der mich erst sichtbar für mich selbst macht und der es mir erlaubt, mich dort zu betrachten, wo ich gar nicht bin: die Utopie des Spiegels. Aber zugleich handelt es sich um eine He-terotopie, insofern der Spiegel wirklich existiert und gewissermaßen eine Rückwirkung auf den Ort ausübt, an dem ich mich befinde. Durch den Spiegel entdecke ich, dass ich nicht an dem Ort bin, an dem ich bin, da ich mich dort drüben sehe. Durch diesen Blick, der gleichsam tief aus dem virtuellen Raum hinter dem Spiegel zu mir dringt, kehre ich zu mir selbst zurück, richte meinen Blick wieder auf mich selbst und sehe mich nun wieder dort, wo ich bin. […]«

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gel verweigert Narziss die Betrachtung seiner eigenen Gestalt, die die letzte Nahrung seines Wahns bildet. Narziss wird von der vor-übergehenden visuellen Unverfügbarkeit seines Bildes gequält und gepeinigt. Er wird zum Spielball einer Oberfläche, die ihn sich selbst enthüllt und wieder verhüllt, um ihn schließlich und endlich wieder von neuem zu enthüllen. Narziss leidet nachdrücklich unter dieser Oszillation zwischen dem ›Sich-Sehen‹ und dem ›Sich-nicht-mehr-Sehen‹. Wir kommen hier an den pathetischsten Augenblick des Verhältnisses des Narziss zur Oberfläche, der von herzzerrei-ßenden Klagen und von einem beklagenswerten Verhalten durch-setzt ist:

Während er jammerte, streifte er ab das Gewand, undmit Händen,

Welche wie Marmor glänzten, zerschlug er die Brust sich,die nackte.

Da überzog von den Schlägen die Brust sich mit rötlicher Farbe,So wie die Äpfel es pflegen, die hier noch helle, dort rot sichFärben, oder den Beeren der Trauben, den bunten, vergleichbar,welche, noch unreif, in purpurner Farbe zu schimmern

beginnen.Als er sah in dem wiederum helle gewordenen Spiegel,Konnt’ er es nicht mehr ertragen: wie gelbliches Wachs in dem

leichtenFeuer zerschmilzt, wie reif in den Morgenstrahlen der SonneRasch vergeht, so zerrann der Knabe, vom Leide der LiebeSich verzehrend, allmählich verbrannt von verborgenem Feuer.

(Met. III, 480-490)

Der Wahn des Narziss besteht darin, weiterhin daran zu glauben, er könne sein Spiegelbild wie einen Anderen lieben, obwohl er seinen Irrtum bereits erkannt hat. Natürlich sieht er ein, dass er es nie um-armen können wird, aber er will dennoch damit fortfahren, sich an der Betrachtung seines Spiegelbilds zu erfreuen, das nichts anderes als die umgekehrte Form der ursprünglichen Gestalt ist, wenn es auf der Spiegeloberfläche erscheint.

Während also der haptische Trieb des Narziss endgültig unerfüllt bleibt, so setzt sich der skopische Trieb von seiner ersten Konfron-tation mit der Quelle an fort und zehrt ihn bis zum fatalen Ende hin

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auf: Die Mischung aus Weiß und Blutrot auf seinen Gesichtzügen hat ihn nunmehr verlassen, er hat seine Lebendigkeit und Kraft ver-loren, wie auch die Reize, die seine Augen verführten. Die Nymphe Echo sah ihn wieder und obwohl sie ihm gegenüber noch immer Ärger empfand, bereitete er ihr auch Kummer. Jedes Mal, wenn der Unglückliche ein »Oh weh!« ausstieß, gab sie es ihm zurück. Und wenn er sich mit seinen Händen auf die Arme geschlagen hatte, ver-doppelte sie den Klang der Schläge.

Narziss spricht darauf seine letzten Worte und wendet sich dabei ein letztes Mal an sein wieder klar gewordenes Bild: (»Ach! du Knabe, vergeblich geliebt! (Heu frustra dilecte puer!)« (Met. III, 500). Und diese Worte klangen in gleicher Zahl an diesem Ort wider.

Darauf entgleitet seinen Lippen ein »Lebewohl!« (Met. III, 501), das Echo verdoppelt. Erschöpft legt er den Kopf aufs grüne Gras und der Tod schließt diese Augen, die voller Bewunderung für die Schönheit ihres Herren waren (Lumina mors clausit domini miran-tiam formam). (Met. III, 503)

Narziss stirbt an Auszehrung, am Ufer liegend und »unglück-lich, nicht von sich selbst verschieden zu sein.«41

Aber sogar als er schließlich in die Hölle aufgenommen war, be-trachtete er sich noch in den Wassern des Styx. Im Reich des Hades ist er von nun an »ein Schatten, der einen Schatten betrachtet«.42 Seine Schwestern, die Naïaden43, beweinten ihn, schnitten sich ihre

41 Ovid, Fasti V, 226: »Infelix quod non alter et alter eras«. Vgl. Hadot, »Le mythe de Narcisse« (Anm. 15), S. 142; vgl. auch Frontisi-Ducroux/Vernant, Dans l’œil du miroir (Anm. 16), S. 214. Die Übersetzung die-ses Verses ist hier von Hadot übernommen; vgl. Hadot, »Le mythe de Narcisse«, S. 142; vgl. auch Frontisi-Ducroux/Vernant, Dans l’œil du miroir, Paris 1997, S. 214. Vgl. auch die Übersetzung von Robert Schil-ling in der Reihe »Belles Lettres«: »Toi qui te désolais de n’être pas à la fois ton image et toi-même«, in: Ovid, Fasti, V, 226, Bd. II, Buch IV-VI, hg., übers. und komm. v. Robert Schilling, Paris 1993, S. 49.

42 »[…] a shade gazing at a shade«. John Brenkman, »Narcissus in the text«, The Georgia Review 30 (1976), S. 293-327, hier: S. 325. Zit. nach Hardie, Ovid’s Poetic of Illusion (Anm. 12), S. 158.

43 Die Wassernymphen.

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Haare und legten sie auf das Grab ihres Bruders. Die Dryaden44 beweinten ihn ebenfalls und Echo verdoppelte ihr Weinen:

Und schon rüstete man die Verbrennung, die Bahre, geschwungne

Fackeln: da war der Körper verschwunden – man fand eine Krokus-

Farbene Blume, den Kelch von weißen Blättern umschlossen. (Met. III, 508-510)

Der Körper des Narziss verschwindet, und an seiner Stelle öffnet sich diese safrangelben Blume, deren Herz von weißen Blättern umgeben ist – eine Blume, die von da an seinen Namen trägt, die Narzisse. Wir haben es also ausschließlich ganz am Ende der Er-zählung mit dem Phänomen der Metamorphose zu tun. Sie trägt im Übrigen sehr viel eher die Züge eines Verschwindens als diejenigen einer Verwandlung. Schließlich versteht sich diese »Metamorphose« vor allem als aition, d. h. als ätiologische Erklärung, die uns über den Ursprung der Blume aufklärt. Man kann sie in dieser Hinsicht mit der Metamorphose Echos vergleichen, die ebenfalls mehr dar-auf zielt, uns die Plausibilität einer Stimme ohne Körper verständ-lich zu machen – ihre Knochen nehmen die Form eines Felsen an, aber ihre Stimme bleibt und ist für jedermann hörbar45 – als das Phänomen der Verwandlung eines Körpers in einen anderen.46

Es geht in der Tat in dieser Version des Narzissmythos sehr viel weniger um eine Metamorphose als um Tiresias’ Prophezeiung und ihre Wahrheit, da er in Folge seiner Bestrafung vor allen anderen den Wahnsinn des Narziss sowie die Art und Weise, wie er sich äußern würde, gesehen hatte.47 Ovid kommt übrigens auf den Seher und seine Weissagung hinsichtlich des Jünglings zurück. Er be-schließt nämlich den Mythos von Narziss mit folgenden Worten und leitet damit zu demjenigen von Pentheus über, der ihm unmit-telbar nachfolgt:

44 Die Waldnymphen.45 Ovid, Metamorphosen, III, 393-401. S. o., S. 46, Anm. 13.46 Vgl. Dörrie, »Echo und Narcissus« (Anm. 6), S. 63 und S. 71-72; vgl.

Hardie, Ovid’s Poetic of Illusion (Anm. 12), S. 154; vgl. auch Cancik, »Spiegel der Erkenntnis« (Anm. 5), S. 51.

47 Vgl. Dörrie, »Echo und Narcissus« (Anm. 6), S. 59-61.

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Diese Geschichte verbreitete weithin den Ruhm des Propheten,Wie er’s verdiente, sein Name war groß in den Städten Achaias.

(Met. III, 511-512)

So umschließt das Orakel Tiresias den Mythos von Narziss und zeigt sein ganzes Gewicht sowohl am Beginn als auch am Ende der Erzählung.

Nicolas Poussin, Echo und Narziss (1628-1630)

Der Maler Nicolas Poussin hat das Thema von Echo und Narziss mehrmals und in verschiedenen Varianten dargestellt – es scheint ihn sein Leben lang verfolgt zu haben.48 Die bekannteste Variante ist Echo und Narziss von 1628-1630, das im Louvre in Paris zu sehen ist (Abb. 2).49 Das Drama hat schon stattgefunden. Narziss liegt auf dem Boden am Rand der Quelle und bereits, bevor sein Körper verschwunden ist, blühen direkt bei seinen Haaren Narzis-sen. Ein Amor mit Fackel befindet sich ebenso hinter ihm wie Echo, die an einen Felsen – Gegenstand ihrer Verwandlung nach Ovid – gelehnt ist und eine gänzlich klagende Haltung einnimmt. Die Nymphe bildet zwar eine Einheit mit diesem Felsen, sie hat sich aber dennoch nicht zu Stein verwandelt und bleibt so noch voll-ständig erkennbar.

So bricht der Maler mit der Ovidschen Chronologie, indem er die körperliche Hülle Echos im Moment des Todes des Narziss oder kurz danach zur Schau stellt. Nach dieser Tradition dürfte Echo eigentlich nur noch ein Ton, eine Stimme ohne Körper sein, als Narziss dahinscheidet.

Vor allem aber lässt Poussin die Körper zweier Personen und ihrer jeweiligen ›Metamorphose‹ nebeneinander im Raum existie-

48 Vgl. Dora Panofsky, »Narcissus and Echo; Notes on Poussin’s Birth of Bacchus in the Fogg Museum of Art«, in: The Art Bulletin, Vol. 31, No. 2 (June 1949), S. 112-120; hier: S. 112.

49 Vgl. Christopher Wright, Poussin. Paintings: a catalogue raisonné, Lon don 2007, S. 88, Nr. 53; vgl. auch Ausst.kat. Nicolas Poussin, 1594 – 1665, [Galeries nationales du Grand Palais, 27. September 1994 – 2. Ja-nuar 1995], hg. v. Pierre Rosenberg (Gemälde) und v. Louis-Antoine Prat/Pierre Rosenberg (Zeichnungen), Paris 1994, S. 193-194, Nr° 38.

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ren: Echo und der Felsen, Narziss und die Blumen mit den weißen Kronen. Dabei kann man doch eigentlich, und sozusagen per defi-nitionem, die gleichzeitige Anwesenheit eines Körpers und dessen, in was er sich verwandelt, nur beobachten, wenn man sich auf den dynamischen Prozess der Metamorphose konzentriert. Vielleicht spielt sich aber genau dies in durchaus eigentümlicher Weise vor unseren Augen ab.

Die Stellung des Narziss und die Bildkomposition gehen, den Kommentatoren zufolge, auf einen Toten Christus von Paris Bor-done (Abb. 3) zurück. Das Werk besteht in der Repräsentation ei-nes männlichen Aktes: Der Leichnam Christi, der im Vordergrund des Bildes und in seiner ganzen Breite ausgestreckt liegt, bietet sich dem Betrachter in fast vollständiger Nacktheit dar und stellt ihm frontal seine leidende und hier sterbliche Menschlichkeit zur Schau. Es ist unbestreitbar, dass die liegende Figur (frz.: gisant) des Nar-ziss, der sich auf der Seite liegend ausbreitet, die Stellung von Bor-dones Christus einnimmt, dass es sich also hier um die Übertragung eines christlichen ikonographischen Typus auf ein antikes Thema

Abb. 2: Nicolas Poussin, Echo und Narziss, 1628-1630Öl auf Leinwand

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handelt.50 Aber was bereits bei Bordone ins Auge sticht, ist der Charakter der Bewegung, der aus den Gesten und Stellungen dieses zwar toten, aber zur baldigen Wiederauferstehung bestimmten Körpers hervorgeht. Wenn man diesen Körper in die Vertikale auf-richten würde, könnte er in der Tat den Körper eines gehenden, in Bewegung befindlichen Mannes darstellen. So scheint die Stellung dieses liegenden Körpers (gisant) die stehende Gestalt eines Kör-pers anzukündigen, der sich bald in seiner ruhmvollen Wiederauf-erstehung erheben wird.

Bei Poussin nun ist die Wiederaufnahme dieses Modells umso in-teressanter, als sie im Rahmen der Inszenierung einer Metamor-phose stattfindet. Der tote Körper ersteht hier nicht wieder auf, sondern verwandelt sich in einen anderen ›Körper‹. Narziss nimmt eine gewundene Haltung ein und scheint ebenfalls die horizontale Variante einer in Bewegung befindlichen Figur darzustellen. Um dies klar festzustellen, ist es ausreichend, das Bild um 90 Grad nach rechts zu drehen. Die Tatsache, dass der Körper von niemandem gehalten wird, wie auch die noch klareren und stärker kontrastie-renden Linien, die seine beiden Arme beschreiben, unterstreichen diesen dynamisierenden Effekt und bringen ihn, in der Vertikale be-trachtet, mit einer Figur in Verbindung, die man vor allem in der manieristischen Bildhauerei findet: die figura serpentinata (Abb. 4).

Eine solche Gestik im Rahmen eines Verwandlungsprozesses ist im Übrigen dazu angetan, die Repräsentation von Daphne in Ber-ninis Apoll und Daphne (1622-1625) ins Rampenlicht treten zu lassen, von der Poussin ebenfalls sicherlich etwas mitbekommen haben muss und die er durchaus mit eigenen Augen zu dieser Zeit

50 Vgl. Dora Panofsky, »Narcissus and Echo« (Anm. 48), S. 114; vgl. An-thony Blunt, Nicolas Poussin, [The A.W. Mellon lectures in the fine arts, 1958, National Gallery of Art, Washington, D.C.] New York 1967, S. 79; Ausst.kat. Nicolas Poussin, 1594 – 1665, von P. Rosenberg, S. 193-194, Nr.° 38 ; Christophe Henry, »Le roi, le peintre et le chef-d’œuvre. Le rôle de l’imitation des maîtres dans l’invention des images de Louis XIII«, in: Thomas W. Gaehtgens/Nicole Hochner (Hg.), L’image du roi, de François Ier à Louis XIV, [Akten der Tagung von Paris am Centre allemand d’histoire de l’art, Juni 2002], Paris 2006, S. 401-431, hier: S. 414-415.

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in Rom in der Sammlung von Scipione Borghese bewundern hätte können (Abb. 5).51

Bernini stellt hier genau den Augenblick dar, in dem die Meta-morphose stattfindet.52 Apoll ergreift Daphne, er berührt sie, aber

51 Ich möchte an dieser Stelle Dr. Valentin Nussbaum für seine Hinweise auf einen möglichen Bezug zwischen Poussins Narziss und Berninis Daphne danken. Im Übrigen evozieren auch mehrere weiblichen Figu-ren der beiden Versionen vom Raub der Sabinerinnen, die von Poussin in den 1630er Jahren angefertigt wurden [1634, Metropolitan Museum of Art, New York ; 1637, Musée du Louvre, Paris], mit ihren ausladen-den Bewegungen, ihren herumflatternden Haaren und ihrem Gesicht, das halb ihrem Angreifer zugewandt ist, die dynamische Figur von Berninis Daphne. Ebenso existieren zahlreiche Bezüge zum Raub einer Sabinerin von Giambologna [1581-1583, Florenz, Loggia dei Lanzi] und zu Dem Raub der Proserpina von Bernini selbst [1621-1622, Gal-leria Borghese, Rom]. Vgl. auch Daniel Arasse, »Rome, Poussin et les Sabines«, in: Max Seidel (Hg.), L’Europa e l’arte italiana, internationa-ler Kongress (Florenz, Kunsthistorisches Institut, 1997), Venedig 2000, S. 337-351, hier: S. 347 und Anm. 50, S. 351.

52 Daphnes Metamorphose wird von Ovid im ersten Buch der Metamor-phosen berichtet: Um sich an Apoll zu rächen, der ebenfalls Bogen-schütze ist und sich über ihn lustig gemacht hat, verschießt Cupido

Abb. 3: Paris Bordone, Der tote Christus mit zwei Engelnca. 1550, Öl auf Leinwand

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sieht nicht, was er berührt.53 Mit offenem Mund scheint er voller Erstaunen: Sein Tastsinn vermeldet ihm ein außergewöhnliches Er-eignis, ohne dass der Sehsinn ihm dies bestätigen könnte. Tatsäch-lich streifen vier Finger seiner Hand schon den Stamm des Lorbeer-baums und nicht mehr die Haut der wunderschönen Nymphe. Daphne, die zuvor vergeblich versucht hat, zu entfliehen, sieht, wie ihr Wunsch durch ihren Vater, den Flussgott Peneus, erhört wird und nimmt bereits die Form eines Lorbeerbaums an. Ihr Gesicht wird halb zurückgewendet dargestellt, in Folge der Dialektik von Sehen und Berührung, der die beiden Figuren verbindet. Die Baum-rinde hüllt die Nymphe in die gewaltsame Bewegung eines Wirbels (vortex) ein, wie eine Puppe, die sich des Schmetterlings wieder be-mächtigen wollte. Und schon verlängern sich ihre Finger zu Zwei-gen, ihre Füße verwurzeln sich und ihre Haare werden zu Laub. Es bleibt hinzuzufügen, dass Poussin zur selben Zeit oder kurz danach zum ersten Mal das Thema von Apoll und Daphné darstellt.54 Und

gleichzeitig zwei Pfeile: Einen goldenen Pfeil auf den Gott, was ihn toll vor Liebe für Daphne, die Tochter des Flussgottes Peneus werden lässt. Den anderen Pfeil aus Blei auf die Nymphe, was ihr nichts als Abscheu vor der Liebe eingibt. Eine Verfolgungsjagd findet statt, und als der Gott dabei ist, sie zu besiegen, fleht die erschöpfte Daphne ihren Vater an, ihr zur Hilfe zu kommen. In dem Moment, in dem Apoll sie er-reicht, wird sie in Lorbeer verwandelt (daphne auf Griechisch), mit dem sich der Gott von da an bekränzt. Vgl. Ovid, Metamorphosen, I, 452-567.

53 Andrea Bolland, »Desiderio and Diletto: Vision, Touch, and the Poetics of Bernini’s Apollo and Daphne«, in: The Art Bulletin, Vol. 82, No. 2 (June 2000), S. 309-330, hier: S. 312-313.

54 Nicolas Poussin, Apoll und Daphne, um 1625, München, Alte Pina-kothek. (Wright, S. 40, Nr. 14). Bezüglich des Gemäldes Apoll und Daphne aus dem Louvre (Wright S. 261, Nr. 204), das Poussin erst spät begonnen hat und das er wegen seines sich verschlechternden, den Tod (1665) ankündigenden Gesundheitszustands übrigens nicht be enden konnte, gilt es noch zu ergänzen, dass behauptet wurde, die Figur im Hintergrund, die dort totengleich liegt, sei Narziss. Aber der Großteil der Experten teilt die Meinung Erwin Panofskys, der hier die Figur des Hyazinth vermutet. Vgl. Ausst.kat. Nicolas Poussin,1594-1665, hg. v. P. Rosenberg, S. 520-523, Nr. 242; Vgl. Erwin Panofsky »Poussin’s Apollo and Daphne in the Louvre«, in: Bulletin de la société Poussin III

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Abb. 4: Giambologna, Merkur, 1564-1580Bronze

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auch der Körper Daphnes hat Teil an einer bewegten Gestik, wäh-rend Apoll ihr gegenübersteht und sie in seine Arme einschließt.

Wie dem auch sei, scheint unser gewundener Narziss, dessen Haar sich auch mit den gerade aufblühenden Narzissen vermengt, obwohl er tot ist, dennoch dynamische Elemente zu enthalten, die dazu geeignet sind, einen Verwandlungsprozess darzustellen. Wenn dies der Fall ist, kann man Poussin unterstellen, in der Folge Bordo-nes ein wahrhaftes visuelles Oxymoron vollbracht zu haben: eine bewegte Statue eines gisant; doch hier geschieht dies in der Gestalt des Narziss und mit dem Ziel, den Übergang des Körpers von einem Zustand zum anderen deutlich zu machen.

Es geht jedoch nicht um die Behauptung, dass Poussin sich hier mit einer ganz barocken Virtuosität schmückt, indem er einen be-stimmten Augenblick der Erzählung herausgreifen und ihn in einer Bildlichkeit wie bei Bernini ausdrücken würde oder sich auf einen Moment der Verblüffung konzentrieren bzw. uns auf ein close-up fixieren würde wie bei Caravaggio. Wenn es im Gegensatz dazu auch bei Poussin um einen Prozess geht, so um einen langsamen, gedehnten Prozess, der zum Nebeneinander zweier Körperzu-stände vor und nach ihrer Metamorphose führt.

Poussins Ziel ist es hier, die gesamte Geschichte von Narziss und Echo im Rahmen seines Bildes unterzubringen. Das Gemälde möchte dem Betrachter also eine klare und vollständige Lesart des Mythos von Echo und Narziss anbieten.

Ein solches Vorgehen lässt im Übrigen ein Verständnis der Malerei als Geschichtsdarstellung erkennen, das Poussin trefflich in dem Brief zusammenfasst, den er Paul Fréart am 28. April 1639 schreibt, als er ihm das Gemälde vom Manna zuschickt55: »Lesen Sie die Geschichte und das Bild, um herauszufinden, ob sie jeweils dem Gegenstand angemessen sind.«56

(Mai 1950), S. 27-41; vgl. auch Blunt, Nicolas Poussin (Anm. 50), S. 336.

55 Nicolas Poussin, Les Israélites recueillant la manne dans le désert, 1637-1639, Öl auf Leinwand, Louvre, Paris.

56 Orig.: »lisés l’istoire et le tableau, afin de cognoistre si chasque chose est appropriée au sujet«, in : Nicolas Poussin, Correspondance, hg. nach den Originalen von Charles Jouanny, Paris 1911, S. 20-22; hier: S. 21.

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Abb. 5: Gian Lorenzo Bernini, Apoll und Daphne, 1622-1625Marmor

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Man muss also die Geschichte lesen, dann das Bild und so fest-stellen, ob Letzteres die Geschichte in ihrer Gesamtheit als auch in ihren Teilen gut wiedergibt.57 So kann man besser verstehen, dass eine Auffassung der Malerei als Repräsentation, die sich die Ge-schichte vollständig und genau aneignen muss, in keinster Weise mit der Malerei von Caravaggio übereinstimmen konnte.

Eine solche Divergenz hat übrigens bei Poussin eine gewisse Feindseligkeit gegenüber den Werken seines Kollegen ausgelöst, der bereits einige Jahre vor Poussins eigener Ankunft in Rom (1624) verstarb. Als Beweis kann dafür dienen, was André Félibien (1625-1695) in seiner Vita Nicolas Poussins überliefert:

Herr Poussin, entgegnete ich, konnte Caravaggio überhaupt nicht ausstehen und sagte, er sei zur Welt gekommen, um die Malerei zu zerstören. Aber man darf sich über die Aversion, die er für ihn hatte, nicht wundern. Denn während Poussin in seinen Themen das Vornehme suchte, ließ sich Caravaggio von der Wahrheit des Natürlichen forttragen. Darin waren sie sehr un-terschiedlich.58

Vgl. auch Nicolas Poussin, Lettres et propos sur l’art, ausgewählt und hg. v. Anthony Blunt, Paris 1964, S. 35-36.

57 Louis Marin hebt die Hierarchie hervor, die in dieser Weisung enthal-ten ist: Vgl. Louis Marin, Détruire la peinture, Paris 1977, S. 41-42, hier: S. 41: »›Lisez d’abord l’histoire, ensuite le tableau‹. Allez de l’histoire que vous savez déjà avant même de regarder le tableau, parce que je vous ai donné son titre, son nom propre, son résumé: Les Israé-lites ramassant le Manne dans le désert, allez de l’histoire au tableau, à l’histoire en peinture. Lisez le second par la première. […]«.

58 Orig.: »M. Poussin, lui répartis-je, ne pouvait rien souffrir du Caravage et disait qu’il était venu au monde pour détruire la peinture. Mais il ne faut pas s’étonner de l’aversion qu’il avait pour lui. Car si le Poussin cherchait la noblesse dans ses sujets, le Caravage se laissait emporter à la vérité du naturel. Ainsi ils étaient bien opposés l’un à l’autre«, in: André Félibien, Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excel-lents peintres anciens et modernes, sechstes Gespräch, Bd. 3, repr. der Ausgabe Paris 1679, Genf, Minkoff Reprint, S. 205. Kurz zuvor ver-merkt Félibien in seinem Text bereits seine Kritik am Realismus Cara-vaggios, vgl. ebd., S. 203; vgl. auch Marin, Détruire la peinture (Anm. 57), S. 11-14 und S. 39-40.

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Wenn man schon bei den ersten Kommentatoren der Werke unse-rer beiden Maler eine starke Dissonanz in ihrem Verständnis des mimetischen Realismus – und in ihrem Umgang damit – erwähnt finden kann, so kann man auch das Bewusstsein eines grundlegen-den Unterschieds in ihrer Auffassung der Malerei feststellen. So vermerkt beispielsweise bereits 1642 der römische Maler und His-toriker Giovanni Baglione in seiner Vita di Michelagnolo da Cara-vaggio, Pittore, als er von den häufig geäußerten Kritiken an Cara-vaggio berichtet, den grundlegenden Angriff, den dieser angeblich gegen die traditionelle Geschichtsdarstellung – welche insbesondere auf die Anforderungen der historia bei Alberti zurückgeht – unternimmt:59 Durch seine Methode und seine ganz anders gelager-ten Interessen würde er die jungen Maler, die sich an ihm ein Bei-spiel nähmen, von dieser Tradition abbringen.60

So gewinnt in Anbetracht des Werks und der Behandlung des Themas durch Poussin dessen Vorwurf der ›Zerstörung der Male-rei‹ eine zusätzliche Dimension und nimmt neue Formen an: Es geht dabei auch um die Anprangerung der Zerstörung der Ge-schichtsdarstellung und somit auch des Historienbildes durch Caravaggio.

59 Die historia ist eines der wichtigsten Konzepte aus dem Traktat De Pictura, den Leon Battista Alberti 1435 während seines Aufenthalts in Florenz verfasst. Alberti veröffentlicht im Jahr darauf eine leicht ver-einfachte italienische Fassung unter dem Titel Della Pittura (1436), die er vor allem für Künstler bestimmt. Der Einfluss von De Pictura nimmt zwar ständig zu, beginnt aber erst nach seiner Drucklegung ab Mitte des 16. Jahrhunderts weitere Kreise zu ziehen und wird schließlich zu dem Traktat über die Malerei schlechthin.

60 Giovanni Baglione Romano, Vita di Michelagnolo da Caravaggio, Pit-tore, in: Giovanni Baglione Romano, Le vite de’ pittori scultori et archi-tetti: dal Pontificato di Gregorio XIII del 1572 in fino a’ tempi di Papa Urbano Ottavo nel 1642, ed. commentata a cura di Jacob Hess. 1, Ri-stampa anastatica, Città del Vaticano, Biblioteca apostolica vaticana, 1995, S. 136-139, hier: S. 138: »Anzi presso alcuni si stima, haver’esso rovinata la pittura; poiche molti giovani ad essempio di lui danno ad imitare una testa del naturale, e non studiando ne’ fondamenti del di-segno, e della profondità dell’arte, solamente del colorito appagansi; onde non sanno mettere due figure insieme, nè tessere historia veruna, per non comprendere la bontà di si nobil’arte«.

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Wenn man das Beispiel seines Narziss (Abb. 1) heranzieht, so dekonstruiert Caravaggio in der Tat die Erzählung und verblüfft uns augenblickshaft; er blockiert damit in gewisser Weise unseren Seh-Effekt, lässt uns im Dunkeln und stellt seine Figuren in ausge-prägten Hell-Dunkel-Gegensätzen dar. Er bevorzugt die Gewalt des Augenblicks, die Faszination, die eine distanzlose Konzentra-tion auf eine Figur hervorruft. Natürlich verbannt er nicht wirklich jeden geschichtsträchtigen Gehalt aus seinem Werk, aber sein Fo-kus liegt auf ganz anderen Dingen als bei Poussin.

So kann der Umgang mit dem Ovidschen Mythos von Narziss bei Poussin und Caravaggio insofern, als er wunderbar beide Vor-gehensweisen demonstriert, als eines der besten denkbaren Beispiele für ihr antagonistisches Verständnis von Malerei dienen.

Der Narziss von Caravaggio benutzt jedoch den Mythos im Sinn einer Darstellungsstrategie, die das ›Ich‹ mit dem ›Ich‹ über ein Me-dium verbindet. So erweist sich der Narziss-Mythos als paradigma-tisch für jede Reflexion, die ein Individuum betrifft, das mit seinem Bild im Spiegel konfrontiert wird. Der Mythos scheint auch dann unhintergehbar, wenn es darum geht, das Verhältnis eines Einzel-nen zum Blick seines Doppels zu betrachten, das nicht mehr nur im Spiegel, sondern auch auf einer anderen visuellen Grundlage darge-stellt wird, also z. B. auf der Leinwand eines Malers oder auf einer photographischen Oberfläche.

Abbildungsverzeichnis

1. Michelangelo Merisi da Caravaggio, Narziss, 1598-1599, Öl auf Leinwand, 110 × 92 cm, Rom, Galleria Nazionale d’Arte Antica in Palazzo Barberini.

2. Nicolas Poussin, Echo und Narziss, 1628-1630, Öl auf Leinwand, 74 × 100 cm, Paris, Musée du Louvre.

3. Paris Bordone, Der tote Christus mit zwei Engeln, ca. 1550, Öl auf Leinwand, 80 × 225 cm, Venedig, Palazzo Ducale.

4. Giambologna, Merkur, 1564-1580, Bronze, H: 180 cm, Florenz, Museo Nazionale del Bargello.

5. Gian Lorenzo Bernini, Apoll und Daphne, 1622-1625, Marmor, H: 243 cm, Rom, Galleria Borghese.