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Mit fr eundlicher Unterstützung von LMU excel l ent PerforminglnterMediality HENSCHEL Mediale Wechselwirkungen im experimentellen Theater der Gegenwart Herausgegeben von Jürgen Schläder und Franziska Weber
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Zur Analyse multimedialer Systeme

Feb 01, 2023

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Girma Kelboro
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Page 1: Zur Analyse multimedialer Systeme

Mit freundlicher Unterstützung von

LMU excel lent

PerforminglnterMediality

HENSCHEL

Mediale Wechselwirkungen im experimentellen Theater der Gegenwart

Herausgegeben von Jürgen Schläder und Franziska Weber

Page 2: Zur Analyse multimedialer Systeme

www.henschel-verlag .de

www.seemann-henschel .de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-89487-680-7

© 2010 by Herausgeber, den Autoren und dem Henschel Verlag in der Seemann

Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig

Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des

Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen.Über­

setzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Lektorat: Anja Herrling, Kristina Worthmann

Umschlaggestaltung: Grafik Scheffler, Berlin

Umschlagfotos: Alle Aufnahmen stammen aus Homo Ludens von Richard Siegal.

Fotos oben und Mitte© Hillary Goidell, unten© ONUK/ZKM

Satz und Gestaltung: Gisela Kirschberg, Berlin

Druck: Druckhaus Köthen

Bindung: Leipziger Kunst- und Verlagsbuchbinderei

Printed in Germany

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff

VORWORT 7

Barbara Mailos Tibaldi

VOM SPIELEN Zur Dynamisierung medialer Konstellationen in Richard Siegals Homo Ludens

10

Tobias Staab

MEDIALE INSZENIERUNGEN - INSZENIERUNGEN DES MEDIUMS Eine Untersuchung intermedialer Effekte entlang Jossi Wielers Inszenierung Rechnitz {Der Würgeengel} an den Münchner Kammerspielen

40

Jürgen Schläder

INTERMEDIALE WIRKLICHKEIT Komplexe Verschränkung von Fiktion und Virtualität in Katie Mitchells Al gran sole carico d'amore

84

Franziska Weber

REAL LIVE? Die multimediale theatrale Performance im Spannungsfeld von Unmittelbar­keitserfahrung und Gegenwartssimulation

130

Page 3: Zur Analyse multimedialer Systeme

Michael Wetzei

DIE GESTÖRTE WUNSCHMASCHINE Chris Cunninghams Videoclips als inframediale Schnittstelle zwischen Sound,

Image, Narration und Imagination

150

Barbara Zuber

PRIMA LA MUSICA, E PO! L'IMMAGINI? lntermedialitäten und Mediendifferenzen in Chaya Czernowins Kammeroper

Pnima ... ins Innere

174

Jens Schröter

ZUR ANALYSE MULTIMEDIALER SYSTEME

202

Jörg von Brincken

CHOOSE YOUR FETISH! Pornografie oder wollüstiger Austausch im Zeitalter seiner medialen

Reproduzierbarkeit

220

Katja Schneider

»THINK OF THEM AS WORDS« Bewegung und Text in Homo Ludens von Richard Siegal

256

DIE AUTORINNEN UND AUTOREN

280

ABBILDUNGSNACHWEIS

286

lntermedialität ist seit etwa 15 Jahren zum allgegenwärtigen und, wie es scheint,

allumfassenden Schlagwort geworden, das uns angeblich die postmoderne Ent­

grenzung der Künste ebenso zu strukturieren und zu verstehen hilft wie die Irri­

tationen und Rätsel unserer alltäglichen Realitätswahrnehmung. Die Literatur

zum Stichwort lntermedialität ist inzwischen unüberschaubar, die Ausdehnung

einschlägiger Forschung ist im Sinne des Wortes interdisziplinär und der Begriff

selber hat eine lnflationierung erfahren, die seine Prägnanz und Brauchbarkeit

inzwischen fraglich erscheinen lässt. Weshalb also noch eine Veröffentlichung

zur lntermedialität?

Zum einen, weil sich die Halbwertzeit der Forschungsergebnisse rasant ver­

kürzt . Was vor fünf Jahren noch als Desiderate von Fachwissenschaften formu­

liert wurde, ist heute oftmals schon Selbstverständlichkeit, insbesondere in der

theaterwissenschaftlichen Forschung . Die virulenten Fragen der Theaterwissen­

schaft an innovative Bühnenproduktionen werden seit langem eng verknüpft

mit den bereits geführten Mediendiskursen. Aber die nun im Theater, dem kom­

plexesten Hypermedium der gegenwärtigen Kunst, als Integrale fungierenden

Neuen Medien erfordern eine gewandelte theoretische Fundierung der Analyse

und der Beschreibung von ästhetischen Erfahrungen.

Zum andern erfordert die rasante Entwicklung digitaler Medien und ihres Ein­

satzes im Theater eine auf Detailstrukturen zielende Analyse der ästhetischen

Objekte, die sich mit tradierten Kategorien von Beschreibung und Interpretation

nicht mehr leisten lässt. Die Formulierung neuer Denkfiguren tut Not.

Zum dritten weist eine hoch komplexe Theateraufführung, die verschiedene

elektronisch analoge und digitale Medien integriert, eine unübersehbare Analo­

gie zu einem Netzwerk scheinbar disparater Bilder und Ereignisse aus verschie­

densten Realitäts- und Kunstbereichen auf, die in einer Aufführung dennoch

stru kturell miteinander verknüpft sind. Angesichts der somit prinzipiell schran-

-

Page 4: Zur Analyse multimedialer Systeme

Jens Schröter

c ZUR ANALYSE MULTIMEDIALER SYSTEME

....................... , ~~:::I~ Merkel: "Hilfe filr Grle'.

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KICKER TV H

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········· · ······ ··· ······ ··· ·· ········· ·

Page 5: Zur Analyse multimedialer Systeme

There might be badly designed computers, or interfaces

that are not ergonomic. But the idea of an abstract computer that,

so to say, falls in a humane dimension that will be

threatened by this eruption is absurd.

Bruno Latour1

s geht um die Frage, wie man komplexe intermediale Strukturen

analysieren kann. Da es jedoch nicht um einen weiteren Beitrag zur

Theorie der lntermedialität gehen soll, verweise ich auf die entspre­

chende Literatur.2 Die Fragestellung sei hier auf multimediale Sys­

teme eingeengt, also solche Strukturen, in denen verschiedene semiotische

Basismedien wie Schrift, gesprochene Sprache, Musik, Bild und Bewegtbild, Bewe­

gung im Raum, Gestik, Kleidung (in einer mindestens implizit regelhaften Form)

etc. zusammentreten . Die Frage, um die es hier geht, ist also genauer diejenige,

wie man dieses >Zusammentreten< eigentlich beschreiben kann. Dabei stellt sich

das Problem, dass man kaum umhin kommt, die multimediale Struktur erst in

ihre verschiedenen medialen Einzelteile zu zerlegen, diese dann zu beschreiben

und dann alles wieder zusammenzusetzen. Doch wie schon zur >multimedialen

Kommunikation< bemerkt wurde: Die »Gesamtinformation in der Wirkung [ist]

nicht identisch mit der Summe der kanalspezifischen lnformationen«.3 Außer­

dem muss man jede multimediale Darbietung, um sie in Ruhe analysieren zu

können, irgendwie speichern oder notieren, und d. h. zwangsläufig medial um ko­

dieren.• Aus beiden Einwänden kann man den Schluss ziehen, dass eine Analyse

multimedialer Systeme per se unmöglich ist. Man kann aber auch zu einem

anderen Ergebnis kommen: Wenn solche Zerlegungen (eben: Analysen) und

Umkodierungen unvermeidlich sind, kann man immer noch versuchen, sie

methodisch kontrolliert durchzuführen. Im Folgenden sollen einige Vorschläge

gemacht werden, wie eine solche Analyse angegangen werden könnte.

- Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme

Diese Analyse scheint angesichts der zahllosen multimedialen Oberflächen,

die uns umgeben, dringlich. Dennoch ist sie, zumindest im deutschen Sprach­

raum (abgesehen von eher vergessenen Versuchen in der Semiotik). wenig ent­

wickelt . Das mag einen Grund darin haben, dass in bestimmten Teilen der deut­

schen medienwissenschaftlichen Diskussion die Oberflächen digitaler Medien

keinen guten Stand hatten. Die »Illusion der Oberfläche« schien lediglich dem

Zweck zu dienen, »dem User trotz vollkommener Unkenntnis der Maschinen­

vorgänge die Möglichkeit einer Steuerung« zu »suggerieren« .5 Gegen diesen

>Computeranalphabetismus<• schien es allein zu helfen, den Usern das durch

die Oberflächen versperrte Wissen über die eigentlichen Prozesse in Computern

wiederzugeben . So schien »keine Alternative dazu« zu existieren, »grafische

Oberflächen aus dem Horizont der Icons wieder und wieder in den Bereich der

Schrift zurückzuholen. Das hieße, User zu Programmierern zu machen«.7 Es sei

betont, dass diese Krit ik an der schönen bunten Benutzeroberflächenwelt wich­

tig war und ist. Daraus folgt aber erstens nicht, dass man die Analyse der Ober­

flächen und ihrer Logiken vernachlässigen sollte. Selbst wenn die Oberflächen

nur täuschendes Blendwerk sein sollten, könnte man sie trotzdem danach

befragen, wie sie User täuschen und lenken, welche - in der Sprache Foucaults

ausgedrückt - Subjektpositionen oder - in der Sprache Althussers u. a. ausge­

drückt - ideologischen Effekte sie genau produzieren. Immerhin hat Harris

schon 1996 vorgeschlagen den Ideologien der Bildschirmschoner nachzuge­

hen.• Außerdem ist zweitens zu befürchten, dass - trotz aller Bemühungen um

End-User-Development• - aus den Usern wohl keine Programmierer (zumindest

im emphatischen Sinn Kittlers, Heidenreichs u. a.) mehr werden . Die meisten

User verbleiben bei ihren Oberflächen; also kann es nicht die Aufgabe sein, die­

sen Zustand ständig zu beklagen, sondern zu untersuchen, was die Oberflächen

mit den Usern und vielleicht auch umgekehrt: die User mit den Oberflächen

machen. Oder wie es Gilles Deleuze einmal in anderem Zusammenhang formu­

liert hat: »[H]inter dem Vorhang gibt es nichts zu sehen, aber darum ist es um

so wichtiger, jeweils den Vorhang zu beschreiben«.10 Die Erforschung der Ober­

flächen und ihrer Logiken ist u. a. schon von Helmut Schanze und Manfred Kam­

mer11 sowie Lev Manovich12 begonnen worden . Der vorliegende Beitrag versteht

sich als kleine Ergänzung dazu.

Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme

Page 6: Zur Analyse multimedialer Systeme

DIE MULTIMEDIALE OBERFLÄCHE:

VON DER DESKRIPTION ZUR DE-SKRIPTION

Friedrich Kittler wies schon 1986 darauf hin, dass es im Feld der Computer »Ton

und Bild, Stimme und Text« nur noch, aber immerhin auch noch als »Oberflä­

,cheneffekt« gibt-" In der alltäglichen Praxis mit Computern ist zunächst die

Ebene der Software dominant, näherhin die Ebene der Displays und anderer

Interfaces, durch die wir und mit denen wir die verschiedenen, wie ich sagen

möchte, medialen Elemente verwalten und arrangieren. Mit Sampling, Simula ­

tion und manueller Erstellung - wie bei Text- oder Paintprogrammen - eignen

sich die universellen Rechenmaschinen annähernd die Formen bisheriger Medien

an. Die Rede vom >U niversalmedium Computer<, wie die von der >Konvergenz der

Medien im Digitalen<, bleiben aber zu ungenau. So wurde bislang kaum unter­

sucht, wie die verfügbaren medialen Elemente in einem spezifischen Zusam­

menhang kombiniert sind und welche Effekte das erzeugt.14 Beginnen wir mit

der Beschreibung eines ganz alltäglichen Beispiels (Abb. 1: Website Spiegel

Online) :

So sieht man bei Spiegel Online Headlines, die auf einen Artikel verweisen .

Rechts findet sich eine Spalte, in der auf andere Texte und Bilder hingewiesen

wird. Ein Klick dort, und man verlässt die gewählte Seite auf dem Weg zu einer

neuen, vergleichbar angeordneten Seite - im Rahmen der Domain spiegel.de.

Noch weiter rechts ist eine weitere Spalte, in der kurze Animationen mit oft auf­

fällig schönen Menschen und gelegentlich penetranten Begleitgeräuschen ver­

suchen, die Aufmerksamkeit der Nutzer/Nutzerinnen auf diverse Waren und

Dienstleistungen außerhalb von spiegel.de zu lenken. Es finden sich Hinweise

darauf, wo verschiedene mediale Elemente abgerufen werden können (z. B.

kleine Videos, Fotostrecken, manchmal auch Audiofiles). Die schriftlich gegebene

Information kann also auf Wunsch durch audiovisuelles Material veranschau­

licht und ergänzt werden. Die zusätzlichen Elemente werden zumeist in kleinen

gesonderten Fenstern präsentiert. Die Logik des Fensters, des Windows ist eine

spezifische Eigenart digitaler multimedialer Systeme, insofern Fenster verschie­

dene mediale Elemente neben- oder übereinander zu präsentieren erlauben und

zugleich klar definierte Rahmungen ziehen. Bei geöffneten Browsern findet sich

in der Regel oben eine Leiste mit den Metafunktionen des Browsers, durch die

wir z.B. wiederum zu ganz anderen Seiten wechseln können . Die Metafunktio-

- Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme

VIDEO u

Mordp~IQS: Kelts "ngel vorGc<icht

AngelaMerkcl:'Hlffefür Gtlechcnlandnurim Notfall"

Kolumbien: NeunTot<!bcl l B<>mbenan~hl1g

Top·N„ws : Da~WichtiQ$ledcsTa9tis

KICKER TV u

kickcr.tv: NcucrodcrAdlcr • Kn~n fordert neuen Saycrn-Kccpcr

klcker.tv:Ncvr.;25 .0J.2010

kiäff.tv: FCA.ob~nMünchen

•lleVidcos H

Page 7: Zur Analyse multimedialer Systeme

nen erlauben uns aber auch bestimmte, aber eben nur bestimmte Eingriffsmög­

lichkeiten in die Darstellung. Im Ganzen haben wir hier also ein, wie man

zunächst sagen könnte, strukturiertes Feld diverser medialer Elemente vorlie­

gen. Ted Nelsons Begriff >Hypermedia< von 1965 ist heute immer noch hilfreich,

insofern er die nicht-sequenzielle Anordnung der verschiedenen Elemente und

ihre wechselseitige Vernetzung unterstreicht.

Doch eine Website ist nicht einfach eine statische Struktur. Die Nutzer/Nutzer­

.innen sind aufgefordert eine selbst notwendig lineare Selektionsbewegung (die

vielbeschworene Interaktivität) durchzuführen. Bis zum Abbruch des Web­

besuchs gilt es Elemente auszuwählen, sie zu rezipieren , durch Anklicken neue

Fenster zu öffnen oder in neue multimediale Umgebungen, neue Websites vor­

zudringen. Entlang dieser, manchmal >navigierend< genannten, Bewegung ver­

kettet der Nutzer/die Nutzerin also bereitgestellte Elemente zu einer, wie ich

vorschlage, multimedialen Performanzkette, entlang derer verschieden kodierte

und verschiedene Sinne ansprechende Informationen präsentiert werd en.15

Diese Beschreibungen gelten im Prinzip nicht nur für On-Line-Multimedia, son­

dern auch für Off-Line-Multimedia.

Die Untersuchung spezifisch strukturierter Felder multimedialer Elemente ist

deswegen so interessant, weil sich an ihnen der Begriff des multimedialen Sys­

tems wohl am besten bestimmen lässt. Eine Multimedia-CD oder DVD oder eine

spezifische Website versuchen die medialen Elemente eben zu einer, wie es in

einer populären Definition von System heißt, »aufgaben-, sinn- oder zweckge­

bundenen Einheit« zu verbinden, die gegenüber anderen Websites, anderen Prä­

sentationen, sozusagen gegenüber ihrer »Umwelt« mehr oder weniger abge­

grenzt ist.1• Durch die Einbindung der Nutzer/Nutzerinnen wird das System

dynamisiert. Die Struktur der Links im WWW zeigt einerseits, dass ein al lzu

geschlossener Systembegriff zur Beschreibung für Online-Multimedia wohl

nicht tauglich ist; andererseits kann man z.B. die Hinweise von Seitenbetreibern,

dass sie sich von den Inhalten der verlinkten Seiten ggf. distanzieren, aber auch

das umgreifende Rahmendesign einer Domain wie spiegel.de durchaus als Mar­

kierung einer Systemgrenze auffassen.

A. Die Forschungsaufgabe besteht also zum einen in der sorgfältigen formalen

und vergleichenden Deskription (im Sinne von Beschreibung) gegebener multi ­

medialer Systeme. Die Beschreibung gilt dem, wie die Informatiker Bormann und

Bormann schon 1991 in einem Sonderheft des Informatik-Spektrums zu multi ­

medialen Systemen schrieben, »zeitlichen Layout«." Fragen könnten sein: Wel-

- Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme

ehe medialen Elemente lassen welche informationellen oder aisthetischen

Lücken, die andere Elemente füllen? Oder treten z.B. Videoelemente in einem

Fenster in eine Spannung etwa zu Soundelementen eines anderen Fensters?

Oder haben manche Soundelemente vor allem die Funktion Aufmerksamkeit auf

Werbung oder Metafunktionen des entsprechenden Systems zu lenken? Was

sind die Zeichen, die welche Entscheidungen der Nutzer/Nutzerinnen fordern?

Hier stellt sich die Frage, wie eine solche Analyse genau durchzuführen wäre.

Zur Deskription müsste man das »ze itliche Layout« in sequenzielle Querschnitte

zerlegen . (Abb. 2)

channel 1

channel 2

channel 3

---------

------- ------ -----

Abb. 2, Mögliches Muster für eine Tabelle zur Notation multimedialer Strukturen1•

Zu jedem Zeitpunkt n, n+l, n+2 etc. wären die konkreten Konstellationen der

medialen Elemente, die möglichen und die realen Performanzketten zu beschrei­

ben. Das ist nicht nur sehr aufwändig , sondern setzt vor allem eine Notations­

technik voraus, die die Abläufe nachvollziehbar macht. Im vorliegenden Text

wurde schlicht ein Screenshot der Beispiel-Website ein montiert- das ist für eine

detaillierte Analyse kaum genügend. Gerade für die Analyse multimedialer

Oberflächen digitaler Medien könnte man sich selbst computergestützte Ver­

fahren vorstellen . In der Graduate School Locating Media/Situierte Medien in Sie­

gen gibt es ein Dissertationsprojekt von Pablo Abend , der medienethnographisch

ku lturelle Praktiken mit Google Earth untersucht. Dabei wird eine Software, Vide­

ana, eingesetzt, mit der er die genauen lnteraktionsmuster der Nutzer erstens

aufzeichnen und zweitens auswerten kann. 19 Eine ähnliche Software-Unterstüt­

zung wäre auch für eine Analyse anderer multimedialer Systeme vorstellbar.

B. Zum anderen muss die Deskription zur De-Skription fortentwickelt werden.

De-Skription ist ein Begriff, den die französische Techniksoziologin Madeleine

Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme -

Page 8: Zur Analyse multimedialer Systeme

Akrich vorgeschlagen hat. Sie und Bruno Latour definieren: »Die De-Skription,

gewöhnlich durch einen Analytiker, ist die der ln-Skription durch den Ingenieur,

Erfinder, Hersteller oder Designer entgegengesetzte Bewegung« .2° Soll heißen:

Die Analytiker entschlüsseln das gegebene Artefakt, um das in ihm verborgene

Handlungs- und Wahrnehmungsprogramm wieder ans Licht zu bringen. Akrich

s.chreibt andernorts, dass »technische Objekte wie ein Filmskript den Rahmen

einer Handlung (definieren] zusammen mit den Akteuren und dem Raum, in

dem sie agieren sollen«-"

DAS SKRIPT UND DIE

IMPLIZITEN NUTZER/NUTZERINNEN

Um das zu verdeutlichen möchte ich einen Blick auf ein exemplarisches Pro­

gramm werfen, mit dem die von Akrich und Latour genannten »Ingen ieure, Erfin­

der, Hersteller oder Designer« (vor allem letztere) eben multimediale Systeme

herstellen. Es geht um ein Beispiel aus dem Bereich der >multimedialen Autoren­

systeme<. Zunächst ist an den Autorensystemen interessant, dass schon in ihrem

Namen eine Entität auftaucht, die in den medieneuphorischen Diskursen der vor

allem frühen 1990er Jahre totgesagt wurde, nämlich der >Autor<. Norbert Bolz

schrieb 1994 im Vorwort der legendären Anthologie Computer als Medium:

»Hypermedia brauchen keinen Autor, und Datenprocessing macht Genie schlicht

überflüssig«.22 Ich will hier keinem emphatischen Begriff des Autors - schon gar

nicht im Sinne einer einzelnen Person - das Wort reden. Aber Computer und ihre

Software wachsen trotz des schönen Firmennamens Apple nicht an Bäumen, sie

sind von kollektiven Enunziatoren (einer Firma, einem Entwicklerteam, Marktfor­

schungsabteilungen etc.) in oft konfliktiver und heterogener Weise erzeugt und

inskribiert worden.23

Akrichs Rekurs auf das Filmskript als Metapher für die, das technologische

Produkt strukturierenden, Prozesse und ihre Implikationen wird besonders an

einem, jedenfalls bis vor kurzen in der multimedialen Praxis viel benutzten, Auto­

rensystem nachvollziehbar: Macromedia Director (inzwischen zu Adobe gehörig

und daher Adobe Director genannt - ich beziehe mich hier auf eine ältere Version

und spreche im Folgenden nur kurz von Director).24 Der Regisseur, der Director,

war anders als die Figur des Schriftstellers, des Malers oder des Fotografen im-

Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme

~--·-·--ii • , •JI UIJW }i.e „ • • :JF.l~ O u, ."'A t. · ·~!:.- . ,_ . - -""" -'"'" IT--. ~

() _„ A / 0 0 ~

e o

mer schon ein Typ von Au­

tor, der in Zusammenarbeit

mit vielen anderen eine

Vielfalt multimedialer Ele­

mente arrangiert. Und die­

se Analogie zum Theater

oder Kino setzt sich konse­

quent fort (es gibt aber

auch andere Autorensyste­

me, die mit anderen Leitme­

taphern arbeiten). (Abb. 3)

e o D, -t:::IT' -'O=J

Die Hauptfenster in Di­

rector heißen Bühne, Dar­

steller bzw. Besetzung und

- Madeleine Akrich lässt

grüßen - Drehbuch. Die

Grenze der Bühne ist die

Grenze eines jeweils spezifi­

schen multimedialen Sys­

t ems. Darin beerbt sie auch

formal die, wie es Andre Ba­

zin einmal bestimmt hatte,

zentrifugalen Potenziale der

Grenze des Filmbildes oder

"'"' .J..J

-'/J - - !II"- "<-r-r--.ro;-„~

Abb. 3, Oberfläche von Director

des Theaterraums.25 Denn diese multimediale Bühne kennt ein Off, aus dem ir­

gendwelche Dinge erscheinen oder in das sie verschwinden können . Auf dieser

Bühne ordnet der Benutzer/die Benutzerin, der Regisseur/die Regisseurin, als

Sprites die diversen medialen Elemente an, die Darsteller heißen. Darsteller kön­

nen Bilder, Töne, Filme, aber auch ausführbarer Code se in. Im Drehbuch wird an­

gegeben, wann und wo welcher Darsteller welche Aktion durchführt. Die Grenze

der Bühne und der Ablaufplan des Drehbuchs ordnen die medialen Elemente zu

einer »aufgaben-, sinn- oder zweckgebundenen Einheit«, mithin einem multi­

medialen System.

Verschiedene mediale Elemente bringen nun - abhängig von historisch

gewachsenen Konventionen -, wie man sagen könnte, mediale Konnotationen

mit sich. So kann z.B. ein gesampeltes Foto oder Video gerade dadurch, dass auch

die Verrauschungen, Körnungen, die Verwacklungen und Störungen mit über-

Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme -

Page 9: Zur Analyse multimedialer Systeme

nommen werden, einen zusätzlichen Authentizitätseffekt erzeugen.'6 Simulierte

Animationen oder Bilder können Wahrheitseffekte evozieren - gegen alle Rheto­

riken des Referenzverlusts digitaler Bilder vom Beginn der 1990er Jahre-" Gesam­

pelte Videobilder können sagen >So war es<, simulierte Grafiken können sagen

>So muss es gewesen sein<. Kompliziert wird die Lage dadurch, dass diese ver­

schiedenen Konnotationen im Zusammenhang eines multimedialen Systems

miteinander bzw. mit Texten, Tönen etc. interferieren und auf diese Weise ver-

. schoben werden. Z.B. können in anderen Zusammenhängen Computeranimati­

onen durch einen spezifischen Futurismus-Look >tech nischen Fortschritt< konno­

tieren.

Die Metaphorik von Bühne, Skript und Darstellern führt uns logisch zur mul­

timedialen Performanzkette zurück. Die späteren realen Nutzer/Nutzerinnen

bekommen vom Skript selbst einen Platz zugewiesen, nämlich immer dann,

wenn >interaktiv< Entscheidungen getroffen werden müssen. In der zu Director

gehörenden Skriptsprache Lingo gibt es etwa Events wie mouseDown oder

mouseUp, die Reaktionen auf die Benutzung der Maus durch die Nutzer/Nutze­

rinnen festlegen. Diese werden selbst zu Darstellern/Darstellerinnen unter

anderen.

Ein multimediales System erzeugt in diesem Sinne implizite Nutzer/Nutzerin­

nen - das ist ein weiterer Begriff, den ich, auch in Anlehnung an Jeanette Hof­

mann,'• vorschlagen möchte. Nochmal Akrich : »Designer definieren[ ... ] Akteure

mit besonderem Geschmack, besonderen Kompetenzen, Motiven, Zielen, politi­

schen Vorurteilen und vielem anderen«.'9 In diesem Sinne gibt es eine Politi k der

Artefakte. 30 Eine solche Analyse sollte sich aber nicht bloß auf die vorfindlichen

Oberflächen beschränken, es wäre vielmehr angezeigt, sie in einen weiteren

Kreis von Materialien einzubetten. So könnte man erstens die reichhaltige Litera­

tur zum Interface Design bzw. zur Software-Ergonomie heranziehen, um etwa

über ein spezifisches Produkt hinaus genaueren Aufschluss über die zu einer

gegebenen Zeit und/oder in einem gegebenen Kontext implizierten Nutzerbil­

der zu bekommen. Zweitens dürften auch Paratexte wie Gebrauchsanweisun­

gen oder Werbematerial zu je spezifischen multimedialen Systemen darüber

Aufschluss geben. Die spezifisch strukturierten Oberflächen mit Optionen für

User-Interaktionen räumen in Zusammenhang mit paratextuellem Wissen

potenziellen realen Nutzern/Nutzerinnen spezifische Funktionen ein.

Um dies nur kurz an einem Beispiel - das nicht mit Director erstellt sein

muss - zu erläutern: Nehmen wir das ganz normale Windows-Desktop - ein

Schreibtisch mit Aktenordnern, Papierkörben und verschiedenen Arten von

- Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme

Dokumenten (die medialen Elemente sind ja auch auf der Ebene der Dateifor­

mate ausdifferenziert). Ein Büro-Setting. Um 1967 führte Douglas Engelbart

quasi arbeitswissenschaftliche Studien durch, um ein besonders >effektives< Ein­

gabegerät für multimediale Oberflächen zu finden, heute bekannt als >Maus<."

So kann man zugespitzt sagen, dass eine heutige Windows-Oberfläche auf einem

Rechner mit Maus versucht, Nutzer/Nutzerinnen als effektive Büroarbeiter/

Büroarbeiterinnen zu positionieren.

Drittens schließlich wären neuere Ansätze im Bereich der Medien- oder Netz­

kunst, deren Spezifik Tillmann Baumgärtel u. a. gerade in ihrer Multimedialität

sieht, evtl. ein interessantes ergänzendes Material, insofern dort ein verfremden­

der und reflexiver Umgang mit den Konventionen der Oberflächengestaltung

vorherrscht.

Indes drängt sich, da sich Nutzer/Nutzerinnen keineswegs an das Skript hal­

ten müssen, sofort die Frage auf: Gibt es eine Differenz zwischen impliziten Nut­

zern/Nutzerinnen und realen multimedialen Performanzketten? Der Büro­

schreibtisch als Metapher der Computeroberfläche mag in anderen kulturellen

Kontexten völlig unverständlich sein. Akrich schreibt: Wir »müssen [„.] kontinu­

ierlich zwischen dem Designer und dem Benutzer, zwischen dem vom Designer

projizierten Benutzer und dem wirklichen Benutzer, zwischen der im Objekt

inskribierten Welt und der durch deren Verschiebung beschriebenen Welt hin- und

zurückgehen«. 32 Die Erforschung der, wie Latour und Akrich auch formulieren,

»Anti-Programme« 33 realer Nutzer/Nutzerinnen wirft Fragen nach empirischen

und ethnographischen Forschungsstrategien auf. Institutionen, die Interfaces

entwicke ln, arbeiten oft ethnographisch, um zu beobachten, ob die entwickelten

Oberflächen von den Nutzern/Nutzerinnen auch verstanden werden _,.

Jedoch darf man die Freiheit der realen Nutzer/Nutzerinnen, gegen die Skripte

zu handeln, nicht überschätzen. Denn erstens lassen die vom jeweiligen System

bereitgestellten Plätze der Interaktion wenig Spielraum zum Andershandeln. Es

ist nicht so einfach, von der impliziten Nutzerrolle abzuweichen, hat man sich

einmal auf sie eingelassen. Sicher, man könnte versuchen eine Website zu

hacken. Gegen das Skript eines digitalen, multimedialen Systems zu handeln,

hieße es zu ändern - d. h. doch wieder zum Programmierer zu werden. Doch

selbst wenn das technisch gelänge, bleibt es zweitens eine Straftat. Eine Offline­

Multimedia-DVD gegen den Kopierschutz mit einem buchstäblichen Anti-Pro­

gramm wie DVD Shrink zu kopieren ist eine Straftat. Auch ein Kopierschutz ist ein

Skript, welches uns als Konsumenten warenförmiger Originalsoftware definiert

- und die so gerne als Spezifikum digitaler Medien herausgestellte >verlustfreie

Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme -

Page 10: Zur Analyse multimedialer Systeme

Kopie< zum Verbrechen macht.35 (Abb. 4: Raubkopierer sind Verbrecher) In zahl­

losen Clips in Fernsehen und Kino oder in Print-Anzeigen wird uns das jeden Tag

von neuem erzählt - genau das sind Beispiele für Paratexte zu multimedialen

Systemen. Eine veritable diskursive Polizei im Sinne Michel Foucaults36 sorgt,

wenn es denn sein muss, mit drastischen Geld- und Haftstrafen dafür, dass die

realen Nutzer/Nutzerinnen sich den impliziten anschmiegen.

DAS GE-SCHICHTE:

SEDIMENTATION UND DISPERSION

Nun geht es um die Geschichtlichkeit multimedialer Systeme. Nur durch die

Frage, warum diese Systeme so sind wie sie sind, kann Distanz geschaffen wer­

den. Das Wort Geschichte kann man - ganz analog zur De-Skription - auch als

das Ge-Schichte lesen, als Ablagerung von Schichten. Wir sinken jetzt gewisser­

maßen durch die multimediale Oberfläche in die dunkle Tiefe der Hardware.

Historisch nahm mit der Entwicklung entsprechender Peripherien die Nut­

zung der Rechenmaschine zum Sampeln und/oder zum Simulieren anderer

Medien zu. Im Prozess der Entstörung existierender Medien begannen die - an

sich selbst ja weitgehend unspezifischen, da programmierbaren 37 - Computer

mediale Elemente zu verarbeiten. Dieser Prozess wurde im Kalten Krieg oft

getrieben von militärischen Interessen oder Prestigeprojekten wie der Raum­

fahrt. Ziel war z.B. 1964 die Qualität digitalisierter Bilddaten der Ranger 7-Son­

den in Vorbereitung der Mondlandung zu verbessern. 38 1968 bezeichnen J. C. R.

Licklider und Robert Taylor den digitalen Computer dann explizit als »plastic or

moldable medium that can be modeled«.39 In der Morgendämmerung der Logik

der Windows 1977 beschreibt Alan Kay in einem Paper mit Adele Goldberg einen

Computer, der genug »power« besitzt »to outrace your senses of sight and hea­

ring, enough capacity to store for later retrieval thousands of page-equivalents

of reference materials, poems, letters, recipes, records, drawings, animations,

musical scores, waveforms, dynamic simulations and anything eise you would

like to remember and change«. Zu Beginn ihres Papiers nennen sie den Compu­

ter nicht mehr »medium«, sondern »metamedium«.40

Was ich hier unterstreichen will: Dieses historische Meta-Medium-Werden

bleibt der universellen Rechenmaschine keineswegs äußerlich: Jede Software

Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme -

Page 11: Zur Analyse multimedialer Systeme

- als logische Struktur - kann als Verschaltung logischer Gatter zu Hardware

werden, wie Claude Shannon im Prinzip schon 1938 gezeigt hat.41 Ein Beispiel ist

die heute vor allem von der Computerspielindustrie geförderte Entwicklung von

Grafikchips, in denen Algorithmen für die Generierung von Bildern in Hardware

inskribiert (im Sinne Akrichs und Latours) und so beschleunigt werden. Die

Geschichte der Oberflächen kann sich in der Struktur des Technischen als das

Ge-Schichte selber ablagern. Dabei überlagern sich verschiedene Inskriptionen

it;i keineswegs konfliktfreier Weise und mit durchaus unerwarteten und von nie­

mandem geplanten Ergebnissen. Diese Prozesse seien multimediale Sedimenta­

tion genannt.

Da bestimmte mediale Verfahren selbst zu Hardware, zu special purpose chips

werden können, kann man sich auch vorstellen, dass eine Reihe spezieller Klein­

computer mit spezifischen mono- oder multi-medialen Funktionen erzeugt wer­

den. Beispiele sind Legion: iPods, digitale Handys, aber streng genommen sind

schon CD- oder DVD-Player solche Geräte. Die programmierbare digitale Techno­

logie kann sich - oft marktgetrieben - in verschiedene digitale >Neue Medien<

mit verschiedenen Standards ausdifferenzieren. Aus der Sedimentation kann

historisch eine multimediale Dispersion hervorgehen.

Die de-skriptive Analyse sollte mithin nicht bei den multimedialen Oberflä­

chen der heute handelsüblichen PCs oder MACs stehenbleiben. Sie müsste auch

versuchen die Black Box spezialisierter Hardware auf die in ihnen verborgenen

Skripts und impliziten Nutzer/Nutzerinnen abzuklopfen. Trotz des schönen Com­

puterfirmennamens Sun gilt, was Bruno Latour zur Computertechnologie sagt:

»lt does not come from another planet; it is highly socialized and connected with

a lang history«.42

FAZIT

Digitale multimediale Systeme, die, wenn man so will, Computerwirklichkeit

heute, mit den Begriffen der Debatte der 1990er Jahre zu beschreiben - also z.B.

Universalmedium, Autorlosigkeit, >digitale Revolution<, verlustfreie Kopie etc. -,

macht meines Erachtens wenig Sinn. Es seien stattdessen - in partieller Anleh­

nung an Madeleine Akrich - die Begriffe mediale Elemente, mediale Konnotatio­

nen, multimediale Performanzkette, implizite vs. reale Nutzer/ Nutzerinnen,

Anti-Programm, Sedimentation und Dispersion vorgeschlagen. Mit diesen Begrif-

Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme

fen und dem Dreischritt Deskription - De-Skription - De-Sedimentierung wird

meines Erachtens die, auch kritische, Analyse real existierender multimedialer

Systeme und der mit ihnen verbundenen Praktiken möglich.43 Wie die wenigen

Beispiele des arbeitswissenschaftlichen Wissens in der Maus, der Bürologik in

Windows oder des Verbots der verlustfreien Kopie durch die Diskurspolizei zei­

gen: Die kontingente, historisch sedimentierte Gestalt heutiger Multimedia­

Technologien und ihre Implikationen wieder aus der Black Box ans Licht zu holen,

ist angesichts der Bedeutung, die sie jeden Tag für die meisten von uns haben,

eine zentrale Aufgabe. So lernen wir, dass die alltägliche multimediale Praxis

auch anders sein könnte.

Am Ende ist der Aufsatz dabei doch wieder zur Hardware zurückgekehrt und

zu der These, dass man ihre >Implikationen wieder aus der Black Box ans Licht<

holen müsse. Das scheint nicht viel anders zu klingen als die anfänglich re lati­

vierte Perspektive, man müsse die User wieder zu Programmierern machen -

anders aber ist, dass sich die Blickrichtung umgekehrt hat. Man beginnt nicht

mit der Hardware, um dann womöglich zu konstatieren, dass es keine Software

gibt,•• sondern man verfolgt, welche »Rhetorik der Digitalmedien« 45 über die

Oberflächen eventuell in die Tiefe der Hardware sinkt.

ANMERKUNGEN

1 Bruno Latour, There is no Information, OnlyTransformation, in: Geert Lovink, Uncanny Net­

works. Dialogues with Virtual lntelligentsia, Cambridge/MA 2004, S. 154-160, hier 5. 155.

2 Vgl. Jens Schröter, lntermedialität. Facetten und Probleme eines aktuel len medienwissen­

schaftlichen Begriffs, in: montage/av, Jg. 7, Nr. 2, 1998, 5. 129-154, und lrina Rajewsky,

lntermedia lität, Tübingen 2002.

Ernest W. B. Hess-Lüttich/Dagmar Schmauks, Multimediale Kommunikation, in: Roland

Posner/Klaus Robering/Thomas A. Sebeok (Hg.), A Handbook on the Sign-Theoretic Found­

ations of Nature and Culture /Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von

Natur und Kultur, Berlin und New York 2004, 5. 3487 -3503, hier 5. 3490.

4 Vg l. Ernest W. B./Hess-Lüttich (Hg.), Multimedial Communication, Vol. 1: Semiotic Problems

of its Notation, Tübingen 1982.

Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme _,

Page 12: Zur Analyse multimedialer Systeme

S Stefan Heiden reich, Icons. Bilder für User und Idioten, in: Birgit Richard/Robert Klanten/

Stefan Heidenreich (Hg.), Icons, Berlin 1998, S. 82-86, hier S. 84 f.

6 Vg l. Friedrich Kittler, Computeranalphabetismus, in: ders./Dirk Matejovski (Hg.), Literatur

im Informationszeita lter, Frankfurt am Main und New York 1996, S. 237-2Sl.

7 Heidenreich, Icons (siehe Anm. S), S. 86.

8 Vgl. Daniel Harris, Computer-Ästhetik, in: Texte zur Kunst, 6. Jg, Nr. 21, 1996, S. 113-120.

9 Vgl. Hen ry Lieberman et al. (Hg.), End-User Development, Dordrecht 2006.

10 Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt am Main 1992, S. 78.

11 Vgl. Helmut Schanze/Manfred Kammer (Hg.), Interaktive Medien und ihre Nutzer, Band 2:

Zugangsoberflächen: Türen zum Netz, Baden-Baden 1998.

12 Vgl. Lev Manovich, The Language of New Media, Cambridge/MA und London 2001, S. 62-115.

13 Friedrich Kittler, Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 7.

14 Timo Schemer-Reinhardt arbeitet derzeit in Siegen an einer Dissertation, in der die ein­

heitsstiftende Funktion der Interfaces gegenüber den medialen Elementen detailliert untersucht wird.

15 Natürlich könnten bei dieser Verkettung auch nur Elemente einer medialen Herku nft, z.B.

Texte verbunden werden. Ein so lcher Fall entspräche der Nutzung eines Hypertexts, ein

Feld zu dem es bereits eine umfangreiche Forschung gibt. Das Konzept einer Kette oder

eines Pfades, der aus der sequenziellen Verknüpfung von Elementen durch die Nutzer/

Nutzerinnen entsteht, lässt sich mindestens bis zu Vannevar Bush, As We May Think, in :

Atlantic Monthly, Nr. 176, 1945, S. 101-108 zurückverfolgen. Bush spricht von >trail s<.

16 http://de.wikipedia.org/wiki/System (letzter Zugriff am 25. 03. 2010).

17 Vgl. Ute Bormann/Carsten Bormann, Offene Bearbeitung multimedialer Dokumente -

Normungsprojekt und -ergebnisse, in: Informatik Spektrum, Jg. 14, Nr. 5, 1991, S. 270-280.

18 Aus: Hess-Lüttich (Hg.), Multimedial Communication, Vol. II: Theatre Semiotics, Tübingen 1982, S. 19.

19 Vgl. http://www.uni-siegen.de/ locatingmed ia/personen/a bend _pablo.htm l?lang=de (letz­

ter Zugriff am 25. 03. 2010).

20 Madeleine Akrich/Bruno Latour, Zusa mmenfassung einer zweckmäßigen Terminologie für

die Semiotik menschlicher und nicht-menschlicher Konstellationen, in: Andrea Krieger/

David J. Belliger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theo­

rie, Bielefeld 2006, S. 399-406, hier S. 400.

21 Akrich, Die De-Skription techni scher Objekte, ebda„ S. 407-428, hier S. 411.

22 Norbert Bolz, Computer als Medium - Einleitung, in: ders./Friedrich Kittler/Georg Chris­

toph Tholen (Hg.), Computer als Medium, München 1994, S. 9-16, hier S. 9.

23 Vgl. Saskia Reither/Jens Schröter, >Literarische Anonymität ist uns unerträglich „.< Zur Modi­

fikation des Autors in neuen Medien, in: Michae l Geyer/Claudia Jünke (Hg.), Von Rousseau

zum Hypertext, Würzburg 2001, S. 77-90.

24 Vg l. http://de.wikipedia.org/wiki/Adobe_Director (letzter Zugriff am 22. 03. 2010): »Direc­

tor gilt als der Quasi-Standard für komplexe Multimedia-Produktionen.«

25 Daher drängt sich ja auch der Vergleich der digitalen Oberflächen mit dem Theater auf,

vg l. Brenda Laurel, Computers as Theatre, Reading/MA u. a. 1991.

Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme

26 Vg l. Barbara Flückiger, Zur Konjunktur der analogen Störung im digitalen Bild, in: Jens

Schröter/Alexa nder Böhnke (Hg.), Analog/digital - Opposition oder Kontinuum. Zur Theo­

rie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, S. 407-428.

27 Vgl. Ralf Adelmann, Digitale Animationen in dokumentarischen Fernsehformaten, in:

Schröter/Böhnke (Hg.), Analog/d ig ita l (siehe Anm. 26), S. 387-406.

28 Vgl. Jeanette Hofmann, über Nutzerbilder in Textverarbeitungsprogrammen - Drei Fallbei­

spie le, in: Meinolf Dierkes (Hg.), Technikgenese. Befunde aus einem Forschungsprogramm,

Berlin 1997, S. 71-98.

29 Akrich, De-Skription (siehe Anm. 21), S. 411. 30 Vgl. Langdon Winner, Do Artefacts Have Politics?, in: ders„ The Whale and the Reactor:

a Search for Limits in an Age of High Technology, Chicago 1986, S. 19-39.

31 Vgl. William K. English/Douglas C. Engelbart/Melvyn L. Berman, Display-Se lection Tech­

niques forText Manipulation, in: IEEE Transactions on Human Factors in Electronics, HFE-8,

No. 1, 1967, S. 5-15.

32 Akrich, De-Skription (siehe Anm. 21), S. 412.

33 Vgl. Akrich/Latour, Zusammenfassung (siehe Anm. 20), S. 401.

34 Vgl. für einen generellen überbl ick über aktuel le Designstrategien am Beispiel von Inter­

faces für Mobilgeräte Hokyoung Ryu, Mobile User Interface Analysis and Design: A

Practitioner's Guide to Designing User Interfaces for Mobile Devices, Hokyoung Ryu, New

York 2009.

35 Vgl. Jens Schröter et al. (Hg.), Kulturen des Kopierschutzes 1 +II, Siegen 2010.

36 Vg l. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1991, S. 2S.

37 Vgl. Jens Schröter, Das Netz und die virtue lle Realität. Zur Selbstprogrammierung der

Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld 2004.

38 Vg l. Jens Schröter, Eine kurze Geschichte der digitalen Fotografie, in: Wolfgang Hesse und

Wolfgang Jaworek (Hg.), Verwand lungen durch Licht. Fotografieren in Museen & Archiven

& Bibliotheken, Esslingen 2001, S. 249-257.

39 J.C.R. Licklider/ Robert Tay lor, The Computer as a Communication Device, in: Science and

Technology, April 1968, S. 21- 31, hier S. 22.

40 Alan Kay/Adele Goldberg, Personal Dynamic Media, in: Noah Wardrip-Fruin/Nick Montfort

(Hg.), The New Media Reader, Cambridge/MA 2003, S. 393-404, hier S. 394.

41 Vgl. Claude Elwood Shannon,A Symbolic Analysis of Relay and Switching Circuits, in: Trans­

actions America n Institute of Electri ca 1 Engineers, No. 57, 1938, S. 713 - 723.

42 Latour, There is no Information (siehe Anm. 1), S. 1S6.

43 Es bleibt die Frage offen, ob dieser Vorschlag (in modifizierter Form) auch für andere mul­

timediale Systeme, wie z.B. Theateraufführungen, fruchtbar gemacht werden kann. So

abwegig scheint das nicht, w urden die Oberflächen von Computern doch schon relativ

früh mit Theatermetaphern beschrieben, vg l. Brenda Laurel, Computers as Theatre (siehe

Anm. 2S). 44 Friedrich Kittler, Es gibt keine Software, in: ders„ Draculas Vermächtnis. Technische Schrif­

ten, Le ipzig 1993, S. 22S - 242.

4S Schanze/Kammer, Zugangsoberflächen (siehe Anm. 11), S. 13.

Jens Schröter Zur Analyse multimedialer Systeme ij§hl