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D E Z E M B E R 2 0 0 5
TITEL
Schule und ArbeitsweltSEITE 6
STANDPUNKT
Meinungsmache(r)SEITE 3
Berufsfachschuleund MittlererSchulabschlussSEITE 12
Streichung vonReferendariats-plätzenSEITE 16
Schule in DänemarkSEITE 20
5 9 . ( 74 . ) J A H R G A N G
Z E I T S C H R I F T D E R G E W B E R L I N
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Z E I T S C H R I F T F Ü R D I E M I T G L I E D E R D E R G E
W B E R L I N b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 5
Gutes Klima und konstrukti-ve Zusammenarbeit präg-ten das
blz-Seminar, bei demunter anderem für das neueJahr 2006 die
Schwerpunkt-themen geplant wurden. Wirstellen unsere Planung in
derJanuar-blz vor. Weitere The-menvorschläge sind
jederzeitwillkommen.
ErzieherIn gesucht! Immernoch fehlt der Redaktionein Mitglied
aus dem Bereichder ErzieherInnen. Ab dem Ja-nuar-Heft gibt es in
der blz dieneue Rubrik Kita und Hort, dawäre es schön, wenn wir
aucheine entsprechende Fachkraftin der Redaktion hätten.
Wir entschuldigen uns fürdas gelungene und den-noch misslungene
„Extra“ inder letzten Ausgabe. DerDruckerei ist ohne Rückspra-che
die rosa Farbe ausgegan-gen. Ohne Farbe erkennt manaber kaum, dass
das „Extra“als Beihefter konzipiert ist. Da-durch wirkt die
Unterbrechungder Rubrik Schule etwas un-vermittelt. Sigrid
Redaktionsschluss: Nr. 2/ 2006: 6. Januar/Nr. 3-4/ 2006: 3.
Februar
I M P R E S S U M
Ü B R I G E N S
3-5 Leute | Standpunkt | Kurz und bündig | Post an die
Redaktion|
T I T E L6 Auf dem Weg in den Beruf Hermann Rademacker10
Unterstützung für die Berufswahl Susanne Schmidtpott
S C H U L E12 Fordern ohne Förderung Sigrid Falkenstein14
Gefühlte Realitäten Thomas Schmidt
H O C H S C H U L E15 The Berlin Brain Klaus Ulrich Werner
G E W E R K S C H A F T 16 Reise nach Jerusalem Andrea
Scharfenort17 Unklare Planungen Matthias Jähne18 Wir trauern um
Erich Frister U.-J. Kledzik /W. Seiring19 Being Othello N.N.
E U R O P A20 Die Mädels vom Mathe-Trio Heike Dierbach
R E C H T & T A R I F22 Böses Spiel Ilse Schaad23 Klage
gegen Hartz IV Karin Dalhus23 Rentenansprüche sichern Werner
Gollmer
S E N I O R E N24 Deutsch-polnisches Seniorentreffen Horst
Adam
T E N D E N Z E N25 Falsche Geldpolitik und die
Wirtschaftsmisere in Deutschland Manfred Schlichthörl26 Die
Vergehen der Wendezeit Erich Beyler
S E R V I C E 27 Stadtführungen von jungen
KiezexpertInnen Renate Liebsch28 Theater und Schule |
Fortbildung | Materialien
Dieser Ausgabe ist ein Prospekt der Theatergemeinde Berlin
beigelegt.
I N H A L T
Die blz ist die Mitgliederzeitschrift der Gewerkschaft Erziehung
undWissenschaft, Landesverband Berlin, Ahornstr. 5, 10787 Berlin
underscheint monatlich (10 Ausgaben) als Beilage der E&W. Für
die Mit-glieder ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten.
Für Nicht-mitglieder beträgt der Bezugspreis jährlich 18 € (inkl.
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Redaktion:Sigrid Baumgardt (verantwortlich), Klaus Will
(Koordinierungund Schlussredaktion), Beate Frilling, Andreas Kraft,
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Satz, Layout und Konzept: bleifrei Texte + Grafik/Claudia
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ISSN 0944-3207 11/2005: 22.300
FOTO: CHR. V. POLENTZ/TRANSIT-BERLIN
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Diana Greim, neue stellvertretende Vor-sitzende der GEW BERLIN,
hat mit ihrererfolgreichen Kandidatur im Mai auf
derLandesdelegiertenversammlung den Al-tersdurchschnitt des
Geschäftsführen-den Vorstands (GLV) erfreulich gesenkt.Diana ist
Lehramtsstudentin an der TUund neben dem GLV auch aktiv im
Bun-desausschuss der Studentinnen und Stu-denten (BASS). Sie wurde
dort im Som-mer zusammen mit Tobias Drommleraus Nordrhein-Westfalen
in das Spre-cherteam gewählt.
Siegfried Arnz, ehemaliger Leiter einerHauptschule in Tempelhof
und dannvon der Senatsbildungsverwaltung alsFeuerwehrmann für das
brennendeProjekt Eigenverantwortliche Schuleeingesetzt, ist jetzt
auch zuständig fürdie Hauptschulen. Klaus Böger stellteihn auf
einer Pressekonferenz mit fol-genden Worten vor: „Das ist Herr
Arnz,der neue Hauptschulreferent. Damithaben wir aber noch nicht
alle Problemegelöst.“
Klaus Böger und seine Presseleute be-mühen sich aber auch sonst
um Origi-nalität. Im Lehrerbrief vom Oktoberwird gaanz witzig
getitelt „Wir sindschulreif“, dahinter kommen dann Sätzewie
„Neubauten an Berlins Schulen sindfremd nach Jahren der Stagnation“
oder„Eltern können in Zeiten globalerKonkurrenz und sinkender
Schülerzah-len mehr für ihr Kind und mehr Wett-bewerb unter den
Schulen erwarten“.Und dann wird dem Bildungssenatorauch noch in den
Mund gelegt „BerlinsSchulen brauchen eine Kultur der An-strengung“.
Muss man heute so schrei-ben? Macht sich in der Bildungsverwal-tung
auch schon der Globalisierungs-druck bemerkbar?
Ramona Pop ist jugendpolitische Spre-cherin der Grünen im
Abgeordneten-haus und findet, dass in der Schule zuviele Stunden
ausfallen, weil die Lehr-kräfte sich während der
Unterrichtszeitstatt danach weiterbilden. Sie forderteim
Abgeordnetenhaus BildungssenatorKlaus Böger auf, er solle
verbindlichfestlegen, dass die Fort- und Weiterbil-dung der
Lehrkräfte außerhalb der Un-terrichtszeit zu erfolgen hat. Ob der
bil-dungspolitische Sprecher der Grünen,Öszan Mutlu, diese Linie
ebenfalls ver-tritt, ist nicht bekannt.
Das Bisschen, das ich lese, schreibe ichmir selber.“ Die Maxime
eines Berli-ner Boulevardjournalisten klingt heutewie ein
liebenswertes Relikt aus denKindertagen des Journalismus.
Schöneheile Medienwelt der 80er Jahre! Dochauch der unerschrocken
investigative,„den Dingen auf den Grund gehende“deutsche
Journalismus hat seine Un-schuld längst verloren. Das geschahnicht
erst im Angesicht der Erkenntnis,dass halbgare Meinungsumfragen
nichtunbedingt die Wirklichkeit abbilden. Diesarkastische
Bemerkung, es gebe inBerlin mehr Journalisten als Nachrich-ten und
alle hechelten der Exklusiv-story hinterher, wurde ausgerechnet
inder „Zeit“ kritisiert. Anstatt sich als„vierte Gewalt“ dem
Imperativ der Auf-klärung verpflichtet zu fühlen, kochtenvor allem
Wirtschaftsjournalisten ihrenungenießbaren neoliberalen
Einheitsbrei:Deregulierung auf dem Arbeitsmarktund im
Sozialbereich, Elitenbildungstatt konsequenter Schulreform,
Steuer-entlastung für die gebeutelten „Leis-tungsträger“; so
beteten sie ihre Voo-doo-Ökonomie runter. Die Systemverän-derer von
rechts machen vor nichts undniemandem halt, um diese
Republikumzukrempeln. Doch wir haben in denvergangenen Jahren
erfahren, dass die-se Wirtschaftspolitik in die Sackgasseführt. Und
die Lehren daraus? Auch dieWirtschaftsweisen wurden nicht
weiser.
Unterdessen inszenierte die Massen-presse ihren
Kampagnenjournalismus,der unter dem Deckmantel der Aufklä-rung sein
Unwesen trieb. Die LeitmedienBild, Spiegel und Co. wollten
Deutsch-land endlich aus der Lethargie reißen.Die Leitmedien wurden
nicht müde, ih-re Abrechnung mit Rot-grün in die Ta-statur zu
klimpern.
Den Gipfel der Peinlichkeit erklommjedoch donnerstäglich ein
„Star“ unterden scharfsinnigen Edelfedern: Als Mei-nungsführer
seiner Illustrierten war ersich nicht zu schade, einer
Möchtegern-
Kanzlerin das Wort zu reden und Rot-grün den berühmten Pferdefuß
anzu-dichten. Das Kommentieren, Reflektie-ren, Analysieren war über
lange Zeitzurückgedrängt zugunsten eines Jour-nalismus, der auf
Stimmungsmache auswar und Schicksal spielen wollte: vom„wir sind
Papst“ zum „wir wollen auchKanzler werden.“
Eingebettet in die verlegerischen Sach-zwänge einer ökonomisch
schwächelndenPresse, eingelullt durch die regierungs-amtlichen
Bulletins über „leere Kassen“und einen angeblich nicht mehr zu
finan-zierenden Sozialstaat, ergriffen etlichePublizisten dreist
Partei: „Keinen Gedan-ken haben und ihn ausdrücken können– das
macht den Journalisten“, ketzerteschon Karl Kraus.
In den USA sorgten der aufgeputschtePatriotismus bzw. die Angst
vor demTerror dafür, sich einem „eingebettetenJournalismus“ zu
unterwerfen; bei unsführten die von Eichel & Co.
inszenierteSachzwangideologie sowie die „Drohku-lisse
Globalisierung“ dazu, Fachkompe-tenz und politische Unabhängigkeit
ander Garderobe abzugeben. Der Elitenkon-sens aus herrschender
Meinung, kon-servativer Wissenschaft und zur Machtdrängender
Politikergarde ward gebo-ren. Meinungsfreiheit schrumpfte so-mit
auf das Privileg weniger, ihre Mei-nung nicht nur zu äußern,
sondern garzu verabsolutieren.
Die Süddeutsche Zeitung formulierte,die „Flat-Tax-Generation“
habe in denWirtschaftsteilen das Wort im SinneKirchhoffs geführt,
um den politischenWechsel herbei zu schreiben; wie wärees, ganz im
Geiste der altrömischenVorbilder, den medialen Störfall zu
ver-hindern, indem man philosophisch-zurückhaltend aktuelle
Vorkommnisseab und an nicht kommentiert und ein-fach die Fakten
sprechen lässt?!
Wenn du geschwiegen hättest, wärestdu Philosoph geblieben, hieß
es in derAntike.
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L E U T E
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Meinungsmache(r)Wie die Presse auf den Hund gekommen ist.
von Dieter Pienkny, Pressereferent DGB Berlin-Brandenburg
FOTO
: PRI
VAT
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Schulpflicht hat Vorrang vorBildungsurlaub
Die Eltern zweier grundschulpflichti-ger Kinder haben beim
Verwaltungsge-richt Freiburg erfolglos einen Anspruchauf
Beurlaubung ihrer beiden Töchtervom Unterricht geltend gemacht.
Diebeiden Kinder waren zwei Wochen un-erlaubt dem Unterricht
ferngeblieben,nachdem der Schulleiter ihren Antragauf einwöchige
Beurlaubung abgelehnthatte. Die verlängerten Ferien nutztensie für
eine Reise nach Neuseeland. DieEltern argumentierten, bei der Reise
ha-be es sich zum großen Teil um eine„Bildungsreise“ gehandelt. Vor
Ort hät-ten die Kinder vielfältige geologischeund geothermale
Sehenswürdigkeiten,eine fremde urwaldähnliche Flora undFauna und
hier nicht lebende Land-und Wassertiere sowie Vögel entdeckt.Auch
habe der südliche SternenhimmelAnlass zu entsprechender
Erörterungund Betrachtung geboten. Das Verwal-tungsgericht ließ
sich von dieser Argu-mentation nicht beeindrucken.
DerVerwaltungsgerichtshof Baden-Württem-berg bestätigte das Urteil
und lehnte ei-ne Berufung ab. (Nach: klein&groß,Nr.10/
2005)
Was tun, wenn das Kind beimLadendiebstahl erwischt wurde?
Die Landeskommission Berlin gegenGewalt hat ein Merkblatt für
Eltern zumThema Ladendiebstahl herausgegeben.
Wenn Kinder bei einem Ladendiebstahlerwischt werden, erhalten
die Erzie-hungsberechtigten zusammen mit derBenachrichtigung über
die Tat durchdie Polizei auch dieses Merkblatt. Esenthält Hinweise,
wie Eltern sich ge-genüber ihren Kindern verhalten kön-nen: „Der
erste Ladendiebstahl sollteweder bagatellisiert noch
überdramati-siert werden. Es gilt, Ruhe zu bewah-ren, sich Zeit zu
nehmen für das Ge-spräch mit dem Kind, ihm aufmerksamzuzuhören und
mit ihm in Kontakt zubleiben. Genauso wichtig ist es
jedoch,eindeutig Stellung zu beziehen. DemKind muss klar werden,
dass sein Ver-halten unrecht ist und nicht geduldetwird“, erklärte
der Vorsitzende der Lan-deskommission, Staatssekretär
ThomasHärtel.
Schweigsame SchulleitungAnfang November machte die Haus-
otter-Grundschule in ReinickendorfSchlagzeilen, weil Eltern
wegen deseklatanten Unterrichtsausfalls im Hin-terzimmer einer
Gaststätte selbst Un-terricht organisiert hatten. Alle
BerlinerMedien berichteten darüber und inter-viewten die
Betroffenen. Nur einer warweder zu sehen noch zu hören oder
zulesen: Schulleiter Uwe Lutz nahm denMaulkorberlass seines
Senators sehrernst und ließ kein einziges Wort nachdraußen. Eltern
und Schüler der Schulewaren umso auskunftsfreudiger. Ober-
schulrat Klaus Werner dagegen war sei-ner neuen Rolle als
Schulsprecher nichtganz gewachsen: dass nicht die Verwal-tung,
sondern „unglückliche Umstände“für den horrenden
Unterrichtsausfallverantwortlich seien, klang bei ihmnicht
sonderlich überzeugend.
Evaluation und SchulinspektionDie ersten 200 BeraterInnen für
die
schulinterne Evaluation hat Bildungsse-nator Klaus Böger Anfang
Novembermit einem Zertifikat an die Schulen ge-schickt. Insgesamt
sollen 530 Lehrkräf-te zu BeraterInnen ausgebildet werden.Die
EvaluationsberaterInnen sollen denSchulen helfen bei der
Feststellung ih-rer Ausgangs- und Rahmenbedingun-gen und bei der
Überprüfung der Ar-beitsprozesse und -ergebnisse. Bis zumMärz 2008
müssen dann die Schulen ei-nen schriftlichen
Evaluationsberichtvorlegen. Neben der internen gibt esaber noch die
externe Evaluation durchdie sogenannte Schulinspektion. Hierhaben
45 MitarbeiterInnen ebenfalls imNovember die Arbeit aufgenommen.
Ab2006 werden in zweitägigen Inspektio-nen alle Schulen
überprüft.
NRW geht mit gutem Beispiel voranDie neue NRW-Schulministerin
Barba-
ra Sommer möchte den „mit der Schul-programmarbeit und der
internen Eva-luation für die Schule verbundenen
Or-ganisationsaufwand reduzieren“ undschaffte kurzerhand den
Bericht zurEvaluation des Schulprogramms ab.Sommer möchte damit
erreichen, dasssich die LehrerInnen wieder mehr „aufihre
eigentliche Aufgabe, das Unterrich-ten“ konzentrieren können. Gute
Idee!
Eckpunkte für ein Wertefach inBerlin
Unter der Schirmherrschaft von Wal-ter Momper hat sich im
Oktober 2005das „Forum Gemeinsames Wertefach“gegründet, in dem auch
die GEW BER-LIN vertreten ist. Das Forum hat inzwi-schen ein
sogenanntes Eckepunktepa-pier beschlossen, das Vorschläge
fürQualitätsanforderungen an das neueFach enthält, die auf dem
Hintergrundvorliegender bildungspolitischer Be-schlüsse und
konzeptioneller Papiereals konsensfähig eingeschätzt werden.Damit
soll die Diskussion zur Ausge-staltung des Faches unterstützt
wer-den. Das sechsseitige Papier kann ange-fordert werden bei Gerd
Eggers: E-Mail:[email protected], Tel./Fax: 030-822 05 75
K U R Z U N D B Ü N D I G b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 54
Gegen den Abbau von Referendariatsplätzen demonstrierte die
Junge GEW am 28. Oktober vor dem Roten Rat-haus (siehe Bericht auf
Seite 16). Leider ohne Erfolg. Bei den Haushaltsberatungen hat sich
keine Fraktion fürden Erhalt der bestehenden Referendariatssplätze
ausgesprochen. Wie in diesem Jahr werden auch 2006 wieder200 Plätze
gestrichen. FOTO: CHRISTIAN V. POLENTZ/TRANSIT-BERLIN
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Eine Frage der Ehre (November-blz)
Mich stören immer wieder neue,scheinbar gut gemeinte Versuche
(Eh-ren)morde und ähnliches bestimmtenKulturen, nicht nur dem
Islam, zuzu-rechnen. Vor allem aber eine möglicheMitschuld
deutscher Behörden und derdeutschen Gesellschaft an einer
ge-scheiterten Integration zu unterstellen.Natürlich gab es auch in
Europa mittel-alterliche oder gar steinzeitliche „Kultu-ren“, die
mit dem zivilisatorischen Fort-schritt insbesonders auch im Kampf
ge-gen den feudalen Klerikalismus durchdie Aufklärung bis auf Reste
eineschristlichen Fundamentalismus in Euro-pa und Deutschland eine
höhere Stufeder Zivilisation entstehen ließ. Sie ist inGesetzen
kodifiziert, die für alle deut-schen Staatsbürger und in diesem
Landlebenden Ausländer ohne Wenn undAber verbindlich sind, und zu
derenEinhaltung es keine noch so abstrusekulturelle Begründung
geben kann und
darf. Im Übrigen, wenn der Vater derzur Zeit vor Gericht
stehenden „Ehren“-mord-Brüder nach 30-jährigem Aufent-halt in
Deutschland nur gebrochendeutsch spricht, so zeigt es, wo
diewirkliche Schuld für eine gescheiterteIntegration liegt. In
einem Land, woKinder nichtdeutscher Mutterspracheschlechte
Bildungs- und Arbeitschan-cen haben, muss von keinem anderenals den
Einwanderern selbst verlangtwerden, die Sprache ihres Gastlandesaus
eigenem Antrieb zu lernen, wie esin jedem anderen
Einwanderungslandgilt. Wegen Zugewanderten einen zivili-satorischen
Rückschritt in Kauf zu neh-men, wäre ein falsches Signal und
hättenichts mit Toleranz zu tun.
Gerhard Rosenberg
Neueinstellungen in Berlin (November-blz)
In Berlin bin ich von einem Monat aufden anderen vertröstet
worden, im No-vember stellen wir ein, hieß es, dannwar es der
Dezember, dann der Januar(da kam dann auch ein Stelle für michmit
Einstellung im August). Die Nieder-
sachsen waren aber einfach schnellerund hatten das bessere
Angebot. Wennein Unternehmen so arbeiten würdewie der Berliner
Senat, würden wir unsnicht wundern, wenn es den Bach run-ter geht:
Die Berliner bilden Spitzenleu-te aus und sorgen sie dann dafür,
dasssie auch wirklich nicht in der Stadt blei-ben. Ich kann nur
allen raten: „Lassteuch nicht veralbern und geht einfachweg.“ Mir
geht es gut so weit weg vonBerlin und ich will auch nicht
mehrzurück (nicht zu den aktuellen Bedin-gungen). Kämpft weiter um
Stellen undbessere Bedingungen!
Guido Walther
b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 5 P O S T A N D I E R E D A K T I
O N 5
Unverlangt eingesandte Besprechungsexemplareund Beiträge werden
nicht zurückgeschickt. DieRedaktion behält sich bei allen Beiträgen
Kürzungenvor. Beiträge möglichst auf Diskette oder per e-mail
einsenden. Die in der blz veröffentlichten Ar-tikel sind keine
verbandsoffiziellen Mitteilungen,sofern sie nicht als solche
gekennzeichnet sind.
GEW-KALENDER 2006
Der (grüne) GEW-Kalender mit Jahreskalendarium für alle, die im
Wissenschaftsbereichoder im Bereich Jugendhilfe/Sozialarbeit
beschäftigt sind, sowie für alle Rentnerinnen undRentner ist
erschienen und wird auf Anforderung zugeschickt. Bitte den
folgenden Ab-schnitt an die GEW BERLIN schicken (aus
organisatorischen Gründen keine telefonischenBestellungen).
GEW-KALENDER 2006: JA, DEN WILL ICH HABEN!Name:
______________________________________________________________________
Adresse:
______________________________________________________________________
______________________________________________________________________
______________________________________________________________________
______________________________________________________________________
Bitte an die GEW BERLIN, Ahornstraße 5, 10787 Berlin
senden/faxen (030 / 21 9993-50) oder mailen
([email protected])
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GEW BRINGT ZEUGNISPROGRAMMNEU HERAUS
Vor gut einem Jahr hat die GEW BERLINdas bewährte
Zeugnisprogramm vonder Firma Zenk übernommen und wei-tergeführt. Da
das Programm mittler-weile etwas in die Jahre gekommenund der Flut
neuer Formulare nichtmehr gewachsen war, bringt die GEWBERLIN jetzt
ein vollkommen neuesProgramm heraus.
Dieses Programm wird voraussichtlichab dem 15. Dezember 2005
fertigsein. Bereits jetzt sind für die Grund-schulen und
Gesamtschulen Vorabver-sionen kostenlos im Netz erhältlich.Das neue
Programm gibt es als Einzel-und als Schulversion. Von der
Schul-version können unbegrenzt Kopien fürdie jeweils lizenzierte
Schule gezogenwerden können. Weitere Informationenin der Anzeige
auf Seite 17, ausführli-che Informationen einschließlich
derDownloadmöglichkeiten auf unsererInternetseite unter der
Adressewww.gew-berlin.de/Zeugnis.htm.
BEITRAGSQUITTUNG 2005
Wie in den letzten Jahren wird die Bei-tragsquittung 2005 für
das Finanzamtmit der Februarausgabe der Bundes-zeitschrift E+W
verschickt werden.Bitte gleich heraustrennen und aufbe-wahren!
Prüft bitte, ob die persönli-chen Angaben noch stimmen und teiltdie
Änderungen der GEW BERLIN mit.
ERICHFRISTERIST TOT
Erich Fri-ster istim No-vember2005 imAlter von78
Jahrengestor-ben. Mitseinem Tod verliert die GEW eine be-deutende
Persönlichkeit, die bis An-fang der achtziger Jahre die
GEW-Poli-tik maßgeblich mitgeprägt hat. ErichFrister ist 1948 in
die GEW eingetre-ten und war von 1959 bis 1965 Vor-sitzender des
Landesverbandes Ber-lin, von 1968 bis 1981 führte er dieBundes-GEW.
Nachruf auf Seite 18.
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T I T E L b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 56
Die gesellschaftliche Überwindung der Schwierig-keiten bei der
Eingliederung junger Menschenin das Beschäftigungssystem erfordert
Handeln aufbeiden Seiten des Marktes, auf der Seite des Ange-bots
ebenso wie auf der Seite der Nachfrage: Auf derSeite des Angebots
brauchen wir selbstverständlicheine ausreichende Zahl von
Ausbildungsplätzen, dieden jungen Menschen eine Auswahl im Hinblick
aufihre beruflichen Interessen und Neigungen erlaubt.Hier sind
Wirtschaft und Politik gefordert. Ebensowichtig aber, und davon ist
in der öffentlichen De-batte zu wenig die Rede, ist die Entwicklung
auf derNachfrageseite dieses Marktes. Hier muss es um ei-ne den
Wandel der Arbeit einbeziehende beruflicheOrientierung und
Qualifizierung junger Menschengehen. Hier sind alle gefordert, die
es mit der Bil-dung und Erziehung junger Menschen zu tun haben.
Darin liegt eine wichtige neue Herausforderungauch für die
öffentliche Schule, die zunehmend er-
kannt und akzeptiert wird. Das als ein Beitrag
derBundesregierung zum Bündnis für Arbeit 2000 ge-startete Programm
„Schule-Wirtschaft/Arbeitsle-ben“ hat diese Entwicklung bundesweit
deutlich be-fördert. Berlin beteiligt sich im Rahmen des
Nord-verbunds an dem Programm mit inzwischen über70 Schulen aller
Schularten der Sekundarstufe I,außer Gymnasien. Eines der
bedeutendsten undvoraussichtlich nachhaltigsten Ergebnisse der
Arbeitim Nordverbund ist der Berufswahlpass, ein
indi-vidualisierendes Instrument der Strukturierung,Dokumentation
und Reflektion des Prozesses derBerufsorientierung und der
Berufsvorbereitung,das inzwischen bundesweites Interesse findet
undderzeit als das differenzierteste und entwickeltstedidaktische
Material dieser Art gelten kann.
Der Beitrag der Schule zur Berufsvorbereitungund beruflichen
Orientierung junger Menschen istaus zwei Gründen unabdingbar
geworden:
Auf dem Weg in den Beruf...und wie man junge Menschen dabei
unterstützen kann. Der Wandel der Arbeit – eine Heraus-forderung
für die Schule.
von Hermann Rademacker, Sozialwissenschaftler, bis 2002 Referent
am deutschen Jugendinstitut München
Eine gelungene Berufswahl kann der Grundstein für eine
erfolgreiche Arbeit sein. FOTO: CHR. V. POLENTZ/TRANSIT-BERLIN
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b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 5 T I T E L 7
1. ist nicht zu erwarten, dass die Schwierigkeitenbei der
Eingliederung junger Menschen in das Be-schäftigungssystem – im
Gegensatz zu den Hoff-nungen mancher Propheten – durch die
demogra-fische Entwicklung allein, also die in den kom-menden
Jahren sinkende Anzahl von Absolventenaus dem Bildungssystem,
behoben werden. Die de-mografische Entwicklung mag dazu beitragen,
dieRelation zwischen Angebot und Nachfrage zu ver-bessern, also die
quantitativen Mängel auf der An-gebotsseite des Marktes zu beheben,
aber jungenMenschen, die den Anforderungen der Betriebe fürihre
Ausbildungs- und Arbeitsplätze nicht entspre-chen, wird auch
künftig der Zugang zum Beschäf-tigungssystem weitgehend verwehrt
bleiben. Daslässt sich seit langem in einer so
prosperierendenRegion wie München und Oberbayern beobachten,wo es
in den vergangenen 30 Jahren immer mehrAusbildungsplätze als
nachfragende Jugendlichegegeben hat und wo dennoch eine erhebliche
An-zahl junger Menschen unversorgt blieb.2. ist mit dem Wandel der
Arbeit die „soziale Ver-erbung“ von Lebensentwürfen einschließlich
derin sie eingebetteten beruflichen Orientierungen,wie sie
insbesondere die sozialen Milieus der In-dustriearbeiterschaft bis
in die 60er Jahre des vo-rigen Jahrhunderts kennzeichnete, verloren
ge-gangen. Zur Ausbildung beruflicher Orientierun-gen hat
traditionell weder die Schule noch die Be-rufsberatung maßgeblich
beigetragen, sondernbeide konnten ebenso wie die Wirtschaft
daraufvertrauen, dass sich diese Orientierungen in denFamilien und
in den Lebenswelten, in denen Kin-der und Jugendliche aufwuchsen,
gewissermaßennaturwüchsig ausbildeten und allenfalls flankie-rend
unterstützt werden mussten.
Das hat sich heute unübersehbar geändert: Diehistorisch neue
Dynamik der Veränderung der Ar-beit mit ihren einschneidenden
sozialen Folgenhat die alte Kopplung zwischen der Arbeit undden
Lebenswelten insbesondere in den traditio-nell durch
Industriearbeit geprägten sozialen Mi-lieus gelöst. Diese Kopplung
aber war eine ent-scheidende Grundlage für den Beitrag der
Famili-en zur beruflichen Orientierung ihrer Kinder.Wenn dieser
Beitrag heute weitgehend ausbleibt,sollten Lehrerinnen und Lehrer
dies nicht voreiligals Gleichgültigkeit und
Verantwortungslosigkeitder Eltern deuten, sondern darin eher einen
Hin-weis auf Hilflosigkeit und Unterstützungsbedarfsehen. Denn
Eltern, dass zeigen auch die Ergeb-nisse, die im Rahmen der
wissenschaftlichen Be-gleitung des Berliner Teilprojekts im Rahmen
desProgramms Schule-Wirtschaft/Arbeitsleben durch-geführt wurden,
sind nach wie vor die wichtigstenGesprächspartner junger Menschen
bei der Be-rufswahl und haben selbst dann, wenn sie wenigbeitragen
können, den größten Einfluss auf derenBerufswahl – weit vor
Lehrern, Berufsberatungund BIZ sowie Freunden und Bekannten.
Die Entkopplung von Arbeit und Lebenswelt, dieschon die erste
industrielle Revolution kennzeich-nete, hat eine neue Qualität
bekommen. Darausergeben sich auch heute wieder neue
Herausfor-derungen für öffentliche Bildung und Erziehung:Es geht
heute um die Ausweitung des Bildungs-
und Erziehungsauftrags der allgemeinbildendenSchule durch die
Einbeziehung von Arbeit als Bil-dungsgegenstand, wobei im
Vordergrund die För-derung beruflicher Orientierungen und die
Ver-mittlung von Kompetenzen zur Bewältigung derAnforderungen des
Übergangs in Ausbildung undArbeit stehen sollten.
An einer solchen Entwicklung muss auch dieWirtschaft ein
vorrangiges Interesse haben, dennnur wenn junge Menschen ihre
beruflichen Orien-tierungen auf die tiefgreifend veränderte
Arbeitbeziehen können, ist zu erwarten, dass die Wirt-schaft den
geeigneten Nachwuchs für die neuenArbeits- und Ausbildungsplätze
findet. Schon heu-te gibt es immer wieder Klagen über die
Nichtpas-sung zwischen den Erwartungen, Interessen undFähigkeiten
der jungen Menschen einerseits undden Anforderungen der Betriebe
andererseits. Diein einigen Bereichen erheblichen Quoten von
Aus-bildungsabbrüchen finden hier einen Teil ihrer Er-klärung
ebenso wie die Tatsache, dass nicht nurviel zu viele Jugendliche
ohne einen Ausbildungs-platz bleiben, sondern – und dies keineswegs
nurim wirtschaftlich prosperierenden Oberbayernund in der Region um
Stuttgart und keineswegsnur bei den Bäckern und Metzgern – auch
Ausbil-dungsplätze in nach Berufen und Regionen unter-schiedlichem
Umfang unbesetzt bleiben.
Eine Herausforderung nicht nur für die Hauptschule
Die Hauptschule ist bundesweit und auch inBerlin zum Pionier der
Einbeziehung der Arbeits-welt in ihr Bildungsangebot geworden.
Realschu-len und Gesamtschulen sind mit hervorragendenBeispielen
arbeitsweltbezogener Angebote bis hinzur Entwicklung von
Schulprogrammen, die Berufs-orientierung und Berufsvorbereitung zu
Aufga-benschwerpunkten schulischer Bildung machen,ebenfalls
beteiligt. Gymnasien allerdings übenauffällige Zurückhaltung. Die
neue Herausforde-rung besteht aber für die Schulentwicklung in
al-len Schularten. Bleibt diese Entwicklung – etwa imGymnasium –
aus, wird die bestehende Spaltungder deutschen Schule vertieft und
zusätzlich dieLeistung der Hauptschule auf diesem Feld als Be-
Mit der richtigen Berufsentscheidung lernt es sich zufriedener.
FOTO: MANFRED VOLLMER
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T I T E L b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 58
standteil „niederer Bildung“ diskreditiert. Die dieTradition des
deutschen Bildungswesens kenn-zeichnende Ungleichwertigkeit
allgemeiner gleichakademischer gleich höherer Bildung und
berufli-cher gleich praktischer gleich niederer Bildungwürde dann
in neuer Form fortgeschrieben. Dieohnehin zu geringe
Durchlässigkeit zwischen denBildungsgängen des gegliederten
Schulwesenswürde weiter eingeschränkt.
Wenn Berufsorientierung und Berufsvorbereitungzur Aufgabe von
Schule werden sollen, muss esdeshalb um die Erschließung der Arbeit
als Gegen-stand allgemeiner Bildung gehen, und dies
selbst-verständlich in allen Schularten. Nur dann wirddas Ziel der
schulischen Bemühungen, zusätzlichzum Schulabschluss als
schulischem Erfolgskrite-rium auch den Anschluss durch die
Befähigungfür einen gelingenden Übergang in Ausbildungund
Beschäftigung zu sichern, zu einem aner-kannten Bildungsziel.
Solange dies nicht gesichertist und allgemeine Anerkennung findet,
bleibenAbschluss und Anschluss miteinander konkurrie-rende Ziele
der pädagogischen Arbeit von Lehre-rinnen und Lehrern wie auch der
Lernanstrengun-gen von Schülerinnen und Schülern. Und
dieseKonkurrenz kann, das zeigen auch aktuelle Erfah-rungen in
Berlin, zu einer erheblichen Störung derschulischen Bemühungen zur
Vorbereitung jungerMenschen auf die Bewältigung der
Anforderungendes Übergangs werden. So wird gerade aus an die-sem
Thema besonders engagierten Schulen be-richtet, dass in den
Kollegien angesichts der Ein-führung von Bildungsstandards und der
in ihrerFolge anstehenden landeseinheitlichen Prüfungenheftige
Konflikte um die Betriebspraktika am Be-ginn des 10. Schuljahres
entstanden sind, weil dieFachlehrer diese Zeit für die
Prüfungsvorberei-tung beanspruchen. In einem Fall gar gab es
einenKollegiumsbeschluss, diese Praktika auf die Zeitnach Abschluss
der Prüfungen zu legen – und siedamit im Hinblick auf ihre
berufsorientierendeFunktion weitgehend zu entwerten.
Sowohl Abschluss als auch Anschluss
Der gelingende Anschluss darf deshalb nichtlänger als eine nette
Zugabe zum erfolgreichenSchulabschluss gewertet werden, sondern
musszu einem neben dem Abschluss
gleichwertigenSchulerfolgskriterium werden. Nur dann habenSchulen
eine Chance, diese beiden Zielsetzungenin ihrem Schulprogramm
miteinander zu verein-baren und entsprechende Bemühungen als
ori-ginären Bestandteil ihres Bildungsauftrags zu de-finieren.
Diese Gleichwertigkeit abschluss- undanschlussbezogener
Zielsetzungen von Schulemuss in der Diskussion um
Bildungsstandardsund ihre Implementation ernst genommen wer-den,
wenn die eingeleitete und dringend geboteneÖffnung der Schule zur
Arbeitswelt nicht zur Ara-beske zeitgemäßer Schulentwicklung
verkümmernsoll. Solange Bildungsstandards vorrangig odergar
ausschließlich auf akademische Leistungenbezogen bleiben, wird die
Einbeziehung und be-rufs- und arbeitsweltbezogener Aspekte in
den
Bildungsauftrag der allgemeinbildenden Schulezweitrangig
bleiben. Schulen mit elitärem An-spruch müssen sich unter solchen
Bedingungengeradezu eingeladen fühlen, diesen durch
dieMarginalisierung von Berufs- und Arbeitsweltbe-zügen in ihrem
Schulprogramm zu unterstrei-chen. Auch dafür gibt es unter den
Realschulen inBerlin bereits Beispiele.
Wo gelingende Anschlüsse zu einem wesentli-chen Erfolgskriterium
schulischer Arbeit werden,ändert sich auch die Beziehung zwischen
Schülerund Lehrer. Denn beim gelingenden Anschluss istder Erfolg
beider von der Entscheidung außer-schulischer Akteure, den
Ausbildungsbetrieben,abhängig. Schule und Lehrer sind hier von
derFunktion der Auslese, die sie bei der Vergabe
vonAbschlusszertifikaten wahrnehmen müssen, ent-lastet. Sie können
sich vorbehaltlos zum Bünd-nispartner junger Menschen machen, wenn
es umden Ausbildungsplatz geht. Die Öffnung der Schu-le zur
Arbeitswelt kann damit auch für die Qua-lität der Beziehungen
zwischen Lehrenden undLernenden zu einem Paradigmenwechsel
führen.
Die Öffnung von Schule zur Arbeitswelt
Die Erfahrungen aus dem Berliner Projekt
„Flexi-bilisierungsbausteine und Berufswahlpass“ zei-gen, dass die
Öffnung der Schule zur Arbeitsweltauf mindestens vier Ebenen
erfolgen kann und inBerlin in einigen Schulen durchaus auch
erfolgt:• die Kooperation mit außerschulischen Partnernund die
Integration von deren Beiträgen in einschulisch verantwortetes
Schulprogramm – diessetzt in der Regel bilaterale Vereinbarungen
zwi-schen Schulen und betrieblichen Partnern voraus,• die
Einbeziehung außerschulischer Professiona-lität in die Arbeit in
der Schule und die Messungvon Arbeitsergebnissen an den so
verfügbar ge-machten professionellen Maßstäben – Beispieledafür
sind das Konzept der Arena oder auch dieÜbernahme von Aufträgen
betrieblicher Partnerund deren Bearbeitung in der Schule.• de
Einbeziehung gelingender Anschlüsse alsein Erfolgskriterium
schulischer Arbeit und lastnot least• die Entwicklung von
Arbeitsweltbezügen in denschulischen Unterrichtsfächern über die
Arbeits-lehre hinaus.
Schulen brauchen Unterstützung
Schulen, die sich in diesem Sinne zur Arbeits-welt öffnen,
brauchen Unterstützung durch eineBildungspolitik, die• die
rechtlichen Rahmenbedingungen den neuenAufgaben anpasst. In dieser
Hinsicht ist beson-ders für die Hauptschulen in Berlin mit dem
neu-en Schulgesetz ein wichtiger Schritt voran getanworden.• die
pädagogische Schulentwicklung mit diesenZielsetzungen unterstützt
und fördert. Auch dazulaufen an einigen Schulen in Berlin wichtige
Ent-wicklungen.
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• die Vernetzung vonSchulen und Betrieben imkommunalen Kontext
för-dert. Dafür bieten dasProgramm „Partner: Schu-le Wirtschaft“
und das vonFrau Volkholz geleiteteProjekt zur Unterstützungvon
Partnerschaften zwi-schen Schulen und Betrie-ben wichtige Hilfen.•
die Schulen mit dennötigen sachlichen undpersonellen
Ressourcenausstattet – und auch indieser Hinsicht gibt es
zu-mindest in einigen Schu-len, insbesondere in denHauptschulen mit
Integra-tionsklassen, Bedingun-gen, die von den Beteilig-ten
Schulleitungen wieauch von Lehrerinnen undLehrern als
angemessengewürdigt und anerkanntwerden, in anderen Schu-len
allerdings werden indieser Hinsicht erheblicheDefizite beklagt.
Insgesamt zeigen die Erfahrungen der beteilig-ten Schulen, dass
Einblicke in die Arbeitswelt (Be-triebserkundungen) und die
Gelegenheit, sich anAnforderungen der Arbeitswelt zu erproben
(Prak-tika) hochwirksame Mittel der Berufsorientierungsein können.
Diese Wirkung ist jedoch in hohemMaße von der Vor- und
Nachbereitung und derEinbettung in ein Gesamtkonzept der
Berufsvor-bereitung und Berufsorientierung an der Schuleabhängig.
Hier liegt die zentrale Funktion des Be-rufswahlpasses als eines
individualisierenden di-daktischen Instruments der Strukturierung,
Re-flektion und Dokumentation des Prozesses der Be-rufsorientierung
und -vorbereitung.
Vorbereitung des Praktikums
Bei der Vorbereitung geht es darum, schon denZugang zu
Praktikumsplätzen unter dem Ge-sichtspunkt der Berufsorientierung
pädagogischzu gestalten. Die Wahl des Praktikumsplatzes be-darf der
schulischen Unterstützung, denn nichtjeder Praktikumsplatz ist
allein schon deshalb ge-eignet, weil ihn die/der Jugendliche selbst
gefun-den hat. Dies wird auch nicht dadurch pädago-gisch sinnvoll,
dass die Praktikumsplatzsuche,wie verbreitet, als Propädeutikum für
die Ausbil-dungsplatzsuche interpretiert wird. Denn beimZugang zu
Praktikumsplätzen führt das sehr un-gleich verteilte soziale
Kapital der Familien zuaußerordentlich ungleichen Chancen. Schon
alleindeshalb sollten Schulen sich herausgefordert se-hen, durch
ihre Zusammenarbeit mit Betriebendiese Unterschiede auszugleichen.
Darüber hin-aus aber ist für die berufsorientierende Wirkungder
Erfahrungen, die junge Menschen in einem
Praktikum machen, entscheidend, welche Bezügezu beruflichen
Vorstellungen sie mit dem Prakti-kum verbinden oder mit welchen
Fragen sie indas Praktikum hineingehen. Die Praktikumsvorbe-reitung
sollte deshalb unbedingt die Formulierungsolcher Fragen einbeziehen
und die Eignung desim Einzelfall gewählten Praktikumsplatzes
unterdiesem Gesichtspunkt bewerten.
Als Bilanz der Arbeit der Schulen im Rahmendes Programms
„Schule-Wirtschaft/Arbeitsleben“kann festgestellt werden, dass die
Entwicklung inden einzelnen Schulen höchst unterschiedlich ist.Da
gibt es Schulen, in denen bis heute der Kon-sens über die
Grundsatzentscheidung einer Öff-nung der Schule zur Arbeitswelt als
einer Zielset-zung der Schulentwicklung noch fehlt, bis hin
zusolchen Schulen, die auf unterschiedlichste Weisebeeindruckende
Konzepte einer solchen Öffnungentwickelt haben und umsetzten und
damit ihreSchülerinnen und Schülern sehr wirksam bei derEntwicklung
beruflicher Orientierungen und de-ren Umsetzung im Übergang von der
Schule inAusbildung und Arbeit unterstützen. Die Heraus-forderung
für die weitere Entwicklung liegt darin,einerseits diese
Schulentwicklung weiterzuführen,denn angesichts des sozialen
Wandels, den wir er-leben, kommen solche Vorhaben nie an ihr
Ziel,andererseits aber auch die vielen positiven Erfah-rungen, die
in Berlin vorliegen, allen Schulen ver-fügbar zu machen, auch
denen, die sich bisher zu-rückgehalten haben. Die Chance einer
solchen Ent-wicklung, dies ist allerdings nur ein subjektiver
Ein-druck, der nicht auf systematischen Erhebungenund Auswertungen
von Daten beruht, ist nicht zu-letzt auch eine höhere
Berufszufriedenheit der anin diesem Sinne erfolgreichen Schulen
tätigenLehrerinnen, Lehrer und Schulleitungen.
Das Betriebspraktikum sollte gezielt genutzt werden. FOTO: CHR.
V. POLENTZ/TRANSIT-BERLIN
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T I T E L b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 51 0
Was soll ich werden?“ Hand auf’s Herz, kanneine Lehrkraft diese
Frage noch guten Gewis-sens mit einem überzeugten Rat
beantworten?Und würde man z.B. „MechatronikerIn“ antworten?
Nicht nur mit der Ausbildungsfähigkeit vonSchulabgängerInnen
steht es nicht zum Besten;auch die Berufswahl- und
Berufsorientierung anSchulen stellt für viele Lehrkräfte an
allgemeinbildenden Oberschulen ein wachsendes Problemdar. Kaum eine
Lehrkraft kann heute alle neuenBerufsbilder und Ausbildungsberufe
oder diemanchmal verschlungenen Wege kennen, die dieAusbildung
geht. Und nur wenige Schüler oderSchülerinnen können nach zehn
Jahren Schule ein-deutig formulieren, was sie denn werden
wollen.
Strukturwandel erfordert Handeln
Es gibt also mehr als genügend Gründe, um dasVerhältnis zwischen
Schule und Wirtschaft nichtnur einer genaueren Prüfung zu
unterziehen, son-dern auch innovative Kooperationsprojekte
zuentwickeln und durchzuführen, um sowohl Lehr-kräften als auch
SchülerInnen ein solideres Funda-ment für Berufswahlentscheidungen
zu geben.
Seit Mitte der siebziger Jahre vollzieht sich inden
Industrieländern ein Strukturwandel von dernationalen
Industriegesellschaft zur globalen wis-sensbasierten Informations-
und Dienstleistungs-gesellschaft, der tief greifende Neuerungen
inStruktur und Inhalt von Arbeit und Beruf zur Fol-ge hat. Um
dieser Erkenntnis im Hinblick auf dieVorbereitung von SchülerInnen
auf das Berufs-und Arbeitsleben sowie auf ihre allgemeine
Le-bensplanung Rechnung zu tragen, startete das Mi-nisterium für
Bildung und Forschung in Abspra-che mit Vertretern der Länder im
Herbst 1999 dasProgramm Schule-Wirtschaft/Arbeitsleben
(SWA-Programm).
Ziel ist die Entwicklung innovativer und nach-haltig wirksamer
Maßnahmen zur Verbesserungder Berufswahl- und Berufsorientierung an
allge-
mein bildenden Oberschulen in Zeiten strukturel-len Wandels in
Arbeit und Beruf zu erreichen. Da-zu wurden im Rahmen des
SWA-Programms bislangin allen Bundesländern sowie bei den
Sozialpart-nern insgesamt 36 innovative Projekte gefördert.
Vier dieser Projekte waren zentrale Service-
undKoordinierungsstellen Schule-Wirtschaft: P:S-WPartner: Schule –
Wirtschaft (Berlin), Netzwerk Zu-kunft (Brandenburg), bremer
agentur schule wirt-schaft (Bremen) und Zentrum Schule &
Wirtschaft(Hamburg).
Alle vier Agenturen wurden inzwischen von öf-fentlichen Trägern
übernommen. Ihre Aufgabe ist es,die Akteure im Handlungsfeld
Schule-Wirtschaft/Arbeitsleben zu unterstützen, bereits
bestehendeProjekte auszuwerten, zu vernetzen und weiter
zuentwickeln sowie neue zu initiieren. Dadurch sollgezielt die
Schulentwicklung vorangebracht wer-den, denn der schnelle Wandel in
der Berufs- undArbeitswelt stellt neue Anforderungen an die
her-anwachsende Generation. Die Berufsausbildungverlangt von jedem
Einzelnen die Bereitschaft,fachliches Wissen ständig zu
aktualisieren, auchaußerfachliche Kompetenzen zu erwerben
undkontinuierlich zu lernen. Es ist die gemeinsameAufgabe von
Schule und Wirtschaft, die Schülerin-nen und Schüler bestmöglich
auf die bereits exi-stierenden und zukünftig noch stärker sich
ent-wickelnden Veränderungen vorzubereiten.
Kooperationen müssen verbessert werden
Die Erfahrungen von Berliner Schulen bei Ko-operationen mit der
Wirtschaft waren jedoch bis-her nicht immer positiv. Die Berliner
Service- undKoordinierungsstelle Partner: Schule-Wirtschaft (P:S-W)
hat in einer Fragebogenaktion zu Beginn desSchuljahrs 2002/2003
versucht, die Stärken undSchwächen der Kooperationen zwischen
BerlinerSchulen und Unternehmen zu erfassen. Von denrund 130
Schulen, die den Fragebogen damalszurückgesandt hatten, gab die
Hälfte an, keine Ko-operationen mit der Wirtschaft zu pflegen. Die
be-stehenden Kooperationen wurden zu etwa 30 Pro-zent als nicht
zufrieden stellend bezeichnet; da-bei spielte eine große Rolle,
dass es in den Unter-nehmen keine festen Ansprechpartner für
Schulengibt und der Kooperationswille sich allzu oft aufreines
Sponsoring beschränkt, nicht aber Maßnah-men zur Berufswahl- oder
Berufsorientierung be-inhaltet. Als wirklich gut funktionierend
wurdennur einige von der IHK Berlin initiierte Partner-schaften
Schule-Betrieb beschrieben.
Die Unterstützung der Berufswahl- und
Berufs-orientierungsmaßnahmen in der Schule ist einwichtiges Feld,
in dem Schulen und die Wirtschaftkooperieren können und müssen.
Zwar wird dasBetriebspraktikum in den 9. Klassen oft als
Orien-tierungsmaßnahme angesehen, obwohl es eigent-lich „nur“
Einsichten in die Welt der Arbeit bzw.der Betriebe vermitteln und
nicht der Überprü-fung des eigenen Berufswunsches dienen soll.
Pra-xisnahe, tätigkeitsorientierte Berufswahl- und
Be-rufsorientierungsmaßnahmen an authentischenOrten und mit Hilfe
von Ersthand-Information
Berufswahl- undBerufsorientierung an Schulen Die Service- und
Koordinierungsstelle Schule-Wirtschaft hilftund unterstützt bei der
Vorbereitung auf das Berufsleben.
von Susanne Schmidtpott, Partner:Schule-Wirtschaft
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durch WirtschaftsvertreterInnen, AusbilderInnensowie
Auszubildenden bieten aber deutlich effek-tivere, realitätsnähere
Formen der Orientierung.
Solche Projekte in enger Kooperation zwischenSchulen,
Unternehmen, Handwerksbetrieben, Selbst-ständigen zu konzipieren
und zu realisieren istdie Aufgabe der Service- und
Koordinierungsstel-len.
Vernetzung und Qualifizierung
Seit der Gründung im April 2002 per Kooperations-vertrag
zwischen der Vereinigung der Unterneh-mensverbände in Berlin und
Brandenburg e.V. (uvb)und der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend
undSport Berlin arbeitet P:S-W daran, im Handlungs-feld
Schule-Wirtschaft überschaubare Strukturenzu schaffen. Dazu werden
Daten zu bestehendenProjekten gesammelt und ausgewertet und die
sogenerierten Informationen und Empfehlungen imInternet, in einem
Newsletter sowie in persönlichenBeratungsgesprächen weitergegeben.
Durch den Auf-bau eines regionalen Netzwerks, dem
verschiedeneInstitutionen aus Wirtschaft und Verwaltung ange-hören,
wird die Basis für eine effektive Vermittlungzuverlässiger und
stabiler Kontakte geschaffen.Im Rahmen eines neuen BMBF-geförderten
Pro-jekts „Transverbund“ wird intensiv an der überre-gionalen
Vernetzung und dem Transfer erfolgrei-cher Produkte, Methoden und
Konzepte derBerufsorientierung gearbeitet.
Einen wesentlichen Bestandteil der Arbeit bildetdie
Qualifizierung von Lehrkräften. Dazu gehörensowohl Veranstaltungen
zur Berufswahlorientie-rung in traditionellen und neuen Berufen wie
zumBeispiel dem Mechatroniker als auch Seminare zurZielorientierung
oder zur Öffentlichkeitsarbeit fürSchulen. Schwerpunkt der Arbeit
von P:S-W ist dieEntwicklung und die Förderung positiver Ansätzein
der Berufswahlorientierung für SchülerInnen.Die Konzeptionierung
von Maßnahmen der allge-meinen Berufswahl- und Zielorientierung ist
dabeinicht auf die 9. oder 10. Klassenstufe beschränkt;Ziel ist die
Ausweitung und Intensivierung dieserMaßnahmen ab Klasse 5 bis zum
Abitur. Auch fürdie Berufsorientierung in Schulfächern außerhalbder
Arbeitslehre entwickelt P:S-W wirksame Kon-zepte.
Damit die Angebote insgesamt nicht zufälligund vereinzelt
bleiben, wurde u.a. SCHULEAKTIVals Rahmenkonzeption entworfen, für
das Schul-senator Klaus Böger die Schirmherrschaft über-nommen hat.
Mit der Teilnahme an SCHULEAKTIV-Programmen können Schulen deutlich
machen,dass die Berufsorientierung ihrer SchülerInnenwichtiger
Bestandteil ihrer schulischen Arbeit ist.
Das Modell „Schule aktiv“
Unter SCHULEAKTIV sind jeweils drei Modulezusammengefasst, die
in Zusammenarbeit mit derWirtschaft geplant und durchgeführt
werden:• Das Modul UnterrichtAktiv richtet sich an Lehr-kräfte und
beinhaltet Veranstaltungen zur Berufs-
weltorientierung in verschiedenen Feldern (z.B.Technische
Berufe, IT- und Medienberufe u.a.) . • Das Modul OrientierungAktiv
richtet sich anSchülerInnen, die praxisnah z.B. in Patenschaftenmit
Auszubildenden den Ausbildungs- undArbeitsalltag in verschiedenen
Berufen kennenlernen können. • Das dritte Modul BewerbungAktiv
bietet dannSchülerInnen, die sich bewerben möchten, wirksa-me
Unterstützung beim Erstellen von Bewer-bungsunterlagen, bei der
Vorbereitung auf das Be-werbungsgespräch u.v.m.
Die Verbände und Unternehmen in Berlin zeigenwachsendes
Interesse an diesem Kooperations-programm zwischen Schulen und
Wirtschaft, sodass bereits u.a. mit der Siemens AG, mit der ME-
TRO c&c sowie mit der Deutschen Bank und vielenanderen
Berliner Unternehmen SCHULEAKTIV-Pro-gramme für Lehrkräfte und
SchülerInnen realisiertwerden konnten.
Alle weiterführenden Oberschulen in Berlin kön-nen an den
Veranstaltungen teilnehmen. Das An-gebot wird regelmäßig auf der
Internetseite oderim Newsletter von P:S-W veröffentlicht. Über
700Lehrkräfte haben bereits die P:S-W-Angebote wahr-genommen und
sind so in engeren Kontakt mitUnternehmen getreten. Für
SchülerInnen bedeutetdies nicht nur entschieden bessere
Bewerbungs-möglichkeiten. Durch die Vielzahl von Angebotenin den
verschiedenen Berufsfeldern ist eine um-fassende und weitreichende
Berufsorientierungmöglich, die von Maßnahmen zur
Berufswahlori-entierung wie „Spiel das Leben!“ und
Ziel-orientierungsseminaren (ZOS) flankiert wird.
Nicht an allen Schulen gibt es ausreichenden
Berufswahluntericht. FOTO: MICHAEL SEIFERT
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Alle Berliner SchülerInnen der zehn-ten Jahrgangsstufe müssen in
die-sem Schuljahr erstmals eine einheitli-che, zentrale Prüfung
ablegen. In denvergangen Schuljahren wurden als Vor-lauf zum
Mittleren Schulabschluss (MSA)zentrale Vergleichsarbeiten
geschrieben.In dem Informationspapier zur Presse-konferenz des
Senators werden unteranderem die Auswertungen und Ergeb-nisse der
Vergleichsarbeiten vom Mai2005 vorgestellt.
Dabei fällt besonders das schlechteAbschneiden der
BerufsfachschülerIn-nen auf. Der Anteil derjenigen, die
dieKMK-Standards für den Mittleren Schul-abschluss erfüllen,
beträgt im Fach Ma-thematik 38 Prozent, im Fach Deutsch
80 Prozent und im Fach Englisch 45Prozent. In der
Presseinformation desBildungssenators heißt es: „Das Abschnei-den
der Berufsfachschulen sieht zu-nächst besorgniserregend aus.
Berück-sichtigt man jedoch die Heterogenitätund die
durchschnittlichen Unterrichts-leistungen der Schülerschaft
dieserSchulform, so ist das Ergebnis wenigüberraschend. Die
Berufsfachschulenwerden zu einem großen Teil vonSchülern besucht,
die den MittlerenSchulabschluss in den zuvor besuchtenHaupt- und
Gesamtschulen nicht er-reicht haben“.
Ausgangslage der Berufsfachschule
Dieser Analyse kann ich als Lehrerin,die seit vielen Jahren in
der ein-
jährigen Berufsfachschule (OBF1)der Hans-Böckler-Schule
(Ober-
stufenzentrum Konstruktions-bautechnik) unterrichtet, nurvoll
und ganz zustimmen. Vie-le Jugendliche, die sich in
der„Warteschleife“ OBF1 befinden,haben bereits eine gescheiter-te
Schulkarriere hinter sichund sind entsprechendschulmüde. Der Mangel
anberuflicher Perspektive de-motiviert sie zusätzlich. Diemeisten
würden gerne eineberufliche Ausbildung ma-chen, müssen aber
mangelsAusbildungsplatz not-
gedrungen ihre Zeit in derOBF1 „absitzen“. Fächer aus
dem allgemeinbildenden Bereichsind häufig mit negativen
Erfah-rungen besetzt. So bringen vielemeiner Schüler im Fach
Englischnur Sprachkenntnisse auf Grund-schulniveau mit. Lern- und
Lei-stungsvermögen sowie Arbeitsbe-reitschaft und soziales
Verhaltenweisen erhebliche Defizite auf.
Die Presseverlautbarung des Bildungs-senators informiert
darüber, dass dieErgebnisse der Vergleichsarbeiten eineneindeutigen
Zusammenhang zwischender Herkunftssprache und dem erfolg-reichen
Abschneiden bei den Vergleichs-arbeiten belegen. Die Ergebnisse
unddie Zusammensetzung meiner Klassen(fast 50 Prozent der Schüler
sind nicht-deutscher Herkunftssprache) sprechenebenfalls für diesen
Zusammenhang.
Mittels der Vergleichsarbeiten in die-sem Jahr waren wir in der
Lage unsereSchüler zu „verorten“ (dieses unsägli-che Wort stammt
aus der Presseinforma-tion des Senators). Im Fach Englischschafften
im Landesmittelwert 55 Pro-zent der Berufsfachschüler den
Ab-schluss nicht. Das Ergebnis an unsererSchule lag sogar darunter.
Dabei ist zubedenken, dass ein großer Teil derOBF1-Schüler schon
vorher durch Nicht-bestehen des Probehalbjahrs „durchden Rost
gefallen war“.
Zu schnell zu gute Noten?
In der Presseinformation des Senatorswird weiterhin
festgestellt, dass dieVornoten der Berufsfachschüler meistbesser
waren als die Noten der Ver-gleichsarbeiten. In der Berliner
Zeitungvom 27.09.05 heißt es dazu: „Durchwegwaren die Noten vor dem
Test besser.Drängt sich der Verdacht auf, dass Leh-rer zu schnell
zu gute Noten geben“.
Auch meine Schüler hatten im Schnittbessere Vornoten. Die
Erklärung fürdieses Phänomen ist einfach: es liegt inder riesigen
Kluft zwischen Schulwirk-lichkeit und vorgegebenem
Anspruchbegründet. Allerdings weise ich den„Verdacht“ zurück, dass
ich diese Noten„zu schnell“ gegeben habe, sondern dasgeschah
jeweils nach reiflicher pädago-gischer Überlegung. Pädagogisch
sinn-volles Handeln erfordert nämlich, aufdie Schüler zuzugehen,
sie da abzuho-
S C H U L E b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 51 2
Fordern ohne FörderungDie Anforderungen des Mittleren
Schulabschlusses sind für die Berufsfachschulen zu hoch.
von Sigrid Falkenstein, Lehrerin an einer Berufsfachschule in
Kreuzberg
-
len, wo sie stehen. Es ist unmöglich, dasSelbstwertgefühl der
Schüler zu stär-ken, Lernen durch Erfolg, Lob und An-erkennung zu
bewirken, wenn man vonAnfang an unrealistische Lernziele ver-folgt.
Im Fall der Berufsfachschule hatdiese pädagogische Einsicht in der
Ver-gangenheit oft zwangsläufig zu einemAbsenken des
Anspruchsniveaus ge-führt und damit vermutlich eine negati-ve
Entwicklung begünstigt, die in denletzten Jahren zu einer
Entwertung desRealschulabschlusses beigetragen hat.
Solch ein – aus der Not geborenes, pä-dagogisch begründetes –
Handeln wirdin Zukunft nicht mehr möglich sein.Die Einführung des
MSA macht es erfor-derlich, den Unterricht an den
Berufs-fachschulen strikt nach den Rahmen-plänen und
Bildungsstandards der KMKfür den Mittleren Schulabschluss
aus-zurichten, damit die (wenigen geeigne-ten) SchülerInnen am Ende
erfolgreichan der Prüfung teilnehmen können. In-sofern bedeutet der
MSA eine Klarstel-lung, die ich begrüße.
Gute Idee, aber nicht übertragbar
Ich glaube, dass die Einführung desMittleren Schulabschlusses
insgesamtein richtiger Schritt auf dem Weg zumehr
Professionalisierung von Unter-richt und Schule ist. „Gestern ist
vorbei:Der MSA ersetzt den Realschulab-schluss – und setzt neue
Maßstäbe“,heißt es für meinen Geschmack zu pla-kativ in der
Presseinformation des Se-nators. Das mag für die
Gesamtschulen,Realschulen und Gymnasien stimmen,nicht aber für die
OBF1-Lehrgänge anden Oberstufenzentren.
Die Maßstäbe, die der MSA setzt, sindaus meiner Sicht nicht auf
die 1-jährigeBerufsfachschule übertragbar! Die obenbeschriebene
Ausgangslage in diesemBildungsgang verlangt ganz andere,neue
Antworten. Der MSA bedeutet nichtdie Lösung, sondern eine
Verschärfungder Probleme!
Zweite Chance zum Scheitern verurteilt
Die Planung der Senatsschulverwal-tung sieht vor, dass die
Schüler am Endeder OBF1 eine zweite Chance erhalten,den MSA zu
erreichen. Ich behaupte –und die Zahlen zu den Vergleichsarbei-ten
belegen das – die meisten Schülerwerden beim zweiten Mal ebenso
kläg-lich scheitern wie beim ersten Mal. Un-ter den jetzigen
Bedingungen halte iches für unmöglich, die Schüler innerhalbeines
Schuljahres so zu fördern, dass
die Defizite von Jahren ausgeglichenwerden können.
Viele KollegInnen wissen nicht, ob sielachen oder weinen sollen,
wenn siehören, dass die Facharbeit im Rahmender Prüfung in
besonderer Form zehnSeiten nicht überschreiten soll. Sie ar-beiten
tagtäglich mit Schülern, dienicht einmal eine Seite fehlerlos
schrei-ben können. Das Konzept der Verwal-tung stammt vom „grünen
Tisch“ undgeht an der Realität in unseren Klassenvorbei. Noch mehr
Jugendliche als bis-her werden vorzeitig aufgeben und aufder Straße
landen. Der Verdacht liegtfür mich nahe, dass es politisch
nichtgewollt ist, diesen Schülern wirklich zuhelfen und dass sie
Jahr für Jahr ledig-lich dazu dienen, die Statistiken
überAusbildungsplatz suchende Jugendli-che zu schönen.
Ich arbeite seit mehr als 36 Jahrenmit benachteiligten
Jugendlichen – vie-le Jahre in einer Hauptschule und seitacht
Jahren in der Berufsfachschule. Ichmag meine SchülerInnen. Es liegt
nichtan ihnen, dass mein Ärger, meineHilflosigkeit und manchmal
meine Mut-losigkeit immer größer werden, son-dern an den
unsäglichen Rahmenbedin-gungen!
Neuorientierung ohne Orientierung
Die Berliner Zeitung schreibt über diePressekonferenz:
„Vergleichsarbeiten ver-langen auch von Lehrern eine
Neuorien-tierung, sagte Böger ausweichend.“ Ja –auch in diesem
Punkt gebe ich dem Se-nator prinzipiell Recht. Allerdings weißich
nicht, wie eine Neuorientierung ineiner Situation geschehen soll,
die ge-kennzeichnet ist von überalterten Kol-legien, zunehmender
Arbeitsbelastung,miserabler Schulausstattung und einerzu großen
Anzahl von Problemschü-lern. Bestenfalls bedeutet die Tatsache,dass
die Aussage des Senators als aus-weichend wahrgenommen wurde,
dassauch ihm die Problematik bekannt ist.
Angesichts der aufgezählten Proble-me passt es ins Bild, dass
Schüler undLehrer bis heute nicht wissen, welcheRechtsverordnung in
diesem Schuljahrfür die Berufsfachschulklassen geltensoll. Klaus
Böger hat es bisher nicht fürnötig gehalten, meinen Schülern
aufihren Brief vom August zu antworten,in dem sie um Klarstellung
der für siegeltenden Rechtslage gebeten hatten.
Ein Schlagwort aus der Pressevorlagedes Senators lautet: „Besser
vorbereitetauf die Prüfungen des Lebens! Darumgibt es jetzt den
Mittleren Schulab-schluss.“ Für die meisten Berufsfach-
schülerInnen heißt das überspitzt for-muliert: Lerne
rechtzeitig, dass du so-wieso keine Chance hast! Darum gibt esjetzt
den Mittleren Schulabschluss!
Bedingungen für eine reelle Chance
Damit die Jugendlichen eine reelleChance für ihr Leben bekommen,
müs-ste die nötige Neuorientierung in der 1-jährigen
Berufsfachschule aus meinerSicht folgende Bedingungen
berücksich-tigen: • Die meisten Berufsfachschüler habenaus den oben
beschriebenen Gründeneinen besonders großen Förderbedarf.Sie
brauchen keine unrealistischen Leis-tungsanforderungen, sondern
wenigertraditionelle Schulangebote und dafürein größeres
Praxisangebot, um Kom-petenzen zu lernen und zu üben, diezum
Bestehen in der Arbeits- und Le-benswelt wichtig sind. Die dabei
zuleistende Erziehungsarbeit bedarf einerintensiven bildungs- und
sozialpädago-gischen Begleitung.• Es wäre sinnvoll, für
leistungsschwa-che Schüler Klassen mit berufsorientier-ten
Abschlüssen einzurichten, derenZiel die Ausbildungsfähigkeit der
Ju-gendlichen sein sollte. In diesen Klas-sen sollte es vorrangig
um die Entwick-lung der sozialen und berufsbezogenenFähig- und
Fertigkeiten gehen, z.B. ei-genverantwortliches Handeln,
Konflikt-,Team- und Kommunikationsfähigkeit,Arbeitshaltung,
Zuverlässigkeit, Pünkt-lichkeit etc. Natürlich sollten die
Ju-gendlichen auch ihre Defizite in denallgemeinbildenden Fächern
reduzierenund dabei über Erfolgserlebnisse dieFreude am Lernen des
Lernens (wie-der)gewinnen.• Selbstverständlich sollen die
Berufs-fachschüler nicht grundsätzlich vomErreichen des MSA
ausgeschlossen wer-den. Leistungsstarken Schülern sollteentweder
nach einer Eingangsprüfungoder nach einer vierteljährlichen
Probe-zeit der Zugang zu MSA abschlussori-entierten Klassen
ermöglicht werden.
Vielleicht könnten die zurzeit als Mo-dellversuch an einigen
Oberstufenzen-tren laufenden BVQB-Klassen (Berufs-vorbereitung mit
Qualifizierungsbau-steinen) einen Lösungsansatz für denBildungsgang
der 1-jährigen Berufs-fachschulen bieten. Weiterhin gilt
alsoFördern durch Fordern, aber nur dann,wenn es sinnvoll
geschieht!
Der Bildungssenator hat im Rahmender Pressekonferenz eine
tatkräftigeUnterstützung für die Schulen verspro-chen. Ich hoffe,
das waren keine leerenWorte!
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Schlechte Stimmung herrscht in denKollegien, zunehmende
Verbitterung,Überlastungsempfindungen; an einigenSchulen steigt
bereits spürbar der Kran-kenstand. Was ist los an der
Institution,die „Priorität“ genießen soll? Was ist losmit den
„Pädagogen“, von denen vielewahre Wunderdinge zu
erwartenscheinen?
Einem poli-tisch zweck-gerichtet er-zeugten undunauslöschli-chen
Vorurteilgemäß ist dertypische Lehr-körper nachdem
lauen,überbezahltenHalbtagsjob amhäufigsten aufdem Golf-
oderTennisplatz an-zutreffen.
Ein Großteilder Arbeit be-ginnt aber erstnach der
Unter-richtszeit und diedauert oft ziem-lich lange: Indivi-duelle
Arbeitsstatistiken ergeben 45 biszu 57 Stunden Arbeitszeit pro
Wocheund stehen damit in Übereinstimmungmit den seit langem
bekannten Arbeits-zeitstudien. Aber sind meist mehr als45 Stunden
in Anbetracht der vielen Fe-rien nicht eigentlich nur ein
Minimum?
Bei LehrerInnen an Schulen mitOberstufe sehen die Ferien
folgender-maßen aus: In den Herbstferien werdendie Abiturvorschläge
verfasst – je nachFach 2-3 Versionen mit Erwartungshori-zont. In
den Weihnachtsferien: Korrek-tur von Klausuren und
Notenfindung,Winterferien: Korrektur der Abiturarbei-ten,
Osterferien: Zweitkorrektur derAbiturarbeiten. Bei KollegInnen
andererSchulzweige gibt es entsprechend an-dere Arbeiten und
Belastungsfaktoren,die sich durch die Einführung von
Ver-gleichstests und mittlerem Schulab-schluss bereits ausgeweitet
haben.
VollzeitlehrerInnen müssen nicht sel-ten 200 SchülerInnen
bewerten und ha-ben mehrere hundert Klausuren undKlassenarbeiten zu
korrigieren (Haus-aufgaben und Tests nicht einberechnet).Nur als
Vergleich: Die gleiche Lehrkrafthatte 1992 noch fast 100
SchülerInnen
weniger zu unterrichten.Individuelle Förderungdes einzelnen
Schülers?Staatssekretär Härtelschlägt vor: Lehrer sol-len dies
außerhalb derUnterrichtszeit tun. Hin-zu kommen weitereAufgaben
durch dasneue Schulgesetz: z.B.Vergleichsarbeiten mit
unzähligen mündlichen Prüfungen inKlasse 10, Curriculum- und
Schulpro-grammentwicklung.
Die Unterrichtsvorbereitung wird dann
wohl nebenher erledigt: Der Beweis derTschebyschewschen
Ungleichung fürBernoulli-Ketten im Leistungskurs Ma-thematik,
spezielle Relativitätstheoriemal nicht auf dem Niveau einer
po-pulärwissenschaftlichen TV-Sendung,Behandlung des RFLP
(Restriktions-Fragmentlängen-Polymorphismus) imZusammenhang mit dem
genetischenFingerabdruck in Biologie schütteltman nicht mal so aus
dem Handgelenk.
Richter an Verwaltungsgerichten ha-ben in Urteilsbegründungen
ausgeführt,dass unter diesen Bedingungen die vor-gesetzte Behörde
billigend einen Qua-litätsverlust in Kauf nimmt. Ein Richtermeinte
sogar in der mündlichen Ver-handlung, bei Schlechtleistung
könne
künftig eine Lehrkraftweder disziplinarrecht-lich belangt
werden,noch dürften ihr, wenndie Leistungsbesoldungeingeführt wird,
darausNachteile erwachsen.
Trotz der eingangs ge-schilderten Überlastungs-gefühle wird die
Längeder Arbeitszeit von denBetroffenen selbst viel-fach gar nicht
so wahrge-nommen und als Stress-ursache erkannt. DieStimmungsmache
gegendie „faulen Säcke“scheint auch auf unsselbst ihre Wirkung
nichtzu verfehlen. Wer aberz.B. um 6 Uhr vor derSchule noch die
letztenArbeiten erledigt und um16.30 Uhr aus der Schulekommt, hat
eben (abzüg-lich Fahrzeit) einen knap-pen 10 Stunden-Tag hin-ter
sich. Und dann begin-nen die Unterrichtsvor-bereitungen und
Korrek-turen. Es geht hier nichtum Jammern, sondern
um eine realistische Sicht der Dinge.Wie in der Erziehung
beginnt das Han-deln nämlich mit der Klarheit im eige-nen Kopf!
S C H U L E b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 51 4
Gefühlte Realitäten Über die Arbeitsbelastung der „faulen Säcke“
in den Berliner Schulen.
von Thomas Schmidt, AG Lehrerarbeitszeit der GEW BERLIN
Kollege, von dir kann man noch lernen! FOTO: PRIVAT
BERUFSBESCHREIBUNG: DER LEHRER
von Thomas Gsella
Der Lehrer geht um sieben rau
s
und ruft vier Stunden: »Leiser
!«
Um kurz nach eins ist er zu H
aus:
nicht ärmer, aber heiser.
Bis vier fläzt er im Kanapee
mit Sekt und Stör und Brötche
n.
Dann nimmt er’s Taxi hin zum
See,
dort steht sein Segelbötchen.
Er legt sich rein und gibt sich h
in
und schaukelt bis zum Morge
n.
So ist sein Leben frei von Sinn,
von Arbeit und von Sorgen.
Dieses Gedicht wurde von der
Süddeutschen Zeitung am 4.11.05 veröffentlicht
-
Eine lange Planungsphase undeine vierjährige Bauzeit ließenso
manchen Skeptiker daranzweifeln, ob das Ufo glücklichlanden würde.
Aber jetzt ist esgeschafft: Unter der markantenDoppelhülle von „The
Brain“wurden in Dahlem elf Instituts-und Seminarbibliotheken
derFreien Universität integriert undbilden nun eine Bibliothek.
DieSammlungen, bisher an acht ver-schiedenen Standorten ver-streut,
waren größtenteils in be-drückender Enge oder auch inder
scheinbaren Geräumigkeitdes Sanierungsfalles
„Rostlaube“untergebracht. Seit Mitte Sep-tember kann man die
unge-wöhnliche Architektur von LordNorman Foster erleben: die
äußereForm des zweiten Fosters in Berlin ausAluminium und Glas
(eine Kuppel, einFahrradhelm, eine Hirnschale, ein In-sekt?), das
Innere eine textile Hülle mitviel Lichtspiel und scheinbar
schwe-benden Etagen.
Der Neubau ist konzeptionell im Zu-sammenhang der Sanierung und
Um-strukturierung der „Rostlaube“ zu se-hen: Durch Konzentration
aller Institu-te an einem Ort in unmittelbarer Nähezur der in eben
diesen Gebäudekom-plex integrierten Bibliothek entsteht einfür die
Freie Universität neuartiges Phi-lologicum. Das Ziel ist die
Optimierungder Forschungs- und Studienbedingun-gen für die
Philologien des Fachbe-reichs Philosophie und
Geisteswissen-schaften: 700.000 Bände, eine Bücher-schlange von ca.
20 Kilometern, ausden Fächern Allgemeine und Verglei-chende
Literaturwissenschaft, Altameri-kanistik und Lateinamerikanistik,
By-zantinistik und Neogräzistik, Lateini-sche, Griechische,
Mittellateinische,Deutsche, Niederländische, Englischeund
Romanische Philologie, Slawistiksowie Vergleichende und
Indogermani-
sche Sprachwissenschaft. Jetzt wird ei-ne Fülle und Breite der
Bücherbeständesichtbar, die bislang nur zu ahnen, abernicht zu
nutzen war. Die Präsenzbiblio-thek bietet 98 Prozent davon frei
zu-gänglich.
Im fünfgeschossigen ovalen Gebäudestehen den Studierenden und
Wissen-schaftlern 640 attraktive Arbeitsplätzezur Verfügung. Dazu
gehört eine opti-male technische Ausstattung: individu-elle
Leselampe, Stromanschlüsse, Inter-netanschluss, Funknetz. Bei der
Aus-wahl der Stühle (Modell: Egon Eier-mann) hatte die Ergonomie
die oberstePriorität; der Stuhl wurde innerhalb ei-ner Vorauswahl
nach „Probesitzen“durch Bibliotheksnutzer ausgewählt.Ein weiterer
großer Fortschritt sind dieÖffnungszeiten von 9-22 Uhr sowie
dieÖffnung am Sonnabend (10-17 Uhr).Die Literatur soll in der
PhilologischenBibliothek zuverlässig greifbar sein,deswegen wird
die Ausleihe vonBüchern die Ausnahme bleiben. Länger-fristiges
Arbeiten an Projekten wirddurch abschließbare, flexible
Caddyserleichtert, so dass mitgebrachte Mate-rialien längere Zeit
in der Bibliothek
verbleiben können. Die „Lese-Lounge“ in der obersten Ebe-ne mit
ihren bequemen Pol-stersesseln ermöglicht das Ar-beiten in anderen
Sitzpositio-nen als der klassischen amArbeitstisch. Für die vom
Bi-bliotheksnutzer mitgebrach-ten Laptops bietet die Biblio-thek
zur Diebstahlsicherungfeste Haken an den Tischen.Hinzu kommen
Arbeitsgrup-pen- und EDV-Schulungsraum,Ausstattungen für
Multimediaund Mikroformen – die tech-nische Ausstattung ist
umfas-send. Die Unterhaltungskos-ten für die Universität
werdendurch ein für Norman Fostertypisches ökologisch orien-
tiertes Klimakonzept (Betonkern-Tem-perierung und Belüftung
mittels nor-maler Thermik) nicht so hoch sein, wiein einem Gebäude
mit konventionellerKlimaanlage.
Für die Kolleginnen und Kollegen wardie Entstehung der neuen
Bibliothekein gewaltiger Veränderungsprozess,der den
bibliothekarischen Alltaggründlich veränderte. Für viele
Studie-rende und Lehrende bedeutet die neueBibliothek auch Abschied
von so manchlieb gewonnenen Leseplatz hinter altenHolzregalen, für
manche MitarbeiterIn-nen heißt das Trennung von ihrer alsheimelig
empfundenen Bibliothek in ei-ner Dahlemer Villa. Aber auch für
buch-und textorientierten Wissenschaftsdis-ziplinen gilt: Nur was
sich ändert,bleibt! Wir haben ein attraktives, zen-trales „Labor“
für Sprach- und Literatur-wissenschaftler eröffnet. Eine
hybrideBibliothek, die die wissenschaftlicheArbeitsbedingungen
optimiert, sowohldie mit gedruckten Sammlungen alsauch die mit
Quellen in digitaler Form –und das in einer spektakulären
Archi-tektur mit viel Atmosphäre zum Lesen,Studieren und
Forschen.
b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 5 H O C H S C H U L E 1 5
The Berlin BrainDie neue Philologische Bibliothek der Freien
Universität.
von Klaus Ulrich Werner, Direktor der Philologischen Bibliothek
der Freien Universität
Beschwingte Lesestube der Freien Universität. FOTO: P.V.
RECKLINGHAUSEN
FOTO
: PRI
VAT
-
Bereits für das Jahr 2004 hatte derBerliner Senat die Streichung
von200 Referendariatsstellen geplant. EineGruppe junger Leute, die
auf einen Re-ferendariatsplatz warteten, führte da-mals zusammen
mit der GEW eine Akti-on dagegen durch und war erfolgreich:Die
Streichung wurde vorläufig zurück-genommen. Nun, anderthalb Jahre
spä-ter, steht diese Streichung wieder vorder Tür. Auch jetzt sind
sehr viele jun-ge Leute von dieser Kürzung betroffenund müssen mit
jahrelangen Wartezei-ten rechnen, um den zweiten Teil
ihrerAusbildung als Lehrkraft beenden zukönnen.
Unerfreuliche Fakten
Deshalb hatte die GEW BERLIN zu-sammen mit der Jungen GEW für
den10. Oktober zu einer Informationsver-anstaltung eingeladen, um
über die ge-
planten Streichungen zu informierenund um über Gegenmaßnahmen
zusprechen. Die Informationsveranstal-tung war gut besucht. Die
Fakten warenallerdings für die Anwesenden nicht er-freulich: Die
Gesamtzahl der Referen-dariatsplätze für ganz Berlin soll von1.700
auf 1.500 heruntergesetzt wer-den. Da zum nächsten
Einstellungster-min im Februar voraussichtlich noch1.230 Plätze
besetzt sind, werden alsonur 270 ReferendarInnen eingestelltwerden
können, wenn diese Kürzungdurchkommt.
Das bedeutet, dass sich statistischauf jeden Platz fünf
BewerberInnenmelden. Für mich ist diese Entwicklungbesonders
dramatisch, da ich bereitsseit zwei Jahren auf den zweiten
Teilmeiner Ausbildung warte. Wenn andereKollegInnen nicht so lange
warten wol-len, müssen sie ihre Ausbildung in ei-nem anderen
Bundesland fortsetzen.Das Land Berlin gibt viel Geld für unser
Studium aus, nutzt dann aber unsereerworbenen Kompetenzen nicht
weiter.Auf der Informationsveranstaltung stelltedie Junge GEW dann
die geplante Aktion„Die Reise nach Jerusalem“ vor.
Protest gegen Schwachsinn
Ein Stuhlkreis soll die freien Referen-dariatsplätze
symbolisieren, die Bewer-berInnen laufen um die Stühle
herum,während ein Bluesmusiker für Stimmungsorgt. Sobald die Musik
aussetzt, muss sichjeder einen Platz erkämpfen. Die Schwie-rigkeit
besteht darin, dass die Zahl derPersonen fünfmal höher ist als die
Zahlder Stühle. Wer einen Platz ergattern kann,bekommt zur
Belohnung ein „Plätzchen“(Keks). Wer leer ausgeht, muss sich
miteinem „Spekulatius“ abfinden und aufeine bessere Zukunft
spekulieren.
Die Aktion fand viel Zuspruch. Vielewollten sich beteiligen,
boten ihre Hilfean. Sie freuten sich über die Gelegen-heit, nicht
mehr nur im stillen Kämmer-lein zu meckern, sondern die
Öffent-lichkeit über die schlechte Einstellungs-situation zu
informieren, sich wehrenzu können. Zur Vorbereitung kamendenn auch
einige, die bisher noch nichtin der GEW aktiv waren, und
habenfleißig Transparente gemalt. Trotz derschlechten
Einstellungssituation war dieStimmung am 28. Oktober unter den
50AktivistInnen super. Die „Reise nach Je-rusalem“ machte den
Umstehenden dieprekäre Lage der Lehramtsausbildungdeutlich. Es ist
im Moment leiderschwachsinnig, was mit mir passiert.Man zahlt mir
teures Hartz-IV-Geld auseiner Kasse des Staates, obwohl mandoch
dieses Geld aus einer anderenKasse des Staates für einen
Referenda-riatsplatz ausgeben könnte. Deshalbwird für mich doppelt
bezahlt: Manzahlt jetzt die teure Wartezeit und spä-ter dann die
Ausbildung. Wo ist da dieLogik?
G E W E R K S C H A F T b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 51 6
Reise nach Jerusalem Erneut sollen Referendariatsplätze abgebaut
werden: Die Betroffenen wehren sich mit einerphantasievollen
Aktion.
von Andrea Scharfenort , Junge GEW
Aktion „Reise nach Jerusalem“ der Jungen GEW am 28. Oktober.
FOTO: C.V. POLENTZ/TRANSIT-BERLIN
-
Erst ab dem 15. Dezember wird dieSenatsbildungsverwaltung
verlässli-che Zahlen über den Bestand an Schüle-rInnen sowie
Lehrkräften in den Berli-ner Schulen haben. Bis dahin gibt esauch
keine Aussage, wie viele Neuein-stellungen zum Schuljahr 2006/07
vor-genommen werden sollen.
Bei einer GEW-Info-Veranstaltung zurEinstellungssituation am 10.
Novembermachten die 80 TeilnehmerInnen ihremFrust über die fehlende
Personalpla-nung in Berlin Luft. Andere Bundeslän-der erteilen
bereits jetzt Einstellungs-zusagen. Damit werden erneut gut
aus-gebildete Lehrkräfte aus Berlin in ande-re Bundesländer
abwandern, vor allemin den Mangelfächern. Frau Pape, dieals
Vertreterin der Senatsbildungsver-waltung an der Veranstaltung
teilnahm,gab zur künftigen Einstellungssituationfolgende
Informationen.
Bis zum Jahr 2014/15 werden zwarrund 10.000 Lehrkräfte in den
Ruhe-stand gehen. Der sich daraus ergeben-de Einstellungsbedarf
wird aber gerin-ger ausfallen, da im gleichen Zeitraumauch die Zahl
der Schüler deutlichzurück geht. In der neuen
Lehrerbe-darfsprognose (Stand 28.10.05) sindvon 2006/07 bis 2015/16
insgesamt8.557 Neueinstellungen prognostiziert.Zum Schuljahr
2006/07 soll es davonlediglich 254 Vollzeit-Stellen für
Neu-einstellungen geben. Allerdings ist indieser Prognose der
aktuelle Bestand anLehrkräften und SchülerInnen nochnicht
berücksichtigt, sodass sich nochVeränderungen ergeben werden.
Auchzum letzten Schuljahr wurden die Ein-stellungszahlen fast im
Monatsrhyth-mus verändert. Die GEW BERLIN gehtdavon aus, dass die
Ausstattung derBerliner Schule unter 105 Prozent lie-gen wird und
damit mehr Neueinstel-lungen notwendig werden.
Die Senatsverwaltung rechnet zurZeit nicht damit, dass es
bereits zumSchulhalbjahr im Februar 2006 Neuein-stellungen geben
wird. Auch darüberwird aber erst nach dem 15.12. Klarheitherrschen.
Wenn es doch Neueinstel-lungen zum 1. Februar geben sollte, istbis
heute nicht klar, ob diese schulbe-
zogen ausgeschrieben oder über die„Nachsteuerung“ besetzt
werden.
Die Stellen für das Schuljahr 2006/07sollen im Januar auf der
Internetseiteder Senatsbildungsverwaltung schulbe-zogen
ausgeschrieben werden. Nachden schulbezogenen Auswahlverfahrenwird
es wieder eine „zentrale Nach-steuerung“ geben.
Für die BewerberInnen ist die unklarePlanungssituation erneut
eine Hänge-partie. Wichtig ist, regelmäßig auf dieInternetseite der
Senatsbildungsverwal-tung zu schauen und auf jeden Fall
bisspätestens 31.3.2005 eine Bewerbungfür das zentrale
Nachsteuerungsverfah-ren abzugeben.
Infos unter www.senbjs.berlin.de/einstellungenund
www.gew-berlin.de/1730.htm. GEW-Mailver-teiler für Bewerber/innen
Berliner Schuldienst:[email protected]
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Unklare PlanungenDie Einstellungschancen für Lehrkräfte in
Berlin bleiben ungewiss.
von Matthias Jähne, Referent für Hochschule und Ausbildung
A N Z E I G E
Aktion „Reise nach Jerusalem“ der Jungen GEWFOTO: C.V.
POLENTZ/TRANSIT-BERLIN
-
Der Abschied von Erich Frister trifftuns Kollegen seiner
jahrelangen Ar-beit in Berlin sehr unmittelbar und nach-haltig,
obwohl wir von seinem langenLeiden wussten. Sein Tod wird auch
vie-le Berliner LehrerInnen berühren, selbstdie, die ihm nicht so
nahe standen.
Erich Frister war Lehrer und Gewerk-schafter, Schulrat, Stadtrat
und Funk-tionär einer Bildungsgewerkschaft, dieer formte. Die
Berliner Schule hat ihmviel zu verdanken. Sein Beitrag zu
Fort-schritten in der bildungspolitischenLandschaft der
Bundesrepublik ist nochheute erkennbar: das 10. Pflichtschul-jahr
in der allgemeinbildenden Schule,die Frequenzen in der Grundschule,
derAufbau der Gesamtschule, die Reform-bemühungen um
Unterrichtsinhalteund Lehrerbildung – in der zweitenHälfte des
vergangenen Jahrhundertsgibt es kein schulpolitisches Thema,dass
Erich Frister als GEW-Vorsitzendernicht angenommen, beeinflusst, ja
mit-bestimmt hat. Die der staatlichen Schu-le anvertrauten Mädchen
und Jungen,ihre Erziehung und Ausbildung standendabei stets im
Mittelpunkt. Die Schüleraus bildungsfernen Elternhäusern konn-ten
seines pädagogischen Engagementsbesonders sicher sein.
Auf Erich Frister konnte man sichverlassen, eine Feststellung,
die im ge-genwärtigen politischen Feld schon Sel-tenheitswert
besitzt. Er war ein Manndes treffenden Wortes. Er regte an,
gabHandlungsimpulse und kämpfte in be-wegten Jahren überzeugend,
leiden-schaftlich und mutig für mehr Chan-cengleichheit und
Demokratie im Bil-dungswesen. Mit der Kraft seiner Argu-mente
konnte er die Dinge klären unddie Menschen stärken, mithilfe
seinermitreißenden Rhetorik gewann er Mit-streiter und
internationale Anerken-nung.
Es ist sein Verdienst, dass Lehrer, Erzie-her und
Hochschullehrer heute fest inder Gewerkschaftsbewegung verankertund
vereint sind. Ihm ist die Statushe-bung der Lehrerschaft zu
verdanken,wenngleich die Statusakzeptanz des Be-rufs weiterhin
täglich neu erarbeitetwerden muss.
Als Präsident der Internationalen Ver-einigung Freier
Lehrergewerkschaftenunterstützte er den Aufbau demokrati-scher
Bildungsgewerkschaften mit glei-cher Konsequenz wie er sich für
denbedrängten Einzelnen einsetzte.
Einem solchen Mann bleibt man im-mer etwas schuldig. Es sind die
vielenpersönlichen Begegnungen und Ge-spräche, die wir nicht
vergessen kön-nen. Und so werden wir auch ihn nichtvergessen.
G E W E R K S C H A F T b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 51 8
Wir trauern um Erich FristerNachruf auf den ehemaligen
GEW-Vorsitzenden.
von Ulrich-Johannes Kledzik und Wilfried Seiring
A N Z E I G E
ERINNERUNG AN ERICH FRISTER
Erich Frister hat mich in meinem ge-werkschaftlichen und
beruflichen Den-ken und Handeln nachhaltig beein-druckt, geprägt
und gefördert. Während meines Studiums von 1962 bis1965 war Erich
Frister Vorsitzenderdes Berliner Verbandes der Lehrer undErzieher,
dem Vorläufer der GEW. Erhat die Studentengruppe des BVL in je-der
Hinsicht gefördert und uns Wegegeöffnet, in dem er uns den
organisa-torischen Rahmen für unsere Arbeitverschaffte und uns
darüber hinausmit richtungsweisenden Impulsen un-terstützte, die er
in die gewerkschaftli-che Arbeit der Studentengruppe ein-brachte.
Unseren Ideen gegenüber warer stets aufgeschlossen und gab unsdie
Möglichkeit, sie innerhalb undaußerhalb der gewerkschaftlichen
Ein-richtungen zu publizieren. Als ich 1968 26-jährig
ausgewähltwurde die Grundstufe der Walter-Gro-pius-Gesamtschule zu
leiten, setzte ersich in seiner Funktion als Volksbil-dungsstadtrat
in Neukölln gegen alleWiderstände durch und machte esmöglich, dass
ich diese Tätigkeit aus-üben konnte, obwohl ich die
laufbahn-rechtlichen Bedingungen noch nichterfüllte. Von ihm habe
ich gelernt, dass manseine Ziele konsequent und beharrlichverfolgen
muss und man Rückschrittehinnehmen kann, ohne seine Ziele ausdem
Auge zu verlieren oder sie garaufzugeben. Susanne Pape
-
b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 5 G E W E R K S C H A F T 1 9
Ob ich Lust hätte, am Sonntag mitins Theater zu kommen. Über
dieGEW seien noch Karten für eine Vorstel-lung zu vergeben. Ein
Blick ins Pro-gramm verspricht Erotik und Dramatik,Komik und
Tragik. Also sage ich ja. Ei-ne Freundin, die auch mit will, sucht
imTIP vergeblich nach der Anfangszeit.Gespielt werde nur Dienstag
bis Sams-tag. Ein falscher Termin? Schlimmer: ei-ne geschlossene
Veranstaltung. Nur fürLEHRERINNEN. Nun ja.
Sonntag, 21. August, kurz nach 20 Uhr.Lockeres Geplauder vor dem
Einlass amHexenkessel Hoftheater im MonbijouPark. Being Othello.
Muss also einen Be-zug zu Shakespeare haben. Kennt jemanddas
Originalstück? Schweigen. Plätze su-chen. Bloß nicht zu weit vorne,
bei die-sen Off-Bühnen weiß man ja nie. Wohldem, der ein mobiles
Sitzkissen dabeihat. Und Autan, wegen der Mücken. Nacheinem
Grußwort der Großen Vorsitzen-den beginnt das Spiel.
Der martialische Auftritt der Truppegerät ein wenig laut, zum
allgemeinen
Entsetzen mischen sich tatsächlich eini-ge Spieler unters
Publikum, „sichern dieLage“, suchen nach Waffen, aber so rich-tig
mitmachen muss zum Glück keiner.Nach etwa zwanzig Minuten
markigerDialoge wandert rechts total spontan dererste größere
Publikumsblock ab. Zuge-geben: Die Texte sind mitunter etwasderb,
die Sprüche nicht neu, aber bitte-schön: Wir sind beim Militär,
noch dazuim Krieg – da geht’s richtig zur Sache.Durch den
provokanten Abgang desBlocks rechts hinten lassen sich die
Da-gebliebenen – wieder ganz spontan undauch total mutig – zu
einigen Zwischen-rufen hinreißen. Das fällt nicht groß auf,weil die
benachbarte Strandbar und vor-beischippernde Ausflugsdampfer
vonvorn und quietschende S- und Fernbahn-züge von hinten ohnehin
für einenständigen Geräuschpegel sorgen. Aberes war echt ganz
spontan und irgend-wie auch aufmüpfig.
Schnitt. Ich erinnere mich an einenAbend im Berliner Ensemble.
Brecht –was sonst. Galileo Galilei. Im Publikum
gefühlte 50 Schulklassen, zum Äußer-sten bereit. Nach einer
Stunde bedrohli-cher Unruhe ergänzt der Hauptdarstel-ler Josef
Bierbichler seinen Text um diedenkwürdige Zeile „Galileo Galilei,
derSchulklassenlangweiler“. Das verstehtaber von den Angesprochenen
keiner.Als nach der Pause ein besonders lusti-ger Eleve mit einem
Laserpointer imAuge von Bierbichler rumIeuchtet,bricht der die
Vorstellung ab und for-dert die hoffnungslos überforderten,aber
leider verantwortlichen LehrerIn-nen auf, mitsamt ihren Spaßvögeln
dasTheater zu verlassen. Das lassen diesich nicht zweimal sagen und
ziehenunter Gejohle und dem Applaus derübrigen Zuschauer ab.
Komisch, dassmir das gerade jetzt einfällt.
Vielleicht, weil ich mich frage, ob diehier versammelten
PädagogInnen – an-nehmend, dass sie ganz unter ihresglei-chen sind
– auch im Berliner Ensembleeinfach gegangen wären. Oder sich
un-terhalten hätten. Oder gar Zwischen-rufe... (Laserpointer
schließe ich jetztmal ausdrücklich aus!). Und wie ist daseigentlich
im Lehrerzimmer? Auf Konfe-renzen, Fortbildungen,
Betriebsausflü-gen, Weihnachtsfeiern? Gibt es dort nichtgenügend
Gelegenheiten, mal ganz keckso respektlos zu sein, wie es ihnen
ihreSchützlinge sonst schmerzfrei vorleben?Oder sollten LehrerInnen
ganz einfachnicht in der Lage sein, zwei Stunden ru-hig zu sitzen
und zuzuhören? Honi soitqui mal y pense.
Zurück bei Being Othello. Das Stückhat Längen, keine Frage. Und
ob die Ad-aption gelungen ist, muss diskutiert wer-den. Aber bitte
in der Pause oder hinter-her! Und nachdem man sich das Stückauch
wirklich angesehen hat. Zugegeben,wer nicht gerade „seinen“
Shakespeareauf der Pfanne hat, wird Mühe haben,die Bezüge zum
Original herzustellen.Aber muss man sich deshalb gleich wieein
Pennäler aufführen? In der Pauselieber an der Bar hängen bleiben?
Odereinfach gehen? Wie überheblich.
Die Spielschar nimmt den pädagogi-schen Abend mit Humor – die
nach derPause entstandene Leere im Publikumwird zynisch kommentiert
(„die habendas Stück nicht verstanden“); und zurBelohnung der
Dagebliebenen spielt dieTruppe in der zweiten Halbzeit lockerauf
und reißt manche zitierwürdigePointe. Eine Kostprobe
(sinngemäß):„Wenn du mit einem Blinden ins Kinogehst, achte darauf,
dass es ein Stumm-film ist.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
* Unser Gastkritiker ist mit einer Lehrerin
glücklichverheiratet; der Name ist der Redaktion bekannt.
Being OthelloEin lehrreicher Abend mit Lehrkräften im
Hexenkessel Hoftheater.
von N.N.*
Hexenkessel Hoftheater mit dem Stück „being Othello“, open air
im Monbijoupark FOTO: BERNDSCHOENBERGER.DE
-
Okay, jeder macht da weiter, wo eraufgehört hat!“ Großes
Geraschel inder Klasse 8 b. Britta schlägt Seite 29 inihrem
Mathebuch auf. „Eine Fabrik hat200000 Taschenrechner produziert.
Ineiner Stichprobe von 400 Stück wurdendrei fehlerhafte
Taschenrechner gefun-den. a) Wie viel Prozent sind das? b)Wenn
dieser Prozentsatz für die ganzeProduktion zutrifft, wie viele
Taschen-rechner sind fehlerhaft?“ Britta schreibtlos. Mia*
betrachtet noch mit kraus ge-zogener Stirn die Aufgabe auf ihrem
Ar-beitsblatt: „Wie viel sind 50 Prozent von1320?“ Zwischen den
beiden Rechen-aufgaben liegen Welten – zwischen denbeiden
14-Jährigen nur drei Schultische.Britta und Mia besuchen die
Ludwig-Andresen-Schule im süddänischen Ton-dern: eine deutsche
Schule nach demdänischen Gemeinschaftssystem.
Zehn Kilometer südlich ist diese Sze-ne zurzeit undenkbar. In
Schleswig-Hol-stein ist die von SPD, Grünen und
demSüdschleswigschen Wählerverband (SSW)geplante „folkeskole“ für
alle Kinder bisKlasse 9 oder 10 zusammen mit derKandidatin Heide
Simonis gescheitert.Die Große Koalition duldet, wenn über-haupt,
nur noch die schrittweise Um-wandlung bestehender Gesamtschulen.In
anderen Bundesländern denkt mannoch nicht einmal über das
Erfolgsmo-dell der skandinavischen Länder nach.Gemeinsamer
Unterricht, der Unter-gang des Abendlands? Britta und Miawissen von
dieser Kontroverse nichts.Sie haben Spaß.
Die Klasse 8 b spielt jetzt nämlich ihrLieblings-Mathespiel
„Trio“. Mädchen ge-gen Jungs. Aus hundert Zahlen an derTafel sollen
die Schüler durch Mal-, Plus-
und Minusrechnung eine Zahl bilden,die Lehrerin Maren Petersen
vorgibt.35? Britta entdeckt sie als erste undgeht an die Tafel:
„Acht mal drei ist 24,plus elf ist 35!“ Punkt für die Mädchen.Jetzt
bekommt Britta sicher Beifall. Nixis’. Sie erwartet auch keinen.
„Jeder weißin der Klasse genau, wo der andere steht.Aber die
Leistung wird nicht so hervor-gehoben“, sagt Mathelehrerin
Petersen.„Es ist genauso wichtig, dass ein Schülerin der Lage ist,
anderen zu helfen, wiedass er gut Prozentrechnung kann.“
Petersen kennt beide Schulsysteme,sie hat ihre Ausbildung zur
Realschul-lehrerin in Deutschland gemacht. DieFrage nach dem
Unterschied kann siesofort beantworten: „Das Soziale! DieKinder
müssen sich hier arrangierenmit unterschiedlichen Gruppen.
DerStärkere muss auch mal Rücksicht neh-
E U R O P A b l z | D E Z E M B E R 2 0 0 52 0
Die Mädels vom Mathe-TrioDie Pisa-Studie zeigt es: Die
Gemeinschaftsschule nach skandinavischem Modell ist die Schule
derZukunft. Ein Besuch der deutschen Schule im dänischen
Tondern.
von Heike Dierbach
Maja (links) und Freunde in der vierten Klasse der
Ludwig-Andresen-Schule, deutsche Schule nach dänischem
Gemeinschaftssystem in Tondern, Dänemark. FOTO: MICHAEL MEYBORG
-
men, mal abwarten oder was erklären.“Nervt das Britta nicht?
„Nö. Wenn ichmich langweile, soll ich es sagen. Dannkriege ich
Extra-Aufgaben.“ Nicht mitMia in einer Klasse zu sitzen, kann
sichdie 14-Jährige gar nicht vorstellen.„Wenn man später mal Chef
ist, kannman ja auch nicht gleich ausflippen,wenn der Sekretär mal
einen Fehlermacht, sondern muss Geduld haben.Das kann ich dann
schon.“
Genau wie Maja und Sisse: Die beidenViertklässlerinnen haben
jetzt MarenPetersen in Mathe. Wieder startet dieStunde mit fünf
Minuten Einzelarbeit,zehn Kinder beugen sich über ihre Hef-te. Es
ist so still, dass man die Heizungrauschen hört. „Die Schüler haben
hierviel mehr Verantwortung für ihren Fort-schritt“, sagt Petersen.
In Deutschlandhätte sie für Maja und Sisse schon Emp-fehlungen
geschrieben für Gymnasium,Real- oder Hauptschule.
Schichtzugehörigkeit spielt keine Rolle
Ihre Klasse auf drei Schulen verteilen?„Voll blöd“ fänden das
Maja und Sisse.„Nur Gute – das ist ja gar keine richtigeKlasse“,
meint Maja, die Ärztin werdenmöchte. Sisse – später Tänzerin
oderHandballerin – kann sich denken, war-um in Deutschland so viele
die Kinderschon mit zehn Jahren trennen wollen:„Das sind die Eltern
von den Guten,weil die sooo stolz auf ihre Kinder sind.An die
anderen denken sie gar nicht!“
Zu genau der Analyse kommt auch Sis-ses Schulleiter Holger
Dudzus. „Die Ge-winner des deutschen Schulsystemssind die Kinder
der oberen Mittel-schicht. Gymnasiallehrer, Ärzte, Rechts-anwälte
und Schulpolitiker gehören zurselben Schicht“, sagt der
37-Jährige.„Aber wir kommen ums Soziale dochnicht herum: Die
Gesellschaft bestehtnun mal aus verschiedenen Gruppen.“Auch Vater
Volker Lorenz, der zwei Kin-der an der Ludwig-Andresen-Schule
hat,findet das Soziale „so was von wichtig!“Das Soziale – in
Tondern ist es kein Klotzam Bein, sondern ein Schmuckstück,das die
145 Kinder und 20 Lehrer stolztragen. So viel Harmonie ist für den
Be-such aus Deutschland fast nicht zuglauben.
Gemeinschaftsschule bis Klasse 9. Klasse
Es ist auch nicht alles Friede, Freude,Smörebröd in Dänemark:
Bei Pisa er-reichte das Land in den Naturwissen-schaften nur Rang
26 – jetzt sollen die-se Fächer gestärkt werden. Ansonsten
landeten die Schüler im Mittelfeld, aberimmerhin einige Plätze
vor Deutsch-land. „Wir müssen beides erreichen“,sagt Petersen: „Das
die Kinder Spaß ha-ben, aber auch etwas leisten.“
Auch in Dänemark werden die Schü-ler aufgeteilt – nur eben
später. „WennSie nach der 4. Klasse trennen, ent-scheiden Lehrer
und Eltern über dieLaufbahn der Kinder“, sagt Dudzus.„Wir
verschieben die Entscheidung, bisdie Schüler alt genug sind, sie
selbst zutreffen.“ Ob sie abgehen wollen odernoch eine freiwillige
Zehnte machen,ob sie aufs Gymnasium oder auf einetechnische höhere
Schule wechseln.
Der Wecker klingelt, die fünf MinutenStillarbeit in der Vierten
sind vorbei.„Wer ist schon bis zur Mitte im Mathe-heft?“, fragt
Petersen. Vier kleine Fingerschnellen