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Körpermaschinen - Maschinenkörper Mediale Transformationen
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World Brain - Global Brain - Electronic Brain

Jan 29, 2023

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Girma Kelboro
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Page 1: World Brain - Global Brain - Electronic Brain

Körpermaschinen - Maschinenkörper

Mediale Transformationen

Page 2: World Brain - Global Brain - Electronic Brain

P(Jr(Jg((JIl(J Internationale Zeitschrift

für Historische Anthropologie

herausgegeben vom

Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie

Freie Universität Berlin

von

Gunter Gebauer, Dietmar Kamper t, Ingrid Kasten

Dieter Lenzen, Gert Mattenklott, Alexander Schuller,

Jürgen Trabant, Konrad Wünsche,

Christoph Wulf (geschäftsführender Herausgeber)

Band 14·2005· Heft 2

Herausgeber/innen

Klaus-Peter Köpping, Bettina Papenburg

und Christoph Wulf

Akademie Verlag

Page 3: World Brain - Global Brain - Electronic Brain

Paragrana ist eine internationale transdisziplinäre Zeitschrift für Historische Anthropologie, die im Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin herausgegeben wird.

Historische Anthropologie bezeichnet Bemühungen, nach dem Ende der Verbindlichkeit einer abstrakten anthropologischen Norm weiterhin Phänomene und Strukturen des Menschlichen im Spannungsfeld zwischen Geschichte, Humanwissenschaft und Anthropologie-Kritik zu erforschen und für neuartige paradigmatische Fragestellungen fruchtbar zu machen.

Paragrana

Herausgegeben vom Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin.

Geschäftsführender Herausgeber: Christoph Wulf, Interdisziplinäres Zentrum für Historische Anthropologie, Freie Universität Berlin, Arnimallee 11, D-14195 Berlin; Tel. 030 838-55701; Fax 030838-56698.

Verlag: Akademie Verlag GmbH, Palisadenstr. 40, D-10243 Berlin; Tel. 030 422006-40; Fax 030422006-57. http://para.akademie-verlag.de

Geschäftsführer: Johannes Oldenbourg.

Verlagsleitung: Dr. Sabine Cofalla.

Anzeigenannahme: Ulrike Staudinger, Oldenbourg Verlagsgruppe, Tel. 089 45051-211; Fax 08945051-266.

Bezugsmöglichkeiten

Bitte richten Sie Ihre Bestellungen an: Oldenbourg Verlagsgruppe, Zeitschriftenservice Postfach 80 13 60, D-81613 München Tel. 089 45051-229/ -399, Fax 08945051-333

Die Zeitschrift erscheint jährlich mit einem Band in zwei Heften.

Jahresbezugspreis 2005: Inland 36,00 €; Ausland 39,00 €; Einzelheftpreis 24,50 € (jeweils zuzüglich Versandkosten). Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, falls es nicht 8 Wochen vor Ablauf eines Kalenderjahres gekündigt wird.

© 2005 by Akademie Verlag GmbH. Printed in the Federal Republic of Germany.

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Paragrana wird als internationale transdisziplinäre Zeitschrift des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie der Freien Universität innerhalb des Programms des Akademie Verlages herausgegeben.

Bisher erschienen: Band 1 (1992) Heft 1 Band 2 (1993) Heft 1 Band 3 (1994) Heft 1 Band 3 (1994) Heft 2 Band 4 (1995) Heft 1 Band 4 (1995) Heft 2 Band 5 (1996) Heft 1 Band 5 (1996) Heft 2 Band 6 (1997) Heft 1 Band 6 (1997) Heft 2 Band 7 (1998) Heft 1 Band 7 (1998) Heft 2 Band 8 (1999) Heft 1 Band 8 (1999) Heft 2 Band 9 (2000) Heft 1 Band 9 (2000) Heft 2 Band 10 (2001) Heft 1 Band 10 (2001) Heft 2 Band 11 (2002) Heft 1 Band 11 (2002) Heft 2 Band 12 (2003) Heft 1/2 Band 13 (2004) Heft 1 Band 13 (2004) Heft 2 Band 14 (2005) Heft 1 Band 14 (2005) Heft 2

Miniatur Das Ohr als Erkenntnisorgan Does Culture matter? Europa. Raumschiff oder Zeitenfloß Aisthesis Mimesis - Poiesis - Autopoiesis Die Elemente in der Kunst Leben als Arbeit? Selbstfremdheit Der Mann Kulturen des Performativen Jenseits Askese Idiosynkrasien Metaphern des Unmöglichen Inszenierungen des Erinnerns Theorien des Performativen Horizontverschiebung - Umzug ins Offene? [(v)erjSPIEL[enj Kants Anthropologie Rituelle Welten Praktiken des Performativen Rausch - Sucht - Ekstase Historische Anthropologie der Sprache Körpermaschinen - Maschinenkörper

Die Zeitschrift erscheint mit zwei Heften pro Jahr, wobei die einzelnen Ausgaben als Diskussionsforen mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten gedacht sind. Paragrana erscheint in den Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch.

Bitte richten Sie alle redaktionellen Anfragen, Anregungen sowie Manuskripte an den geschäftsführenden Herausgeber der Zeitschrift:

Prof. Dr. Christoph Wulf Interdisziplinäres Zentrum für Historische Anthropologie Freie Universität Berlin Arnimallee 11, D-14195 Berlin Tel. 030 838-55701/52723/55987 ,.. Fax 030838-56698/53998 E-Mail: [email protected]

Dieses Heft wurde betreut und für den Druck bearbeitet von Gerald Blaschke und Kat ja Orlowski

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Dieses Heft enthält die Beiträge eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft vom 21. - 23. Oktober 2004

an der Freien Universität Berlin geförderten Symposiums.

Der DFG sei für diese Förderung herzlich gedankt.

Beiheft 1 (2005) Beiheft 2 (2006)

An unsere Autoren

Hand - Schrift - Bild Imagination und Invention

Übertragung von Nutzungsrechten

Mit der Annahme Ihres Manuskripts zur Veröffentlichung in dieser Zeitschrift räumen Sie dem Akademie Verlag für die Dauer von drei Jahren ab dem Zeitpunkt der Erstveröffentlichung räumlich und inhaltlich unbeschränkt das ausschließliche Recht zur Vervielfältigung und Verbreitung Ihres Manuskripts ein. Darüber hinaus übertragen Sie dem Akademie Verlag folgende ausschließliche Nebenrechte: das Recht der Vorabveröffentlichung, des Nachdrucks und der Übersetzung in andere Sprachen, das Recht der Nutzung durch andere Vervielfältigungsformen (z.B. Disketten, CD-ROM, Datenbank usw.) und das Recht der elektronischen Verbreitung (z.B. via Internet, CompuServe usw. oder durch Document Delivery-Services). Der Akademie Verlag ist berechtigt, die ihm eingeräumten Rechte ganz oder teilweise auf Dritte zu übertragen. Darüber hinaus gelten die Bestimmungen des Urheberrechts der Bundesrepublik Deutschland.

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Paragrana 14 (2005) 2 Akademie Verlag

Inhalt:

Klaus-Peter Köpping, Bettina Papenburg und Christoph Wulf Editorial ........................... .. ................................................................................................... 11

Medialität und Metaphern

Sybille Krämer Boten, Engel, Geld, Computerviren. Medien als Überträger ................... ...................................... ... .............................................. 15

Martina Leeker Digitale Operativität und Performance. Geschichte der Mensch-Computer-Schnittstelle im Moment ihrer Hinterfragung, noch bevor sie anfing ........................................................................................................... 25

Holger Schulze Der mediale Körper. Zu einer Anthropologie medial-plastischer Leiblichkeit ................................................... 53

Natascha Adamowsky Mediengeister, Geisterkörper, Körpersinne. Zu Gast bei Mrs. Piper ........... ............ .. ........ .. ...................................................................... 59

Elisabeth von Samsonow N eototemism us Exogamie und Maschine .......... ............................................. ............................ ........ ..... .... .. 71

Maschinenmusik in Zeit und Raum

Jens Gerrit Papenburg Der Synthesizer als Apriori. Körper und Maschinen in der Popmusik ........................................................................... 91

Gabriele Klein Der DJ spielt American Waltz. Um/Ordnungen des Körpers im Medium Tanz ............................................................... 105

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Bernhard f. Dotzler 11edeamaschinen

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oder Der Schematismus der reinen 11 ythologie ...... ........ ....... ..... .... ................................. 119

Yvonne Spielmann Elastische Räume und hybride Körper in den High Tech Science-Fiction Filmen Terminator 2 und The Matrix ............................................................................................ 145

Martin Carle Augmented Phenomenology Zur zeitkritischen Epistemologie medialer Transformationen ....................................... 163

Abgründe des Maschinellen

Dieter Mersch Kunstmaschinen. Zur 11echanisierung von Kreativität .. ............................................................................... 183

Bettina Papenburg Ästhetik des Deformativen-11echanisches Begehren in Cronenbergs Film Crash ................................. ...................... 203

Markus Hallensieben Vorn Cyborg zum Interface Organism: Stelarcs und TC&As Extra Ear-Performance .................................................................... 221

Helmar Schramm 11eta -Maschinen -Thea ter. Zum Verhältnis von Technikgeschichte und Verhaltensökonomie ................................ 235

Historische Perspektiven

Gerburg Treusch-Dieter 11aschinenkörper - Lustkörper 11arquis de Sade als homo sacer der Aufklärung ............................................................... 243

Bernd Hüppauf 11aschine -11ensch - Apparat. Über das Ziehen und Verwischen von Grenzen ............................................................... 259

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Paragrana 14 (2005) 2: Inhalt 9

Jens Schröter World Brain - Electronic Brain - Global Brain Plädoyer für De-Sedimentierung statt Organizismus ..... .. ..... ..... ..................................... 283

Hans Ulrich Reck Das Reale als Artefakt und Grenze. Zu Obsession, Phantasma und Paradoxie singulärer Maschinen .................................... 305

Autorinnen und Autoren ....... .......................................................................... ... ...... ......... 339

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Paragrana 14 (2005) 2 Akademie Verlag

Jens Schröter

W orld Brain - Electronic Brain - Global Brain

Plädoyer für De-Sedimentierung statt Organizismus

Einleitung

Das Gehirn und der Computer' scheinen eine Wahlverwandtschaft aufzuweisen. So wurden und werden (wenn auch zunehmend mit Einschränkungen) Gehirne nach dem Modell des Computers verstanden - was schon auf die selige Frühzeit der Kybernetik zurückverweist.2 Um gleich mit einer Einschränkung zu beginnen: Auf die Rolle der Computermetaphern in der so aktuellen, die .Feuilletons füllen­den und gelegentlich ermüdenden Debatte um die Neurowissenschaften werde ich hier nicht eingehen. Vielmehr wird es um die Wandlungen der Gehirn­metapher in den Diskursen zu Computern, also die Vergleiche von Computern bzw. speziellen Computerapplikationen mit dem Gehirn gehen. Ich werde - zu­gegeben verkürzt und heuristisch - drei Formen der Gehirnmetapher unter­scheiden, die auch den Titel des Textes bestimmen. Dies sind zwei, sich vor und um 1945 herausbildende Formen:

(1) World Brain, verbunden mit den Namen H. G. Wells und Vannevar Bush

(2) Electronic Brain, vor allem im Zusammenhang mit John von Neumann und der frühen Großcomputergeschichte.

Und als weitere:

(3) Global Brain, welche sich erst in den 1980er und vor allem 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts und dann vor allem im Zusammenhang mit den Diskursen zum ab 1990 so genannten Internet und dem 1994 öffentlich gewordenen World Wide Web herausbildet.

Der ganze Sinn dieser Überlegungen ist, allzu organizistischen Modellen von Technik historische Differenzierungen entgegenzuhalten.

2

Im Folgenden ist mit ,Computer' die gegenwärtig hegemoniale Form des binär-digitalen Computers auf der Basis der Von Neumann-Architektur gemeint. V gl. Pias 2004.

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Vom Organizismus zur Dispersion/Konstellation/Sedimentation

Solche Organizismen gehen mindestens auf Kapps 1877 erschienene Studie Grundlinien einer Philosophie der Technik3 zurück und wurden im 20. Jahrhundert insbesondere von Arnold Gehlen 4 und Marshall McLuhan aufgegriffen und weiterentwickelt. Die These lautet in einfachster Form: Technik ist eine Art Organerweiterung oder gar Organersatz. Gehlen hat dies in den programm­atischen Dreiklang ,Organersatz, Organverstärkung und Organentlastung' gefasst. Bezieht man dieses, hier natürlich nur grob skizzierte und von Autor zu Autor immer verschieden ausgearbeitete, Modell auf die Computertechnologie, dann wird diese als eine Ausweitung, Verstärkung und ggf. Ersetzung des Gehirns deutbar. Bei McLuhan heißt es dann direkt in der Einleitung zu Understanding Media und unter dem etwas vagen - da alle verschiedenen elektronischen und elektro-mechanischen Ton- Bild- und Schriftmedien, gleich ob analog oder digital oder keines von beidem, über einen Kamm scherend - Bezug auf die ,Elektrizität': "Heute, nach mehr als einem Jahrhundert der Technik der Elektrizität, haben wir sogar das Zentralnervensystem zu einem weltumspannenden Netz ausgeweitet und damit, soweit es unseren Planeten betrifft, Raum und Zeit aufgehoben. «5

Das heißt aber: Organizistische Modelle neigen dazu, die Entwicklung von Computern zu naturalisieren. Gegen solche Naturalisierungen gehört es - folgt man Lutz Ellrich - "zu den vordringlichsten Aufgaben einer ,Medienphilosophie des Computers' [ ... ] die Prothesen- oder Kompensationstheorie der Technik zu demontieren. ,,6 Und zwar einfach deswegen - wie ich meine - , um die Historizität von Techniken zurück zu gewinnen. Denn Technologien und mithin technische Medien sind kein Verhängnis einer autonomen Evolution unserer Spezies, keine Folge von Naturgesetzen, wiewohl sie durch diese begrenzt werden, sondern Se­dimentationen komplexer, heterogener und kontliktiver diskursiver (technischer, politischer, ökonomischer) Prozesse. Die politische Archäologie der Medien ist sowohl gegen technozentrische Theorien, die ein verkürztes und vor allem selbst metaphysisches Modell der Technik vertreten7

, wie gegen Ansätze die das Dass und das Wie einer Technik aus letztlich biologischen Vorgaben der Spezies Mensch ableiten, stark zu machen. Eine solche Archäologie ist schon deswegen notwendig, um die gerade nicht vom Menschen als leiblichen Wesen, sondern von

4 Vgl. Kapp 1877. Vgl. Gehlen 1957. Sogar bei Jürgen Habermas lassen sich Spuren davon finden, vgl. Habermas 1968. Und natürlich müsste auch Freuds ,Prothesen-Gott' genannt werden. McLuhan 1994, S. 15.

6 Ellrich 2004.

Vgl. kritisch dazu Schröter 2000.

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intersubjektiven und symbolischen diskursiven Prozessen geformten modernen Medientechnologien in ihrer kontingenten Formierung wieder sichtbar zu machen.8 Zu sagen, dass Computer und/oder Datennetze irgendwie eine Ex­tension des Zentralnervensystems seien, verdeckt einfach, dass die Formen und mithin Machteffekte, die die heutigen Techniken aufweisen, schlicht und ergreifend aus diesem Vergleich nicht abgeleitet werden können. Technik ist keine Extension des menschlichen Körpers, aber auch kein unvordenkliches Verhängnis des Seins (oder allein des Pentagons), sondern eine Sedimentation komplexer sozialer Prozesse.9 So gesehen ist ein "Materialismus des Unkörperlichen"lo geboten.

Umso mehr gilt das für Computer, die ja per definitionem programmierbar sind. Sie werden als universelle Maschinen bezeichnet, d.h. sie können im Prinzip alles darstellen und ausfuhren, was sich mathematisch-algorithmisch beschreiben lässt. In verschiedenen diskursiven Praktiken werden diese Maschinen zu verschiedenen Zwecken eingesetzt und stehen somit auch im Rahmen je unterschiedlicher, manchmal eher impliziter metaphorischer Umschreibungen oder Leitbilder - Z.B. Computer-als-Werkzeug oder, heute besonders interessant, Computer-als­Medium. Diese Metaphern umschreiben, wozu die universellen Maschinen dienlich und nützlich sein sollen, denn ,an sich' sind Computer auf keine bestimmte Verwendung festgelegt: ,,[ G] erade in der die Vielfalt der Verwendungen bewahrenden Bestimmung des Computers als Rechenmaschine, Schreibmaschine, Werkzeug, Apparat oder Kommunikationsmedium artikuliert sich ein unentscheidbarer Spielraum von Als-ab-Bestimmungen, die dem Computer nicht äußerlich sind.,,11

Daher war die Geschichte der universellen Maschine von Anbeginn an auch eine Geschichte ihrer Metaphern. 12 Es muss also formuliert werden: "Das digitale Medium ek -sistiert nur in seiner vielgestaltigen Metaphorizität." 13 Es gibt den Computer nur - und selbst das zu sagen ist metaphorisch - als Computer-als . .. Die sowohl in der Informatik, als auch nach der Ausbreitung der Computer zunehmend in populären Texten wie Science Fiction oder einfach der

9

Tholen weist in diesem Sinne darauf hin, dass sich sowohl der ,Mensch' als auch die ,Technik' bzw. die Differenz zwischen beiden allererst dem Symbolischen verdanken, vgl. Tholen 1994, insb. S.112.

Winkler 2000, S. 14 spricht von "Niederschlag", KNIE 1991 in anderem Zusammenhang von ,Härtung' und ,Konsolidierung' technischen Wissens.

10 Fo ucault 1974, S. 40. 11

Tholen 1999, S. 19. Vgl. schon Caron/Giroux/Douzou 1989, S. 150 12 Vgl. Busch 1998.

13 Tholen 2002, S. 54.

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Computerwerbung existierenden Metaphern schließen oft an schon lange vor den Computern bestehende Muster an. Sie können sich - insbesondere wenn sie in populärkulturellen Darstellungen auftauchen - zu futurologischen Prognosen, ja zu technik-utopischen Erzählungen, wie unsere Welt durch die neuen Apparate verändert wird oder werden soll, entfalten und steigern.

An den Metaphern bzw. Leitbildern und gerade an den übersteigerten futurologischen und/oder utopischen Erzählungen werden zeitgenössische Vorstellungen, was Computer ,sind', wozu sie dienen, was sie können etc., ablesbar. Das kann sehr unterschiedliche Funktionen haben. In diesem Sinne können populäre, massenmediale Darstellungen der Computer anschlussfähiges Wissen über den Zweck der jeweiligen Konstellation und ihre Potenziale produzieren: Ein Wissen, das als "Gebrauchsanweisung"14 Z.B. die Kommerzialisierung dieser neuen Techniken begleitet. In einschlägigen po­litischen Papieren zur Informationsgesellschaft wird ja unverblümt gefordert: "Große Anstrengungen sind erforderlich, damit die neuen Technologien eine breite Akzeptanz in der Öffentlichkeit finden und tatsächlich genutzt werden.'''5 Die populären Überzeichnungen der zukünftigen Potenziale der Computer führen aber über das heute gegebene oft weit hinaus: Solche Zukunfts­versprechungen schüren Erwartungen an die Leistungen der neuen Technologien und können akzeptanz- und verkaufsfördernd "bedingungslose Begeisterung für die neue Erfindung"16 erzeugen. Die Computerutopien kolorieren aber keines­wegs nur populäre, sondern bisweilen auch wissenschaftliche Texte. 17

In Folge solcher Leitbilder werden Computer - im Rahmen des technisch Möglichen - mit je anderer Hardware (Peripherien) verbunden und mit je anderer Software programmiert. 18 Im Beispiel des Computers-aIs-Schreib­maschine sind dies als Hardware die heute selbstverständliche Tastatur sowie Drucker und als Software Textverarbeitungsprogramme. Computer entfalten sich im Rahmen verschiedener diskursiver Praktiken zu - wie hier vorgeschlagen werden soll- jeweils anderen Konstellationen. Dieser Begriff lehnt sich eng an das

14 Kittler 1993, S. 10I. 15

Bangemann 1998, S. 275. 16 Wie Giesecke 1998, S. 156 am Beispiel der Erzählungen, die den frühen Buchdruck

begleiteten, formuliert. Er betont weiterhin: "Damit technische Instrumente zum Katalysator sozialer Veränderung werden können, müssen sie, so scheint es, soziale Projektionen auf sich ziehen. Je totaler deren Anspruch, [ ... ] um so größere katalysatorische Effekte sind [ .. . ] zu erwarten." Giesecke bemerkt auch, dass die Buchdruck-Utopien um so mehr fruchteten, je "überzogener" sie waren.

17 Vgl. Winkler 1997. 18 Zur Rolle von Leitbildern in der Technikgenese generell, vgl. Dierkes/Hoffmann/Marz 1992.

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Konzept des ,Dispositivs' bei Foucault an. Dieser definiert ein Dispositiv als ein "heterogenes Ensemble", das "diskursive und nichtdiskursive Elemente" verknüpft. 19 Ein Dispositiv ist "eine Art von - sagen wir - Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand zu antworten. ,,20 Hier wird allerdings der Begriff Kon­stellation vorgezogen, da er weniger durch vielfältigen Gebrauch vorbelastet ist als der des Dispositivs. Konstellation ist hier konkret als ein Ensemble, eine Formation von Metaphern und technikutopischen Erzählungen, Soft- und Hard­ware zu verstehen, welches für eine spezifisch "strategische Funktion"21 in einer spezifischen historischen Situation entstanden ist und sich im Laufe der Zeit auch verändern kann. Der Formierungsprozess bestimmter Konstellationen kann auch als Verbindung unterschiedlicher, bereits bestehender Konstellationen, mit denen verschiedene Metaphorisierungen und (mehr oder minder realistische) Utopien einhergehen, stattfinden - gerade die historische Entwicklung des Netzes ist ein gutes Beispiel dafür. Weil die universelle Maschine notwendig immer Maschine und Metapher ist, ist ihre Geschichte sowohl eine der Metaphern und Utopien, als auch eine Technikgeschichte. Dies bedeutet, dass nicht immer geradlinige Ent­wicklungslinien verfolgt werden können, manchmal muss die genealogische Beschreibung kaleidoskopische Züge annehmen.22

Die Einbindung von Computern in solche Konstellationen ist eine Reduktion ihrer Zweckoffenheit - so wie Z.B. heutige Personalcomputer unter Microsoft­Software (zumindest für den sogenannten Normal-User) von vornherein auf eine Reihe konsumententauglicher Zwecke festgelegt sind. Und diese Spezifizierung der universellen Maschine reicht bis in die Technik selbst: Programmroutinen, die für eine spezifische diskursive Praxis zentral sind, können zu Hardware, zu special purpose chips, sedimentieren. Denn jede Software kann als Verschaltung logischer Gatter Hardware werden, wie Shannon schon 1938 bewiesen hatte?3 1991 unterstrich Ropohl am Beispiel der Taschenrechner: ,,[ A ]lle Wissenselemente und Verfahrensvorschriften sind in der Struktur der Mikrochips gespeichert worden. ,,24 Ein weiteres Beispiel ist die von der kommerziellen Filmindustrie geförderte Entwicklung von Grafikchips, bei denen Algorithmen für die

19 Foucault 1978, S. 119 und 123. 20 Ebd., S. 120. 21 Ebd.

22 Zu Foucaults Methode der "Genealogie", in der - unter Berufung auf Nietzsche - die Frage nach einem einfachen Ursprung zurückgewiesen wird, vgl. Foucault 1993, insb. S. 71. Zur Beschreibung der Geschichte der Informatik "als eine Art löchriges, zerrissenes, unregelmäßiges Meta-Netz" vgl. Levy 1995, S. 943.

23 V gl. Shannon 1938.

24 Ropohl1999, S. 190.

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Generierung von Bildern in Hardware geschrieben und so beschleunigt werden: Sie werden in Computerspielkonsolen, aber auch in PCs eingesetzt. ,Der Computer' ist so gesehen dispers, in Form verschiedener Programmierungen bis hin zum special purpose-chip in unterschiedliche Konstellationen, die zahllosen ,Neuen Medien' und ihren Datenformaten - vom Taschenrechner und CD-Player bis zu den allgegenwärtigen Handys, von der Digitalkamera bis zur Computerspielkonsole - zerstreut?5 Daher bezeichnet Kittler es als "Euphe­mismus, von Neuen Medien im Plural zu reden", wo es doch nur "ein einziges neues Medium, nämlich Digitalcomputer gibt"?6 Und umgekehrt müsste man formulieren, dass es problematisch ist, von ,dem' Computer im Singular zu sprechen.

Was auch bedeutet, dass man die Frage nach den Effekten ,des' Computers anders stellen könnte: Es geht - bei allem Respekt vor Derrick de Kerckhove - nicht darum, eine monolithische, epochale ,Revolution', ausgelöst durch klar diagnostizier bare, spezifische Effekte einer neuen Technik, festzustellen, wie das z.B. in Hinsicht auf Buchdruck oder Fotografie - und eben auch in Bezug auf computerbasierte ,Neue Medien' - oft geschehen ist. Die Prägung, die von Computern auf die Gesellschaft ausgeht, müsste auch und sogar vielmehr als eine Art kulturelle Tradierung beschrieben werden. Und zwar im Sinne Winklers: "Die Praktiken und Erkenntnisse der Vergangenheit haben sich im jeweils aktuellen ,Stand der Technik' aufgestaut. ,,27 Diskursive Praktiken stabilisieren sich eben auch dadurch, dass sie die programmierbare Maschine in ihrem Sinne meta­phorisieren und mit Soft- bzw. bis in ihre Hardware programmieren - mithin mit Vor-Schriften sättigen. Die Diskurse sedimentieren zu Hardware. Es geht so gesehen bei der Beschreibung jeder Konstellation um "eine Vorgeschichte oder Firmenbürokratie, die [u.a., J. S.) umstandslos in Hardware kristallisiert" - wie Kittler, dem gerne und ganz zu unrecht ein platter Technozentrismus unterstellt wird, treffend formuliert. 28 Im Übrigen impliziert der Begriff der Sedimentierung, dass die Gestalt einer gegebenen Konstellation keineswegs Ergebnis einer gezielten

25 Im Übrigen ist im Rahmen dieser Argumentation bemerkenswert, dass ein heute selbstverständlicher Begriff wie ,Personal Computer' sehr früh im Bereich von Taschenrechnern, also Maschinen auf der Basis von special pur pose chips, verwendet wurde, vgl. Tung 1974. Alan Kay führte den Begriff ,Personal Computer' schon in einem Memorandum vom August 1972 ein, vgl. Kay 1972.

26 Kittler 1999, S. 65.

27 Winkler 2002, S. 308/309. 28 Kittler 1998, S. 131. Kittlers Rede vom ,Kristallisieren' verweist wieder auf den Prozess der

Sedimentation. Den Vorwurf des Technozentrismus hat etwa Hans-Ulrich Reck erhoben, vgl. Reck 1996. Dabei sind ihm jedoch einige der Komplexitäten in Kittlers Argumentation entgangen.

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Zurechtmachung (Nietzsche) im Dienste irgendeiner Machtgruppe (z.B. der ominösen ,herrschenden Klasse' oder auch des Militärs) sein muss - und tatsächlich im allerseltensten Fall ist -, sondern eben vielmehr eine Ablagerung sehr verschiedener Praktiken, Diskurse, Leitbilder, die auch in Widerspruch oder in Konflikt zueinander stehen können, darstellt.29

WorldBrain

Im Juni 1945 erschien im Heft Nr. 176 des Atlantic Monthly Vannevar Bushs Aufsatz As We May Think. Bush koordinierte im Zweiten Weltkrieg die Nutzung der Wissenschaften für die Kriegsführung und stand dabei zeitweise mehr als 6.000 Wissenschaftlern vor. Dabei dürfte es genau zu den Problemen des Zugriffs auf die Ergebnisse unterschiedlicher Forschungsgruppen gekommen sein, zu deren Lösung Bushs Text einen Beitrag liefern soll. Bushs Ausgangsproblem ist, inwiefern Wissenschaftler noch effektiv arbeiten können, wenn einerseits "a growing mountain of research" und andererseits der Zwang zu immer größerer "specialization ,,30 zusammenkommen. Es geht um die Frage der Selektion und Organisation von Wissen. Bush beklagt dabei, dass die Methoden der Über­tragung, Speicherung und Ordnung des Wissens überholt und inadäquat seien. Dagegen hält er eine fiktive technische Anordnung, den MEMEX (Abb. 1) bei dem die Mechanisierung der assoziativen Organisation des Wissens den zentralen Aspekt darstellt: "It [= das ,human mind'] operates by association. With one item in its grasp, it snaps instantly to the next that is suggested by the association of thoughts, in accordance with so me intricate web of trails carried by the cells of the brain [ ... ]. [T] he speed of action, the intricacy of trails, the detail of mental pictures is awe-inspiring beyond all else in nature.,,3!

Bush schildert in seinem Text die Aufzeichnungstechnologien seiner Zeit und spekuliert jeweils über deren mögliche Weiterentwicklung in der Zukunft und darüber, wie diese Entwicklungen die neue Form der assoziativen Indizierung herbeiführen könnten.

29 Der Prozess der Sedimentierung wird überdies prinzipiell begrenzt durch die Grenzen des zu einer gegebenen Zeit technisch überhaupt Möglichen.

30 Bush 1945a, S. 10l. 3! Ebd., S. 106.

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290 Paragrana 14 (2005) 2

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Abb. 1: Memex

Da Bush gerade auf die Speicherpotenzen des Mikrofilms setzte, spekuliert er insbesondere über die Option einer zukünftigen ,dry photography', die es ermöglichen soll, ohne langwierigen Entwicklungsprozess sehr schnell Kopien von Dateneinheiten (also beispielsweise von Notizen oder Fotos etc.) anzufertigen. Gegenüber der Selektion aus einem z.B. alphabetisch organisierten Archiv, in welchem inhaltlich völlig unzusammenhängende Materialien in - allzu buchstäblichen - Kategorien verbunden werden, ist für das MEMEX-Konzept entscheidend, dass jeder Benutzer eigene Querverbindungen zwischen Materialien aufbauen kann, indem auf den entsprechenden Mikrofilmvorlagen Markierungen aufgebracht werden. Diese Vernetzungen sind auch für andere Benutzer des Archivs einseh- und ergänzbar. Im Laufe der Zeit soll eine völlig neue Form der Enzyklopädie dadurch entstehen, dass zusammengehörige Daten assoziativ verknüpft und so leicht auffindbar sind. Aber: MEMEX bedeutet Memory Extender, d.h. das menschliche Bewusstsein ist für Bush nicht nur Vorbild - es hat auch Mängel. Insbesondere das Vergessen, das Verblassen der einmal verknüpften Pfade (trails) zwischen verschiedenen Informationen, das die assoziative Speicherung im menschlichen Gedächtnis kennzeichnet, soll im MEMEX überwunden werden. So bahnt sich bei Bush bereits eine Vorstellung an, die noch in den Erzählungen über die Datennetze, die in den 1990ern proliferieren werden, fortleben wird: Nämlich das Phantasma, alles müsse auf immer in den assoziativ organisierten Superenzyklopädien gespeichert werden. So

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spricht Bush am Schluss seines Aufsatzes vom "world's record"32, der alles Wissen umfassen soll.

Jedoch ist weniger klar, wie die dann entstehenden gigantischen (digitalen) Archive beherrscht werden können. Denn in Bushs mentalistischem Konzept wird übersehen, dass das Vergessen in der Ökonomie des menschlichen Gedächtnisses eine wichtige Funktion besitzt. Vergessenes wird nicht einfach gelöscht, sondern wird in Form von Verdichtung und Verschiebung aufgehoben. Ein Äquivalent dafür hat Bush nicht anzubieten - das gilt übrigens auch für das WWW bis zum heutigen Tage, wie Hartrnut Winkler zu recht moniert hat.33

Bushs Skizze eines universellen Archivs gipfelt - offenkundig als Reaktion auf die Gräuel des Zweiten Weltkriegs - in der Utopie, dass durch neue Formen des Zugriffs auf jede Information für jeden eine neue Welt entstehe: "The applications of science have built man a well-supplied house, and are teaching hirn to live healthily therein. They have enabled hirn to throw masses of people against another with cruel weapons. They may yet allow hirn truly to encompass the great record and to grow in the wisdom of race experience. ,,34 Diese Hoffnung beginnt nicht bei Bush. Man kann hier insbesondere auf H.G. Wells verweisen, der sich­wie später Bush - auf die Potenziale des damals neuen Mikrofilms bezieht. Wells hatte 1938 seine Gedanken zu einem World Brain, einer gigantischen Universalenzyklopädie veröffentlicht: "The whole human memory can be, and probably in a short time will be, made accessible to every individual. [ ... ] A common ideology based on this Permanent World Encyclopaedia is a possible means, to some it seems the only means, of dissolving human conflict into unity. ,,35 Als Bushs Artikel erschien, war der erste amerikanische Digitalcomputer ENIAC noch nicht einmal offiziell vorgestellt. Streng genommen bezog sich Bush, der im Übrigen Analogcomputer-Pionier war,36 noch gar nicht auf Computer im heutigen Sinn; wiewohl die gesamte spätere Geschichte der Computer sich auf ihn beziehen wird.

In der hier verfolgten Perspektive ist vor allem zu untersteichen, dass es bei Bush nicht um die Extension des Gehirns geht, sondern um eine (ohnehin problematische) Anlehnung an die assoziativen Strukturen des Gedächtnisses. Es geht darum, wie man in der immer weiter expandierenden Menge von

32 Ebd., S. 108.

33 V gl. Winkler 1997, S. 174.

34 Bush 1945a, S. 108.

35 WeHs 1938, S. 62. WeHs' Konzept ist außerordentlich vielschichtig, vgl. dazu Mayne 1994 und Rayward 1999.

36 V gl. Owens 1991.

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Informationen Ordnungs strukturen schaffen kann, die es erlauben, überhaupt Informationen aufzufinden. So ist das World Brain der Versuch einer Überwindung der die Moderne charakterisierenden Ausdifferenzierung der Wissensbereiche und -formen, ein Problem, das gerade im Zweiten Weltkrieg quälend auffiel. Verbunden damit ist die Hoffnung, dass diese Zugänglichkeit von Wissen friedenschaffend sei: ein nach dem Zweiten Weltkrieg nur allzu verständlicher Wunsch.

Electronic Brain

Einigermaßen anders sieht die Lage aus, kommt man zum diskursiven Feld des Electronic Brain im deutschen Sprachraum besser bekannt als ,Elektronengehirn' (Abb. 2). Wie schon angedeutet geht dieses Feld auf die frühe Kybernetik zurück. 1943 war im Bulletin for Mathematical Biophysics der Aufsatz "A Logical Calculus Immanent in the Ideas of Nervous Activity" von Warren McCulloch und Walter Pitts erschienen.37 Darin entwerfen die Autoren eine Art Notation, um neuronale Interaktionen in Aussagefunktionen umzuformulieren und vice versa. Diese Beschreibung von neuronalen Prozessen als Boole'sche Logik impliziert mindestens, dass es für die logischen Strukturen zweitrangig ist, wie sie aktualisiert werden - ob nun in der Wetware des Gehirns, in Soft- oder in Hardware. In der Tat schrieb im Anschluss an diesen Text John von Neumann 1945 seinen schon erwähnten Entwurf eines Reports über den EDVAC, der als Gründungsurkunde der bis heute maßgeblichen Von Neumann-Architektur gilt. Dabei schien es ihm selbstverständlich, Teile der Maschine mit Gehirnmetaphern zu bezeichnen.38 Überdies führte Von Neumanns Konzept - insofern die Befehle zur Steuerung der Maschine, das Programm, selbst in den Speicher der Maschine abgelegt werden - die Unterscheidung von Hard- und Software ein.

37 V gl. McCulloch/Pitts 1943, insb. S. 129: "Specification of the nervous net provides the law of necessary connection whereby one can compute from the description of any state that of the succeeding state, but the inclusion of disjunctive relations prevents complete determination of the one before."

38 V gl. von Neumann 1993, Abschnitt 4.

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EIn WAS IST WAS Buch

ROBOTER und ELEKTRONENGEHIRNE

NEUER TES5LOFF VERLAG· HAMBURG

Abb. 2: Elektronengehirn Abb. 3: Was ist was? Roboter

Vielleicht war es gerade diese Trennung, die der Differenz von Körper und Geist zu ähneln scheint, welche die anthropomorphisierende Beschreibung von Com­putern als Elektronengehirne begünstigte. So erschien schon 1950 - also noch satte 5 Jahre vor der Diskussion um die ,Artificial Intelligence' - Edmund Callis Berkeleys Buch Giant Brains - or Machines that Think. Von da an pflanzte sich das mal positiv, aber zunehmend abschreckend besetzte Bild einer Maschine, die denkt, fort: Beispielhaft dafür ist das Jahr 1968: Im selben Jahr als im Kino mit dem - nach IBM benannten - HAL 9000 aus Stanley Kubricks 2001 - ASPACE ODYSSEE vielleicht in klassischster Form das bis zur Psychose denkende Elektronengehirn inszeniert wird, erscheint in der BRD in der Buchreihe mit dem schönen fundamentalontologischen Titel Was ist was? ein Kinderbüchlein zu Robotern und Elektronengehirnen (Abb. 3). Ich zitiere diese Beispiele nur, um deutlich zu machen wie das anthropomorphisierende Bild denkender Maschinen distribuiert wurde. Und damit wurde noch etwas distribuiert: Nämlich ein bestimmtes Bild des Denkens39

, das auch das Paradigma der KI unterfüttert und vielleicht erst mit dem Konzept des Artificial Life ab 1987 ins Wanken gerät.4o

Denn Von Neumanns Entwurf kommt ja aus einer Zeit, als es (fast noch) um Sieg oder Niederlage im zweiten Weltkrieg und schon um Sieg und Niederlage im Kalten Krieg ging. Kurz gesagt: Eines der zentralen Probleme war zu dieser Zeit -parallel zur Entwicklung von Kernspaltungswaffen - die Entwicklung der Deuterium/Tritium-Fusionsbombe, der H-Bombe. Die mathematischen

39 Im Sinne von Deleuze 1997, S. 169-215. 40 Vgl. Metzger 1997.

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Probleme, die dafür zu lösen waren, sind so komplex, dass die menschlichen ,Computer' - wie die vorwiegend weibliche Berufsgruppe genannt wurde - damit einfach überfordert waren. So wurde es notwendig, den Bau von Rechnern voranzutreiben. Die erste dieser Maschinen war der dezimale, parallele und durch mechanische Verschaltungen (keine Software!) zu programmierende ENIAC, dessen Design sich bald als uneffizient herausstellte. Die Details dieser Erfindungsgeschichte hat Wolfgang Hagen viel genauer herausgearbeitet4

\ - hier geht es nur um den Punkt, dass das Electronic Brain schon wieder nicht die maschinelle Extension oder Externalisierung des ZNS ist. Es geht schlicht und ergreifend um die Beschleunigung mathematischer Symbolverarbeitunl2 mit dem Ziel möglichst schneller als der Feind zu rechnen. Das gilt übrigens keineswegs nur für die Anfertigung immer grässlicherer Waffensysteme, sondern auch für die Wirtschafts- und Bevölkerungs-, Klima- und Verkehrspolitik, die ohne Simulationen nach 1945 nicht mehr zu denken sind.43

Alles in allem ist die Differenz zu Bushs und WeHs' World Bmin deutlich. Zwar hatte Bush das zweifelhafte Vergnügen, dass sein Aufsatz As We May Think 1946 in der Life spektakulär aufgemacht wiedererschien (Abb. 4) und dort unterstellt wurde, es ginge Bush um denkende Maschinen. Diese Interpretation ist zweifellos verfehlt.44 Erst 1969 wird Bush in seinem Aufsatz Memex Revisited die Möglichkeit eines "Memex learning from its experiences" in Betracht ziehen. Aber dort schreibt er auch über den Begriff "thinking machines": ,,[Tjhis is an unfortunate expression, for they do not think, they merely aid man to do so. ,,45

War das World Bmin bzw. der MEMEX also die Utopie eines verbesserten Gedächtnisses, das allen Menschen Zugriff auf alles Wissen erlaubt und so Frieden bringt; so ist das Electronic Bmin - der eigentliche Übermensch (Abb. 5) -Reaktion auf die Tatsache, dass es immer noch Kriege gibt.

Global Brain

1989 endete der Kalte Krieg, der mutmaßlich nur dank der Atom- und Wasserstoffbomben kalt geblieben ist - sieht man einmal von den zahllosen und entsetzlichen Stellvertreterkriegen ab. Die Blockkonfrontation verschwand und

4\ Vgl. Hagen 2000.

42 Vgl. von Neumann 1970, S. 77, wo deutlich zwischen der "Mathematik" und der "im Zentralnervensystem verwendete[n] Primärsprache" unterschieden wird

43 Vgl. Schröter 2004. 44

Vgl. Bush 1945b. 45 Bush 1969, S. 95.

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der neoliberale Kapitalismus feierte seinen angeblichen Endsieg. Just in dieser Phase erhob sich eine neue, in gewisser Weise auf das World Brain - "You see how such an Encyclopaedic organization could spread like a nervous network"46 -zurückgreifende Form der Gehirnmetaphorik, die sich diesmal an den neuen Datennetzen entzündete.

AS WE MAY THINK A TOP U. S. SCIENnST FORESUS A POS$lau FUTlJaE WORlD IN WHICH MAN~MAOE MACHINES Wil l STAR' TO lH INK

""_~&4_

Abb. 4: Bush in Life

T IME

Abb. 5: Electronic brain

Zwar beruft sich einer der Entwickler des World Wide Web, Tim Berners-Lee, in ähnlicher Weise wie Bush auf den Vergleich zum Gehirn - so bemerkt er, dass sein Hypertext-System die "associations between disparate things" ermögliche, "although this is something the brain has always done relatively well."47 Andernorts heißt es schlicht: ,,[W]eb documents have links, and neurons have synapses."48 Jedoch steht schon hier der Aspekt der Vernetzung im Vordergrund­und nicht so sehr die Frage der assoziativen Anordnung des Wissens. Am Web entzündete sich denn auch bald die Utopie der Rekonstruktion sozialer Einheit durch Vernetzung. Solche Einheits-Motive tauchen schon früher auf: z.B. 1964 bei McLuhan, welcher das "elektrische [ .. . ] Zeitalter" beschwört, "das unser Zentralnervensystem technisch so sehr ausgeweitet hat, daß es uns mit der ganzen

46 Wells 1938, S. 23, Hervorhebung, J. S.

47 Berners-Lee 1998.

48 Berners-Lee 1995.

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Menschheit verflicht und die ganze Menschheit in uns vereinigt. ,,49 Später und schon fast zur Zeit der Datennetze formulierte auch Vilem Flusser die Hoffnung, dass irgendwann die ",Medien' ihren Namen verdienen", nämlich, wenn sie "Menschen mit Menschen verbinden, etwa wie die Nervenstränge die Nervenzellen miteinander verbinden". Eine solche "Gesellschaftsstruktur" wäre eine, "die wohl am besten ein ,kosmisches Hirn' zu nennen sein müßte. ,,50 Man sieht: Es geht nicht mehr nur um ein besseres kollektives Gedächtnis, das Menschen erlaubt alles Wissen aufzunehmen, oder um das schnellere Rechnen von Elektronengehirnen. Es scheint tatsächlich darum zu gehen, dass der ganze Gesellschaftskärper als Extension des Gehirns besser und vor allem einheitlicher und harmonischer fungieren könne.

1983 prägte Peter Russell den Begriff global brain. Er vertritt eine holistische Konzeption, nach der es der zwingende nächste Schritt der Evolution sein müsste, dass sich die Menschen von ihrem, wie es allen Ernstes heißt, ,hautverkapselten Ich' lösen und - mithilfe von Meditation etc. - irgendeine Art gemeinsames Denken entwickeln. Zwar verweist Russell am Rande auf die Rolle von Kommunikationstechnologien, aber im Ganzen bleibt seine Konzeption äußerst esoterisch und undurchsichtig. Als sein Buch 1995 nochmals erscheint, hat sich die Welt verändert: Nun steht das WWW zur Verfügung und folglich wird der Rolle der Medienentwicklung in der Erzählung einer wachsenden evolutionären Verflechtung der Menschen untereinander erheblich mehr Platz eingeräumt. Der Übergang in die Informationsgesellschaft wird "die menschliche Gattung dramatisch beeinflussen, da wir zunehmend in das heranwachsende Netzwerk elektronischer Synapsen integriert werden.,,51 Die Wachstumsrate des kollektiven Systems sei historisch von den Durchbrüchen in der Kommunikationstechnik ständig gesteigert worden. Dabei scheinen die Kommunikationstechniken selbst einer Art natürlichen Evolution zu entspringen, die sich auf immer höhere Stufen des technischen Fortschritts aufschraubt. Technik wird hier zur Ersatzreligion.

Noch ein weiteres Beispiel für den Diskurs des global brain sind die Thesen von Francis Heylighen. Er bezieht sich explizit auf Russell und übernimmt auch dessen organisches, naturalistisches Bild der Gesellschaft. So werden Militär und Polizei zum Immunsystem, welches uns "vor Eindringlingen und

49 McLuhan 1994, S. 17. McLuhans anthropomorphes Bild der elektronischen Kommunikation als Ausweitung des zentralen Nervensystems führt tautologisch dazu, die Strukturierung des Sozialen durch die elektronische Kommunikation selbst wieder nach dem Bilde des Gehirns zu verstehen.

50 Flusser 1992, S. 75.

51 Russell1997, S. 58.

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verbrecherischen Elementen ,, 52 schützt. An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass Heylighen, wie Wells, McLuhan, Russell u.a ., der Gesellschaft einen prinzipiellen Drang nach Einheit und Schließung unterlegt - im Extremfall wird alles Disparate und Externe verbrecherisch. Er formuliert daher, dass es trotz der "permanenten Konkurrenzsituationen, Konflikte und Mißverständnisse zwischen Individuen und Gruppen [ ... ] einen kontinuierlichen Trend zur weiteren Integration zu geben"53 scheint. Die Kommunikationskanäle sind in Heylighens biologistischen Modell naheliegenderweise das zentrale Nervensystem der Gesellschaft, und umgekehrt operieren die Kommunikationsmittel - allen voran das WWW - wie das Gehirn.

Allerdings ist Heylighen seriöser Wissenschaftler genug, um zu sehen, dass diese Analogie nur bedingt trägt - er verweist explizit darauf, dass die Aktivierung von neuralen Knoten im Gehirn sich wohl nicht mit der von Netzknotenpunkten gleichsetzen lässt. Daher fordert er (und entwickelt auch tatsächlich) Verfahren, mit denen das WWW lernend gemacht werden könnte.54 Aber zurück zu seinem Text: Sich auf die schon von Bush angedachte55 und dann 1984 von William Gibson in seinem Kultroman Neuromancer popularisierte Idee einer direkten Verbindung des Gehirns mit den Datennetzen stützend, postuliert Francis Heylighen: "In gewisser Weise würden die Gehirne der Benutzer selbst zu Knoten im Web werden - direkt mit dem Netz verbundene Wissensspeicher, die von anderen Benutzern oder dem Web selbst abgefragt werden könnten. [ ... ] Schließlich könnten die Gehirne der Benutzer so eng mit dem Web verbunden sein, daß es buchstäblich zu einem Gehirn von Gehirnen wird: einem Supergehirn. Gedanken würden über das Web von einem Benutzer zum anderen gehen, von dort zurück ins Web usw. ,,56 Immer wieder erscheint dieses Motiv einer Überwindung der Grenze des Anderen. In dieser Zukunft - so Russell -"werden [wir] uns nicht mehr als isolierte Individuen wahrnehmen, sondern wissen, daß wir Teile eines schnell zusammenwachsenden Netzes sind, die Nervenzellen des erwachenden globalen Gehirns"." Lyotard schrieb, dass es stets eine Aufgabe der "großen Erzählungen" gewesen sei, uns eine "transparente [ ... ]

52 Heylighen 1997, S. 70. 53 Ebd.

54 Es gibt noch weitere Wissenschaftler, die die Metapher des global brain ernsthaft verfolgen, vgl. Goertzel 2002.

55 Vgl. Bush 1945a, S. 108.

56 Heylighen 1997, S. 79.

57 Russell1997, S. 68.

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Gesellschaft"58 zu geben - kann es eine transparentere und potenziell totalitärere Gesellschaft geben, als die von den global brain-Theoretikern erdachte?

Wie dem auch sei: Offenkundig ist, dass die schon bei Wells als ,world brain' angedachten Ideen einer ,zerebralen' Struktur der Gesellschaft nach 1989 florieren. Warum? Es ist wohl eine günstige Konstellation: Dadurch, dass sich der Systemgegensatz auflöste, bestand ein Utopie-Vakuum. Esoterische Heilslehren (,New Age'), zu denen man mindestens auch Russells erste Version des ,globalen Gehirns' zählen muss, hatten bald Konjunktur. Dem alleinig bestehenden neoliberalen Kapitalismus mit seiner Betonung des egoistischen Einzelinteresses konnte die Idee einer nicht mehr sozial(istisch)en, sondern technischen ,Revolution', die sozusagen naturwüchsig Kooperation und Harmonie verspricht, entgegengesetzt werden. Diese Ersatzfunktion zeigt sich gerade bei Pierre Levy, der statt von Global Brain von ,kollektiver Intelligenz' spricht, deutlich: Der "Wunsch nach der Schaffung eines sozialen Bandes"59 manifestiert sich im Cyberspace, der die ,wirkliche Revolution' realisiert. Für Levy ist damit klar - man höre und staune -, dass die "gegenwärtige Informatik [ ... ] eine erstaunliche Verwirklichung des marxistischen Ziels einer Aneignung der Produktionsmittel durch die Produzenten" darstellt und so die kollektive Intelligenz eine neue Form der "Brüderlichkeit, der Gemeinschaftlichkeit, der Wiederaneignung auf der Grundlage der Produktions- und Kommunikationsmittel,,60 erlaubt. Der neuen Instabilität und Unordnung (Stichwort: Balkanisierung) nach der Auflösung der, wie Edwards sagt, Closed World des Kalten Krieges61 tritt die organische Global Brain-Metapher mit ihrem Versprechen von Ganzheit und Stabilität entgegen.

Doch die vielbeschworene Welt, in der wir uns ,nicht mehr als isolierte Individuen wahrnehmen' (Russell), ist wohl nur schwer kompatibel mit der sich herausbildenden politisch-ökonomischen Konstellation, der neoliberalen Deregulierung und Flexibilisierung nach 1989. Jedenfalls muss auch Levy am Ende seiner Überlegungen zur ,wirklichen' Revolution, die Brüderlichkeit ete. realisieren soll, eher kleinlaut zugeben: "Der Cyberspace ändert nichts daran, dass es zwischen Menschen Machtverhältnisse und wirtschaftliche Ungleichheiten

'bt ,,62 gl .

58 Lyotard 1986, S. 98.

59 Levy 1996, S. 25.

60 Ebd., S. 18. Vgl. auch die blumigen Ausführungen in Levy 1997. 61

V gl. Edwards 1996. 62

Levy 1996, S. 32.

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Fazit

Der Versuch war zu zeigen, dass die verschiedenen zerebralen Metaphern und Me­taphernfelder, die sich im Zusammenhang mit verschiedenen Ausformungen und Einsätzen von Computern, ja zum Teil schon davor, gebildet haben, sehr ver­schiedene Implikationen und Funktionen haben. Sie reagieren - ganz im Sinne Foucaults - je auf einen anderen Notstand. Das World Brain sollte helfen der durchaus auch kriegsangetriebenen Explosion des Wissens Herr zu werden - in diesem Diskurs bezog man sich auf die erstaunlichen Eigenschaften des mensch­lichen Gedächtnisses. Das Electronic Brain war dazu ausersehen unsere Feinde zu besiegen und so dem Kapitalismus zum Endsieg zu verhelfen - fur diese Zwecke (Simulation) bezog man sich auf die symbolverarbeitenden Aspekte des Gehirns. Und kaum war der Kalte Krieg zu Ende, entstand schon das Global Brain, um eine Ausflucht gegenüber dem angeblich endgültigen neoliberalen Kapitalismus zu er­öffnen - dabei spielte der Aspekt der Vernetzung der Neuronen als Muster der ge­sellschaftlichen Organisation eine Rolle. Diese drei Formier-ungen lassen sich, so meine ich, nicht einheitlich auf eine Ex-ternalisierung des Gehirns in Form des Computers (oder gar noch unspezifischer und vager: der Elektrizität) zurück­fuhren - zumal die gegenwärtig noch immer dominierenden binär-digitalen Von Neumann-Maschinen schlichtweg nicht wie unser Gehirn arbeiten.63 Statt also somatozentrisch Technik als Organersatz oder als Spiegelung des menschlichen Körpers in den Blick zu nehmen, sollte sie mit Foucault als ,heterogenes En­semble' beschrieben werden; als Konstellation, deren Zusammen-setzung aus dis­kursiven und nicht-diskursiven Elementen, ebenso wie ihre Opera-tivität in jedem historischen Einzelfall neu zu untersuchen ist. Vielleicht ist es sogar so, dass erst die universelle Maschine das somatozentrische Schema aufzusprengen er­laubt, weil zwar die Analogie des Hammers zur Faust noch problemlos durch­geht, aber die ultrakomplexen und bis heute ja undurch-schauten Prozesse des Wahrnehmens, Fühlens, Denkens in Computern, denen das in ihrer Frühzeit so emphatisch zugetraut wurde, offenbar eben gerade nicht einfach abgebildet werden können.

Hier standen in programmatischer Kürze die diskursiven Elemente im Zentrum­jene Leitbilder, die anzeigen, welcher Notstand welche (gehirnbezogene) Kon­stellation der universellen Maschine anstieß. Daran anschließen müsste die genauere Analyse der nicht-diskursiven Elemente des Apparativen. Nur durch diese doppelte Archäologie wird Technik historisch verstanden und bleibt als historische auch politisch analysierbar.64 Es ist die Arbeit einer "De-

63 Y gl. Uhl 2004.

64 ygl. Winner 1999.

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300 Paragrana 14 (2005) 2

Sedimentierung"65 gefordert, die die sedimentierten Prozesse und Formen in der Art eines kulturhistorischen reverse engineering wieder ausgräbt.

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