DIW Wochenbericht Wirtschaft. Politik. Wissenschaft. Seit 1928 2020 17 312 Kommentar von Alexander S. Kritikos Mehr Wertschätzung für Selbstständige und Kleinstunternehmen 299 Bericht von Karl Brenke und Alexander S. Kritikos Wohin die Wählerschaft bei der Bundestagswahl 2017 wanderte • Wählerschaften von CDU/CSU und SPD ähneln sozialer Zusammensetzung aller Wahlberechtigten; gleiches gilt für die Linke • Viele Beschäftigte mit einfacher und mittlerer Qualifikation kehrten diesen Parteien den Rücken; FDP und AfD profitierten • Grüne wurden noch westlicher, sprechen vor allem Frauen und höher Qualifizierte an; AfD zweite Ostpartei und Arbeiterpartei, sie wurde überwiegend von Männern gewählt 311 Interview mit Alexander S. Kritikos
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Wochenericht 17 2020 - DIW · Die enthemmte Mitte. Leipzig. Zu früheren Studien am DIW Berlin in diesem Zusammenhang, siehe etwa Markus M. Grabka und Stefan Bach (2013): Par-teianhänger:
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DIW WochenberichtWirtschaft. Politik. Wissenschaft. Seit 1928
202017
312 Kommentar von Alexander S. Kritikos
Mehr Wertschätzung für Selbstständige und Kleinstunternehmen
299 Bericht von Karl Brenke und Alexander S. Kritikos
Wohin die Wählerschaft bei der Bundestagswahl 2017 wanderte• Wählerschaften von CDU/CSU und SPD ähneln sozialer
Zusammensetzung aller Wahlberechtigten; gleiches gilt für die Linke
• Viele Beschäftigte mit einfacher und mittlerer Qualifikation kehrten
diesen Parteien den Rücken; FDP und AfD profitierten
• Grüne wurden noch westlicher, sprechen vor allem Frauen und höher
Qualifizierte an; AfD zweite Ostpartei und Arbeiterpartei, sie wurde
überwiegend von Männern gewählt
311 Interview mit Alexander S. Kritikos
IMPRESSUM
DIW Berlin — Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e. V.
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Telefon: +49 30 897 89 – 0 Fax: – 200
87. Jahrgang 22. April 2020
Herausgeberinnen und Herausgeber
Prof. Dr. Pio Baake; Prof. Dr. Tomaso Duso; Prof. Marcel Fratzscher, Ph.D.;
Prof. Dr. Peter Haan; Prof. Dr. Claudia Kemfert; Prof. Dr. Alexander S. Kritikos;
Prof. Dr. Alexander Kriwoluzky; Prof. Dr. Stefan Liebig; Prof. Dr. Lukas Menkhoff;
Dr. Claus Michelsen; Prof. Karsten Neuhoff, Ph.D.; Prof. Dr. Jürgen Schupp;
Prof. Dr. C. Katharina Spieß; Dr. Katharina Wrohlich
Chefredaktion
Dr. Gritje Hartmann; Dr. Wolf-Peter Schill
Lektorat
Dr. Markus M. Grabka
Redaktion
Dr. Franziska Bremus; Rebecca Buhner; Claudia Cohnen-Beck;
Dr. Anna Hammerschmid; Petra Jasper; Sebastian Kollmann; Bastian Tittor;
Sandra Tubik; Dr. Alexander Zerrahn
Vertrieb
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RÜCKBLENDE DIW WOCHENBERICHT VOR 90 JAHREN
Die Kreditbanken. (Mitgliedsbanken des Federal-Reserve-Systems.)
Die Ausweise der wöchentlich berichtenden „Mitglieds-banken“ zeigen, daß das eigentliche Ziel der im Novem-ber eingeleiteten Geldmarktpolitik – Ausdehnung der Kredite an Industrie und Handel zwecks Ankurbelung der Wirtschaft – bisher nicht erreicht worden ist. Die Kredite an die Wirtschaft sind nicht nur nicht gestiegen, sondern von November 1929 bis Juni 1930 um mehr als 1,3 Mrd. Doll. gesunken. Die erhöhte Geldflüssigkeit hat zwar die Kreditbereitschaft der Banken erheblich verstärkt; die Wirtschaft hat aber von der Möglichkeit erweiterter Kredit-aufnahme keinen Gebrauch gemacht.
Allerdings muss man berücksichtigen, daß auch im Jahr 1924 und Ende 1927 die „open-market-policy“ nicht sofort eine Zunahme der Kredite an die Wirtschaft ausgelöst hatte. Die Geldmarktverflüssigung hatte damals zur Folge, daß die Kreditbanken in stärkerem Umfang festverzins-liche Wertpapiere kauften; die Banken hatten so ihre Mit-tel der Wirtschaft auf dem Weg über den Kapitalmarkt für neue Investitionen zugänglich gemacht. Aber auch dies ist gegenwärtig nur in geringem Umfang erreicht wor-den. Zwar haben die Banken seit Februar wieder Bonds angekauft; aber die Erhöhung ihrer eigenen Wertpapier-bestände beschränkt sich diesmal auf 430 Mill. Dollar gegenüber 1080 Mill. Dollar im Jahr 1924 und 600 Mill. Dollar Ende 1927.
Wählerschaften der CDU/CSU, SPD und Linke sind der Erwerbsstruktur aller Wahlberechtigten sehr ähnlich, Wählerschaften der Grunen, AfD und FDP sind sehr spezifisch
Audio-Interview mit Alexander S. Kritikos www.diw.de/mediathek
ZITAT
„CDU/CSU und SPD können als Volkspartei bezeichnet werden, wenn es darum geht,
dass die Wählerschaft einer Partei den Querschnitt der Bevölkerung abbildet. Bei den
letzten Wahlen haben sie jedoch erhebliche Verluste erfahren. Das Konzept der Volks-
partei ging bei der Bundestagswahl 2017 nicht mehr auf.“
— Alexander S. Kritikos —
AUF EINEN BLICK
Wohin die Wählerschaft bei der Bundestagswahl 2017 wanderteVon Karl Brenke und Alexander S. Kritikos
• Wählerschaften von CDU/CSU und SPD ähneln trotz erheblicher Verluste immer noch der sozialen Zusammensetzung aller Wahlberechtigten; seit 2017 gilt das aber auch für die Linke
• Union und SPD waren als Volksparteien zuletzt weniger erfolgreich; sie vereinten vor allem überproportional viele Menschen im Ruhestand auf sich
• Wahlentscheidend waren 2017 die Wanderungen von Beschäftigten einfacher und mittlerer Qualifikation, von denen die AfD und FDP profitierten, zu geringerem Teil auch die Linke
• Grüne sprechen vor allem höher Qualifizierte, mehr Frauen und eher Personen in Westdeutschland an
• AfD erreichte insbesondere die Arbeiterschaft und gewann zudem Stimmen bei Männern und in Ostdeutschland
300 DIW Wochenbericht Nr. 17/2020 DOI: https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-17-1
ABSTRACT
Trotz relativ großer Stammwählerschaften verbuchten CDU/
CSU und SPD bei der Bundestagswahl 2017 starke Verluste,
weil sich viel mehr frühere Wähler und Wählerinnen abwand-
ten als neue hinzukamen. Vor allem Beschäftigte mit Tätig-
keiten mittlerer Qualifikation sowie Personen im Ruhestand
kehrten ihnen den Rücken. Das zeigen Auswertungen des
Sozio-oekonomischen Panels. Von den Abwanderungen von
den Unionsparteien konnten vor allem die FDP aber auch die
AfD profitieren, von der Schwäche der SPD alle Parteien im
Bundestag, also Union, Grüne, Linke, FDP und AfD. Letztere
konnte zudem viele vorherige Nichtwähler und Nichtwählerin-
nen gewinnen. Die Wählerschaften von Union und SPD ähneln
stark der sozialen Zusammensetzung aller Wahlberechtigten,
weshalb sie als Volksparteien gelten können. Dieser Partei-
typus war zuletzt offenkundig immer weniger erfolgreich, denn
die Parteienlandschaft wurde vielfältiger. Auf der einen Seite
haben sich die Grünen etabliert, die vor allem höher qualifi-
zierte Beschäftigte eher in Westdeutschland ansprechen. Hier
macht ihnen vermehrt die Linke Konkurrenz. Auf der anderen
Seite findet sich die AfD, die insbesondere die im Erwerbsle-
ben stehenden „kleinen Leute“ erreicht, die eher auf Distanz zu
den etablierten Parteien gehen.
Die Corona-Krise hat den regierenden Unionsparteien, also der Christlich Demokratischen Partei Deutschlands und der Christlich-Sozialen Union (CDU/CSU) in den jüngsten Mei-nungsumfragen von Mitte April 2020 unversehens Zustim-mungswerte von bis zu 38 Prozent beschert. Ihr Koaliti-onspartner, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), hat von der Euphorie weit weniger profitiert. Sie ver-harrt in den Umfragen noch unter dem Wahlergebnis aus dem Jahr 2017. Die Gewinner der letzten Bundestagswahl, die Freie Demokratische Partei (FDP) und die Alternative für Deutschland (AfD), haben in den jüngsten Umfragen an Zustimmung verloren. Aber aus der Vergangenheit ist auch bekannt, dass schwere Krisen und andere Ereignisse zu erheblichen Schwankungen bei den Zustimmungsraten für die einzelnen Parteien führen können, die nach gewisser Zeit auch wieder abflachen. Man denke zuletzt an die SPD, deren Umfragewerte zu Beginn des Jahres 2017 nach Verkündung der Kanzlerkandidatur von Martin Schulz kurz sehr stark nach oben und danach ebenso stark nach unten schossen.
Jenseits dieser Stimmungsschwankungen ist es daher von zentraler Bedeutung Wählerwanderungen zwischen Bun-destagswahlen und Veränderungen in den Wählerstruktu-ren zu analysieren. Denn infolge der letzten Wahl vom Sep-tember 2017 hat sich die Sitzverteilung im Deutschen Bun-destag erheblich verschoben. Die traditionell bedeutendsten Parteien CDU/CSU sowie SPD hatten stark an Zustimmung verloren: Zusammengenommen ging ihr Stimmenanteil um 13,8 Prozentpunkte oder um ein Fünftel zurück. Gleichzei-tig haben die FDP sowie die AfD zusammengenommen um 13,8 Prozent zugelegt. Für Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gab es leichte Zuwächse.
Über das Wählerverhalten in der Bundesrepublik liegt eine Vielzahl politologischer Studien vor. Dabei wurde – zum Teil auf Basis theoretischer Fundierungen1 – schon seit den fünfziger Jahren die Sozialstruktur der Wählerschaft
1 Zu den theoretischen Grundlagen des Zusammenhangs zwischen Sozialstruktur und Wähler-
schaft siehe u. a. Franz Urban Pappi (1977): Sozialstruktur und politische Konflikte in der Bundes-
republik. Köln; Ulrich Kohler (2002): Der demokratische Klassenkampf, zum Zusammenhang von
Sozialstruktur und Parteipräferenz. Dissertation, Mannheim.
Wohin die Wählerschaft bei der Bundestagswahl 2017 wanderteVon Karl Brenke und Alexander S. Kritikos
untersucht.2 Am DIW Berlin wurden beispielsweise Studien zu den Anhängerschaften der Grünen,3 der Linken4 sowie
2 Zu neueren wissenschaftlichen Studien siehe u. a. Dieter Roth (2008): Empirische Wahlfor-
schung, Berlin; Franz Urban Pappi und Susumu Shikano (2007) Wahl- und Wählerforschung,
Baden-Baden; Jürgen W. Falter und Harald Schön (2014): Handbuch Wahlforschung, Berlin. Sie-
he zuletzt auch: Elmar Bräler, Johannes Kiess und Oliver Decker (2016): Politische Einstellungen
und Parteipräferenz: Die Wähler/innen, Unentschiedene und Nichtwähler 2016. In: Oliver Decker,
Johannes Kiess und Elmar Bräler (Hrsg.): Die enthemmte Mitte. Leipzig. Zu früheren Studien am
DIW Berlin in diesem Zusammenhang, siehe etwa Markus M. Grabka und Stefan Bach (2013): Par-
teianhänger: Wohlhabende neigen zu Union und der FDP – und zu den Grünen. DIW Wochenbe-
richt Nr. 37, 11–18 (online verfügbar); und Karl Brenke und Alexander S. Kritikos (2017): Wähler-
struktur im Wandel. DIW Wochenbericht Nr. 29, 595–606 (online verfügbar).
3 Siehe Martin Kroh und Jürgen Schupp (2011): Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur Volks-
partei. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 12, 2–9 (online verfügbar).
4 Martin Kroh und Thomas Siedler (2008): Die Anhänger der „Linken“: Rückhalt quer durch alle
Einkommensschichten. Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 41, 628–634 (online verfügbar).
der AfD durchgeführt.5 Im Folgenden wird der Blick darauf gerichtet, wie sich das Wahlverhalten zwischen den Bundes-tagswahlen der Jahre 2013 und 2017 verändert hat. Dabei geht es um Wählerwanderungen zwischen den Parteien, um die sozioökonomische Zusammensetzung der Wählerschaf-ten der einzelnen Parteien sowie um deren Veränderungen zwischen den beiden Bundestagswahlen. Neben den Volks-parteien liegt ein weiterer Schwerpunkt auf der AfD-Wäh-lerschaft. Die Partei zog 2017 erstmals in den Bundestag
5 Siehe Martin Kroh und Karoline Fetz (2016): Das Profil der AfD-AnhängerInnen hat sich seit
Gründung der Partei deutlich verändert. DIW Wochenbericht Nr. 34, 711–719 (online verfügbar);
Knut Bergmann, Matthias Diermeier und Judith Niehues (2016): Die AfD – eine Partei der Bes-
serverdiener? IW-Kurzberichte 19; sowie Marcel Fratzscher, Christian Franz, Alexander S. Kritikos
(2018): AfD in dünn besiedelten Räumen mit Überalterungsproblemen stärker. DIW Wochenbericht
ein und kam dabei auf einen zweistelligen Stimmenanteil, nachdem sie 2013 noch knapp gescheitert war. In den vier Jahren dazwischen hatte sich das inhaltliche Profil der Par-tei deutlich gewandelt.
Datengrundlage sind die Umfrageergebnisse des Sozio- oekonomischen Panels (SOEP). In der seit kurzer Zeit vor-liegenden Erhebung des Jahres 2018 wurde von den Befrag-ten ihre Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2017 erfasst (Kasten).6 Entsprechende Ergebnisse gibt es auch für die Wahl von 2013. Die SOEP-Erhebungen haben zum einen den Vorteil, dass sie mehr Informationen über die Wähler-schaften bereitstellen als etwa die amtliche „repräsentative Wahlstatistik“.7 Zum zweiten zeichnet sich das SOEP im Ver-gleich zu vielen anderen Umfragen zum Wählerverhalten durch eine relativ hohe Fallzahl aus. So wurden 2018 rund 23 000 Wahlberechtigte befragt. Dadurch wird es möglich, die Daten stark aufzugliedern. Zum dritten handelt es sich beim
6 Zum Sozio-oekonomischen Panel vgl. Jan Goebel, Markus M. Grabka, Stefan Liebig, Martin
Kroh, David Richter, Carsten Schröder, und Jürgen Schupp (2019): The German Socio-Economic
Panel Study (SOEP). In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 239(2), 345–360.
7 Die repräsentative Wahlstatistik enthält im Wesentlichen nur Angaben über das Alter und über
das Geschlecht; zudem erlaubt sie eine regionale Zuordnung, weil es sich um eine Quotenstichpro-
be handelt. Vgl. u. a. Elisabeth Noelle (1963): Umfragen in der Massengesellschaft. Einführung in
die Methoden der Demoskopie. Reinbek; Peter von der Lippe (2011): Wie groß muss meine Stich-
probe sein, damit sie repräsentativ ist? Diskussionsbeitrag aus der Fakultät für Wirtschaftswis-
senschaften der Universität Duisburg-Essen, Nr. 187; Peter von der Lippe und Andreas Kladobra
(2002): Repräsentativität von Stichproben. In: Marketing, 24. Jg., Nr. 2, S. 227–238.
SOEP um Wiederholungsbefragungen, sodass das Verhalten derselben Personen im Zeitverlauf betrachtet werden kann.
Stimmenverluste der Union nutzten FDP und AfD, die der SPD waren breit gestreut
Rund drei Fünftel der Wählerinnen und Wähler stimmten 2017 für eine Partei, die sie bereits im Jahr 2013 gewählt hat-ten. Die höchste Wählerbindung gelang 2017 den Unions-parteien mit rund 70 Prozent; SPD und Grüne wurden von rund zwei Dritteln wiedergewählt (Tabelle 1). Bei der Linken und der FDP trifft das nur auf etwas mehr als die Hälfte der 2013 abgegebenen Stimmen zu. Die AfD ist Schlusslicht bei der Wählerbindung. Ihr ging die Hälfte der Zustimmung aus dem Jahr 2013 verloren.
Gleichzeitig verbuchten FDP und AfD 2017 die größten Stim-mengewinne, sodass die Wählerabgänge weit überkompen-siert wurden. Die AfD hatte 2017 nur jede siebte Stimme auch schon 2013 erhalten, der Großteil der Stimmen kam also aus den anderen politischen Lagern: Rund ein Viertel der AfD-Wählerinnen und -Wähler hatte vier Jahre zuvor noch die Union gewählt, ein knappes weiteres Viertel entwe-der SPD oder Linke. Ein drittes Viertel hatte 2013 gar nicht gewählt. Abwanderungen gab es bei der AfD hin zur FDP sowie zu der Gruppe der Sonstigen. Hierunter fallen Per-sonen, die 2017 mit Erst- und Zeitstimmen entweder unter-schiedliche Parteien oder die kleineren Parteien gewählt
Tabelle 1
Wählerwanderungen zwischen den Bundestagswahlen 2013 und 2017
CDU/CSU SPD Grüne Linke FDP AfD Sonstige1 Nichtwählerschaft
Von der Wählerschaft der oben genannten Partei bei der Bundestagswahl 2013 waren … Prozent bei der Bundestagswahl 2017 Wählerschaft der
CDU/CSU 71 10 6 6 23 7 9 11
SPD 5 64 14 9 5 8 20 10
Grünen 2 7 65 2 4 3 10 2
Linken 1 5 7 56 2 2 9 5
FDP 8 4 4 2 55 13 6 4
AfD 6 4 0 13 5 50 14 11
Sonstige1 2 2 4 5 3 12 23 4
Nichtwählerschaft 4 5 1 8 4 7 9 52
Insgesamt 100 100 100 100 100 100 100 100
Von der Wählerschaft der oben genannten Partei bei der Bundestagswahl 2017 waren … Prozent bei der Bundestagswahl 2013 Wählerschaft der
CDU/CSU 79 8 9 6 40 28 19 11
SPD 8 71 17 18 16 12 14 11
Grünen 2 6 61 9 5 1 9 1
Linken 1 2 1 48 2 10 6 4
FDP 2 0 1 1 17 1 1 1
AfD 0 1 1 0 4 14 6 1
Sonstige1 1 4 5 7 4 10 27 4
Nichtwählerschaft 6 7 4 11 9 24 16 65
Nichtwahlberechtigte 1 1 1 1 2 0 2 3
Insgesamt 100 100 100 100 100 100 100 100
1 Einschließlich Personen, die mehrere der genannten Parteien wählten.
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel (v35); eigene Berechnungen.
haben – oder die über ihr Wahlverhalten von 2017 keine Aus-kunft geben wollten.
Die FDP hatte 2017 nur jede sechste Stimme bereits vier Jahre zuvor erhalten. Dabei hat die FDP relativ mehr Stim-men von den Unionsparteien angezogen als von anderen; 4 von 10 FDP-Wählerinnen und -Wählern hatten sich 2013 noch für die Union entschieden. Weitere 15 Prozent der
FDP-Wählerschaft wählte 2013 noch die SPD. Ein Blick auf Grüne und Linke zeigt: Auch wenn beide Parteien ihr Wahl-ergebnis von 2013 auf 2017 kaum verbessern konnten, profi-tierten sie aber gleichwohl erheblich von der Schwäche der SPD. Jeweils 17 Prozent der Wählerschaft hatten 2013 noch die SPD gewählt. Zu guter Letzt: Es gab auch wechselsei-tige Wählerwanderungen zwischen Union und SPD, von denen die Union netto weitaus mehr profitierte als die SPD.
Tabelle 2
Parteitreue sowie Stimmenverluste und -gewinne von CDU/CSU, SPD, Grune und LinkeAnteil der Personen, die 2013 und 2017 dieselbe Partei wählten, und Anteil einer Gruppe am Stimmengewinn bzw. -verlust, in Prozent
1 Parteitreue Wählerinnen und Wähler wählten 2017 dieselbe Partei wie 2013.2 Saldo von Zugängen und Abgängen an Stimmen 2017 gegenüber 2013.3 Einschließlich Erwerbstätige. 4 Ohne Personen in einer Ausbildung.
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel (v35); eigene Berechnungen.
zwischen den Geschlechtern, wohl aber nach dem Erwerbs-status und den Qualifikationsniveaus. Als besonders partei-treu erwiesen sich die Beschäftigten in einigen akademi-schen Berufen sowie Personen in der Unternehmensleitung. Relativ oft gewechselt hatten 2017 indes Arbeitslose sowie abhängig Beschäftigte mit manuellen Tätigkeiten (wie sol-che in Handwerksberufen oder industriellen Fertigungsbe-rufen). Dementsprechend änderten auch Personen mit mitt-lerem Qualifikationsniveaus häufiger ihr Wahlverhalten als Personen mit Hochschulabschluss.
Vor allem das veränderte Wahlverhalten der Beschäftigten mit qualifizierten manuellen Tätigkeiten hatte 2017 bei der Union, der SPD, aber auch bei den Linken zu Stimmenver-lusten geführt. Gravierende Verluste hatten der CDU/CSU und der SPD zudem die Personen im Ruhestand beschert. Diese Parteien hatten auch unter der Abkehr der Personen
Recht stabil ist die Gruppe der Nichtwählerinnen und Nicht-wähler. So hat von denen, die schon 2013 nicht zur Bun-destagswahl gingen, die Hälfte auch vier Jahre später nicht gewählt. Von den übrigen haben 2017 einige für die AfD, für die Union, für kleinere oder für mehrere Parteien gestimmt.
Parteitreue steigt mit Alter und Qualifikationsniveau
Die Parteitreue – gemessen daran, ob jemand sowohl 2013 als auch 2017 dieselbe Partei gewählt hat – variiert erheblich nach sozialen Merkmalen. Vor allem fällt auf: Mit dem Alter nimmt die Parteitreue zu (Tabelle 2). Junge Leute haben folg-lich bei den Wahlen viel häufiger die Partei ausgetauscht als die Älteren. Es zeigen sich auch deutliche Ost-West-Unter-schiede: Die Ostdeutschen haben öfter gewechselt als die Westdeutschen. Keine nennenswerten Unterschiede gibt es
Tabelle 3
Parteitreue sowie Stimmenverluste und -gewinne von FDP und AfDAnteil der Personen, die 2013 und 2017 dieselbe Partei wählten, Anteil einer Gruppe am Stimmengewinn, sowie Veränderung der Stimmen einer Gruppe, alle Angaben in Prozent
Merkmale in Jahr 2014
FDP AfD
Parteitreue Wählerschaft1
Stimmengewinne2
Veränderung 2017gegenüber 2013 in
Prozent
Parteitreue Wählerschaft1
Stimmengewinne2
Veränderung 2017gegenüber 2013 in
Prozent
Status
Abhängig Beschäftigte mit
einfachen Tätigkeiten 64 5 293 82 18 994
qualifizierten Tätigkeiten 47 31 369 50 36 259
in akademischen Berufen 50 5 119 62 3 73
Selbständige, ManagerInnen 69 11 136 50 5 178
In Ausbildung3 69 11 241 51 1 39
In Rente oder Pension3 51 31 178 37 20 186
Arbeitslose3 29 2 848 19 10 1421
Sonstige Nichterwerbs-personen
51 4 258 73 6 365
Ausbildung4
Keine 38 38 282 71 11 432
Lehre, Fachschulabschluss 64 48 291 50 81 332
Hochschulabschluss 69 13 139 47 8 61
Alter
Bis 34 Jahre 60 27 301 50 21 209
35 bis 54 Jahre 61 29 204 55 47 342
55 bis 69 Jahre 54 26 212 60 25 277
70 Jahre und älter 45 17 163 24 7 99
Region
Westdeutschland 54 82 196 45 53 175
Ostdeutschland 69 18 385 65 47 510
Geschlecht
Männer 56 47 170 54 69 290
Frauen 54 53 285 44 31 196
Insgesamt 55 100 216 50 100 252
1 Parteitreue Wähler und Wählerinnen wählten 2017 dieselbe Partei wie 2013.2 Saldo von Zugängen und Abgängen an Stimmen 2017 gegenüber 2013.3 Einschließlich Erwerbstätige. 4 Ohne Personen in einer Ausbildung.
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel (v35); eigene Berechnungen.
mit qualifizierten nicht manuellen Tätigkeiten zu leiden. Im Gegensatz dazu hat die Linke bei dieser Gruppe und bei Per-sonen im Ruhestand zugelegt, überdies bei den Personen in Ausbildung. Und sie hat nur im Westen dazu gewonnen, im Osten dagegen an Zustimmung verloren. Für ihre klassi-sche Klientel, also für Wählerinnen und Wähler mit manu-ellen Tätigkeiten sowie generell mit einfachen Jobs, hat die Linke indes an Attraktivität eingebüßt. Die Grünen haben ihre treueste Anhängerschaft unter den Personen in akade-mischen Berufen, insbesondere sozialwissenschaftlicher oder künstlerischer Art. Ein erheblicher Teil ihrer Stimmen-gewinne bei der letzten Bundestagswahl rührt daher, dass sie hier noch zulegen konnten, während sie bei Personen im Management sowie bei Unternehmerinnen und Unterneh-mern eher verloren haben. Auch haben vermehrt Personen im Ruhestand „Grün“ gewählt. Außerdem ist auffallend, dass die Grünen Stimmenzuwächse vor allem bei Frauen hatten.
Zugewinne fur die AfD vor allem von Beschäftigten mit mittlerer Qualifikation, von Personen im Ruhestand und von Männern
Anders liegen die Dinge bei AfD und FDP. Weil sich ihre Stimmenanteile von 2013 auf 2017 mehr als verdoppelt haben, sind schon deshalb vor allem die Zugänge an Stimmen von
Interesse.8 Hinzu kommt in beiden Fällen eine vergleichs-weise geringe Parteitreue. Es gab daher eine erhebliche Fluk-tuation bei den Wählerstimmen.
Am treuesten waren im Falle der FDP die Auszubildenden sowie die Personen der Selbständigen- und Managergruppe (Tabelle 3). Bei der AfD fällt vor allem auf, dass – anders als bei den übrigen Parteien – die Personen mit einfachen Tätig-keiten und geringer Qualifikation der Partei die Stange gehal-ten haben. Zudem zeigt sich nur teilweise das übliche Mus-ter, dass mit dem Alter die Parteitreue zunimmt. Bei der AfD steigt mit dem Alter die Parteitreue nur unter den Erwerbs-tätigen; von den Personen im Ruhestand, die 2013 die AfD gewählt hatten, wandten sich die meisten vier Jahre später wieder ab. Bei der FDP zeigt sich im Unterschied zu allen anderen Parteien ein umgekehrtes Verhältnis von Alter und Parteitreue: Es sind die Jüngeren, die der Partei zwischen den beiden Wahlen treu geblieben sind.
8 Die AfD und die FDP erhielten 2013 noch wenig an Zustimmung; entsprechend gibt es auch in
den Daten des SOEP für den Zeitverlauf keine große Fallzahlen um die Wähler und Wählerinnen so
differenziert wie bei Union, SPD, Grünen und Linken aufzugliedern. Es sind nur gröbere Aufschlüs-
selung möglich.
Tabelle 4
Ausgewählte Merkmale der Wählerschaften der Parteien 2013 und 2017
Anteil der Beschäftigten im öffent-lichen Dienst an allen Erwerbstätigen (in Prozent)
27 29 40 27 27 30 15 27
1 Einschließlich Personen, die mehrere der genannten oder andere als die genannten Parteien gewählt haben sowie der Personen ohne Angabe über ihr Wahlverhalten.
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel (v35); eigene Berechnungen.
Beide Parteien haben über die verschiedenen sozialen Grup-pen hinweg flächendeckend stark hinzugewonnen. Bei der FDP schlugen vor allem die zusätzlichen Stimmen von Per-sonen mit einem Job mittlerer Qualifikation sowie von Per-sonen im Ruhestand zu Buche. Bei den Auszubildenden und bei den Personen im Management bzw. in unternehmeri-scher Leitung konnte die Position geringfügig verbessert wer-den. Die AfD hat ebenfalls vor allem bei Erwerbstätigen mit einer mittleren Qualifikation zugelegt, namentlich bei den abhängig Beschäftigten in einem Lehrberuf. Zudem hat die Partei eine erhebliche Zahl an Personen ohne Ausbildung sowie von Personen im Ruhestand angezogen, obwohl sie in
dieser Gruppe gleichzeitig viele der Wählerinnen und Wäh-ler aus dem Jahr 2013 verloren hat. Vor allem Männer haben zu den Stimmengewinnen beigetragen und – gemessen an der Zahl der Wahlberechtigten – relativ viele Ostdeutsche.
Wählerstruktur der AfD hat sich am stärksten verändert; die Linke kommt im Westen an
Zwischen zwei Wahlen lassen sich im Allgemeinen keine großen Änderungen in der Wählerstruktur der einzelnen Parteien erwarten. Das trifft im Vergleich von 2013 zu 2017 insbesondere auf CDU/CSU und SPD zu. In der Tendenz
Tabelle 5
Wählerstruktur der Parteien nach Erwerbsstatus 2013 und 2017In Prozent
In schulischer oder universitärer Ausbildung2 3 5 10 6 9 5 4 5
In Rente oder Pension2 41 39 17 33 37 28 26 33
Arbeitslose2 2 3 2 10 2 2 11 4
Sonstige Nichterwerbspersonen 5 4 6 4 6 4 6 5
Insgesamt 100 100 100 100 100 100 100 100
1 Einschließlich Personen, die mehrere der genannten oder andere als die genannten Parteien gewählt haben sowie der Personen ohne Angabe über ihr Wahlverhalten.2 Einschließlich Erwerbstätige.
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel (v35); eigene Berechnungen.
wurden beide Parteien jedoch auch etwas „westlicher“ (Tabelle 4).
Konzentriert man sich ausschließlich auf die Wählerstruk-tur der Bundestagswahl 2017, sind die Wählerschaften der Unionsparteien und der SPD sozialstrukturell relativ breit gestreut. Aber im Vergleich zum Bevölkerungsschnitt erfah-ren sie trotz nicht unerheblicher Verluste immer noch bei einer Wählergruppe überproportionalen Zuspruch: bei den Personen im Ruhestand (Tabelle 5). Das war auch schon bei der Wahl 2013 so. Die Wählerschaften von Union und SPD sind mithin relativ alt, und zwischen 2013 und 2017 hat sich die Alterung fortgesetzt. Hier macht sich offensichtlich bemerkbar, dass die älteren Menschen den einmal gewähl-ten Parteien besonders häufig treu bleiben.
Bei der Linken zeichnet sich eine markante Änderung in ihrer Wählerstruktur ab: 2013 galt sie noch als Ostpartei, da sich sogar in absoluten Zahlen mehr Ost- als Westdeutsche für die Linke entschieden. Bei der Wahl 2017 verschob sich die Zusammensetzung der Linken-Wählerschaft jedoch „in Richtung Westen“. Damit einher ging auch eine Verschie-bung ihres Wählerprofils: weg von den Personen im Ruhe-stand, Arbeitslosen und abhängig Beschäftigten mit ein-fachen Jobs hin zu Beschäftigten in Lehrberufen, Perso-nen in Ausbildung (insbesondere universitärer Art) und hin zu manchen Personen mit akademischem Abschluss (etwa Lehrkräften). Entsprechend ist das Durchschnittsalter ihrer Wählerschaft gesunken.
Die FDP war 2013 noch eine der „westlichsten“ Parteien und eine der „männlichsten“. Mit der Wahl von 2017 ist ihr in ihrem Wählerprofil ein Schritt in die Gegenrichtung gelun-gen: Der Anteil der ostdeutschen und der weiblichen Wäh-lerschaft ist kräftig gestiegen. Auch ist die Wählerschaft im Schnitt jünger geworden. Noch stärker als die Linke hat die FDP den Anteil der Beschäftigten mit Tätigkeiten mittlerer Qualifikation erhöht.
Bei der AfD hat sich im Vergleich zur Bundestagswahl 2013 die Wählerstruktur am stärksten verändert. Sie ist 2017 zur zweiten wichtigen Ostpartei (neben der Linken) aufgestie-gen. Und rund zwei Drittel ihrer Wähler waren 2017 Män-ner. Während die AfD 2013 noch relativ stark von akademi-schen Beschäftigten und Personen im öffentlichen Dienst gewählt wurde, hat sie sich 2017 zu einer Arbeiterpartei ent-wickelt. Ebenso gaben Personen in schulischer oder univer-sitärer Ausbildung dieser Partei im Jahr 2017 im Vergleich zu 2013 kaum noch ihre Stimme. In keiner anderen Partei war 2017 unter der Wählerschaft der Anteil der Beschäftig-ten mit manuellen Tätigkeiten und einfachen, nicht manu-ellen Tätigkeiten so hoch wie bei der AfD.9 Auch relativ viele Arbeitslose hatte die Partei 2017 für sich gewonnen. Die stark veränderte Wählerstruktur dürfte mit der veränder-ten inhaltlichen Ausrichtung der Partei zusammenhän-gen, die sich früher vor allem die Kritik an den diversen
9 Damit werden frühere Analysen zur Parteibindung bestätigt, wonach die AfD sich zunehmend
zu einer Arbeiterpartei entwickelt, siehe Brenke und Kritikos (2017) a. a. O.
Eurorettungsmaßnahmen auf ihre Fahnen geschrieben hatte und nach der hohen Asylzuwanderung 2015/2016 der Ein-wanderungspolitik oberste Priorität einräumte.
Im Gegensatz dazu hat sich bei den Grünen in der Zusam-mensetzung der Wählerschaft von 2013 zu 2017 kaum etwas verändert. Die Grünen sind die „westlichste“ Partei (mit 91 Prozent ihrer Wählerschaft), aber auch die „weiblichste“ Partei (56 Prozent ihrer Wählerschaft). Die Grünen können allein deshalb als Gegenpol der AfD angesehen werden. Das gilt auch für weitere sozioökonomische Merkmale. So ist in der Wählerschaft der Grünen der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, der Angestellten mit qualifizierten, nicht manuellen Tätigkeiten und der Anteil der Erwerbstä-tigen in akademischen Berufen bei weitem am höchsten. Bei der AfD sind die entsprechenden Anteile am niedrigs-ten. Dasselbe gilt für die Personen in schulischer oder uni-versitärer Ausbildung. Andererseits finden sich Arbeiterin-nen und Arbeiter wie generell Beschäftigte mit einfachen Tätigkeiten selten in der Wählerschaft der Grünen – noch seltener als bei der FDP.10
10 Das bestätigen auch Ergebnisse auf Kreisebene, wonach AfD und Grüne in Kreisen mit entge-
gengesetzten Strukturmerkmalen gewählt werden, siehe Marcel Fratzscher, Christian Franz und
Alexander S. Kritikos (2019): Grüne und AfD als neue Gegenpole der gesellschaftlichen Spaltung in
Deutschland, DIW Wochenbericht Nr. 34, 591–602 (online verfügbar).
Abbildung 1
Stimmenanteil, der auf die Personen mit Bindung zu einer Partei entfielAnteil an allen Stimmen für die jeweilige Partei in Prozent
0
10
20
30
40
50
60
70
CDU/CSU SPD Grüne Linke FDP AfD
Bundestagswahlen im Jahr 2013 und 2017
’13 ’17 ’13 ’17 ’13 ’17 ’13 ’17 ’13 ’17 ’13 ’17
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel (v35); eigene Berechnungen.
Die Bindung an eine Partei nimmt im Zeitverlauf ab
Das Ausmaß der Verbundenheit mit einer Partei kann unter-schiedlich stark sein. Manche Wahlberechtigte entschei-den sich bei jeder Wahl neu. Andere wählen dieselbe Partei immer wieder – mitunter lebenslang. Das SOEP erfasst auch Informationen über die Parteibindung. Im Unterschied zur Parteitreue, die das Wahlverhalten in der jeweiligen Bundes-tagswahl wiedergibt, wird hier erhoben, welcher Partei die Befragten unabhängig von Wahlen zuneigen und wie stark das der Fall ist.11
Bezieht man die Personen mit einer Parteibindung auf die Wähler und Wählerinnen der jeweiligen Partei, zeigt sich, dass der entsprechende Anteil unter den Grünen am höchs-ten ist, dicht gefolgt von Union und SPD (Abbildung 1). Auf-fallend ist, dass bei nahezu allen Parteien der Stimmenanteil von Personen mit einer Parteibindung 2017 geringer war als bei der Wahl 2013. Die Ausnahme ist die AfD. Sie hat mit-hin nicht nur stark an Stimmen hinzugewonnen und ihre Wählerstruktur stark verändert, sondern dabei auch die Bin-dung an die Partei erhöht.
Wird ein längerer Zeitraum in den Blick genommen, zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Abnahme der Parteibin-dung. Verfügbar sind Daten ab 1984. In der „alten“ Bundes-republik, also noch vor der Wiedervereinigung, gaben fast zwei Drittel der Wahlberechtigten an, dass sie einer Partei zuneigen würden (Abbildung 2). Inzwischen ist es im verein-ten Deutschland weniger als die Hälfte. Die Zeitreihen wei-sen deutliche Ausschläge mitunter von Jahr zu Jahr auf; es könnte sein, dass einzelne Ereignisse die Bindung beeinflus-sen. Ein Beispiel ist die Flut von 2002, die die Zustimmung zu der damaligen Kanzlerpartei SPD erhöhte. Auf densel-ben Effekt dürften die stark gestiegenen Umfragewerte für die Unionsparteien angesichts der aktuellen Corona-Krise zurückzuführen sein.12 Die Wirkung solcher Ereignisse auf die Zustimmung für die Parteien hält, wie Abbildung 2 zeigt, nicht lange an.
Die Auflösung der Parteibindung erfolgte nicht stetig, son-dern in Schüben. Besonders stark bemerkbar machte sich die deutsche Einheit. Durch den Beitritt der DDR stieg die Zahl der Wahlberechtigten. Viele der früheren DDR-Bür-gerinnen und -Bürger hielten – wohl aufgrund ihrer Erfah-rungen – eher Abstand zu den Parteien. Das ist bis heute so geblieben, denn der Anteil der Personen mit einer Par-teibindung unter den Wahlberechtigten im Osten hat sich seit der Einheit kaum verändert (Abbildung 3). Interessan-terweise erodierte mit der Deutschen Einheit aber auch in Westdeutschland die Parteibindung. Ab 2010 stagnierte sie – weiterhin unter Ausschlägen von Jahr zu Jahr.
11 Vorgegeben wird eine fünfstufige Skala, von sehr stark bis sehr schwach.
12 Vgl. u. a. die Ergebnisse der jüngsten Umfragen etwa von Kantar und von Infratest dimap von
Mitte April 2020..
Abbildung 2
Personen mit geringer bis sehr starker Bindung an eine Partei Anteile an allen Wahlberechtigten in Prozent
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
1986 1990 1994 1998 2002 2006 2010 2014 2018
Linke/PDS
FDP
SonstigeCDU/CSU
SPD
Grüne
AfD
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel (v35); eigene Berechnungen.
Der Anteil der Personen mit einer Parteibindung unter den Wahlberechtigten im Osten ist geringer als im Westen.
309DIW Wochenbericht Nr. 17/2020
WÄHLERWANDERUNGEN
Wenn daher heute von einer Zersplitterung des Parteiensys-tems die Rede ist, so scheint die Erinnerung nur bis in die sechziger Jahre zu reichen, als es neben den beiden dominie-renden Blöcken von Union und Sozialdemokratie lange Zeit nur die FDP gab. Mitte der 1980er Jahre kamen die Grünen hinzu und nach der deutschen Einheit die Partei des Demo-kratischen Sozialismus (PDS), die Nachfolgepartei der Sozia-listischen Einheitspartei Deutschlands (SED). 2017 folgte die AfD. Vor diesem Hintergrund erscheint die These proble-matisch, wonach der Parlamentarismus in der Bundesrepu-blik aufgrund der Hinwendung zu Partialinteressen auf eine Abkehr vom Gemeinwohlgedanken hindeute. Denn schon immer wurden in den Parlamenten die Interessen einzelner Gruppen wie der Bauernschaft, der Arbeiterklasse oder des Mittelstands vertreten. Und die Geschichte der Arbeiterpar-teien ist fast so alt wie die Industrialisierung. Vielmehr ist es gerade die Aufgabe der Volksvertretung und somit auch der Parteien, die Interessen ihrer Wähler und Wählerinnen zu vertreten. Das Parlament diente früher immer und dient auch heute noch dem Ausgleich von Partikularinteressen.
Die hier vorgelegte Untersuchung legt nahe, dass sich abseits der Volksparteien die kleineren Parteien als Sammelbecken jeweils besonderer sozialer Milieus etabliert haben. In der alten Bundesrepublik galt das nur für die FDP, die als Partei der Besserverdienenden angesehen wurde. Die eigentlichen neuen Gegenpole machen aber die Wählerschaften der Grü-nen und der AfD aus. Die Wählerschaft der Grünen ist eher weiblich, akademisch ausgebildet oder im Studium, in ent-sprechend gut bezahlten Tätigkeiten, im öffentlichen Dienst beschäftigt und westdeutsch. Die AfD ist dagegen mehr eine Partei der „kleinen Leute“, vor allem männlich und stärker in Ostdeutschland vertreten. Bei der Bundestagswahl 2013 sprach die AfD dagegen noch andere Wählergruppen an. Ver-ändert hat sich ebenfalls die Wählerstruktur der Linken; sie ähnelt mehr und mehr der Struktur der grünen Wählerschaft.
Einen besonders starken Rückgang der Parteibindung ist in den Jahren nach 1990 vor allem bei der Sozialdemokra-tie zu beobachten – gefolgt von den Unionsparteien. Bei den Grünen und den Linken machte sich der Aufschwung bei den Wahlen bemerkbar und immer mehr Wahlberech-tigte neigen diesen Parteien zu. Dasselbe gilt seit den letz-ten Jahren für die AfD.
SPD am ehesten eine Volkspartei, die Grunen am wenigsten
Der sozialdemokratische Bundesfinanzminister Olaf Scholz erklärte kürzlich in einem Interview, dass er die SPD als eine Volkspartei einstufe, die Grünen jedoch nicht.13 Als Volks-parteien wird ein Typus von Parteien verstanden, der mög-lichst breite Wählerschichten, somit alle Bevölkerungsteile für sich gewinnen will. In Deutschland ist es üblich, die Unionsparteien und die SPD als Volksparteien anzusehen.14
Werden die Wähler und Wählerinnen einer Partei bzw. die ihr zuneigenden Personen nach dem Erwerbsstatus betrach-tet, wird deutlich: Die Wähler- und die Anhängerschaft der SPD weicht wenig von der Struktur aller Wahlberechtigten ab (Tabelle 6).15 Insofern könnte die SPD tatsächlich als Volkspar-tei bezeichnet werden. Ebenso ähnlich wie die Struktur der gesamten Wahlberechtigten ist inzwischen auch die Struk-tur von Wähler- und Anhängerschaft bei den Linken. Dann folgen die Unionsparteien und die FDP. Sehr spezifisch ist dagegen die Wähler- und Gefolgschaft der Grünen. Das gilt auch, aber nicht ganz so sehr, für die AfD.
Fazit: Parteienlandschaft wird vielfältiger
Mittlerweile sind sieben Parteien in den Deutschen Bundes-tag eingezogen. Die neue Vielfalt wird in Teilen der Wissen-schaft kritisch gesehen. Meinhard Miegel etwa interpretiert sie als Auflösung einer Gemeinwohlorientierung zuguns-ten eines Umsichgreifens von Partikularinteressen. Nach ihm „scheinen alle freiheitlichen Staaten ihrer Unregier-barkeit“ zuzustreben.16
Tatsächlich waren etwa im ersten, 1949 gewählten Deut-schen Bundestag noch elf Parteien vertreten. Das Land galt zur damaligen Zeit durchaus als regierbar. Erst danach sank die Zahl der Parteien – vor allem deshalb, weil es den Uni-onsparteien gelang, die Klientel der kleineren konservativen Parteien an sich zu binden.
13 Vgl. Welt am Sonntag (2020): Olaf Scholz „Die SPD ist eine Volkspartei, die Grünen eher nicht“
Ausgabe vom 1. März (online verfügbar; abgerufen am 2. April 2020)
14 Vgl. Deutscher Bundestag, wissenschaftlicher Dienst (2016): Volksparteien – Begriffsbestim-
mung und interne Entscheidungsabläufe. Ausarbeitung WD 1 – 3000 – 003/14.
15 Die gesamte Abweichung ist die Summe der absolut gesetzten Differenzen der Strukturanteile
von Wählerschaft (bzw. Anhängerschaft) und Wahlberechtigten. Je höher der ermittelte Wert, desto
geringer ist die Übereinstimmung der Wählerschaft einer Partei mit der Struktur aller Wahlberech-
tigten. Bei völliger Übereinstimmung ergibt sich der Wert 0, bei totaler Abweichung der Wert 50.
16 Vgl. Meinhard Miegel (2018): Das Ganze wird schon für sich selber sorgen? Von wegen! Die
Welt vom 15. Februar 2018 (online verfügbar).
Tabelle 6
Abweichungen der Erwerbsstruktur der Wählerschaft bzw. der Personen mit Parteibindung von der Erwerbsstruktur aller WahlberechtigtenIndexwerte1
Wählerschaft Personen mit Parteibindung
2013 2017 2014 2018
CDU/CSU 10,0 10,9 15,0 17,6
SPD 6,4 8,1 10,4 13,3
Grüne 28,2 23,8 32,7 27,2
Linke 9,2 7,8 14,4 10,7
FDP 18,3 13,1 26,6 18,1
AfD 11,3 16,2 14,6 20,0
Nichtwählerschaft 19,9 22,8
1 Von 0 = völlige Übereinstimmung mit der Struktur der Wahlberechtigten bis 50 = völlige Abweichung von der Struktur der Wahlberechtigten.
Quelle: Sozio-oekonomisches Panel (v35); eigene Berechnungen.
Die Veränderung der Parteienlandschaft zwischen den letz-ten Bundestagswahlen ist auf Kosten der großen Parteien gegangen. Sie haben auf das Konzept der Volkspartei gesetzt. Es kann sein, dass dieses Konzept nicht trägt. Denn wer es allen recht machen will, verliert das Profil. Union und SPD hatten sich zwar schon früher mit dem Etikett Volkspartei geschmückt, tatsächlich aber viel stärker bestimmte soziale Milieus vertreten. Bei der SPD war es die Arbeiterschaft und generell die Bevölkerung in den Großstädten, bei der Union war es die kirchlich geprägte Wählerschaft in den dünner besiedelten Regionen.
Aktuell profitiert die Union den Wahlumfragen zufolge zwar enorm von der Corona-Krise, denn sie stellt die Bundeskanz-lerin. Stimmungen sind aber vergänglich, und wie die Erfah-rungen lehren, hält ein in einer Krise entstandener Kanzler-bonus nicht lange. Dann werden sich die Volksparteien wie-der mit dem Problem auseinandersetzten müssen, wie sie mit der Vielfalt von Milieus und Interessen umgehen.
Karl Brenke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung