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Wer ist „ICH“?
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Barbara Rütz
Ein Mensch, der „ich“ sagt, sieht sich als eigenständiges
Individuum, das sich von anderen im Denken, Fühlen, Handeln und
Sein unterscheidet. Das Ich ist der Träger einer Persönlichkeit,
die wir zu einem Teil selbst ausgestalten. Daher fordern wir für
uns auch das Recht auf Selbstbestimmung. Andererseits ist das
Ich-Erleben auf die Interaktion mit anderen, mit einem „Du“
angewiesen.
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Gedanken zum Ich-Bewusstsein
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Wer ist „ICH“?
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Die Frage nach dem Ich ist wohl eine der wichtigsten, die ein
Mensch stellen kann.
Der Wunsch, auf diese Frage eine Antwort zu erhalten, drückt
einerseits das Bedürfnis nach
Selbsterkenntnis aus, andererseits den Willen, das Woher?,
Wohin? und Warum? zu klären. Seit
Menschengedenken sind auf diese Fragen schon viele Antworten
gegeben worden, doch keine kann zu einer objektiven Klärung
beitragen, keine ist wirklich zufrie-denstellend oder gar
abschließend. Im Gegenteil, viele Antworten werfen neue,
weitergehende Fragen auf.
„Ich“ in der Sprache
Ich ist zunächst einmal nur die Bezeichnung für die eigene
Person. In unserer Sprache hat das Wörtchen „ich“ die grammatische
Funktion eines Personalprono-mens und entspricht der 1. Person
Singular Nominativ. Indem die Sprecherin oder der Sprecher „ich“
sagt, ist stets die eigene Person gemeint: „Ich denke, also bin
ich“ (René Descartes).
In sprachlicher Hinsicht ist interessant, dass im
Standarddeutschen – anders als in anderen Sprachen – nicht zwischen
dem betonten und dem unbetonten „ich“ unterschieden wird:
Französisch: „Qui d’entre vous sait parler français?“ „Moi.” –
nicht: „Je.” („Wer von euch kann Französisch sprechen?” „Ich.“)
Englisch: „Who broke this plate?“ „That was me.“ – nicht: „That
was I.” („Wer hat diesen Teller zerbro-chen?” „Das war ich.”)
Schaut man sich das Wörtchen „ich“ in anderen Sprachen an, stößt
man auf weitere interessante Phä-nomene: Im Englischen wird „I“
(ich) als einziges Per-sonalpronomen immer (auch mitten im Satz)
groß-geschrieben, alle anderen Personalpronomen – auch die
Höflichkeitsanrede – werden kleingeschrieben. Im Spanischen und
Italienischen taucht das Personalprono-men „yo“ bzw. „io“ (ich) nur
ganz selten auf. Vielmehr wird – wie im Lateinischen – durch die
Konjugation des Verbes deutlich, dass der Sprecher bzw. die
Spreche-rin von sich selbst spricht: „Te amo.“ / Ti amo.“ – „Ich
liebe dich.“ – „Veni, vidi, vici.“ – „Ich kam, ich sah, ich
siegte.“
In der Kommunikation spielt das Wort „ich“ eine besondere Rolle,
denn hier tritt ein Ich mit einem Du in Beziehung. Für die
Psychologie und Soziologie ist aber noch interessanter, wann das
Wort „ich“ in Ge-sprächen nicht benutzt, sondern umschrieben oder
durch das Indefinitpronomen „man“ ersetzt wird: „Wie geht es dir?“
„Man schlägt sich so durch.“
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Abb. 2: Jeder Mensch ist einzigartig: Das Ich-Denkmal des
Künstlers Hans Traxler besteht aus einem Sockel, auf den sich jeder
stellen kann, um so selbst zum Denkmal zu werden.
Foto: wikimedia, cc-Lizenz 3.0 (Popie)
Abb. 1: Zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat be-ginnt das
„Spiegelstadium“: Das Kind erkennt sich in einem Spiegel.
Foto: Caro/Kaiser
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Außenwelt, das Über-Ich und das Es. Wenn das Ich sei-ne Schwäche
einbekennen muss, bricht es in Angst aus, Realangst vor der
Außenwelt, Gewissensangst vor dem Über-Ich, neurotische Angst vor
der Stärke der Lei-denschaften im Es“ (siehe Nikolaus 2006).
Eine solchermaßen mitleidige Beschreibung des Ich kam einer
Entmachtung des Ego gleich und hatte dem-entsprechend viel Kritik
an dem Modell zur Folge. Schließlich war man seit über 2.000 Jahren
überwie-gend der Meinung, das Ich sei identisch mit der Seele.
Hierzu hat u. a. auch Platons Interpretation der In-schrift
„Erkenne dich selbst“ am Apollontempel in Del-phi beigetragen
(siehe auch Abb. 3). Platon verstand die Inschrift so, dass der
Mensch sich als das erkennen solle, was er ist: eine den Körper
bewohnende und ge-brauchende unsterbliche und gottähnliche Seele.
Die-ses Bild von einem Ich als gottähnliche Seele passt na-türlich
gar nicht zu dem Bild eines schwachen, instabilen Ich, das von
Freud entworfen wurde. So ver-wundert es nicht, dass ab 1907 Alfred
Adler mit der Gründung seiner „Individualpsychologie“ das Ich
wie-der in seine alte Vormachtstellung emporhob: „Was Freud als das
Unbewusste beschreibt, ist doch immer wieder das Ich“ (siehe
Nikolaus 2006).
Ich-Entwicklung
Die Fragestellung, was das Ich eigentlich ist, beein-flusst
entscheidend die Vorstellung, ob und wie sich das Ich entwickelt.
Betrachtet man das Ich als Seele, so kann man schwerlich von einer
Entwicklung spre-chen. Das Ich wäre dann sozusagen mit unserer
Geburt „einfach da“. Geht man jedoch davon aus, dass das Ich die
Persönlichkeit, die geistige Identität oder das be-wusst Erfahrene
darstellt, dann muss man durchaus von einer Ich-Entwicklung
ausgehen.
Der Psychologe James Mark Baldwin beobachtete, dass ein Kind
zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat sein eigenes Bild im Spiegel
erkennt (siehe Abb. 1). Da-rauf stützte sich der französische
Psychoanalytiker Jacques Lacan und bezeichnete 1936 auf dem 14.
Inter-nationalen Kongress für Psychoanalyse in Marienbad diese
Entwicklungsphase des Kindes als „Spiegelstadi-um“. Während dieser
Zeit entwickelt sich das Bewusst-sein für das eigene Ich. Während
das Kind sich vorher nur aus seiner eigenen Perspektive immer
bruchstück-haft wahrgenommen hat, sieht es sich nun zum ersten Mal
vollständig mit seinem eigenen Gesicht. Zum Fest-stellen dieser
Entwicklung eignet sich der „Rouge-Test“. Dem Kind wird – ohne,
dass es dies bemerkt – ein Farbtupfer auf die Stirn aufgebracht.
Schaut es dann in den Spiegel, wird es sich erstaunt an die Stirn
fassen, wenn es das Spiegelbild als sich selbst, als sein eigenes
Ich wahrnimmt. Selbst wenn der Spiegel das Bild verzerrt
wiedergibt, erkennen wir uns darin.
In diesem Spiegelstadium lernt das Kind aber nicht nur sich
selbst, sondern auch andere wahrzunehmen. Dies geschieht, indem es
mit seinem eigenen Spiegel-bild interagiert und es nachzuahmen
versucht. Das
Was ist Ich?
Schwierig wird es, wenn man versucht, das „Ich“ zu definieren.
Jean Paul meint: „Jedes Ich ist Persönlich-keit, folglich geistige
Individualität“ (siehe Wikiquote zum Stichwort „Ich“). Es stellt
sich aber die grundsätz-liche Frage: Ist das Ich nur mein Körper,
eine Bio-maschine, sozusagen die Hardware? Oder ist es meine Seele,
also die Software? Immanuel Kant unterscheidet hier sehr deutlich:
„Ich, als denkend, bin ein Gegen-stand des innern Sinnes und heiße
Seele. Dasjenige, was ein Gegenstand äußerer Sinne ist, heißt
Körper“ (siehe Kant 1781, S. 372). Oder ist das Ich ein
Seinszu-stand, der beides umfasst, der möglicherweise sogar
unabhängig von meiner materiellen Substanz existie-ren kann?
Besonders schön hat Hermann Hesse in sei-nem „Steppenwolf“ das Ich
beschrieben: „In Wirklich-keit aber ist kein Ich, auch nicht das
naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein
klei-ner Sternhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und
Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten“ (siehe Hesse 1974, S.
66).
Das Ich in der Psychoanalyse Freuds
Sigmund Freud befasste sich systematisch mit dem Ich und
entwickelte das Strukturmodell der Psyche, nach dem die menschliche
Psyche in drei Teile geteilt ist:
> Das Es ist das Unbewusste; es umfasst die Instinkte und
Triebe des Menschen.
> Das Über-Ich übernimmt die Funktion des Gewis-sens; es ist
sozusagen die moralische Instanz.
> Das Ich wird sowohl vom Es als auch vom Über-Ich
beeinflusst und versucht, zwischen diesen beiden zu vermitteln.
Während das Es das Unbewusste dar-stellt, ist das Ich das bewusst
Erfahrene.
Sigmund Freud selbst beschreibt die Situation des Ich
folgendermaßen: „Das arme Ich dient drei gestrengen Herren, ist
bemüht, deren Ansprüche und Forde-rungen in Einklang miteinander zu
bringen. Diese An-sprüche gehen immer auseinander, scheinen oft
un-vereinbar zu sein; kein Wunder, wenn das Ich so oft an seiner
Aufgabe scheitert. Die drei Zwingherren sind die
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Abb. 3: Dieses römische Mosaik zeigt ein mensch-liches Skelett
und die griechische In-schrift „Erkenne dich selbst“.
Foto: The Art Archive / Museo Nazionale Terme Rome / Gianni
Dagli Orti
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Kind erfährt beim Spielen mit seinem Spiegelbild auch, wie es
von anderen wahrgenommen wird. Ihm stellt sich in diesem Alter –
wohl eher unbewusst – also bereits die grundlegende Frage: „Wie
sehen mich die an-deren?“, die dann in der Pubertät zu einer
bewussten, existenziellen Fragestellung wird (siehe Abb. 4).
Aber auch Kinder, die nicht mit einem dinglichen Spiegel in
Berührung kommen, entwickeln ein gesun-des Ich-Bewusstsein. Denn
jede zwischenmenschliche Beziehung kann im weiter gefassten Sinn
als Spiege-lung interpretiert werden. Dylan Evans sagt hierzu:
„Auch wenn es keinen Spiegel gibt, sieht der Säugling sein
Verhalten im imitierenden Verhalten der Erwach-senen oder in dem
anderer Kinder reflektiert. Durch diese Imitation fungiert die
andere Person als Spiegel-bild“ (siehe Wikipedia zum Stichwort
„Spiegelstadi-um“). Insbesondere die Mutter (oder eine andere
Be-zugsperson) spielt eine entscheidende Rolle in diesem Stadium.
Sie stellt für das Kind die erste Beziehung zwischen dem Ich und
„den Anderen“ dar und ist so-mit Grundlage für alle anderen
zukünftigen zwischen-menschlichen Beziehungen des Kindes. In ihrem
Blick auf das Kind spiegelt sich wider, was sie selbst in dem Kind
sieht. Dementsprechend vermittelt sie dem Kind Freude, Glück,
Geborgenheit, Akzeptanz oder auch Ab-lehnung, Ärger, Sorge und
Angst. Die Gefühle und Ge-fühlsäußerungen, die die Mutter dem Kind
entgegen-bringt, stellen somit die ersten Erfahrungen des Kindes im
Erleben des eigenen Ich und in der Interaktion mit anderen dar.
Bereits der Säugling kann seine Gefühle wie Wohlbefinden, Hunger,
Angst oder Freude nonver-bal vermitteln. Gefühle und
Gefühlsäußerungen tre-
ten also weit vor dem Erwerb der Sprache auf und be-stimmen
wesentlich unser Handeln und Denken. Sie sind ein wichtiger
Bestandteil menschlichen Seins und menschlichen Ausdrucks und somit
der Entwicklung des Ich-Bewusstseins. Bemerkenswert ist hierbei,
dass die grundlegenden Gefühlsäußerungen der Menschen auf der
ganzen Welt recht ähnlich sind.
Ob es sich nun um das Spiegelbild oder eine andere Person
handelt, die Ich-Entwicklung vollzieht sich offensichtlich in der
Interaktion mit einem Du. Das Ich entwickelt sich gemeinsam mit dem
Studium der Beziehung zum Du. Es macht die Erfahrung, dass ein Du
existiert. Dieses Du wirkt auf das Ich zurück und bewirkt bei
diesem Erkenntnis über sich selbst. Oder wie der Philosoph Ludwig
Feuerbach es ausdrückte: „Wo kein Du, ist kein Ich“ (siehe
Wikiquote zum Stich-wort „Ich“).
„Wer bist du?“
Mit dieser Frage beginnt für Sofie ein „Philosophiekurs“. Die
Hauptfigur aus „Sofies Welt“, einem Roman von Jostein Gaarder über
die Geschichte der Philosophie, nimmt die Frage zum Anlass,
zunächst über ihren Namen nachzudenken bzw. sich vorzustellen, sie
hätte einen anderen Namen. Das gelingt ihr aber nicht, schließlich
ist sie Sofie und nicht Anne oder Synnøve oder sonst jemand anderes
(vgl. Gaarder 1993, S. 9–10). Die Identifizierung mit dem eigenen
Namen – bzw. überhaupt der Erhalt eines Namens – ist eine
grundle-gende Voraussetzung für die Entwicklung eines
Ich-Bewusstseins. Man könnte tatsächlich die Frage stel-
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Abb. 4: Trotz aller Schwierigkeiten und Zweifel vollzieht das
„hässliche Entlein“ bei Hans Christian Andersen eine Entwick-lung,
an deren Höhepunkt der junge Schwan sein Spiegelbild sieht und sich
selbst erkennt. Foto: blickwinkel/S. Gerth
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dann, dass äußere Faktoren wie beispielsweise Le-benskrisen oder
Krankheiten uns und unser Ich verän-dern? Vielleicht haben wir uns
gar nicht verändert, sondern die Anderen sehen uns nur anders? Wenn
wir uns ein Muttermal im Gesicht wegoperieren lassen, werden unsere
Freunde und Bekannten uns hinterher sagen: „Du hast dich aber
verändert!“ Das wird dagegen niemand behaupten, wenn wir uns den
Blinddarm entfernen lassen – weil dies die Anderen nicht sehen. Wer
also bin ich? Bin ich Ich oder bin ich nur das, was andere in mir
sehen?
Ich-Bewusstsein bei Tieren
Jeder Haustierbesitzer wird bestätigen, dass seine Katze oder
sein Hund eine eigene Persönlichkeit hat. Aber können Tiere auch
ein Ich-Bewusstsein entwickeln? Nehmen Tiere sich selbst wahr,
haben sie ein Ich-Erle-ben? Viele wissenschaftliche Studien
beschäftigen sich mit dieser grundlegenden Fragestellung. Konrad
Lo-renz etwa ging aufgrund seiner langjährigen Beobach-tungen davon
aus, dass höher entwickelte Tiere zur Erkenntnis „Ich bin“ befähigt
sind. Inzwischen ist er-wiesen, dass sich beispielsweise
Schimpansen, Orang-Utans, Rhesusaffen, Schweine, Elefanten, Delfine
und Elstern im Spiegel selbst erkennen können, was als ein Beleg
für ein reflektierendes Bewusstsein gedeutet wird. Beim sogenannten
Spiegeltest wird – wie bei Kindern – den Tieren ein Spiegel in das
Sichtfeld ge-halten und ihre Reaktion beobachtet. „Behandeln“ die
Tiere ihr Spiegelbild wie ein fremdes Individuum (z. B. mit
Drohgebärden oder Warnlauten) oder ignorieren sie es, so gilt der
Spiegeltest als „nicht bestanden“ (sie-he Abb. 5). Nicht
berücksichtigt wird hierbei aber, dass von einem Spiegelbild kein
Geruch ausgeht, an dem sich viele Tiere hauptsächlich
orientieren.
Auch der Rouge-Test wird bei Tieren angewandt: Dem Tier wird
zunächst eine Farbmarkierung z. B. auf die Stirn gemalt.
Anschließend wird wiederum seine Reaktion beobachtet (siehe Abb. 6
und 7). Versucht das Tier beispielsweise den Fleck wegzuwischen, so
inter-pretiert man dies dahin gehend, dass es über ein
Selbst-bewusstsein verfügt. Aber auch dieser Test ist nicht
unumstritten. So gehen die Meinungen darüber ausein ander, ob die
Fähigkeit der Selbstwahrnehmung auch bereits darauf schließen
lässt, dass das Tier die Fähigkeit zur Reflexion und ein
Ich-Bewusstsein hat. Des Weiteren ist nicht gesagt, dass ein Tier,
das nicht auf den Fleck auf der Stirn reagiert, diesen tatsächlich
nicht (bei sich) wahrgenommen hat. Schließlich ist die Wahrnehmung
eines Flecks auf der Stirn als „störend“ und der darauf folgende
Versuch, den Fleck wegzu-wischen, eine menschliche Reaktion.
Vielleicht neh-men einige Tiere den Fleck zwar wahr, stören sich
aber nicht daran. David Precht weist zudem darauf hin, dass sich
Gorillas nur selten direkt ins Gesicht blicken. Für sie könne der
Spiegeltest daher „ein bisschen peinlich und unangenehm“ sein
(Precht 2011, S. 74). Die Ergeb-nisse des Spiegeltests sind also
interpretierbar.
len: „Gibt es überhaupt ein Ich, wenn das Ich keinen Namen hat?“
Der Name allein gibt zwar noch keine zufriedenstellende Antwort auf
die Frage „Wer bist du?“ – „Ich bin Sofie.“ Immerhin gibt es mehr
als eine Sofie auf der Welt, aber dennoch ermöglicht es unser Name,
zumindest eine erste – wenn auch vielleicht noch oberflächliche –
Antwort zu geben.
In dem Roman hält Sofie daraufhin Zwiesprache mit ihrem
Spiegelbild. Sie fragt es: „Wer bist du?“ Na-türlich erhält sie
keine Antwort, aber die Betrachtung ihres Spiegelbilds lässt sie
über ihr Aussehen nachden-ken. Missmutig stellt sie fest, dass sie
nicht selbst über ihr Aussehen bestimmen konnte – das wurde ihr
ein-fach „in die Wiege gelegt“. Noch nicht einmal sich selbst
konnte sie „wählen“, ihre Freundinnen und Freunde aber kann sie
selbst wählen.
Diese Überlegungen führen unweigerlich zu den Fragen „Was macht
eigentlich unser Ich aus?“, „Was be-stimmt unser Ich?“, „Was gehört
zu unserem Ich?“ Vieles von dem, was unser Ich ausmacht, ist uns
be-reits vorgegeben und zunächst nicht (ohne Weiteres) veränderbar:
Name, Aussehen, Geschlecht, Gene, die biologischen Eltern, die
Familie, in die ich hineingebo-ren werde, der Ort, an dem ich
aufwachse. Und wenn ich dann doch einen anderen Namen annehme, das
Aussehen operativ verändere oder sogar das Geschlecht wechsele:
Inwieweit verändere ich damit auch mein Ich? Inwieweit bestimmen
diese uns zunächst vorgege-benen Bausteine unser Ich und inwieweit
können wir unser Ich selbst bestimmen, z. B. durch die Freunde, die
wir wählen, durch den Beruf, den wir erlernen und ausüben, durch
den Wohn- und Lebensort, den wir uns aussuchen, durch Erfahrungen,
die wir machen, Ent-scheidungen, die wir treffen, und durch die Art
und Weise, wie wir denken und fühlen? Wenn wir unser Ich
überwiegend selbst bestimmen, wie kommt es
Abb. 5: Diese Katze vermutet hinter dem Spie-gel einen
Art-genossen.
Foto: © Tony Campbell/fotolia.com
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eine Telefonnummer nicht wissen, diese erst nach-schlagen und
dann wählen.
Ganz offensichtlich ist der Mensch also nicht das einzige
„(ich)bewusste Lebewesen“ auf der Erde.
LiteraturEltern leben leichter (Hrsg.): Die Ich-Entwicklung beim
Kleinkind
(www.elternlebenleichter.com/die-ich-entwicklung-beim-kleinkind)Gaarder,
Jostein: Sofies Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie.
Carl Hanser Verlag. München, Wien 1993Herrmann, Sebastian: Delfine
erkennen einander nach Jahr-zehnten wieder. Süddeutsche.de vom
7.8.2013 Hesse, Hermann: Der Steppenwolf. Suhrkamp Taschenbuch
Verlag. Berlin 1974Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft.
Riga, 1781 (www.deutschestextarchiv.de)Nikolaus, Frank: Das
psychische Dreieck: Ich, Es, Über-Ich. Die Entdeckung des „dunklen
Kontinents“. In: P.M. Magazin „Sigmund Freud Special“, H. 5/2006,
S. 62–64 (auch unter
www.pm-magazin.de/a/das-psychische-dreieck-ich-es-über-ich-die-entdeckung-des-»dunklen-kontinents«)Precht,
Richard David: Warum gibt es alles und nicht nichts? Ein Ausflug in
die Philosophie. Goldmann Verlag. München 2011Scinexx (Hrsg.): Die
Gedanken der Anderen. Der Zuschreibung von Wahrnehmungen und
Gedanken auf der Spur
(http://www.scinexx.de/dossier-538-1.html)Wikipedia
(Online-Enzyklopädie) zu den Stichworten: „Ich“, „Metakognition“,
„Spiegelstadium“, „Spiegeltest“ (http://de.wikipedia.org)Wikiquote
(Online-Zitatsammlung) zu den Stichworten: „Ich“, „Denken“
(http://de.wikiquote.org)
Davon ausgehend, dass das Ich-Bewusstsein im Zusam-menhang mit
einem Du- oder Wir-Bewusstsein steht, sind kürzlich erschienene
Berichte über Delfine, die sich auch nach Jahrzehnten
wiedererkennen, bemer-kenswert (siehe z. B. Herrmann 2013). Der
Biologe Jason Bruck von der Universität Chicago hat
heraus-gefunden, dass jeder Delfin einen individuellen Laut
(Signaturpfeifen) produziert, den er als Jungtier er-lernt. Diese
Pfiffe sind mit menschlichen Namen ver-gleichbar. In den Versuchen
reagierten die Delfine auf die Pfiffe ihnen unbekannter Tiere mit
Desinteresse. Vernahmen sie aber den Pfiff eines ihnen bekannten
Tieres, antworteten sie mit ihrem eigenen Pfiff und schwammen in
die Richtung des bekannten Lautes. Auf diese Art identifizierten
sich zwei Tiere sogar, nachdem sie sich 20 Jahre lang nicht gesehen
bzw. ge-hört hatten. Lässt diese Fähigkeit des (Wieder)Erken-nens
Anderer und insbesondere die eigene „Namens-gebung“ nicht den
Rückschluss auf die Fähigkeit der „Selbst-Erkenntnis“ zu?
Eine Forschergruppe um J. David Smith hat mithilfe eines anderen
verhaltensbiologischen Experiments nachgewiesen, dass Rhesusaffen
ihr Verhalten reflek-tieren und ihrem jeweiligen Kenntnisstand
anpassen. So greifen Rhesusaffen, wenn sie zuvor beobachten
konnten, in welche Röhre Futter gelegt wurde, gleich in die
richtige Röhre hinein. Konnten sie dies jedoch nicht beobachten,
wussten sie also nicht, in welcher Röhre das Futter liegt, so
schauten sie zuvor in die Röh-ren hinein. Sie haben also ein
Bewusstsein darüber, dass sie etwas nicht wissen – und ihr
Verhalten dem-entsprechend verändert (vgl. Wikipedia zum Stich-wort
„Metakognition“). Genauso wie wir, wenn wir
Abb. 6: Ein Schimpanse wird für den Spiegeltest vorbereitet.
Foto: © Michel Gunther/BIOS/OKAPIA
Abb. 7: Schimpansen gehören zu den Tieren, die sich im Spiegel
selbst erkennen können. Foto: © BIOSphoto/images.de
Barbara Rütz ist schulische Referentin an der Agentur für
Qualitätssicherung, Evaluation und Selbstständigkeit von Schulen
(AQS) in Rheinland-Pfalz und Herausgeberin von Weltwissen
Sachunterricht.
Die autorin