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Wellmer - Ethik Und Dialog

Dec 29, 2015

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Welmer - Ethik und Dialog
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Kants Moralphilosophie; die schon oft totgesagt wurde, hat in der Ethik­Diskussion der vergangenen zwei J ahrzehnte eine neue Aktualitat gewon­nen. Dies ist um so bemerkenswerter, ais fast alie an Kant anknüpfenden Moralphilosophen sich in ihrer Kritik am Rigorismus und Formalismus der Kantischen Ethik sowie in der Skepsis gegenüber Kants Begründungs­versuchen .einig sind. Albrecht Wellmer unternimmt in seinem neuen Buch den Versuch, Grund­ideen der Diskursethik aus dem Zusammenhang einer Konsenstheorie der Wahrheit, in dem sie bei Apel und Habermas stehen, herauszulõsen und neu zu formulieren. Dies bedeutet zugleich eine partielle Rehabilitierung Kants wie auch eine Veranderung der StoBrichtung der Kritik an Kant. Es soU nicht eine neue Moralphilosophie begründet werden, es sollen viel­mehr Grundintuitionen der Kantischen und der an Kant anknüpfenden Moralphilosophie in einen engen Zusammenhang gebracht werden. Auf diese Weise soU gezeigt werden, daB die universalistische Ethik nicht auf die Mõglichkeit einer Letztbegründung und nicht auf die Perspektive eines letzten Konsenses angewiesen ist. Durch die Herauslõsung der Ethik aus dem Zusammenhang absolutistischer Begründungs- und Versõhnungsper­spektiven soU zugleich die Mõglichkeit erõffnet werden, die Frage nach dem Zusammenhang der verschi"edenen Rationalitatsdimensionen - wis­senschaftlich-technische, asthetische, moralisch-praktische Rationalitat -in einer neuen Weise zu stellen. Von Albrecht Wellmer, Professor für Philosophie an der Universitat Kon­stanz, liegt in der Reihe stw auBerdem vor: Zur Dialektik von M aderne und Postmodeme. Vemunftkritik nach Adorno (stw 53.2); Endspiele: Die un­versohnliche Modeme (stw 1095).

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Albrecht Wellmer Ethik und Dialog

Elemente des moralischen Urteils hei Kant und in der Diskursethik

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Suhrkamp

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DEDALUS - Acervo - FFLCH

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CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Wellmer, Albrecht: Ethik und Dialog: Elemente

d. moral. Urteils bei Kant u. in d. Diskursethik I

Albrecht Wellmer. - 2. Aufl. -Frankfurt. am Main : Suhrkamp, 1999

(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 578) ISBN 3-518-28178-X

NE:GT

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 578 Erste Auflage 1986

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1986 Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alie Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des offentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfun.k und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Forro

(durch Photographie, Mikrofilm oçler andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfaltigt oder verbreitet werden. Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

Druck: Wagner GmbH, Nordlingen Printed in Germany

Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

2 3 4 5 6 7 8 - 04 OJ 02 OI 00 99

lnhalt

Einleitung 7

1. Eine Kantische Exposition I4

2. Zur Kritik der Diskursethik 5 I

3. Ansatze einer Vermittlung zwischen Kantischer und Diskursethik I I4

Anhang Über Vernunft, Emanzipation und Utopie. Zur .kommunikationstheoretischen Begründung einer kritischen Gesellschaftstheorie 175

N~menregister 223

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Einleitung

Moralphilosophischer Skeptizismus und revolutionarer Humanismus sind natürliche Kinder der AufkHirung; dies gilt in gewissem MaBe bereits für die Periode der griechi­schen Aufklarung, es gilt in weitaus starkerem MaBe für die moderne europaische Aufklarung. In beiden Fallen bedeu­tet Aufklarung die Entdeckung, daB die scheinbar festver­bürgten, in der Ordnung der Dinge, dem Willen Gottes oder der Autoritat der Tradition »begründeten« Normen des richtigen Lebens kein mogliches Fundament haben au­Ber im Willen der Menschen. Diese Entdeckung, so denke ich, muB bei denjenigen, die sie zuerst gemacht haben, mit einem Gefühl des Schwindels verbunden gewesen sein, ei­nem Gefühl des Schwindels, in dem ganz verschiedene Dinge sich miteinander vermischt haben mogen: die Erfah­rung einer Erschütterung aller Fundamente; das Gewahr­werden einer Freiheit, die frosteln macht oder aufatmen laBt; oder auch die Entdeckung, daB die bisherigen sozialen Ordnungen auf Gewalt, auf U nterdrückung und auf Illusio­nen beruhten. Je nach dem Blickwinkel oder der sozialen Position derer, die vom aufgeklarten BewuBtsein angesteckt wurden, wird am Ende das eine oder andere Element über­wogen haben: philosophischer Skeptizismus, konservativer Zynismus und revolutionares Menschheits-Pathos sind ebenso viele mogliche Weisen der Reaktion·auf die Entdek­kung der Aufklarung. Den Zynismus- ais die >>schwarze« Variante des Skeptizis­mus -lasse ich hier auBer acht', weil er kein erkenntnistheo­retisches, sondem ein psychologisches und - moralisches Problem darstellt. Skeptizismus und revolutionarer - oder doch universalistischer - Humanismus dagegen sind, er-

1 Vgl. hierzu Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde., Frankfurt 1983.

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kenntnistbeoretiscb betracbtet, alternative Antworten auf die Entdeckung der Aufklarung. Der Skeptizismus bestrei­tet die Moglicbkeit eines neuen Fundaments für die Moral, der revolutionare Humanismus siebt ein solcbes Funda­ment im vereinigten Willen vernünftiger Wesen. Fürs erste will icb es hei dieser Gegenüberstellung belassen und nicbts W:eiteres über die- moralpbilosopbiscbe Skepsis sagen; sie wud spater zu Wort kommen. Micb interessiert vorerst das Scbicksal- das pbilosophiscbe Scbicksal- des revolutiona­ren Humanismus. Nicbt, daB icb es nacberzablen wollte; icb will vielmebr den revolutionaren Humanismus in zwei seiner - pbilosopbiscb- avanciertesten Versionen untersu­cb:n, um .daraus Scblüsse binsicbtlicb seines tnoglichen -pbtlosopbtscben - Scbicksals zu zieben. Mit »avanciert« meine icb: avanciert jeweils zu ibrer Zeit. Und das Epitbe­ton >>tevolutionar« soll einen philosophischen Zusammen­hang zwischen dem bier untersucbten Humanismus und den Revolutionen der Neuzeit andeuten, es sagt nicbts über den Untersucbungsgegenstand selbst. Dieser ist nicbt die Tbeorie der Revolution, sondem die - universalistiscbe -Etbik. Die beiden Positionen, die icb untersucben mocbte, sind die formale Etbik Kants und die Diskursetbik von Habermas und Apel. Es sind zwei Formen einer universalistiscben Vernunft-Etbik oder, wie Habermas sagen würde, einer »kognitivistiscben« Etbik. Cbarakteristiscb für beide Posi­tionen ist, daB die Grundlage der Etbik in einem formalen Pri.nzip ~es~cbt. wird, da~ kraft seiner Formalitat zugleicb umversahsuscb 1st. Morahscbe Geltung wird in einem ratio-

. nalen Verfahren fundiert, das, indem es einerseits so etwas wie eill;en universellen Kern der Vernünftigkeit vernünftiger Wese~ b~zeicbnet, andererseits auf alle vernünftigen Wesen als "-- m em em fundamentalen Sinne- Freie und Gleicbe Be­zug nimmt. Universelle Gültigkeit und universalistiscber Cbarakter des Moralprinzips sind miteinander verscbrankt: in dieser Grundidee sind sicb Habermas und Apel mit Kant

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und, soweit es um den Begriff der Recbts-»Legitimitat«. gebt, mit dem revolutionaren Naturrecbt einig. Und genau in di~sem Sinne geboren die genannten Autoren zum Lager des aufklareriscben Humanismus. Icb werde im folgenden keine erscbopfende Darstellung der moralphilosopbiscben Positionen von Kant, Apel oder Ha­bermas. geben; meine Analysen und Interpretationeri sind vielmebr jeweils von begrenzten Absicbten geleitet. An Kants Etbik bin icb eber aus beuristiscben Gründen interes­siert. Icb mocbte versucben, durcb ein selektives Interpreta­tionsverfabren die Starken und Scbwacben der Kantiscben Etbik so weit berauszuarbeiten, daB sowohl di e Motive für die Entwicklung einer >>kommunikativen« oder »Diskurs­ethik« als aucb deren Beweislasten deutlich werden. Da icb · d

davon ausgebej daB sicb die Kantiscbe Etbiknicbt als Gan-zes verteidigen laBt, babe ich insbesondere ibre Starken deutlicb zu macben versucbt; vielleicbt konnte man mir

. vorwerfen, daB ich sie gelegentlicb bebandle wie ein Liebba­ber einen zerfallenen Tempel, aus dem er die besten Stücke zu retten versucbt. Demgegenüber babe icb die Diskurs­etbik in ibrem systematiscben Ansprucb ernst genommen, Kants Probleme mit den Mitteln. der Universal- oder Tran, szendentalpragmatik zu losen und bierdurcb zugleicb die durcb Kant reprasentierte Form des etbiscben Universalis­mus in eine dialogische Form des Universalismus »aufzube­ben«. Da icb nicbt glaube, daB die Diskursetbik diesen Anspruch bisber eingelost bat, verbalte ich micb ihr gegen­über kritiscber als im Falle von Kants Etbik. Icb benutze die letztere gewissermaBen als einen MaBstab, der zwar selbst fragwürdig geworden ist, der aber docb nocb gute Dienste tun kann, wenn es darum gebt, das Problemlosungspoten­tial von Tbeorien zu beurteilen, die den Ansprucb erbeben, Kants Etbik in sicb >>aufzubeben«. Was die Kritik der Diskursetbik an Kant betrifft, so zielt sie auf drei Scbwachstellen der Kantischen Ethik: Die Kritik · richtet sicb erstens gegen den formal-monologischen Cba-

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rakter des Kantischen Moralprinzips, demzufolge - entge­gen Kants Meinung- die Frage nach der Moglichkeit inter­subjektiv gültiger moralischer Urteile bei Kant unbeant­wortet bleibt; die Kritik richtet sich zweitens gegen den Rigorismus der Kantischen Ethik, dem eine eigentümlich formalistische Hypostasierung des Gesetzesbegriffs zu­grunde liegt; und çlie Kritik betrifft drittens Kants Versuche einer Begriindung des Moralprinzips. Die hier bezeichneten drei Schwachen der Kantischen Ethik sollen durch eine »Aufhebung« des formal-monologischen Universalismus Kants in einen formal-dialogischen Universalismus beho­ben werden: Erstens namlich verlangt das diskursethisch re­formulierte Moralprinzip von moralisch gültigen Maximen nicht, daB ich, sondem daB wír sie ais allgemeine Gesetze wollen konrien; zweitens ist das Moralprinzip so formuliert, daB es die Frage des richtigen Handelns ais eine Frage des vernünftigen Umgangs bedürftiger und verletzbarer Wesen mit anderen bedürftigen und verletzharen Wesen zu verste­hen erlaubt; hierdurch ist jede Form einer rigoristischen Gesinnungsethik ausgeschlossen. Drittens -schlieBlich soll die diskursethische Reformulierung des Moralprinzips eine neue Form der Letztbegründung moglich machen: Apel und Habermas versuchen zu zeigen, daB das Moralprinzip in allgemeinen Strukturen der Argumentation begründet ist. Um nun meine eigenen Einwande gegen die bisherige Form der Diskursethik auf einen Nenner ZU bringen, mochte ich behaupten, daB sie einerseits noch zu Kantisch und anderer­seits nicht niehr Kantisch genug ist. Der Vorwurf einer zu groBen Nahe zu Kant betrifft die konsenstheoretischen Voraussetzungen der Diskursethik sowie das Programm der Letztbegründung. Vordergründig betrachtet haben na­türlich beide Aspekte der Diskursethik wenig mit Kant zu tun. Kantisch in einem problematischen Sinne sind aber, wie ich zeigen mochte, die formal-idealisierenden Begriffsbil­dungen der Konsenstheorie sowie der Versuch, eine univer­salistische Ethik gleichsam direkt, das heiBt ohne die Ver-

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mittlungsinstanz einer Geschichte des moralischen Bew~Bt­seins, aus universalen Strukturen der Vernunft abzuletten. Freilich will ich hiermit nicht sagen, daB der Weg von Kant zu Hegel für uns h eu te noch gangbar ware; vielmehr ?enke ich daB der Ausweg aus den Sackgassen der Kanttschen M~ralphilosophie, auf welche ~egel ais erste~ ~it aller Scharfe hingewiesen hat, wenn mcht Hegels Knttk uinge­hen so doch am Hegelschen System vorbeiführen wird. An die Stelle der konsenstheoretischen Deutung einer universa­listischen Dialog-Ethik, in der Kants Idee eines »Reichs der Zwecke« nachklingt, mochte ich eine fallibilistische Deu­tung s~tzen; an die Stelle eines starken und eindimensiona.­len Begründurigsanspruchs einen schwachen und m~hrdt­mensionalen. Ein universalistisch gewordenes morahsches BewuBtsein bedarf in Wirklichkeit nicht des Vorgriffs auf einen Stand der Versohnung (wie immer auch formal dieser charakterisiert sein mag) oder des Halts in einer letzten Be­gründung: vielmehr glaube ich, daB die universalistische Ethik, solange sie an diesen beiden Absoluta festhalt, ebenso verwundbar bleibt für die Einwande Hegels wie für diejeni­gen des Skeptikers. Was also den Vo:.wurf einer ~u groBen Nahe der Diskursethik zu Kant betnfft, so gehe tch davon aus,.daB die Ethik über die falsche Alternative von Absoh~­tismus und Relativismus hinauskommen müBte; soll het­Ben, daB das Schicksal von Moral und Vernunft nicht mit dem Absolutismos letzter Verstandigungen und letzter Be­gründungen steht und fallt. DaB die Diskursethik in ihrer bisherigen Form nicht genü­gend Kantisch ist, sol!" heiBen, daB ~ie Differenz~erun.gen unterbietet, die bei Kant bereits deuthch ausgearbettet smd. Ich denke insbesondere an di e Differenzierung von Proble­men der Moral und Problemen des Rechts. Zweifellos war es Kants Absicht, Recht und Moral miteinander zu ver­knüpfen; er hat aber- wie ich meine, mit guten Gründen - zumin.dest analytisch unterschieden zwischen Problet?en

' der N ormenlegitimitat und dem Problem des morahsch

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richtigen J:Iandelns. Es ~eht mir nicht um die - oft genug problematlschen - Detatls der Konsttuktion des Zusam­menhangs von Recht und Moral bei Kant; es gebt mir viel­mebr um die Art und Weise, in der Kant durcb die Formu­lierung des Moralprinzips Fragen des moraliscb richtigen Handelns von Fragen der Normengerecbtigkeit unterschei­det. Die Diskursetbik bat dies Niveau der Problemdifferen­~ierung bisber noch ?icbt wieder erreicbt; dies bangt mit tbren konsenstbeorettscben Pramissen zusammen. Beides, die zu groBe Nahe der Diskursetbik zu Kant und ein Verlust an Problemdifferenzierung gegenüber Kant, hangt also mit den problematischen Annahmen einer Konsenstbeorie der Wabrbeit zusammen. Die Grundintuitionen der Diskursetbik scblieBlicb, die icb verteidigen mõcbte, betreffen ebenfalls deren Stellung zu Kant. Die Kritik am formalistiscb-monologiscben Rigoris­mus der Kantiscben Etbik halte icb für berecbtigt, desglei­cben den Versucb, über den starren Formalismus der Kanti­s~ben Etbik durch eine dialogische Erweiterung der Etbik hmauszugelangen. ScblieBlich sebe ich ebenso wie Apel und Habermas einen Zusammenbang zwischen dem Übergang v~n einer form~listiscben zu einer dialogischen Etbik einer­setts und dem Ubergang von der BewuBtseins- zur Spracb­pbilosopbie. andererseits. Allerdings glaube icb, daB ·di e Anknüpfungspunkte, die die Kantiscbe Ethik für einen dia­logetbiscb verstandenen Universalismus bietet, neu zu be­stimmen waren. Dies zu tun ist die Absicbt, die den Überle­gungen des ersten Teils dieser Arbeit zugrunde liegt. Der zweite Teil enthalt eine Kritik der Diskursetbik und ibrer konsenstheon:!tischen Pramissen. Im dritten Teil mõcbte ich zeigen, wie sicb Grundintuitionen der Diskursetbik im Rabmen der im ersten Teil entwickelten »quasi-Kanti­scben« Perspéktive zur Geltung bringen lassen. Nocb ein Vor-Wort zum Problem des moralphilosophi­scben Skeptizismus. Icb glaube, er verdient es, ebenso ernst genommen wie nicbt ernst genommen zu werden. Nicbt

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ernst zu nebmen ist er als eine moralische Haltung; ernst zu nebmen ist er ais Infragestellung rationalistischer und fun­damentalistischer Erkenntnisansprüche. Damit will icb sa­gen: Ich glaube, daB der Rationalismus den Skeptizismus in sich aufnehmen und dadurcb in ein Ferment der Aufklarung verwandeln muB. Ein durch Skepsis belehrter Rationalis­mus ware weder rationalistiscb, noch ware er skeptisch; aber vielleicht ware er vernünftíg. Ich glaube also, daB wir die Tradition der Aufklarung und des revolutionaren Hu­manismus am besten fortsetzen kõnnen, wenn wir von eini­gen Idealen der Vernunft Abschied nebmen. Dies ware kein Abschied von der Vernunft; es ware vielmebr der Abschied einer falschen Vorstellung der Vernunft von sicb selbst. Die Kritik an den ldeen von Apel und Habermas im zweiten Teil dieser Arbeit ist zum Teil aucb ais Selbstkritik des Au­tors zu versteben. Ich babe mir aber nicht die Mühe ge­macht, genau anzugeben, an welchen Punkten dies der Fali ist. Es wird im übrigen nicbt verborgen bleiben, daB icb den Ideen beider Autoren, die icb in Einzelbeiten kritisiere, zu­gleich entscheidende und weiterwirkende lmpulse verdan­ke.

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r. Eine Kantische Exposition

J. Habermas hat verschiedentlich, zuletzt in seiner Arbeit »Diskursethik - Notizen · zu einem Begründungspro­g~amm<<' das Universalisierungsprinzip der Ethik in Analo· gte geset~t zum sogenannten Induktionsprinzip der empiri­schen Wtssenschaft. Aus Gründen, die spater klar werden sollten, ?alte ich diese Analogie für problematisch; sie leuchtet mdessen sofort ein, wenn man sie zunachst in ei­nem schwacheren, in verschiedener Form schon von M. G. Singer• und R. M. HareJ vertretenen Sinne versteht: nam­lich ais Ausdruck eines für kailsale und moralische Urtei-1~ gleichermaBen konstitutiven >>Verallgemeinerungsprin­ztps<<, Dies Verallgemeinerungsprinzip bringt den allgemeinen Charakter kausaler bzw. normativer Urteile und Grund­Folge-Be~iehungen zum Ausdruck, der zur logischen Grammattk der Worte gehort, mit deren Hilfe wir kausale und normative Urteile formulieren. Für kausale Erklarun­gen gilt et~a: Wenn a, weil (kausal) b, so muB- ceteris pari­bus- auf b tmmer a folgen. Die Identifikation einer kausalen Beziehung bedeutet, zumindest implizit, die Identifikation ~iner kausalen Regelmiifligkeit. Das aber, so behaupte ich, tst der Kern des~e~, was man >>Induktionsprinzip<< genannt hat. Analoges wte 1m F alie des kausalen >>weil<< gilt nun auch für das n.or~ative :>weil<<: Wenn jemand a tun soll (muB, darf), wetl dte Bedtngungen b vorliegen, so sollte (müBte,

1 Jürgen J:iabermas, >>Dis~~rsethik- Notizen zu einem Begründungspro­gramm<< (1m folgenden zmert ais DE), in: ders., Moralbewufltsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983. . 2 Vgl. Marcus G. Singer, Generalization in Ethics, New York 1971, S. 37ff. (de~tsch: Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt 1975). 3 Vgl. R1chard M. Hare, Moral Thinking, Oxford 1981, S. Bff.

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dürfte)- ceteris paribus- jedermann a tun, wenn die Bedin­gungen b vorliegen. Jedes kausale oder normative >>weil<< tragt einen Allgemeinheitsindex; es hat die Allgemeinheit der sprachlichen Ausdrücke, zwischen denen es steht- ob­wohl natürlich immer nur in dem durch die Ceteris-pari­bus-Klausel qualifizierten Sinne. »Moral judgements are thus analogous to causal judgements and >because< state­ments generally in possessing this character of implicit gene­rality.<<' Statt von einem Verallgemeinerungsprinzip konnte man auch von einem >>Gleichheitsprinzip<< sprechen; das Verallgemeinerungsprinzip verlangt namlich die Gleichbe­handlung gleicher Falle. Sowohl im Falle des kausalen ais auch in dem des normativeri >>weil<< bedarf eine Ungleichbe­handlung prima facie gleicher F alie einer Erklarung ( oder Begründung), die dartut, daB die unterschiedenen Falle in einer (kausal oder normativ) relevanten Hinsicht nicht gleich sind. Vermutlich hat das Verallgemeinerungs- oder Gleichheitsprinzip eine allgemeinere Bedeutung, vergleich­bar etwa der des logischen Widerspruchsprinzips. Indes in­teressiert uns hier nur die Bedeutung, die es im Zusammen­hang mit der logischen Grammatik kausaler und normativer weil-Aussagen annimmt. Das normative Gleichheitsprinzip bezeichnet bereits einen elementàren Begriff von >>Gerechtigkeit<<. Dieser elemen­tare Gerechtigkeitsbegriff meint nichts anderes ais die Gleichbehandlung gleicher Falle, er schlieBt eine Idee der Unparteilichkeit ein, wobei es hier vor aliem um die unpar­teiliche Anwendung vorgegebener Normen geht. In diesem Sinne nennen wir etwa einen Schiedsrichter einen >>Unpar­teiischen<<. In einem analogen Sinne nennen wir einen Leh­rer gerecht, wenn er kein Kind >>Vorzieht<<, einen Richter gerecht, wenn er riicht »willkürlich<< Recht spricht. Freilich geht es beim Gleichheitsprinzip nicht nur um die Applika­tion vorgegebener Normen, sondem auch um den Praze­denzcharakter einzelner Handlungen und Urteile: So wie

r Singer, a.a.O., S. 38.

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die kausale lnterpretation singuhirer Ereignisse eine unbe­stimmte Anweisung enthalt auf eine kausale RegelmaBig­keit, so enthalt der normativ verstandene Prazedenzfall eine implizite Norm. Beide, der kausale_ wie der normative Pra­zedenzfall, enthalten eine implizite Regei der Gleichbe­handlung gleicher Falle; sie schranken die Freiheit der kausalen oder not:mativen lnterpretation für zukünftige Falle ein. Das Verallgemeinerungsprinzip in seiner normativen Be­deutung drückt eigentlich nichts anderes aus als den Zusam­menhang zwischen Ausdrücken wie »soU«, »muB« oder »darf« und dem Begriff einer Norm. Daher wird der eben erwahnte elementare Gerechtigkeitsbegriff natürlich weit­gehend unanwendbar, sobald die Frage nach der Begrün­dung jener Normen gestellt wird, durch welch_e Standards der Gleichbehandlung gleicher Falle allererst definiert wer­den; das heiBt also, sobald die Ftage nach der »Gerechtig­keit« der Normen selbst gestellt wird. Das Gleichheitsprin­zip betrifft ja nur den Allgemeinheitscharakter von Grund­Folge-Beziehungen; ein Kriterium der"Triftigkeit kausaler Erkhirungen oder normativer Begründungen liefert er daher nur im Sinne eines Konsistenzprinzips. Demgegenüber geht es bei der Begründung von Normen unter anderem um die Frage, welche Standards der Gleichbehandlung gleicher Falle die richtigen seien. Dies ist die Frage, die Aristoteles in der Politik erõrtert; sie stellt sich für ihn etwa als die Frage, obbei der Verteilung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten die Besitzenden, die Freigeborenen oder die Tüchtigen jeweils als »Gleiche« zu behandeln seien. DaB die Menschen als Menschen hinsichtlich fundamentaler Rechte ais Gleiche zu zahlen seien, dies universalistische Prinzip gehõrt erst zur modernen Moral~ und Rechtsauffassung. Al­lerdings kõnpte man sagen, daB es das einzige Prinzip ist, das unter allen Menschen (als denjenigen, von deren Aner­kennung normative Prinzipien leben) vernünftigerweise Zustimmung finden konnte, nachdem traditionelle Begrün-

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r ! dungen der Ungleichheit der Menschen ihre Überzeu­

gungskraft und Verbindlichkeit eingebüBt haben. Sobald man sich also;;__überlegt, wie denn Normen überhaupt sollen begründet werden kõnnen, wenn sie nicht mehr auf eine transzendente Autoritat zurückgeführt werden kõnnen -und zwar begründet denjenigen gegenüber, die sie ais gültig anerkennen sollen, nimmt di e logische Grammatik der nor­mativen Grundwõrter fast zwangshiufig eine universalisti­sche Bedeutung an: wir kõnnen diese Ausdrücke rationaler­weise nur noch in einem universalistischen Sinne verwen­den. Hierdurch entsteht der Anschein, als sei das normative Verallgemeinerungsprinzip gleichbedeutend mit einem Universalisierungsprinzip. Ich denke aber, wir sollten vor­erst die beiden Bedeutungsschichten - die eine betrifft den Allgemeinheitscharakter nbrmativer Urteile, die andere die universalistischen Bedinguqgen einer mõglichen intersub­jektiven Normengeltung - auseinanderhalten. DaB in Ha­bermas' lnterpretation des Universalisierungsprinzips die beiden Bedeutungsschichten zusammenfallen, hangt bereits mit seinem Konsensbegriff der praktischen Wahrheit zu­sammen; es hangt, mit anderen Worten, damit zusammen, daB für ihn der Sinn normativerGeltungsansprüche mit den universalistischen Bedingungen ihrer mõglichen intersub­jektiven Anerkennung zusammenfallt. Im folgenden werde ich vom Verallgemeinerungsprinzip in seiner elementaren Bedeutung ausgehen, um dann das Kantische Moralprinzip ais ein Verallgemeinerungsprinzip zweiter Stufe zu inter­pretieren.

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Mit Singer und Hare gehe ich davon aus, daB das bisher be­trachtete Verallgemeinerungsprinzip bereits eine wesentli­che Dimension dessen darstellt, was Kant ais Kategorischen lmperativ formuliert hat. Allerdings mõchte ich gleich hin-

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zufügen, daB sich Kants >>Faktum der Vemunft« erstens nicht auf dies Veraligemeinerungsprinzip reduzieren laBt und daB sich - nach meiner Überzeugung - zweitens ein universalistisches Moralprinzip aus dem Veraligemeine­rungsprinzip auch nicht durch Ableitung mit Hilfe einer zu­satzlichen Pramisse ( etwa Singers >>principie o f consequen­ces«) gewinnen laBt .. ' DaB das Veraligemeinerungsprinzip gleichwohl eine wesentliche Dimension des Kantischen Moralprinzips bezeichnet, kann man sich auf folgende Weise klarmachen: Der Kategorische Imperativ verlangt, ich solie nur nach Maximen handeln, von denen ich zugleich wolien kann, daB sie als aligemeine Gesetze gelten. Nun wird aber, was ich als aligemeines Gesetz wolien kann, fak­tisch in der Res_el durch meine- immer schon vorhandenen - normativen Uberzeugungen bestimmt sein; insbesondere durch meine- sozial eingespielten- normativen Erwartun­gen an andere. Soweit dies der Fali ist, sagt der Kategorische lmperativ letztlich nichts anderes als: >>Tue, wovon du glaubst, daB man es tun müsse« oder auch >>tue nicht, wovon du glaubst, daB man es nicht tun dürfe«; also: >>Mach für dich selbst in normativen Dingen keine Ausnahme« oder schlicht: >>Tue, was Du tun solist.« Ich denke, es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daB der Kategorische lm­perativ schon in dieser- gleichsam elementaren - Bedeu­tung eine keinesfalis triviale Forderung darstelit: er verlangt namlich, ich solie die bereits anerkannten normativen Ver­pflichtungen hier und jetzt und ohne Selbstbetrug in meiner eigenen Handlung anerkennen. Kant hatte voliig recht, wenn er dieses Postulat als etwas Einfaches und jedem Ein­leuchtendes und gleichwohl als etwas schwer zu Erfüliendes verstand. Die Forderung, im Sinne meiner eigenep. normati:_ ven Überzeugtingen zu handeln, bedeutet ja nicht, daB ich mir jeweils eine geeignete Rechtfertigung für meine Hand-

r An diesem Punkte sehe ich die entscheidende Schwache von Singers in mancher Hinsicht durchaus überzeugender Rekonstruktion der Kanti­schen oder einer »Kantianischen« Ethik. Vgl. Singer, a.a.O., S. 63 ff.

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lungen ausdenke, sie bedeutet nicht, ich soli~. gemaB dem handeln, was ich jeweils als meine normative Uberzeugung ausgeben kann; vielmehr schlieBt diese Forderung die schwer zu erfüliende Forderung ein, daB ich mich nicht dar­über tausche, was ich gegebenenfalls von den anderen bei entsprechend vertauschten Rolien wirklich erwarten wür­de. Freilich laBt sich, wie schon betont, der Kategorische lmpe­rativ auf diese elementare Bedeutung nicht reduzieren. Der Kategorische lmperativ soli ja di e Moglichkeit des kategori­schen >>Soli« oder >>MuB«, das im Begriff einer >>normativen Überzeugung« · immer schon impliziert ist, aliererst erkHi­ren, und zwar als die Moglichkeit eines rational einsehbaren >>Soli« oder >>MuB«. Erst auf diesem Wege kann der Katego­rische lmperativ zu einem universalistischen Moralprinzip werden; das Veraligemeinerungsprinzip als solches ist zwar ein für alie >>rationalen Wesen<< gültiges Prinzip, aber kein Prinzip, das universalistische Normen notwendigerweise vor anderen auszeichnet. Wir konnen den Kategorischen lmperativ ein Veraligemei­nerungsprinzip zweiter Stufe nenpen; erst hier legt sich der. Ausdruck Universalisierungsprinzip nahe. Dies Universali­sierungsprinzip laBt sich nicht mehr als einfaches Analogon des Induktionsprinzips verstehen: Hier geht es namlich nicht mehr bloB um den Aligemeinheitscharakter, der zur logischen Grammatik von >>soli<<- oder >>muB<<-Aussagen gehort, sondem darüber hinaus um einen gemeinsamen Wilien rationaler Wesen (daher auch um die intersubjektive Geltung moralischer Urteile). Der Kategorische lmperativ ist ein Prinzip, das nicht nur für alie rationalen Wesen gilt, sondem das zugleich auf alie rationale Wesen Bezug nimmt (wie am deutlichsten die sog. >>Zwecke-Formel<< zeigt). Ich mochte im folgenden die Bedeutung des Kategorischen lmperativs so weit rekonstruieren, daB sowohl die Motive für den Übergang zu einer dialogischen Ethik deutlich wer­den als auch die Beweislasten, die sich für eine solche Ethik

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ergeben. In meiner Rekonstruktion werde ich selektiv vor­gehen; von mehreren mõglichen Interpretationen des Kate­gorischen Imperativs werde ich diejenige vertreten, die mir sachlich am starksten erscheint. Unter den Kantischen Tex­ten kommt die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die­ser Interpretation am meisten entgegen. Ich gehe von der folgenden Formulierung Kants aus: »Man muB wollen kõnnen, daB eine Maxime unserer Handlung ein allgemeinesGesetz werde: dies ist der Kanon der mora­lischen Beurteilung derselben überhaupt.« 1 Die Forderung, ich solle nur nach Maximen handeln, von denen ich wollen

, kann, daB sie ais allgemeine Gesetzé gelten, ist gleichbedeu­tend mit der Forderung, ich solle nur riach Maximen han­deln, von denen ich wollen kann, daB alie anderen nach ihr handeln (auch mir gegenüber). Nun ist für Kant ausge­macht, daB, wenn ich nicht wollen kann, daB eine Maxime ais allgemeines Gesetz gelte, auch kein anderes vernünftiges Wesen dies wollen kann: der Test der Verallgemeinerbar­keit ist zugleich ein Test auf di e allgemeine Zustimmungsfa­higkeit von Maximen. Di e nicht-verallgemeinerbaren Maxi­men sind daher diejenigen, die ich- in einem Ausdruck von Gert• - nicht »õffentlich vertreten« kõnnte; und zwar gilt dies in einem doppelten Sinne: erstens kõnnte ich nicht wol­len, daB die andern sich diese Maxime zu eigen machen, zweitens kõnnte ich nicht erwarten, daB die anderen einer solchen Maxime als einer allgemeinen Regei (d. h. insbeson­dere meiner Befolgung dieser Maxime) zustimmen kõnnten. Di e nicht-verallgemeinerbaren Maximen sind somit diejeni­gen, auf die sich rationale Wesen ais Regeln einer gemeinsa­men Praxis nicht würden einigen kõnnen) In Kants Unter-

I lmmanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (im folgenden zitiert ais GMS), in: Werke in sechs Banden (Hrsg. W. Weischedel), Band IV, Darmstadt 1956, S. 54 (BA 57). z Bernard Gert, The Moral Rules, New York 1973 (deutsch: Die morali­schen Regeln, Frankfurt I983). 3 Vgl. auch Gert, a.a.O., S. 6off.; Georg Henrik von Wright, The Varieties of Goodness, London 1963, S. I97ff.

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stellung, daB mein »Wollen-Kõnnen« oder »Nicht-wollen­Konnen« im F alie der Verallgemeinerung von Maximen mit dem aller anderen rationalen Wesen koinzidieren müsse, liegt natürlich ein Problem; es ist genau das Problem, das zum Versuch einer dialogischen Erweiterung der Kanti­schen Ethik AnlaB gegeben hat. Ich mõchte dies Problem aber zunachst vernachlassigen und etwas mehr über den Zu­sammenhang zwischen Kategorischem Imperativ, morali­schen Normen und moralischen Urteilen sagen. Die eigentliche Pointe des Kategorischen Imperativs, so kõnnte man sagen, liegt darin, daB durch ihn das kategori­sche >>Soll« oder >>MuB« oder >>Darf« moralischer Normen (also der »kategorischen Imperative« im Plural) und morali­scher Urteile als ein rational einsehbares auf das kategori­sche >>Soll« eines einzigen Metaprinzips zurückgeführt wird. Danach bleibt als erklarungsbedürftig nur noch dieses eine kategorische >>Soll« übrig. Solange man unterstellt, daB Kant dieses fundamentale kategorische >>Soll« einsichtig ge­macht babe, laBt sich von ihm her auch das >>Soll<< oder »MuB« dder >>Darf« unserer gewõhnlichen moralischen Ur­teile und Normen einsichtig machen. Im Gegensatz zu man­chen AuBerungen von Kant und in Übereinstimmung mit Ebbinghaus 1 und Singer• gehe ich davon aus, daB der

I Vgl. J ulius Ebbinghaus, »Di e Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten<<, in: ders., Gesamme/te Auf­satze, Vortrage, Reden, Hildesheim I968, I, Abt. 7> S. 140-I60. 2 Marcus G. Singer, a.a.O., S. 240: ,If the maxim of an action cannot be willed to be a universallaw, then it is wrong to act on it, we have the duty or obligation not to, and it can be said that we ought not to. However, if a maxim can be willed to be a universallaw, it does not follow that it is obligatory to act on it or that it would be wrong not to. What follows is that it is permissible to doso, or not wrong (and thus right in the permissive sense), and hence that it cannot be said that we ought not to- which is not the same as saying that we ought to.<< An diese Position knüpft auch Joa­chim Aul an: >>Aspekte des Universalisierungspostulats in Kants Ethik<<, in: Neue Hefte für Philosophie, Heft zz, 1983, insbes. S. 85 ff. DaB Kant selbst eine solche lnterpretation nicht ganzlich ferngelegen hat, zeigt die folgende Stelle aus einer Vorlesungsnachschrift: »In allen moralischen Ur-

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>>Transfer<< des Verpflichtungscharakters vom Kategori­schen lmperativ zu inhaltlichen moralischen Normen oder Urteilen primar auf dem Wege eines Verbots nicht-verallge­~einerungsfahiger Handlungsweisen (bzw. Maximen) vor stch geht.• Nehmen wir als Beispiel dieMaxime•, daB ich mir aus Schwierigkeiten notfalls durch ein unaufrichtiges Ver­sprechen heraushelfen werde. Ich unterstelle mit Kant, daB wir - als rationale Wesen - nicht wollerÍ kõnnen, daB eine entsprechende Praxis allgemein wird. Der Kategorische Im­perativ sagt nun offenbar, daB ich (ebenso wie X oder Z) un­ter diesei:t Umstanden nach der Maxime >>Notfalls-unauf­richtig-Versprechen<< nicht handeln darf In der konkreten Situation heiBt das, wenn p die Handlung des unaufrichti­gen Versprechens und nicht-p das Unterlassen dieser Hand­lung bedeutet: 1ch darf nicht p tun; oder ich muft (soll) nicht-p tun. Das >>muB<< des >>ich (oder man) muB p tun<< er­gabe sich somit daraus, daB ich von einer 'bestimmten Ma­xime nicht wollen kann, daB sie als allgemeines Gesetz gilt. :qas >>muB<< oder >>soll<< unserer gewõhnlichen moralischen Ub_erzeugungen.lieBe sic.h a';ls dem Kategorischen Imperativ gletchsam nur vta negatwms >>ableiten<<. Nach der hier vorgeschlagenen Interpretation würde dage­·gen die Verallgemeinerbarkeit von Maxi~en lediglich be­deuten, daB entsprechend zu handeln moralisch erlaubt ist. Nun sind freilich Formulierungen Kants unübersehbar, in denen er sagt, daB di e verallgemeinerbaren Maximen eo ipso

teilen fassen wir den Gedanken: wie ist di e Handlung beschaffen, wenn si e allgemein g~nommen wird? Stimmt die Intention der Handlung, wenn sie ~ur allgc;meme~ Regei g~macht wird, mit sich selbst, ist si e moralisch mi:ig­!t~h - s~1mmt .d•C: lntent10n dc:r ~andlun~, wenn sie allgemein genommen w1rd, mcht m1t s•ch selbst, so 1st s1e mora!tsch unmi:iglich.<< Vgl. Kants Ge­sammelte Schriften (Hrsg. Akademie der Wissenschaften der DDR), Bd. xxvu (Kants Vorlesungen Bd. IV: Vorlesungen über Moralphiloso­phie), Berlin I979• S. I276f. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Henry Gerlach. I Ahnlich auch William K. Frankena, Analytische Ethik., München I972, S. 52· 2 Vgl. GMS 53 (BA 54).

praktische Gesetze sind.• Um diesen Widerspruch aufzukla­ren, müssen wir den Begriff der >> Verallgemeinerbarkeit<< · prazisieren, das heiBt die Bedeutung des Ausdrucks >>wollen kõnnen, daB eine Maxime als allgemeines Gesetz gilt<<. Nun ist és, wie wir gleich sehen werden, kein Zufall, daB Kant selbst Beispiele negativer Art a:nführt. E r zeigt namlich, daB ich von bestimmten Maximen (vernünftigerweise) nicht wollen kann, daB sie als allgemeine Gesetze gelten; entwe­der, weil ich sie nicht einmal als allgemeine Gesetze denken kann oder weil andernfalls ein >>Widerstreit<< in meinem Willen entstehen würde• (weii ich etwa will, daB man mir hiift und zugieich will, daB man mir nicht hiift). An dieser Stelle ist es wichtig, sich zu vergegenwartigen, daB der Kate­gorische lmperativ, soweit er ein >>Prüfungsverfahren<< beinhaltet, sich nicht auf beiiebige Sâtze bezieht, sondern auf Maximen, die jemand- ein Handelnder- >>hat<<. Hier­durch entsteht namiich eine charakteristische Asymmetrie: Jemand, der etwa die Maxime hat, nicht die Wahrheit zu sa­gen, wenn es ihm Nachteiie bringt, kann sich Ieicht kiarma­chen, daB er v~m dieser Maxime nicht wollen kann, daB sie ·. ais allgemeines Gesetz gilt. J emand dagegen, der die Maxime hat, immer die Wahrheit zu sagen, auch wenn es ihm Nach­teile bringt, will, eo ipso, daB diese Maxime ais allgemeines Gesetz gilt (insofern kann er es auch wollen). Dagegen kann man dies vom ersten (dem mit der schiechten Maxime) nicht ohne weiteres sagen: in welchem Sinne sollte man von ihm behaupten kõnnen, daB er die Wahrhaftigkeitsmaxime ais allgemeines Gesetz »wollen kann<<'? Was ihn seibst betrifft, so will er ja einer a:nderen Regei foigen, und was die anderen betrifft, so reicht es ihm vielleicht, wenn sie ihm gegenüber wahrhaftig sind. Nehmen wir andererseits jemand, dessen Maxime es ist, keine Schwache zu zeigen, auch wenn es noch so schwer fallt. Wenn es seine Maxime ist, so wird er sie auch

I Vgl. etwa Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke in sechs Banden, (Hrsg. W. Weischedel), Bd. IV, a.a.O., S. IJ6 (A 49). 2 Vgl. GMS 54!55 (BA 56157).

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als allgemeines Gesetz wollen konnen (vielleicht sogar wo1-len). Dasselbe gilt aber auch für derijenigen, dessen Maxime es ist, lieber mal eine Schwache zu zeigen, als immer den starken Mann zu markieren. Aus diesen wenigen Beispielen folgt aber schon, daB die Antwort auf die Frage, ob jemand eine bestimmte Maxime als allgemeines Gesetz wollen kann, davon abhangt, welche Maximen er faktisch hat. Deshalb kann, ob jemand eine Maxime als allgemeines Gesetz wollen kann, weder im positiven noch im negativen Sinne darüber entscheiden, ob diese Maxime ein >>praktisches Gesetz« ist. Wenn ich dagegen feststelle, daB ich meine Maxime nicht ais allgemeines Gesetz wollen kann, so folgt allein daraus schon, daB ein Handeln im Sinne dieser Maxime moralisch schlecht ware (weil ich für mich selbst eine »Ausnahme« mache): ich »darf \<-Ím Sinne dieser Maxime nicht handeln. Wenn ich es mir nun zur Maxime machte, das im Sinne der »nicht-verallgemeinerbaren« · Maxime Verbotene nicht zu tun, so konnte man diese neue Maxime die »Negation« der ersten Maxime nennen (also etwa: >Ich werde immer die Wahrheit sagen, auch wenn es Nachteile bringt< als Nega­tion der Maxime >lch werde nicht die Wahrheit sagen, wenn es mir Nachteile bringt<). Wenn diese neue Maxime wirklich meine Handlungsmaxime ist, so will ich auch, daB sie als all­gemeines Gesetz gilt. In diesem Falle hat aber di e Tatsache, daB ich meine Maxime als allgemeines Gesetz wollen kann, eine spezielle Bedeutung; diese spezielle Bedeutung ergibt sich aus der »logischen Genese« meines >>wollen konnen«, d. h. daraus, daB meine Maxime die Negation einer nicht­verallgemeinerbaren Maxime ist. Di e in diesem Sinne verall­gemeinerbare Maxime drückt eine moralische Verpflich­tung aus, jedenfalls für mich. Mein Vorschlag ware also, zwischen einem »schwachen« und einem »Starken« Begriff der Verallgemeinerbarkeit von Maximen zu unterscheiden. Der schwache Begriff der Ver­allgemeinerbarkeit reicht aus, soweit es. um die Eliminie­rung nicht-verallgemeinet'barer Maximen geht; er reicht

dagegen nicht aus, um die These zu begründen, daB die ver­allgemeinerbaren Maximen praktische Gesetze (moralische Normen) sind. Hierzu ist vielmehr ein starker Begriff der Verallgemeinerbarkeit notwendig.; wobei die Verallgemei­nerbarkeit von Maximen im starken Sinne aus einem nega­torischen Bezug auf di e Nicht-Verallgemeinerbarkeit ihrer N egate zu verstehen ist. Dieser negatorische Bezug auf nicht-verallgemeinerbare Maximen ist wohlgemerkt zu un­terscheiden von jenem negatorischen Bezug, den jede (im schwachen Sinne) verallgemeinerbare Maxime zu ihrer »Negation« hat: Wenn es meine M~xime ist, keine Schwa­che zu zeigen, auch wenn es zum AuBersten kommt, und wenn ich will, daB diese Maxime als allgemeines Gesetz gilt, dann heiBt das natürlich, daB ich nicht wollen kann, daB die Maxime, lieber einmal eine Schwache zu zeigen, als immer den starken Mann zu markieren, als allgemeines Gesetz gilt. Aber dieses »Nicht-wollen-Konnen« ist abhangig davon, daB eine entgegengesetzte Maxime bereits meine Maxime ist (in diesem Falle ist also das »Nicht-wollen-Konnen« gegen­über dem »Wollen-Konnen« sekundar). Ganz anders ver­halt es sich mit dem »Nicht-wollen-Konnen« im Falle einer Maxime, die meine Maxime ist: die Nicht-Verallgemeiner­barkeit einer solchen Maxime ist unabhangig von anderen Maximen, die ich etwa auch noch babe. Man kann also nur dann behaupten, daB die verallgemeiner­baren Maximen eo ipso praktische Gesetze sind, wenn man als verallgemeinerbar nur jene Maximen versteht, deren »Negation« nicht-verallgemeinerbar ist auch unter derVor­aussetzung, daB sie meine Maxime ware. Hierin ist der Vor­rang der Negation bei der Frage nach der Verallgemeiner­barkeit von Maximen ·begründet. Freilich laBt sich das Problem der intersubjektiven Gültigkeit moralischer Nor­men auch auf diese Weise nicht defini ti v losen: Es ist keines­wegs ausgemacht (wie Kant offenbar glaubte), daB die von mir anerkanhten moralischen Verpflichtungen auch von je­dem anderen rationalen Wesen anerkannt werden müBten

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( und vice versa). Auf dieses Problem werde ich zurückkom­m.en. Für ?ie folg~nden Überlegungen werde ich indes der Emfachhett ha~ber unters.tellen, daB di e durch den Kategori­schen Imperattv ausgezetchneten moralischen Normen in­tersubjektiv gültig sind.

III

Ich mõchte als nachstes Kants These diskutieren, da6 die durch den Kategorischen Imperativ ausgezeichneten Nor­men allgemeingültig, d. h, ohne Ausnahme verbindliche »praktische Gesetze« sind. Auch diese These la6t sich- mit Kant gegen ~arit - rechtferti~en, wenn man sie vorsichtig genug formuhert. Nehmen Wtr etwa die Maxime >Wenn es mir zweckma6ig erscheint, werde ich die Unwahrheit sa­gen<, ;on deren Nicht-Verallgemeinerbarkeit ich ausgehe. Da6 em Hand.eln .na~? dieser Maxime durch den Kategori­schen Imperattv em fur allemal ausgeschlossen ist bedeutet d~B eirie im Sinne dieser Maxime begründete (~der moti~ vt~rt~) L~ge kategorisch und im Sinne strikter Allgemein­hett (1~ St.?ne ~er Kantisch~n »universalitas« 1

) verboten ist; und dtes la6t stch als morahsche Norm formulieren: »Man darf n~cht .~ügen« oder »Du sollst nicht lügen«. Nur darf man mcht ubersehen (Kant selbst hat es übersehen), da6 die Allgemeingültigkeit (universalitas) dieser Norm aus der Nicht-Verallgemeinerbarkeit einer bestimmten Art von Maxime ( oder aus der Unzulassigkeit einer bestimmten Art von Handlungsgründen) resultiert. Das strikte Verbot be­z!eht sich. auf eine Klasse von Handlungsgründen; es kann stch gar mcht als ein striktes Verbot auf die entsprechenden ll_and~.un~en (?ier: lügen) beziehen. Kants Polemik gegen d.te Mog~tc~ket~ von Ausnahmen ist ganz richtig, wenn man ste auf dte nchttge Art von Ausnahmen bezieht: Die Norm »du sollst nicht lügen«, wenn man sie in dem oben erlauter-

I Vgl. GMS 55 (BA 58).

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ten Sinne versteht, erlaubt niemals eine Ausnahme. Damit ist aber noch nicht ausgemacht, ob es nicht mõgliche Hand­lungsgründe gibt, die aufgrund ihrer »Õffentlichen Vertret­bar.keit« ( od~r- in erster Naherung -. aufgrund der Verallge­memerbarkett entsprechender Maxtmen) verallgemeiner­bare Ausnahmen bezeichnen. Es scheint, da6 Kant zwei verschiedene Kategorien von »Ausnahmen« miteinander konfundiert hat; wenn man ihm hierin nicht folgt, so ist es ohne Schwierigkeit mõglich, abgeleitete Moralnormen zu­gleich ais strikt allgeineingüh~ig und als auf mõgliche Aus­nahmen »angelegt« zu verstehen. Die hier in Frage stehende Differenzierung fallt übrigens nicht zusaQJ.men mit der U nterscheidung zwischen »egoisti­schen:< und »altruistischen« Motiven: ich darf weder lügen, um mtr selbst, noch um meinem Kind oder meinem Freund einen Vorteil zu verschaffen. Was die oben angeführte Norm verbietet, ist das Lügen aufgrund von Privatzwecken (~b diese nun e~oistisch oder altruistisch sind). Die Rettung emes Unschuldtgen etwa vor der Gestapo ware kein Privat­zweck in diesem Sinne; es ware vielmehr ein Handlungs­zweck, der sich durch eine andere moralische Norm be­gründen lie6e, namlich die Norm, daB man unschuldig Verfolgten Hilfe nicht versagen darf. Die Verletzung einer moralischen Norm (»Du sollst nicht lügen«) lie6e sich in diesem Falle durch einen »õffentlich vertretbaren« Grund rechtfertigen (auch wenn ich ihn unter den gegebenen Um­standen natürlich nicht, in einem Kantischen Ausdruck, »laut werden« lassen dürfte); statt dessen kõnnte man auch sagen, daB eine entspréchende Maxime »lch werde unschul­dig Verfolgte notfalls durch eine Lüge zu retten versuchen« verallgemeinerbàr ist. Freilich entsteht an dieser Stelle eine Schwierigkeit, auf die Kant sich aufgrund seiner rigoristi­schen Interpretation moralischer Normen nicht mehr hat einlassen müssen: Im Gegensatz namlich ZU der oben be­trachteten Maxime »Wenn nõtig (d. h. zweckma6ig), werde ich die Unwahrheit sagen«, deren Nicht-Verallgemeiner-

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barkeit sozusagen auf der Hand liegt, ist die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der zuletzt betrachteten Maxime kei­neswegs eindeutig entscheidbar. Die Maxime ist zu vage, um eine klare Antwort zuzulassen; man mõchte sagen: Diese Maxime kann ich nur als allgemeines Gesetz wollen, wenn ich sicher sein kann, daB alle Menschen genügend Ur­teilskraft und gutep Willen haben, um richtig zu entschei­den, wann der Fall des >>notfalls« wirkiich vorliegt: Wenn ich aber dessen sicher sein kõnnte, dann bedürfte es einer entsprechenden Maxime nicht mehr, denn niemand würde mehr unschuldig verfolgt werden. Man muB daher Kant durchaus Konsequenz zubilligen, wenn er solche Maximen als untauglich für eine Gesetzgebung in einem mõglichen Reich der Zwecke verwarf. Ersichtlich müBte man, um die Ausnahme von der Regel »Du sollst nicht lügen« wirklich zu rechtfertigen,.auf die besonderen Umstande einer kon­kreten Situation eingehen. Hierbei lieBen sich die »Õffent­lich vertretbaren« Gründe, mit denen ich die Ausnahme rechtfertigen würde, zwar prinzipiell wiederum inFormei­ner verallgemeinerbaren Maxime ausdrücken, die áuf einen Situationstypus Bezug nimmt; aber es ergibt sich das Di­lemma, daB der Anwendungsbereich einer solchen Maxime um so kleiner wird, je genauer ich den betreffenden Situa­tionstypus charakterisiere, und daB er um so unbestimmter wird, je allgemeiner diese Charakterisierung ausfallt. Das bedeutet aber, daB die begründeten Ausnahmen von morali­schen Normen nicht im gleichen Sinne unter Regeln fallen kõnnen wie die von jenen Normen verbotenen (oder auch gebotenen) Handlungen, und genau deshalb spielt die Ur­teilskraft bei der Anwendung moralischer Normen eine viel fundamentalere Rolle, als Kant dies zugestehen mochte. Hierin ist auch begründet, daB in moralischen Kontrover­sen in aller Regei nicht di e grundlegenden moralischen Nor­men kontrovers sind, sondem die Charakterisierungen von Situationen oder auch Situationstypen: sobald wir uris auf solche Charakterisierungen (also auf die »Tatsachen« im

weitesten Sinne des Wortes) geeinigt haben, lõsen sich die moralischen Kontroversen in der Regei auf; in diesem Sinne, so kõnnte man sagen, liegt die Moral in den Dingen selbst. Um die Analyse des eben angeführten Beispiels zu Eride zu führen, mõchte ich die Beschreibung der unterstellten mo­ralischen Problem- und Urteilssituation noch einmal in ei­nem wichtigen Punkte modifizieren. Die Modifikation be­steht in einer Art »Zerlegung« des Problems in zwei Kom­ponenten. Wenn wir statt von Handlungsmaximen von moralischen Normen ausgehen, besteht das Problem ja ge­rade in einem Konflikt zweier Normen: die erste Norm for­dert, daB ich unschuldig Verfolgten beistehe, die zweite Norm fordert, daB ich nicht lüge. Wenn ich mir nun über­lege, in welcher Weise diese beiden Normen negatorisch auf nicht~verallgemeinerbare Handlungsmaximen bezogen sind, wird sofort klar, daB die konstruierte Handlungssitua­tion ein unmittelbarer Anwendungsfall der ersten Norm ist, dagegen nur ein mittelbarer Anwendungsfall der zweiten Norm. Das soll heiBen: Das Hilfsgebot ergibt sich aus der Nicht-Verallgemeinerbarkeit der Maxime »lch werde un­schuldig Verfolgten nur beistehen, wenn es mir keine Nachteile bringt«; hiermit ist ein Handlungszweck- einem unschuldig Verfolgten beistehen - geboten. Das Verbot der Lüge dagegen ergibt sich aus der Nicht-Verallgemeinerbar­keit einer Maxime, die- unter den hier gemachten Voraus­setzungen - in der gegebenen Situation gar nicht zur Dis­kussion steht, namlich der Maxime »lch werde die Unwahr­heit sagen, wenn es mir vorteilhaft erscheint«. Dies ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daB die Lüge hier nicht als Mit­tel zur Realisierung eines »Privatzwecks~<, sondem allenfalls als Mittel für die Realisierung eines moralisch gebotenen Handlungszwecks zur Diskussion steht. Die miteinander konfligierenden moralischen Normen liegen also, wenn man ihren intemen Bezug zu nicht-verallgemeinerbaren Maximen und wenn man den spezifischen Charakter der

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Handlungssituation in Rechnung stellt, gar nicht auf der gleichen Ebene. Für Falle dieser Art kõnnte man daher -freilich mit einer un-Kantischen Pointe- Kants These zu­stimmen, daB es sich in Wirklichkeit gar nicht um einen Konflikt zwischen verschiedenen moralischen Pflichten handelt. Meine zweite Charakterisierung unserer moralischen Bei­spielsituation macht einen Aspekt dieser Situation sichtbar, der bei der ersten Charakterisierung- mit Hilfe einer quasi­verallgemeinerbaren Handlungsmaxime - verdeckt blieb. . Umgekehrt ist nun aber auch zu sagen, daB di e zweite Cha­rakterisierung einen Aspekt verdeckt, der bei der ersten Charakterisierung in den Vordergrund trat: ich meine den Aspekt der »Konkretisierungs«- oder Anwendungsproble­matik. Man muB ja den in unserem Beispiel suggerierten Ex­tremfall nur ein wenig modifizieren, um zu sehen, daB eine Lüge keinesfalls immer ein legitimes Mittel sein kann, um

· einem unschuldig Verfolgten beizustehen. Das heiBt aber, daB die eben vorgeschlagene Auflõsung eines scheinbaren Normenkonflikts, trotz der Allgemeinheit der Konstruk­tion, nur in extremen Fallen gültig sein kann. Dieser Aspekt des Problems tritt jedoch erst in voller DeQtlichkeit zutage, wenn wir die Ausnahme voni Wahrhaftigkeitsgebot unter eine verallgemeinerbare Maxime zu bringen versuchen -wenn wir also eine Art von Erlaubnisgesetz zu formuliere.n versuchen. Wie wir oben gesehen haben, lassen sich, strikt gesprochen, verallgemeinerbare Maximen dieser Art nicht formulieren, weil sie letztlich ein indexikalisches Element enthalten müBten .. Ein »Erlaubnisgesetz« kõnnte daher nur lauten: In Situationen wie dieser ist es erlaubt zu lügen. Die · Allgemeingültigkeit von Ausnahmen laBt sich, anders ais die Allgemeingültigkeit der moralischen Gebote selbst, letztlich nur im Sinne einer Begründung bestimmter Hand­lungsweis.en in konkreten Situationen aufweisen. Hierin liegt das Wahrheitsmoment »situationistischer« oder >>exi­stentialistischer« Ethiken. Man kann nur den ungeheuren

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Scharfsinn des alten Kant bewundern, der, weil er für ein solches >>Situationistisches« Moment und eine entspre­chende Rolle der Urteilskraft in seiner Ethik keinen Platz vorgesehen hatte, die einzig mõgliche Alternative einer ri­goristischen Pflichtethik bis zur letzten Konsequenz ver­trat. Ich kehre noch einmal zu der These zurück, daB die >>abge­leiteten<< moralischen Normen- ais strikt allgemeine und gleichwohl auf mõgliche Ausnahmen >>angelegte« Normen - sich auf dem Wege der Negation aus nicht-verallgemeiner­baren Maximen ergeben. Diese These soll nicht besagen, daB, im Lichte des Kategorischen Imperativs betrachtet, alie grundlegenden moralischen Normen den Charakter von Verbotsnormen- im Sinne etwa von >>Du sollst nicht lügen«, »Du sollst'nicht tõten« oder auch >>Neminem laede«•- ha­ben. Vielmehr lassen sich auch Normen wie >>Hilf den Hilfs­bedürftigen (soweit Du kannst)« - denen nach Kant ethi­sche Pflichten von >>weiter« Verbindlichkeit entsprechen2

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r Schopenhauers »Grundsatz der Gerechtigkeit«. Vgl. Arthur Schopen­hauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, in: Samtliche .Werke (Hrsg. W. Freiherrvon Liihneysen) Bd. m, Darmstadt 1968, S. 746. AufSchopen­hauers Kritik der Kantischen Ethik gehe ich hier nicht ein. Nur erwahnen miichte ich Schopenhauers These, daB >>der Begriff des Sollens, die impera­tive Form der Ethik, allein in der theologischen Moral gilt, auBerhalb der­selben aber allen Sinn und (alie) Bedeutung verliert« (a.a.O., S. 726). Eine ahnliche »Sinn-Kritik« des Begriffs eines unbedingten moralischen Sollens taucht auch in der neueren Ethik-Diskussion wieder auf; vgL z. B. G. E. M. Anscombe, »Modem Moral Philosophy«, in: Philosophy 33, 1958; A.·Macintyre, After Virtue, Notre Dame/Indiana 1981 (S. 57). Zur Sinnkritik des moralischen Sollens vgl. auch Ph. Foot, »Morality as a Sy­stem o f Hypothetical Imperatives<<, in: Virtues and V ices, Berkeley and Los Angeles 1978, S. r63 ff., und U. Wo!f,Das Problem des moralischen Sollens, Berlin und New York 1984, S. 3 ff. Ich glaube, man kann das >>Problem Schopenhauers<<, wie ich es nennen miichte, nicht ignorieren, auch wenn die Kant-Kritik, in deren Kontext Schopenhauer seine These formuliert, nicht überzeugend ist. Indirekt komme ich auf dies Problem in Abschn. XI zurück. 2 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, in: Werke in sechs Banden (Hrsg. W. Weischedel), Bd. IV, a.a.O., S. 520 (A 20).

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auf die gieiche Weise wie moraiische Verbotsnormen nega­torisch auf nicht-verallgemeinerbare Maximen beziehen, etwa auf die Maxime: »lch werde niemand heifen, wenn es mir keinen Vorteii hringt.« Der Unterschied dieser >>positi­ven« moraiischen Normen, die dem nahestehen, was Gert moraiische >>ldeaie« nennt1

, zu moraiischen Verbotsnormen besteht darin, daB.im F alie der Ietzteren Handiungen verbo­ten sind, im F alie der ersteren dagegen das Unterlassen von Handiungen (bzw. eines Handlungsversuchs). Wahrend aber das Verbot einer Handiung gieichbedeutend ist mit dem Gebot, diese Handiung nicht auszuführen, ist das Ver- · bot des >>Untatigbieibens« (in bestimmten Situationen) in der Regei nicht gieichbedeutend mit dem Gebot, eine be­stimmte Handiung auszuführen. Ethische Pflichten von weiter Verbindiichkeit Iassen; wie Kant bemerkt, >>einen Spieiraum, mehr oder weniger hierin zu tun, ohne daB sich die Grenzen davon bestimmt angeben Iassen«.' Die positi­ven Normen, so kõnnte man sagen, gebieten es, in einer be­stimmten Richtung zu handein (Kantisch gesprochen: die Giückseiigkeit der anderen mir zum Zweck zu machen), nicht dagegen, eine bestimmte Handiung auszuführen.

Exkurs. R. M. Hare hat versucht, das Probiem der Ausnah­men vún moraiischen »prima-facie-Prinzipien«J in einer et­was anderen Weise zu Iõsen, ais ich es oben vorgeschiagen

· babe. Hare unterscheidet zwischen zwei Ebenen der mora­Iischen Überiegung, die er die >>intuitive« und die >>kriti­sche« nennt.4 Auf der intuitiven Ebene der moraiischen Überiegung haben wir es mit prima-facie-Prinzipien zu tun, die zugieich allgemein und mehr oder weniger unspezifisch, d. h. auf Ausnahinen angeiegt sind. Erst in Situationen des

I Vgl. Gert, a.a.O., S. u8ff. 2 Metaphysik der Sitten, a.a.O., S. P4 (A 27). 3 Zum Ausdruck »prima facie principies« vgl. Hare, Moral Thinking, a.a.O., S. 38. 4 A.a.O., S. 25ff.

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moraiischen Konflikts sind wir zum Übergang zur kriti­schen Ebene der moraiischen Überlegung genõtigt, das hei6t zur Formuiierung »kritischer Moraiprinzipien«, die von >>unbegrenzter Spezifizitat<< sein kõnnen. 1 Für Hare sind die prima-facie.:.Prinzipien Iedigiich ein Mittei zur Ent­Iastung von Kompiexitat (bzw. zur Ausbiidung moraiischer »Gewohnheiten«) gieichsam im moraiischen Alltag; hatten wir die intellektuellen Kapazitaten eines Erzengeis, so kõnnten wir uns in unseren moraiischen Urteiien jederzeit kritisch verhalten und unser Handein daher von Moraiprin­zipien bestimmen Iassen, die jeweiis der Besonderheit der Handiungssituationen gerecht werden, in denen wir uns ge­rade befinden. • Die >>kritischen Moraiprinzipien« Hares· sind durch Aus­nahmekiausein modifizierte prima~facie-Prinzipien von der Art >>Üne ought never to do an act which is G, except that one may when it is necessary in order to avoid an act which is F, and the act is aiso H; but if the act is not H, one may not«J, wobei dies natürlich erst der Arifang der kritischen Spezifikation eines prima-facie-Prinzips ware. Diese Me­thode der Lõsung des >>Ausnahme«-Probiems scheint mir deshaib verquer, weii man tatsachiich die Fiktion eines Erz­engeis (o der Gottes) braucht, um di e Allgemeinheit von Prinzipien auf Haresche Weise mit der Besonderheit von Si­tuationen zusammenzudenken: Es ist die Fiktion einer un­endiichen Intelligenz, die imstande ware, das Besondere ganz im Allgemeinen >>aufzuheben«. Nur wenn man eine solche Fiktion ais Fiuchtpunkt unserer endiichen Denkbe­mühungen voraussetzt, kann man das Probiem der moraii­schen Ausnahmen oder Konflikte ( d. h. der moraiischen Prob/em-Situationen) durch den Hinweis .auf die unbe­grenzte Spezifizierbarkeit moraiischer Normen zu Iosen versuchen. Hares Gebrauch dieser Fiktion beruht auf der

I A.a.O., S. 41. 2 Vgl. a.a.O., S. 46. 3 A.a.O., S. 33·

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Übertragung einer in der N aturwissenschaft ( d. h. der Idee einer unbegrenzten Speiifizierbarkeit von Kausalgesetzen) in gewissem Sinne legitimen Denkfigur auf das Gebiet ge­schichtlich-praktischer Phanomene. Illegitim ist diese Übertragung allein schon deshalb, weil im Bereich der Ge­schichte (zu der alies Handeln gehõrt) die Idee einer »letz­ten« Sprache, einer »erschõpfenden« Beschreibung nicht einmal als regulative Idee Sinn macht. Indes laíh sich der Einwand gegen Hares Idee einer unbegrenzten Spezifizier­barkeit moralischer Prinzipien spezifischer und praziser formulieren: Wir hatten oben gesehen, daB man- von -Kant ausgehend- eine klare Unterscheidung treffen kann zwi­schen (im starken Sinne) verallgemeinerbaren Maximen, de­nen allgemeingültige moralische Normen entsprechen, und >>quasi-verallgemeinerbaren<< Maximen, denen >>Erlaubnis­gesetze<< entsprechen würden. Solche Erlaubnisgesetze las­sen sich, wie wir gesehen haben, wegen ihrer Unbestimmt­heit nicht wirklich als Gesetze (im Kantischen Sinne) for­mulieren. Das hei6t aber, sie decken unbestimmt viele Falle mit ab, in denen das, was sie zu erlauben scheinen, moralisch verboten ware. Einem Erlaubnisgesetz dieser Art entspricht die erste >>except<<-Klausel in dem oben zitierten Hareschen Beispiel einer (begrenzt) spezifizierten Norm, wahrend die zweite >>except<<-Klausel eine Einschrankung der Erlaubnis bedeutet. Nun geht ja auch Hare davon aus, daB wir als end­liche Intelligenzen immer mit endlichen Spezifikationen von Moralprinzipien auskommen müssen. Wenn aber die kritischen Moralprinzipien, auf die wir uns stützen, >>Er­laubnisgesetze<< ·als Komponenten enthalten, die wegen der begrenzten Spezifikation unserer Prinzipien gleichsam nur mit den allernotwendigsten Einschrankungen versehen sein kõnnen, dann sind die Moralprinzipien selbst beinah not­wendigerweise und sicherlich absehbarerweise falsch. Man denke etwa andas folgende Prinzip: >Es ist verboten, Men­schen zu tõten, auBer wenn es notwendig ist, um einen Akt der Barmherzigkeit gegenüber einem Todkranken auszu-

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führen, der dich darum bittet, ihn von seinem Leiden zu er­lõsen.< Wer ein solches Prinzip vertritt, hat bestimmte Situa­tionen im Auge, in denen es vertretbar- vielleicht sogar ge-, boten- sein mag, entsprechend zu handeln. Es liegt aber auf der Hand, da6 ein solches Prinzip nicht nur, wenn es etwa die Form einer Rechtsregel bekame, zu unendlichem MiB­brauch AnlaB geben kõnnte ( dies ist di e exoterische Sei te des Problems), sondem daB es auch unter der Voraussetzung ei­ner gutwilligen Anwendung in dieser Allgemeinheit wahr­scheinlich moralisch falsch ist. In der Unbestimmtheit der Formulierung (wann ist eine Handlung als ein Akt der Barmherzigkeit notwendig ?) lauern zugleich tausend Ge­gengr~nde, die uns in konkreten Situationen (und sogar am Schreibtisch) einfallen kõnnten; ich meine Gegengründe ge­gen das Prinzip selbst in seiner allgemeinen Formulierung. In konkreten Situationen müssen wir aber, auf eigéne Ver­antwortung, handeln, so gut wir kõnnen. Würden wir nun die Logik moralischer Urteile oder Begründungen im Sinne von Hare rekonstruieren, so waren unsere moralischen Begründungen in Problemsituationen notwendigerweise falsch, weil gestützt auf falsche Prinzipien. In Wirklichkeit mu6 uns aber der Umstand, daB wir in konkreten Situatio­nen (immer) noch-nicht-genügend-spezifizierte Prinzipien haben, keineswegs daran hindern, in diesen Situationen mit Gründen das Richtige zu tun. Ob solche Gründe stichhaltig sind, hangt, so scheint es, mehr von unserer Erfassung der ( dieser) Situation ab als vop der Formulierbarkeit allgemein­gültiger Prinzipien. Oder, um es anders aúszudrücken: Auch wenn Gründe und Situationsbeschreibungen immer einen allgemeinen Charakter haben, haben doch die Be­gründungen, die wir formulieren kõnnen, in den hier be­trachteten Fallen zugleich ein indexikalisches Moment: hierauf beruht- allenfalls - ihre Stichhaltigkeit. Unser Si­tuationsverstandnis enthalt gewisserma6en immer einen · ÜberschuB über das, was in unseren Beschreibungen und Begründungen explizit wird: daher enthalten auch die (kri-

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tischen) Prinzipien, wenn wir sie formulieren, einen impli­ziten Bezug auf paradigmatische Situationen, m~t'denen wir vertraut sein müssen, um die Prinzipien anwenden zu kon­nen. Die Prinzipien selbst enthalten ein indexi~alisches Mo­ment; nur deshalb konnen sie in moralischen Uberlegungen eine Rolle spielen, ohne schon ausreichend >>spezifiziert<< zu sein. Dasselbe gilt dagegen nicht für die prima-facie-Prinzi­pien, wenn wir sie als moralische Normen verstehen, deren Allgemeingültigkeit durch einen negatorischen Bezug auf nicht-verallgemeinerbare Maximen konstituiert ist. · Ich meine somit, daB .di e Kantische Ethik- was immer wir sonst von ihr halten mogen- uns eine kategoriale Unter­scheidung zwischen moraiischen Normen und >>Eriaubnis­gesetzen« zu formuiieren erlaubt, di-e etwas von der >>Fein­struktur« moraiischer Urteiie und Begründungen sichtbar macht, einer Feinstruktur, die unsichtbar wird, wenn man - wie H are dies tut- moraiische Gebote o der Verbo te einer­seits, >>Eriaubnisgesetze« andererseits in der Formulierung >>kritischer« Moralprinzipien >>ineinanderschachtelt«. Aus diesem Grunde und wegen der oben charakterisierten ratio­nalistischen Implikationen seines Ansatzes habe ich Hares Losung des Probiems der moraiischen Ausnahmen >>ver­quer« genannt. Obwohi nun Hare mit den eben kritisierten Ideen derseiben rationaiistischen Tradition zugehort, zu der man auch Kant rechnen m~B, scheint Kant doch bei seiner Übertragung des Gesetzesbegriffs auf die Moralphilosophie im Vergieich zu Hare ein Stück Aristotelischer Vorsicht bewahrt zu haben; gerade deshalb inufhe ihm eine Vermittlung von allgemei­nem Prinzip undhesonderer Situation, so wie Hare sie kon­struiert, unmoglich erscheinen. Kants moraiphilosophi­scher Rigorismus ist die rationaiistische Konsequenz, die er aus dieser Schwierigkeit gezogen hat: diese Konsequenz war der Preis, den er zahlte, um moralisches Handeln allge-, mein unter die Form der GesetzmaBigkeit zu bringen. An­dererseits hatten wir gesehen, daB sich die >>universaiitas«

der grundlegenden moraiischen Normen (also der >>prima­facie-Prinzipien« im Sinne Hares) durchaus retten laBt, wenn man sie negatorisch auf nicht-verallgemeinerbare Handlungsmaximen bezieht; das Problem der >>Ausnah­men« erscheint dann in einem anderen Licht: namiich als ein ietztlich nur in konkreten Handiungssituationen, zwar mit Gründen, aber nicht durch eine unbegrenzte Spezifikation von Prinzipien iosbares Problem. Ich will die Differenzen zu Hare nicht übertreiben. In ge­wissem Sinne kann man in Hares Unterscheidung zwischen >>intuitiven« und. >>ktitischen<< Moraiprinzipien auch eine Art Übersetzung der oben vorgeschlagenen Losung des Probiems der >>Ausnahme« (im Rahmen einer Kantischen Perspektive) in eine andere Sprache sehen; die strukturellen Homologien liegen auf der Hand. So verstanden ware dann Hare·einer Aristoteiischen Tradition naher ais Kant. Nur halte ich Hares Rede von >>Prinzipien«, wo strenggenom­men keine mehr formuiiert werden konnen, für zumindest irreführend. Auch wenn di e Gründe, di e wir für moralische Urteile in konkreten Situationen anführen konnen, immer einen Allgemeinheitsindex haben, bleiben sie doch in Fallen des moraiischen Konflikts auf eine solche Weise mit den Si­tuationen >>Verknüpft«, daB sie allenfalls in ad-hoc-Prinzi­pien transformiert werden konnen: das heiBt in Regein, deren richtige Anwendung an eine Urteilskraft gebunden bleibt, die sich ihrerseits nur im (moralischen) Umgang mit entsprechenden Beispielsituationen bilden kann. Etwas Anaioges gilt nicht für diejenigen moraiischen Prinzipien, di e nicht-verallgemeinérbaren Maximen >>entsprechen<<; hier handelt es sich ja wirklich - in dem Sinne, in dem ich es oben erklart habe- um universelle Prinzipien. Ich meine deshaib, daB zumindest im Rahmen einer Kantischen Per­spektive - die ja, in einem weiteren Sinne, auch Hare teilt -di e oben vorgeschlagene Losung des Problems der morali­schen Ausnahmen überzeugender ist ais die Losung Hares.

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IV

Kant hat offenbar im Willen dessen, der eine Maxime als all­gemeines Gesetz wollen oder nicht wollen kann, immer ,schon den Ausdruck eines den Menschen als vernünftigen Wesen gemeinsamen Willens gesehen; der »Kognitivismus« der Kantischen Ethik- d. h. der Anspruch moralischer U r­teile auf allgemeine im Sinne von intersubjektiver Gültigkeit - steht und fallt mit dieser Voraussetzung (wenn wir vorder­hand vom »Letzt«-Begründungsproblem absehen). DaB diese Voraussetzung problematisch ist, liegt auf der Hand: der Ausdruck »wollen kõnnen« enthalt ein irreduzibel >>em­pirisches« Moment; wir müssen daher mit der Mõglichkeit rechnen, daB verschiedene Menschen verschiedene Hand­lungsweisen als allgemeine wollen kõnnen. Oben hatte ich gezeigt, daB sich dies Problem bis zu einem gewissen Grade entscharfen laBt, wenn man sich den logischen Primat des

, Begriffs der Nicht-Verallgemeinerbarkeit im Begriff einer (im starken Sinne) verallgemeinerbaren Maxime klarmacht. Was namlich das >>Nicht-wollen-Kõnnen« betrifft, so befin­det sich jeder moralisch U rteilende in einer privilegierten Position: Wenn ich nicht wollen kann, daB ... , so kõnnen auch wir nicht wollen, daB: .. Hierdurch ist freilich keineswegs die intersubjektive Gel­tung moralischer Urteile gesichert, denn was wir jeweils als allgemeine Handlungsweise wollen oder nicht wollen kõn­nen, das hangt zweifellos entscheidend von der Matrix der Begriffe ab, durch welche wir jeweils die soziale Wirklich­keit und unsere Bedürfnisse interpretieren. Ob ich etwa die autoritare Maxime, im Falle von Widersetzlichkeit (von Schülern, Untertanen, Untergebenen) nicht lange zu fak­keln, sondern sofort hart durchzugreifen, als verallgemei­nerbar beurteile oder nicht, das hangt davon ab, ob ich- als autoritarer Erzieher oder Vorgesetzter- die soziale Wirk­lichkeit mit Hilfe einer Matrix von Begriffen deute, bei der Gehorsam und Widersetzlichkeit gleichsam den positiven

und negativen Pol einer normativen Ordnung bezeichnen, oder ob ich sie - als Demokrat - mit Hilfe von Begriffen deute, der~n normatives Gefalle durch die Extrempole von Selbstbesttmmung und Abhangigkeit sich bezeichnen laBt. Ein Moralprinzip wie der Kategorische lmperativ kann nie­mals in einem normativ »luftleeren« Raum operieren; wenn es sich aber so verhalt, dann kann jedenfalls eine Befolgung des Kategorischen lmperativs in konkreten Handlungssi­tuationen allein die intersubjektive Geltung entsprechender moralischer Urteile nicht garantieren. Und es ist zunachst überhaupt nicht zu sehen, wie sich mit Hilfe des Kategori­schen Imperativs ein moralischer Konsens sollte sicherstel­len lassen. Nehmen wir noch die oben diskutierte Proble­matik der »Ausnahmen« bzw. des situativen Aspekts mora­lischer Urteile hinzu, so zeigt sich ein Bündel von Schwie­rigkeiten, die Kant selbst nur mit Hilfe einer »formalisti­schen« lnterpretation des Kategorischen lmperativs über­decken konnte. Diese formalistische lnterpretation tritt in der Kritik der praktischen Vernunft in den Vordergrund, wo an entscheidenden Stellen das »wollen kõnnen« bezeich­nenderweise durch ein »gelten kõnnen« ersetzt wird, als dessen Kr~terium ein »denken kõnnen<< angegeben wird.• Charakteristisch ist die folgende Formulierung:

»Also kann ein vernünftiges Wesen sich seine subjektiv-praktischen Prin­zipien, d. i. Maximen, entweder gar nicht zugleich ais allgemeine Gesetze denken, oder es muB annehmen, daB die bloBe Form derselben, nach der jene sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicken, sie für sich allein zum praktischen Gesetze mache.« 1

Indem Kant die »Form der GesetzmaBigkeit<< von Maximen zum Kriterium des moralisch richtigen Handelns macht, rettet er- scheinbar- di e Objektivitat der Moral. Di e kon­sequente Ausführung dieses Gedankens bedeutet indes die Auflõsung der fruchtbaren Zweideutigkeiten der Kanti­schen Moralphilosophie zugunsten einer formalistischen

1 Kritik der praktischen Vernunft, S. 140, 136 (A 54, 49). 2 A.a.O., S. 136 (A 49).

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Pflichtethik, die für uns kaum noch von Interesse sein dürf­te. Demgegenüber meine ich - und hierin befinde ich mich wohl in Übereinstimmung mit fast allen an Kant anknüp­fenden Moralphilosophen der Gegenwart -, daB das Pro­duktive von Kants Formulierungen des Moralprinzips in ·der Grundlegung gerade in ihrem Rekurs auf den empiri­schen Willen der Handelnden liegt; einen Willen freilich, der nicht einzelne Ziele, sondem allgemeine Handlungswei­sen betrifft. Wenn- so mochte man sagen- an Kants Rekon­struktion unserer moralischen Intuitionen überhaupt etwas richtig ist, so muB es darin liegen, daB die Rationalitat mora­lischer Urteile in·· einer bestimmten Beziehung zwischen (empirischem) Wollen und Sollen verankert wird. Ein gro­Ber Teil der zeitgenossischen Moralphilosophie laBt sich als Versuch verstehen, diese Kantische Grundintuition gegen die formalistisché Verkümmerung der Kantischen Ethik zur Geltung zu bringen; hierin liegt nicht zuletzt auch di e Ge­meinsamkeit zwischen dem Regelutilitarismus und der kommunikativen Ethik. Wenn man nun das Problem ernst nimmt, das sich hinter Kants Konstruktion eines Zusam­menhangs zwischen der Rationalitat und dem Wollen-Kõn­nen handlungsfahiger Wesen verbirgt, dann scheint es, grob gesagt, drei mõgliche Lõsungs-Alternativen für eine an Kant anknüpfende Ethik zu geben: Die erste Alterna tive be­steht in .dem Zugestandnis, daB verschiedene rationale We­sen mõglicherweise ganz verschiedene Handlungsweisen als allgemeine wollen kõnnen. In diesem Falle wird die not­wendige Koinzidenz des vernünftigen Willens aller hand­lungsfahigen Wesen geleugnet; das moralische Universum zerfallt ...: potentiell - in eine Pluralitat moralischer Welten wie zumindest beim früheren Hare.' Hare hat im übrigen das »Letztbegründungsproblem« eliminiert, indem er den Universalismus der Ethik unmittelbar aus der logischen Grammatik der moralischen Grundwõrter (»sollen«, >>müs-

r Vgl. Richard M. Hare, The La~guage of Morais, Oxford 1952., S. 68f.

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sen<< usw.) ableitet. Er verankert die Ethik gewissermaBen in einem Faktum unserer (der modernen) Vernunft. Die zweite. Alternative besteht in dem Versuch, eine Minimal­ethik zu begründen, deren Gehalte mehr· oder weniger den moralischen Normen entsprechen, auf die man auch bei Kant stõBt, wenn man sich Bejspiele nicht-verallgemeine­rungsfahiger Maximen überlegt. Auch der negatorische Be­zug der moralischen Normen zu nicht-verallgemeinerbaren Maximen taucht in Veranderter Form in dieser zweiten Va­riante einer »Kantischen« Ethik wieder auf: die moralischen Normen sind in erster Linie Verbote von Handlungsweisen, über deren Zulassigkeit rationale Wesen sich nicht würden einigen kõnnen. Das Wort >>rational« ist hierbei in einem schwachen Sinne zu verstehen: der >>rationale« Wille ist ein eigeninteressierter, die Folgen alternativer Regelungsmõg­lichkeiten in Rechnung stellender Wille - genau so wie an den entsprechenden Stellen der Kantischen Konstruktion. Ich denke, daB die Theorie von B. Gert', Überleg.ungen G. H. v. Wrights 1 und in gewissem Grade auch die Theo­rien Singers und Rawls'3 dieser zweiten Alternative entspre­chen. Da bei dieser zweiten Alternative das moralische Sollen von seinen elementaren Inhalten her rekonstruiert wird, bleibt zwar in gewissem Sinne die Einheit des moral.i­schen U niversums erhalten, statt dessen wird aber der Be­griff der moralischen Verbindlichkeit zum Problem: daB ich - hier und jetzt- nach verallgemeinerbaren Maximen oder, in Gerts Terminologie, im Sinne >>õffentlich vertretbarer« Gründe handeln soll, daB ich also - moralisch handeln soll, dies laBt sich nicht mehr mit Hilfe eines Kantischen Gewalt­Streichs begründen4, nachdemder rationale Sinn des morali­schen Sollens fragwürdig geworden ist. Die Rekonstruktion

1 Vgl. Gert, The Moral Rules, a.a.O., Kap. 2, insbes. S. 37· 2 Vgl. von Wright, The Varieties of Goodness, a.a.O. 3 John Rawls,A Theory of ]ustice, Cambridge/Mass. 1971 (deutsch: Theo­rie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975). 4 Vgl. die Überlegungen von Gert in The Moral Rules, a.a.O., Kap. 10:

>>Why should one be Moral?«

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intersubjektiv gültiger moralischer Gehalte im Sinne Kants hat die - paradoxe -· Folge, daB die unmittelbare Identitat des vernünftigen mit dem moralischen Willen zerbricht. 1 Sie la6t sich- nicht auf dem Wege einer Letztbegründung, son­dem in schwacheren Formen- nur wiederherstellen, wenn man das kategorische Sollen selbst noch einmal mit einem (empirischen) »Wollen« verknüpft. Die zweite Altemative macht somit das Begründungsdefizit der Kantischen Ethik

· sichtbar; je mehr sie als Rekonstruktion von Grundgedan­ken der Kantischen Ethik überzeugt, um so deutlicher tritt in ihr hervor, daB das unbedingte moralische »Soll« des Ka­tegorischen Imperativs schwerlich ein >>Soll« reiner prakti­scher Vemunft sein kann. Die dritte Altemative schlieBlich besteht in einer diskurs­ethischen Erweiterung des Kantischen Moralprinzips, wie sie nicht nur von Apel und Habermas, sondem in anderer Form auch von Vertretem des Erlanger und Konstanzer »Konstruktivismus« vorgeschlagen worden ist! Âhnlich wie im Falle der eben besprochenen Altemative werden hier die gültigen moralischen Normen mit denjenigen Regeln gleichgesetzt, auf die wir uns in einem rationalen Dialog würden einigen kõnnen. Der entscheidende Unterschied zur zweiten Altemative besteht darin, daB der Anspruch auf eine philosophische Begründung inhaltlicher Moralnormen aufgegeben wird und statt dessen ein Prinzip dialogischer Einigung an die Stelle des Kantischen Moralprinzips tritt. Diese Wendung .erlaubt es, auch das Letztbegründungs­problem noch einmal neu in Angriffzu nehmen: Zumindest Apel und Habermas versuchen nachzuweisen, daB ein Prin­zip der zwanglos-dialogischen Klarung normativer Gel­tungsansprüche als konstitutives Prinzip in die Bedingun-

1 Vgl. a.a.O., S. zo4ff. 2 Eine reprasentative Auswahl findet sich in Friedrich Kambartel (Hrsg.), Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt 1974. Aufierdem: Oswald Schwemmer, Philosophie der Praxis, Frankfurt 1971; Paul Lorenzen und Oswald Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, Mannheim-Wien-Zürich, 1973.

gen kommunikativen Handelns »eingebaut« ist, daB also sprach- und handlungsfahige Wesen ein solches Prinzip -zumindest implizit- immer schon anerkannt haben müssen. Von den hier unterschiedenen drei Altemativen einer an Kant anknüpfenden oder »Kantianischen« Ethik stellt nur die dritte Altemative einen emsthaften Versuch qar, einen emphatischen Begriff praktischer Vemunft im Kantischen Sinne zu rehabilitieren, d. h. aber sowohl die Begründbar­keit moralischer Normen als auch den rationalen Sinn eines unbedingten moralischen Sollens zu verteidigen~ Auf die Schwierigkeiten; zu denen diese dritte Altemative führt, werde ich spater eingehen.

v

Die bisher vertretene selektive Lesart des Kantischen Mo­ralprinzips entspricht strukturell mehr oder weniger der zweiten der oben unterschiedenen drei Altemativen. Dem entspricht, daB ich die Frage naf:h der Begründbarkeit des Kategorischen Imperativs, das hei6t aber die Frage nach dem rationalen Sinn des im Lichte des Kategorischen lmpe­rativs gedeuteten moralischen Sollens, bisher vemachlassigt babe. Kant selbst hat- darin stimme ich mit anderen Kriti­kem Kants überein - auf diese Frage keine befriedigende Antwort gegeben. Dies ist aber, wie wir gesehen haben, si­cherlich nicht die einzige Schwache der Kantischen Moral­philosophie. Wenn ich bisher ihre Starken betont babe, so geschah dies in folgender Absicht: Ich wollte einerseits zei­gen, da6 Kants Rekonstruktion des moralischen Urteils für eine begrenzte, aber elementare Klasse von moralischen Problemen durchaus einleuchtend gemacht werden kann, und ich wollte andererseits durch Hervorhebung der Star­ken zugleich die Schwachen der Kantischen Konstruktion in ein scharferes Licht tauchen. Hierdurch hoffe ich sowohl einen gewissen Standard gewonnen zu haben, was die An-

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forderungen an eine über Kant hinausgehende Ethik be­trifft, ais auch die Problemzonen bezeichnet zu haben, aus denen "sich Motive für die Entwicklung einer dialogischen Ethik ableiten lassen~ Die im Vorangehenden bezeichneten Problemzonen der Kantischen Ethik legen namlich den Gedanken nahe, das formale Prinzip der Ethik, nach dem Kant suchte, gleichsam eine Stufe tiefer anzusetzen, das heiBt, es im Zusammenhang "Zwischen (intersubjektiver) Geltung und (rationaler) Begründung aufzusuchen. Apel und Habermas versuchen dies; bei ihnen tritt an die SteUe des kantischen Formalismus ein »prozeduraler« Formalis­mus. Die Formulierung eines prozedural-formalen Moral­prinzips soU nicht nur jene Problemzonen moralphiloso­phisch aufschlieBen, die in der Topographie der Kanti­schen Ethik blinde Flecken bleiben, sie soU auch - und zugleich- eine Lõsung des »LetztbegründungsproblemS<< ohne. einen Rückfall in Metaphysik mõglich machen. Di e beiden Grundintentionen der dialogischen Ethik hangen auf systematische Weise miteinander zusammen, wie wir spater sehen wer.den. Urn diese Intentionen - also auch Anspruch und Beweislast der Diskursethik - noch ein Stück weiter zu verdeudichen, mõchte ich ais nachstes der Frage nachgehen, ob sich nicht Anknüpfungspunkte für eine dialogische Erweiterung der Ethik bei Kant selbst fin­den lieBen. John R. Silber hat versucht zu zeigen, daB der Formalismus der Kantischen Ethik selbst schon ais ein »prozeduraler« Formalismus verstanden werden muB.' Hierbei geht es frei­lich nicht um die »Prozedur« eines realen Dialogs, sondem

. um diejenige der moralischen Urteilsbildung. Silber ver­sucht, den >>prozeduralen. Formalismus« der Kantischen Ethik zu erlautern, indem er den Kategorischen Imperativ im Lichte der von Kant formulierten »Maximen des gemei-

. I John R. Silber, »Procedural Formalism in Kant's Ethics<<, in: Review of Metaphysics Vol. XXIII, Nr. 2 (I974).

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I

nen Menschenverstandes« interpretiert.' Für unseren Zu­sammenhang ist insbesondere die zweite dieser Maximen (»An der Stelle jedes andern denken«) wichtig. Im Lichte dieser Maxime verstanden, verlangt die moralische Prüfung einer Handlungsmaxi'me, so Silber, einen hypothetischen Perspektivenwechsel: Nur indem wir uns bei der Prüfung einer Maxime in die Lage der anderen, vor allem nai:ürlich der von unserem Handeln Betroffenen, versetzen, kõnnen wir zu einem begründeten Urteil darüber kommen, ob wir eine Maxime vernünftigerweise- d; i. ais rationale Wesen­als allgemeines Gesetz wollen kõnnen. »In arder to respect the humanity of ali rational beings the moral agent must put himself into the place and point of view of others. In this way he will understand the values and needs of other beings and by moving out beyond himself willlimit his tendency to concentrate upon the fulfilment of his own needs to the neglect of the needs and legitimate desires of others.«• Silbers Interpretation des Kategorischen Imperativs im Lichte der Kantischen Maxime der Urteilskraft legt, so kõnnte es scheinen, t!Ínen immanenten Übergang von der Kantischen zu einer dialogischen Ethik nahe. Wenn ich namlich die Frage, ob ich eine Maxime (vernünftigerweise) ais allgemeines Gesetz wollen kann, angemessen nur beant­worten kann, indem ich in meinen Überlegungen auch die Bedürfnis- und · Wertperspektiven der anderen - und das kann ja nur heiBen: der realen anderen- zur Geltung bringe, indem ich also die anderen in meinen Überlegungen gleich­sam·zu Wort kommen lasse, dann erscheint hieraus· zweier­lei zu folgen: namlich ( 1) daB in moralischen U rteilen ein hypothetisches Moment enthalten ist (was die Perspektive der anderen betrifft, so kann ich mich tauschen), und (2) daB

I Vgl. Immanuel Kant Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Biinden, (Hrsg. W. Weischedel), Bd. v, Darmstadt I957, S. 390 (B I 58). Die Maxi­men lauten: ,, r. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andem denken; 3· Je-derzeit mit sich selbst einstimmig denken.<< · 2 Silber, a.a.O., S. 2I6.

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die moralische Überlegung ihrem eigenen Sinne nach auf reale Dialoge verweist (weil ich nur durch reale Kommuni­kation mein Versüindnis der Perspektive der anderen über~ prufen konnte). Mit anderen Worten: Wenn das >~.an der Stelle jedes anderen Denken« im. Falle moralischer Uberle­gungen ein Verstandnis der Bedürfnis- und Wertperspekti­ven anderer voraussetzt, so bezeichnet die Idee einer durch den Kategorischen Imperativ geleiteten moralischen Ein­sicht ein Problem, das ich monologisch immer nur in einem hypothetischen und vorlaufigen Sinne losen kann. Die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit von Maximen wird dann zur Frage, ob wir eine Maxime als allgemeines Gesetz wollen konnen; die Beantwortung dieser Frage aber ist letztlich nur durch eine real e Kommunikation unter den Be­troffenen moglich. Silber selbst hat freilich diesen Schritt von einer prozedural­formalen zu einer dialogischen Ethik nicht vollzogen. Durch seine Abwehr >>formalist~scher<< Interpretationen der Kantischen Ethik will Silber vielmehr gerade zeigen, daB eine >>monologische« Anwendung des Kategorischen lmpe­rativs bei der Prüfung von Maximen sehr wohl, wie Kant glaubte, ausreichend sei zur Herbeiführuns einer Koinzi­denz von einzelnem und allgemeinem Willen. So gelesen, ware Silbers Hinweis auf die Maximen des gemeinen Ver­standes zu verstehen als ein Versuch, zu zeigen, daB der Ka­tegorische lmperativ diejenige Spezifikation jener Maximen darstellt, durch welche di e Vernunft sich als praktische kon­stituiert. Genau in diesem Sinne sagt Silber: >> The morallaw is itself to be understood as a principie which specifies the procedure of judgement in the act of moral schematism.«' Was allerdings bei Silber unklar bleibt, ist di e Frage, wie eine >>monologische« Anwendung des Kategorischen lmperativs sich vereinbaren laBt mit dem Desiderat, der moralisch Überlegende müsse die Bedürfnis- und Wertperspektiven der anderen in seinen Überlegungen zur Geltung bringen,

I A.a.O., S. I99·

denn dieses Des!derat scheint auf die Notwendigkeit eines Übergangs von der einsamen Überlegung zu einem realen Dialog zu verweisen. Silber gesteht freilich die Fallibilitat moralischer U rteile zu; in diesem Zusammenhang verweist er auf die von Kant zu­stimmend zitierte Forderung, der Mensch müsse >>seine Se-· ligkeit mit Furcht und Zittern ... schaffen«.' Indes geht es hierbei eigentlich um die unendlichen Moglichkeiten der Selbsttauschung, also darum, daB wir uns der moralischen Güte unserer Gesinnung nie ganz sicher sein konnen. Dem­gegenüber betrifft die Frage nach dem richtigen Verstandnis der Bedürfnis- und Wertperspektiven anderer, so wie sie durch Silbers Überlegungen nahegelegt wird, gar nicht in erster Linie das Problem der moralischen Selbsttauschung, sondern viel eher das Problem eines angemessenen Ver­standnisses von Handlungssituationen, einschlieBlich der Art und Weise, in der die jeweils Betroffenen in solche Handlungssituationen verwickelt sind. Was dieses Problem betrifft, so erscheint Silbers Forderung, der moralisch Ur~ teilende müsse sich an die Stelle jedes anderen versetzen, weniger als Vorschlag für eine Losungs->>Prozedur« als viel­mehr als eine- eher irreführende- Reformulierung des Pro­blems selbst. Wenn aber andererseits Silber recht hatte mit seiner These, daB der prozedurale Formalismus des Kanti­schen Moralprinzips auf eine Losung gerade dieses Pro­blems zumindest abzielt, dann müBte man auch zugestehen, daB der Kategorische lmperativ seinem eigenen Sinne nach einen Übergang zu realen Dialogen verlangt: nur im Me­dium realer Kommunikationen und Diskurse laBt sich kla­ren, ob ich mich in der richtigen Weise an die Stelle anderer versetzt habe. Silbers Überlegungen waren somit als Hin­weis auf eine interne >>Dialogizitat« des Kantischen Moral­prinzips zu verstehen. Die Frage ist: Kann man eine solche - implizite- Dialogizitat der Kantischen Ethik zugestehen,

I A.a.O., S. 221. Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloflen Vernunft, in: Werke Bd. v, a.a.O., S. 722.

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ohne damit zugleich Kants Fundierung der Ethik in einem »monologischen« Mora~prinzip in Frage zu stellen? Um diese, durch Silbers Uberlegungen nahegelegte Frage zu beantworten, mochte ich zwischen einer »dialogischen Ethik« und einer »Ethik des Dialogs« unterscheiden. Unter einer »dialogischen Ethik<< verstehe ich eine Ethik, in der ein Dialogprinzip an die Stelle des Moralprinzips tritt; unter ei­ner »Ethik des Dialogs« verstehe ich eine Ethik, in der ein Dialogprinzip an zentraler Stelle unter den abgeleiteten Moralprinzipien auftritt. Meine These ist, daB Kant-imma­nent zwar nicht der Übergang zu einer dialogischen Ethik, wohl aber die Erweiterung der Ethik zu einer Ethik des Dia­logs inoglich ist. Genau eine solche, in einem engeren Sinne »dialogisch« zu nennende Erweiterung der Kantischen Ethik wird durch Silbers Überlegungen nahegelegt: es ware eine Erweiterung der Kantischen Ethik, welche die fakti­sche Pluraliüit von Bedürfnis- und Wertperspektiven sowie die Notwendigkeit ihrer transsubjektiven Vermittlung als­von Kant vemachHissigte ...,.. Probleme in Rechnung stellt. Der entscheidende Gedanke ist dieser: soweit eine dialogi­sche Klarung von Situationsdeutungen und Selbstverhalt­nissen, soweit eine kommunikative Verstandigung iiber Bedürfnis- und Wertperspektiven moglich ist, wird sie von der Kantischen Ethik auch verlangt. Denn eine Maxime der Dialogverweigerung in Situationen, in denen inkompatible Ansprüche, Bedürfnisse oder Situationsdeutungen mitein­ander kollidieren, ist (im Kantischen Sinne) nicht verallge­meinerbar. Ein in diesem Sinne abgeleitetes Dialogprinzip wird aber nicht primar die Frage der Verallgemeinerbarkeit von Maximen betreffen, sondem vor aliem die Frage eines angemessenen Situations- und Selbstverstandnisses; es wird insbesondere wirksam dort, wo es um ein richtiges Ver­sdindnis der Bedürfnis- · und Wertperspektiven anderer geht. Es handelt sich hier gleichsam um den >>kommunikati­ven Unterbau« der Kantischen Ethik - d. h. um jene Di­mension praktischer Vemunft, in der es um die Gemein:..

samkeit des Weltbezugs und die Angemessenheit von Situa­tionsdeutungen und Selbstverstandnissen geht. Bei Kant bleibt diese Dimension der moralischen Urteilsbildung weitgehend ausgeblendet. Silbers Überlegungen deuten zu­mindest auf sie hin; freilich bleibt bei ihm unklar, wie diese Dimension der moralischen Urteilsbildung im Rahmen ei­ner Kantischen Perspektive zur Geltung gebracht werden konnte. Silber verkennt, daB Kant selbst das Problem syste­matisch trivialisiert hat. Letzteres kann man sich am Beispiel der nicht-verallgemei· nerbaren Maximen klarmachen, von denen bereits die Rede war. Sicherlich konnte man sagen, daB die Feststellung der Nicht-Verallgemeinerbarkeit atich im Falle dieser Maximen eine Art von hypothetischem Perspektivenwechsel voraus­setzt: Ich muB mich in die Lage eines Hilflosen überhaupt versetzen konnen, um zu dem U rteil zu gelangen, daB ich die Maxime der Hilfsverweigerung nicht ais allgemeines Gesetz wollen kann. Hier geht es um anthropologisch ele­mentare Gemeinsamkeiten, die für Kant so selbstverstand­lich waren, daB er den von Silber geforderten Perspektiven­wechsel schon darin als geleistet gesehen hatte, daB jemand in einer bestimmtel} Situation die Lage eines anderen als die eines Hilfsbedürftigen erkennt. Kant unterstellt somit den jeweils notwendigen Perspektivenwechsel als geleistet, be­vor die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit von Hand­lungsmaximen sich stellt. Und dies macht im Bereich der moralischen »Elementarlehre«, auf die seine Ethik vorzüg~ lich >>paBt«, einen guten Sinn. Ganz anders verhalt es sich im nicht-elementaren Bereich der Moral, in dem es um ein richtiges Verstandnis komplexer Handlungssituationen oder um historisch variable Welt- und Selbstverstandnisse geht. In diesem nicht-elementaren Bereich der Moral wird nicht nur die Kenntnis, sondem zugleich das angemessene Verstandnis der Bedürfnis- und Wertperspektiven anderer, wird hiermit zugleich mein eigenes Welt- und Selbstver­standnis zum Problem, und zwar zu einem Problem, dessen

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Losung die Voraussetzung ist für di e Bildung eines richtigen moralischen Urteils. Silber versucht, das Moralprinzip Kants so zu lesen, daB es diese Dimension der moralischen Urteilsbildung noch mit umfaBt. Hierin liegt sicherlich eine von der Sache her ge­rechtfertigte »Óffnung« d~r Kantischen Ethik. Bei Silber werden aber die Schwierigkeiten verdunkelt, die sich einer solchen ,,bffnung« der Ethik aus einer Kantischen Perspek­tive entgegenstellen; unklar bleibt deshalb auch, an welcher Stelle genau das Problem eines hypothetischen Perspekti­venwechsels im Rahmen einer Kantischen Ethik sich stellt.

Weder Silbers Überlegungen noch unsere Überlegungen im AnschluB an Silber haben uns bisher aus dem Bannkreis ei­nes »monologischen« Moralprinzips herausgeführt. Aller­dings ist deutlicher geworden, daB die vorhin erwahnten »Problemzonen« der Kantischen Ethik zugleich eine dialo­gische Dimension der Moral bezeichnen, auf die Silbers úberlegungen zumindest hindeuten. Vorerst aber hat uns unser Versuch, im AnschluB an Silbers lnterpretation des Kategorischen Imperativs einen Anknüpfungspunkt für eine dialogische Ethik hei Kant zu finden, zurückgeführt in die Nahe der zweiten der drei vorhin unterschiedenen Al­ternativen einer Rekonstruktion des Kantischen Universa­lismus. In den nachsten Abschnitten mochte ich die- ihrem An­spruch nach- starkere dritte Alterna tive in ihrer von Haber­mas und Apel ausgearbeiteten Form diskutieren: diejenige Alternative also, in der ein Dialogprinzip an die Stelle des Moralprinzips tritt.

2. Zur Kritik der Diskursethik

VI

Ich werde im folgenden vor aliem auf die von Habermas entwickelte Form der Diskursethik eingehen. Nur in mei­ner Diskussion der konsenstheoretischen Voraussetzungen der Diskursethik sowie der Letztbegrüridungsproblematik werde ich explizit auf die Apelsche Version der Diskurs­ethik (und auf die Prazisierung des Letztbegründungsargu­ments durch W. Kuhlmann) eingehen. In diesem Verfahren liegt sicherlich eine Beschrankung; ich halte sie für gerecht­fertigt, weil es mir darauf ankommt, einige prinzipielle Argumente exemplarisch an einem überschaubaren und be­sonders pragnanten Text zu verdeutlichen. Zwar gehe ich davon aus, daB meine Einwande gegen Habermas' bisherige Formulierungen der Diskursethik auch auf neuere entspre­chende Überlegungen Apels• zutreffen; den Nachweis muB ich hier aber schuldig bleiben. ~abermas hat den gesthichtlichen (phylogenetischen) Ubergang zu einem universalistischen moralischen Be-

r Siehe unter anderem: K.-0. Apel!D. Bohler/G. Kadelbach (Hrsg.), Funkkolleg Praktische Philosophie!Ethik: Dialoge 2, Frankfurt 1984, ins­bes. r8.-2o. Studieneinheit. K.-0. Apel, >>1st die Ethik der idealen Kom­munikationsgemeinschaft eine Utopie?<<, in: W. VoEkamp (Hrsg.), Uto­pieforschung, Bd. r, Stuttgart 1982; ders., »Kant, Hegel und das aktuelle Problem der normativen Grundlagen von Moral und Recht<<, in: Arno Werner (Hrsg.), Filosofi och Kultur, Lund 1982. Zur Frage der Letztbe­gründung s. insbes.: K.-0. Apel, »Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik<<, in: B. Kanitschneider (Hrsg.), Sprache und Erkenntnis, lnnsbruck 1976; »Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethi­scher Normen<<, in: K.-0. Apel (Hrsg.), Sprachpragmatik und Philoso­phie, Frankfurt 1976; »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, in: K.-0. Apel, Transformation der Philoso­phie, Bd. II, Frankfurt 1973·

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wuBtsein verglichen mit dem (ontogenetischen) Entwick­lungsschritt, der hei Jugendlichen zur Ausbildung eines post-konventionellen moralischen BewuBtseins führt. Die Ausbildung eines post-konventionellen MoralbewuBtseins ist in beiden Fiillen die Antwort darauf, daB normative Selbstverstandlichkeiten als fragwürdig und begründungs­bedürftig erfahren werden; wo dies geschieht, wird di e Ar­gumentation - als >>Reflexionsform des kommunikativen Handelns«'- zur einzig mõglichen lnstanz einer Einlõsung normativer Geltungsansprüche. Der Übergang zum post­konventionellen MoralbewuBtsein bedeutet zugleich den Übergang zu einém neuen Verstandnis normativer Gel­tungsansprüche, deren intersubjektive Gültigkeit wird jetzt verstanden als Ausdruck eines mõglichen freien, durch Ar­gumente herbeigeführten Einverstiindnisses aller von einer Norm Betroffenen. Ein prozedurales Kriterium- die ar­gumentative Einlõsbarkeit normativer Geltungsansprüche - tritt an die Stelle materialer Kriterien, wie sie für die konventionelle Forro des moralischen BewuBtseins kenn­zeichnend sind. Das folgende Habermas-Zitat enthalt eine suggestive Darstellung der Ontogenese eines post-konven­tionellen Moralbewufhseins: ·

» Wenn ~an sich ... die Adoleszensphase in einem Gedankenexperiment auf einen einzigen kritischen Zeitpunkt zusammengedrangt vorstellt, an dem der Jugendliche gleichsam zum ersten Mal, und zugleich unerbittlich und alles durchdringend, eine hypothetische Einstellung gegenüber den normativen Kontexten seiner Lebenswelt einnimmt, zeigt sich die Natur des Problems, mit dem jeder beim Übergang vor\. der konventionellen zur post-konventionellen Ebene des moralischen Urteils fertig werden muB. Mit einem Schlage ist die naiv eingewiihnte, unproblematisch anerkannte soziale Welt der legitim geregelten interpersonalen Beziehungen entwur­zelt, ihrer naturwüchsigen Geltung entkleidet. Wenn dann der Jugendliche nicht zum Traditionalismus und zur fraglosen ldentitat seiner Herkunftswelt zurückkehren kann und will, muB er die vor dem hypothetisch entschleiernden Blick zerfallenen Ordnungen des Nor-

I Jürgen Habermas, »MoralbewuBtsein und kommunikatives Handeln<<, in: ders., Moralbewufltsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983, S. r36.

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mativen. (bei St~afe viilliger Orientierungslosigkeit) grundbegrifflich re­konstrUJ.eren. D1ese müssen aus den Trümmern der entwerteten, ais bloB k~nventwnell und rechtfertigungsbedürftig durchschauten Traditionen w1eder so zusammengesetzt werden, daB der Neubau dem kritischen Blick eines Ernüchterten standhalt, der nicht mehr anders kann, ais· fortan zwi­schen sozial geltenden und gültigen, faktisch anerkannten und anerken­nungswürdigen Normen zu unterscheiden. Zunachst sind es Prinzipien, nach denen d.er Neubau ge~lant, gültige Normen erzeugt werden kiinnen; am Ende bieibt nurmehr eme Prozedur für die rational motivierte Wahl ~wi~chen den ihrerseits ais .rechtfertigungsbedürftig erkannten Prinzipien ubng. Gemesse.n a~ morahschen Alltagshandeln behalt der Einstellungs­wechsel, ~en d1e D1skursethik für die von ihr ausgezeichnete Prozedur, eben den Ubergang zur Argumentation, fordern muB, etwas Unnatürliches - er b~deutet einen Bru.ch mit d.er ~aivitat geradehin erhobener Geltungs­anspruche, auf deren mtersubjekuve Anerkennung die kommunikative Allta~spraxis angewiesen ist: Di~se Unnatürlichkeit ist wie ein Echo jener Ent':"Ickl~ngskatastrophe, d1e d1~ Entwertung der Traditionswelt auch hi­stonsch emmal bedeutet- und dJC Anstrengung zu einer Rekonstruktion auf hiiherer Ebene provoziert hat.«'

Der Übergang zum post-konventionellen MoràlbewuBt­sein ist somit für Habermas gleichbedeutend mit der Ent­de~kung,, daB e.~ j~nseits des Mediums rationaler Argumen­tatwn keme moghchen Grundlagen norma tiver (o der auch kognitiver) Geltung gibt. Das post-konventionelle Moral­bewufhsein verdankt sich einer reflexiven Einsicht in die Bedingung~n der Moglichkeit normativer Geltung. Diese These bezetchnet den Ausgangspunkt für Habermas' Re­formulierung des Kantischen Moralprinzips, das heifh für seine diskursethische Reformulierung des Universalisie­rungsgrundsatzes. Diese Reformulierung des U niversalisierungsgrunds~tzes (U) lautet folgendermaBen: .

»So muB_jede gültig~ N?r~ der .Bedin~ung genllgen,- daB die Folgen und Neb~n';Irkungen, d1e s1ch JC'•':'ei!s aus 1hrer allgemeinen Befolgung für die Befned1gung der Interessen emes jeden Einzelnen (voraussichtlich) erge­ben, von alle_n Betroffenen akzeptiert (un4 den Auswirkungen der bekann­ten alternat1ven Regelungsmiiglichkeiten vorgezogen) werden konnen.<< (DE 75 f.)

r A.a.O., S. 136f.

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1

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Habermas bezeichnet den U niversalisierungsgrundsatz auch als >>Argumentationsregek Als Argumentationsregel legt der Grundsatz (U) fest, woraufhin in moralischen Ar­gumentationen zu argumentieren ist; er legt, so kõnnte man sagen, den Sinn der moralischen Soli-Geltung fest. Haber­m~s behauptet nun, daB diese Argumentationsregel. nicht >>monologisch« angewendet werden kann, sondem threm Sinne nach den Übergang zu realen Diskursen verla1;1gt.

. ,, Tatsiichlich zielt die angegebene Formulierung des Verallgemeinerungs­grundsatzes auf eine kooperative Durchflihr~ng der je.weil~gen Argumen­tation. Zum einen kann nur eine aktuelle Tednahme emes Jeden Betroffe­nen der perspektivisch verzerrten Deutung der jeweils eigenen lnteressen durch andere vorbcugen. In diesem pragmatischen Sinn ist jeder selbst die letzte lnstanz für die Beurteilung dessen, was wirklich im eigenen Interesse liegt. Zum anderen muB aber die Beschreibung, unter ~er j~der se~ne lnter­essen wahrnimmt, auch der Kritik durch andere zuganghch ble1ben. Be­dürfnisse werden im Lichte kultureller Werte interpretiert: und da diese immer Bestandteil einer intersubjektiv geteilten Überlieferung sind, kann die Revision von bedürfnisinterpretierenden Werten keine Sache sein, über die Einzelne monologisch verfügen.<< (DE nf.)

Diese Erlauterung von Habermas bezeichnet ziemlich ge­nau die blinden Flecke der Kantischen Ethik, auf die- unter freilich anderen Vorzeichen - auch schon Hegel hingewie­sen hat. So intuitiv einleuchtend aber diese Erlauterung auch ist, so probl~matisch ist die Reformulierung des Universali­sierungsgrundsatzes selbst. Das mõchte ich im folgend.en zeigen. Und zwar werde ich zunachst Habermas' Formuhe­rung des Grundsatzes (U) und danach dessen Vorausset­zung, die Konsenstheorie der Wahrheit, erõrtern. Auf den ersten Blick erscheint als eine besondere Starke des Grundsatzes (U), daB er Fragen des moralisch richtigen Handelns mit solchen der Normengerechtigkeit unmittel­bar verknüpft. Recht und Moral werden auf diese Weise v~n vornherein durch einen für beide grundlegenden Begnff normativer Richtigkeit aufeinander bezogen. Diese Starke des Grundsatzes (U) erweist sich bei naherem Hinsehen freilich eher als eine Schwache: Die Rückbindung des

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Rechts an di~ Moral im Grundsatz (U) gelingt namlich nur um den Preis einer begrifflichen Assimilierung moralischer an Rechtsprobleme. Im Grundsatz (U) wird ein universali­stisches Moralprinzip mit einem demokratischen Legitimi­tatsprinzip auf undurchsichtige Weise >>vermischt<~, und zwar so, daB er am Ende weder als Moralprinzip noch als Legitimitatsprinzip überzeugen kann. Diese These mõchte ich in vier Schritten erlautern. (1) Versucht ~an, was durch die Formulierung nahegelegt wird, den Grundsatz (U) als Legitimitats- (Gerechtig­keits-)Prinzip zu lesen, so ergibt sich folgende Schwierig­keit: Der Grundsatz (U) laBt die Frage offen, was es bedeu­tet zu sagen, daB jemand (ich) die Folgen, die die aligemeine Befolgung einer Norm für jeden einzelnen haben würde, >>Zwanglos akzeptieren kõnnte«; daher laBt er auch die Frage offen, was es bedeutet zu sagen, daB alie eine Norm

· in diesem Sinne akzeptieren kõnnen. Aus vielen Formulie­rungen von Habermas geht hervor, daB er den Ausdruck >>zwanglos akzeptieren kõnnen« im Sinne einer unpartei­ischen Urteilsbildung versteht; gemeint ware somit, daB eine Norm dann gültig ist, wenn alie von ihr Betroffenen sich davon überzeugen kõnnen, daB die allgemeine Befol­gung dieser Norm >>im gleichmaBigen Interesse aller Betrof­fenen « liegt- wie Habermas denn auch an anderer Stelle sagt (vgl. DE 76). Dies also ware es, woraufhin zu argumentieren ware, wenn der Grundsatz (U) als Argumentationsregel >>angewendet« wird: In einer Argumentation über Normen würde jeder allen anderen zu zeigen versuchen, daB eine be­stimmte Norm im gleichmaBigen Interesse aller liegt. Ent­sprechend ware der Grundsatz (U) ( abgekürzt) so umzufor­mulieren:

(U,) Eine Norm ist gültig genau dann, wenn ihre allgemeine Befolgung von allen Betroffenen ais gleichmiiBig im Interesse aller Betroffenen liegend beurteilt werden konnte.

Ob letzteres aber der Fali ist, das kõnnen wir, so Habermas, nur durch einen realen Diskurs herausfinden.

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<l.

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Frageno wir ais nãchstes, was das Wort »gültig« bedeutet, das im Grundsatz (U) vorkommt. Auf diese Frage gibt es zwei mõgiiche Antworten. Wir kõnnten zunachst versu­chen, das Prinzip (U) weiterhin ais Prinzip der Normenge­rechtigkeit zu Iesen. Dann ergabe sich die Antwort auf unsere Frage aus einer Bemerkung von Habermas im Zu­sammenhang seiner Abieitung des Universalisierungs­grundsatzes, wo es heiBt, daB »wir mit gerechtfertigten Normen den Sinn verbinden, daB diese gesellschaftlichen Materien im gemeinsamen Interesse der mõgiicherweise Be­troffenen regein« (vgl. DE 103). Es Iiegt nahe, das Wort >>ge­rechtfertigt~< ais gieichbedeutend mit »güitig« zu verstehen; wenn aber >>güitig« genau jene Normen sind, von denen sich zeigen laBt, daB sie gesellschaftliche Materien im gemeinsa­men Interesse der mõgiicherweise Betroffenen regein, und wertn wir ferner das durch den Grundsati (U) formulierte Kriterium der Normengültigkeit hinzunehmen, dann legt sich folgende, quasi-zirkuiare Reformulierung des Gnind­satzes (U) nahe:

(U,) Eine Norm liegt genau dann im gleichmaBigen Interesse aller von ihr Betroffenen, wenn si e von allen Betroffenen ais gleichmaBig im Inter­esse aller Betroffenen zwanglos akzeptiert werden kann.

Ich babe von einer quasi-zirkularen (und nicht schiicht von einer zirkuiaren) Formuiierurtg eines Gerechtigkeitsprin­zips gesprochen, wdi in (U ,) verschiederte Ebenen zu unter­scheiden sind, in denen der Ausdruck >>gieichmaBig im Interesse aller Betroffenen iiegend<< vorkommt. Erstens wird namiich unterstellt, daB die Betroffenen wissen, wor­aufhin sie argumentieren müssen, um zu zeigen, daB eine Norm gerechtfertigt ist; zweitens sagt (U,), daB erst ein zwangioser Konsens aller Betroffenen zeigen kann, ob eine Norm wirkiich >>iin gieichmaBigen Interesse aller }3etroffe­nen << iiegt. F reiiich ist e in e Deutung von (U) durch (U ,) des­haib unpiausibei, weil (U ,) ja eigentlich nichts anderes enthait ais die Anwendung einer allgemeinen Konsenstheo­rie der Wahrheit auf den speziellen Fali des Gerechtigkeits-

begriffs. Insofern ware (U ,) überhaupt kein spezielles Ge­rechtigkeitsprinzip. Auch unabhangig von den Probiemen einer Konsenstheorie der Wahrheit, auf die ich spater zurückkommen werde, hat unsere bisherige Deutung des Grundsatzes (U) in eine Sack­gasse geführt. Offenbar war unsere erste Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Wortes >>gültig<< im Grundsatz (U) faisch. Habermas seibst hat freiiich eine andere Antwort na­hegeiegt. Diese Antwort wird uns o zu einer Deutung des Grundsatzes (U) ais M oralprinzip führen. (~) Der Fehier unserer bisherigen Betrachtung iiegt darin, daB wir die Ausdrücke >>Norm<< und >>Befoigung einer Norm<<, die im Grundsatz (U) vorkommen, gieichsam naiv geiesen haben. Dies steht namiich im Widerspruch zu Ha­bermas' eigener Erlauterung der >>Grammatik<< normativer Geltungsansprüche. U nd zwar deutet Habermas das mora­iische >>soll<< oder >>muB<< ais ein >>hõherstufiges<< Pradikat, das dem Pradikat >>wahr<< anaiog ware (vgl. DE 63). Dem­nach ware di e ,, Tiefengrammatik« des Satzes

»Unter den gegebenen Umstanden soll man lügen«

wiederzugeben durch

»Unter den gegebenen Umstanden zu lügen, ist richtig (geboten)<<,

wobei das >>ist richtig<< gieichsam ais normatives Ãquivaient des Ausdruéks »ist wahr<< zu verstehen ware. Für Habermas ergibt sich somit eine strukturelle Paralleie zwischen

»Es ist wahr (der Fali), daB p«

und

>>Es ist richtig (geboten), daB h«. (DE 63)

In diesem Sinne iieBe sich dann norma tive Richtigkeit ais ein wahrheitsanaioger Geltungsanspruch verstehen. Diese In­terpretation des Sinns von Soll-Aussagen würde die Mõg­iichkeit erõffnen, das Wort >>gültig«, das im Grundsatz (U)

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vorkommt, als gleichbedeutend mit dem wahrheitsanalogen Pradikat >>richtig<< zu verstehen. Der Grundsatz (U) ware dann folgendermaBen zu lesen:

(U3) In Situationen S h zu tun, ist (moralisch) richtig (geboten), wenn die

entsprechende Handlungsweise ais allgemeine gedacht und hei Be­rücksichtigung ihrer voraussichtlichen Folgen für jeden einzelnen, von allen (Betroffenen) ais gleichmaBig im Interesse aller liegend zwanglos akzeptiert werden kõnnte.

Eine weitere mõgliche Lesart ware diese:

(U4

) In SituationenS h zu tun, ist (moralisch) richtig(geboten), wenn alie (zwanglos) wollen kõnnen, daB die entsprechende Handlungsweise - unter Berücksichtigung ihrer voraussichtlichen Folgen für jeden einzelnen - allgemein wird.

Das scheinbare Normenpradikat >>gültig« (>>gerechtfertigt«) ware also durch das normative Pradikat >>richtig« ersetzt;'in gewõhnliche Redeweise übersetzt, würden (U 3) und (U 4)

daher lauten:

>>Man muB in Situationen S h tun, wenn ... usw.<<

Statt dessen kõnnten wir auch,-ohne weitere MiBverstand­nisse befürchten zu müssen, zur Formulierung von (U)·zu­rückkehren:

. ••Jede gültige Norm muB der Bedingung genügen, daB ... <<

Der Grundsatz (U) hat sich unterderhand als ein echtes Mo­ralprinzip erwiesen. Wie steht es aber mit der vorausgesetz­ten Parallelisierung von >>Es ist wahr, daB p« und >>Es ist richtig (geboten), daB h«? Im ersten Fall gilt ja eine Ãquiva­lenz der Art

>>Es ist wahr, daB p genau dann wenn p<<,

wahrend im zweiten Fall die Ãquivalenz nur lauten konnte: I

>>Es ist richtig (geboten), daB h genau dann wenn X«,

wobei X für das durch den Grundsatz (U) formulierte Gül­tigkeitskriterium steht. Das bedeutet aber, daB der formalen

T

Erlauterung des Pradikats >>wahr« eine materiale Erlaute­rung des Pradikats >>richtig« gegenüberstehen würde. An­ders ausgedrückt: als >>wahr« ware dasjenige bestimmt, was berechtigterweise behauptet werden kann, ohne daB. aber hiermit ein Wahrheitskriterium gegeben ware; als >>richtig« dagegen ware dasjenige bestimmt, was im Sinne eines ganz bestimmten Richtigkeitskriteriums berechtigterweise gefor­dert werden kann. Der Sinn der (moralischen) Soll-Geltung ware somit durch ein Kriterium der moralischen Soll-Gel­tung a priori festgelegt. Ein Vergleich mit Kant legt sich nahe. Auch Kant hatte ja in gewissem Sinne den rationalen Sinn der moralischen (ka­tegorischen) Soll-Geltung durch ein Kriterium der morali­schen Soll-Geltung (den Kategorischen Imperativ) be­stimmt. Laut Kant haben wir als. vernünftige Wesen ein entsprechendes kategorisches Sollen immer schon als be­rechtigt anerkannt; ihm zuwiderzuhandeln bedeutet, den Bedingungen unserer moglichen Selbstachtung als vernünf­tiger Wesen zuwiderzuhandeln. In diesem Sinne ist das un­bedingte moralische Sollen, wie es durch den Kategorischen Imperativ zum A1,1sdruck gebracht wird, für Kant ein >>Fak­tum der Vernunft«. Ganz analog ware Habermas' Erlaute­rung des Sinns moralischer Geltung durch ein Kriterium moralischer Geltung zu verstehen als Hinweis auf eine uni­versale Struktur sprachlich vermittelter Intersubjektivitat; im Unbedingtheitscharakter des moralischen Sollens kame zum Ausdruck, daB unsere mogliche Identitat als sprachfa­higer Wesen an eine solche Struktur der Intersubjektivitat gebunden ist. Ich werde auf diesen Gedanken spater zu­rückkommen. Zunachst mõchte ich die Frage erõrtern, oh der Grundsatz (U), als Moralprinzip verstanden- also in ei­ner der Fassungen (U

3) oder (U4) -, befriedigend i'st.

(3) Ich erinnere daran, daB der Grundsatz (U) als diskurs­ethische Reformulierung des Kategorischen Imperativs ver­standen werden soll. In diesem Sinne zitiert Habermas zustimmend McCarthy:

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•Statt allen anderen eine Maxime, von der ich will, daB sie ein allgemeines Gesetz sei, ais gültig vorzuschreiben, muB ich meine Maxime zum Zweck derdiskursiven Prüfung ihres Universaiiditsanspruchs allen anderen vorle­gen. Das Gewicht verschiebt sich von dem, was jeder ( einzeln) ais allgemei­nes Gesetz wollen kann, auf das, was alie in Übereinstimmung ais univer­saie Norm anerkennen wollen.<< (vgl. DE nr Wenn aiso Kant sagt; »man (d. h. ich, A. W.) muB wollen konnen, daB eine Maxime unserer Handiung ein allgemei­nes Gesetz werde: dles ist der Kanon der moralischen Beur­teilung überhaupt«•, so soll der Grundsatz (U) das Gewicht von dem >>ich muB wollen konnen<< auf das »wir müssen wollen konnen« verschieben. Und die weitere These ware, daB wir nur durch einen realen Diskurs herausfinden kon­nen, ob wir wollen konnen, daB eine Maxime ais allgemeines Gesetz gilt. Nun geht es freiiich bei dem Kantischen Postu­Iat der Verallgemeinerbarkeit von Maximen gar nicht um di e Frage der Normengerechtigkeit. Das Postuiat veriangt viel­mehr von mir zu prüfen, ob ich wohi in einer Weit Ieben wollte, in der- wie durch Naturgesetz- alie so handelten (insbesondere auch mir gegenüber), wie meine Maxime es naheiegt; ob ich aiso -wollen konnte, daB die durch meine Maxime ausgedrückte Handiungsweise allgemein wird. Wenn ich hier und im foigenden das Wort »Handlungs­weise<< verwende, so ist es immer im Sinne von »Handlungs­weise-in-Situationen-einer-Art« zu verstehen. Ich ziehe das Wort »Handlungsweise« (in diesem Sinne verstanden) dem Wort »Maxime« aus verschiedenen Gründen vor; der an dieser Stelle entscheidende Grund ist, daB ich den Anschein vermeiden mochte, als ware hier bereits von Normen die Rede- ais würde also genau jenes moralische »muB«. schon vorausgesetzt, dessen Sino und dessen Mogiichkeit Kant erst erklaren will. (Maximen, in anderen Worten, als »sub­jektive« Prinzipien des Handelns, muB man sich o~ne ein

r Vgl. Thomas McCarthy, Kritik der Ve~standigungsverhaltnisse. Zur Theorie von ]ürgen Habermas, Frankfurt 198o, S. 371.

2 GMS 54 (BA 57).

6o

T moraiisches »muB« formuiiert denken.) Nun habe ich be­reits oben (Abschn. n) die These begründet, daB das Kanti­sche Kriterium moralisch richtigen Handelns nur Sino macht, wenn mán es in einem negatorischen Sinne versteht: Jene Handiungsweisen, die ich als allgemeine wollen kann konnen - entgegen Kants eigener These - nicht schon di; morai~sch gesollten seio, was »gesollt« oder »gemuBt« ist, sagt v1eimehr der Kategorische Imperativ selbst: daB ich namli~h ei~e Handlung p in einer Situation S nicht tun darf, wenn 1ch eme entsprechende Handlungsweise nicht als all~ gemeine wollen kann. Wenn ich also nicht wolle~ kann daB jéder mich belügt, wenn er sich einen Vorteil davon 'ver­spricht, dano darf ich nicht lügen, nur weil ich mir einen Vorteil davon verspreche. Hieraus konnte man nun eine moralische Norm ableiten: Man darf nicht lügen- wobei man sich solche Normen aber immer zusammen denken müBte mit denjenigen Situationscharakterisierungen, aus denen die Nicht-Verallgemeinerbarkeit einer Handiungs­weise sich ergibt. Versteht man den Kategorischen Imperativ in di.eser Weise, so ist der »monologische« Charakter des Kahtischen Morai­prinzips ein weniger g~avierendes Problem, als es bei Apel und Habermas erschemt: wenn namlich ich nicht wollen k~nn, daB eine Handlungsweise zur allgemeinen Regei w1rd, dano konnen auch wir es nicht wollen (denn andern­falls niüBte ja auch ich es wollen konnen). Im moralischen Urteil, so konnte man es auch ausdrücken, bin ich zunachst einmal mit mir selbst konfrontiert. Die Frage aber, die ich hierbei jeweils zu beantworten habe, ist ersichtlich von an­derer Art ais die Frage, ob eine soziale Norm gerecht ist oder nicht. . Gleichwohl bleibt der Einwand richtig, daB Kant zu Un­recht angenommen habe, ein ernsthaftes moralisches U rteil sei eo ipso auch intersubjektiv gültig; daB also mein »Wol­len-Konnen« oder »Nicht-wollen-Konnen« mit dem aller anderen rationalen Wesen notwendig koinzidieren müsse ..

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Kant hat diese Annahrne nur machen kõnnen, weii er den · fruchtharen Gedanken der Grundlegung aishaid formaii­stisch ausgearheitet hat. Wenn aher eine monoiogische An­wendung des Kategorischen Imperativs die intersuhjektive Güitigkeit moraiischer Urteiie nicht garantiert, dann ist es in der Tat naheliegend, die Kantische Voraussetzung ais ein Postulat zu formuiieren, etwa: Handie so, daB deine Hand­iungsweise von allen ais allgemeine gewollt werden kõnnte. In diesem Sinne ware auch die von Hahermas zitierte Um­formuiierung des Kategorischen Imperativs durch McCar­thy zu verstehen. . Nun scheint auch der Grundsatz (U) auf den ersten Biick dasseihe zu sagen: eine Handiungsweise ist richtig, wenn sie, ais allgemeine verstanden, für alle (Betroffenen) akzep­tahei ware. (U) kommt dieser Lésart am nachsten. Freiiich müBten wir d;s Wort »richtig«, das in (U4) vorkommt, im Sinne von »moraiisch eriauht« statt im Sinne von »moraiisch gehoten« verstehen: Wenn namiich meine Bemerkungen zu Kant richtig waren, macht es keinen Sinn anzunehmen, daB die Handiungsweisen, die wir ais allgemeine wollen kõn­nen, auch die nioraiisch gebotenen sind. Wir kõnnen aher diese Differenz zunachst auf sich heruhen iassen, da unsere jetzige Lesart des Grund$atzes (U) einer Reformulierung des Kategorischen Imperativs wie der foigenden:

>>Handle nur nach Maximen, von denen wir wollen konnen, daB sie ais all­gemeine Gesetze gelten<<,

. zumindest sehr nahe kommt. Ich denke, daB (U 4) diejenige Lesart des Grundsatzes (U) ist, di e am wenigsten heiastet ist von konsenstheoretischen Pramissen. Ich werde. deshaih spater an diese Lesart anknüpfen. (4) Freiiich entspricht nicht (U 4), sondem viei eher (U 3) der Idee von Habermas, daB hei einer Argumentation üher mo­raiische Normen jeder einzeine eine Norm unparteiisch daraufhin heurteilen soll, oh die allgemeine Befoigung die­ser Norm im gieichmaBigen Interesse aller iiegt. Kehren wir

62

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aiso noc~ einmai zu (U), gelesen im Lichte von (U 3), zurück. Wenn w1r (U) verstehen ais Erlauterung unseres Vorver­standnisses von moraiischer Geltung, dann hedeutet dies, daB in unseren moralischen Üherzeugimgen und in unseren moralischen Urteilen Urteile der Art impliziért sein müB­ten, daB die Folgen und Nehenwirkungen, die die allge­meine Befolgung einer hestimmten Norm für jeden einzel­nen hahen würde, .von allen zwanglos akzeptiert werden kõnnten. Dies aher, so scheint mir, würde hegründete mo­ralische Urteile zu einem Ding der Unmõglichkeit machen. Nehmen wir als Beispiel Normen wie »Neminem iaede« oder »Du sollst nicht lügen«. Wahrend eine einfache Üher­legung im Sinne des Kategorischen Imperativs zu dem Er­gehnis führt, daB ich nicht wollen kann, daB in der Welt, in der ich lehe, nach Beliehen die Unwahrheit gesagt wird oder lehendig~ Wesen verletzt werden, stellt uns eine entspre­chende Uherlegung im Sinne des Grundsatzes (U) vor unge­heure Prohleme. Der Einfachheit halher gehe ich davon aus, daB alle Menschen unter idealen Diskurshedingungen darin ühereinkommen würden, daB die allgemeine Befolgung der heiden ohen formulierten Normen, ideale Verstandigungs­hedingungen vorausgesetzt, im gleichmaBigen Interesse ai­ler liegen würde. Damit ist aher natürlich noch wenig darüher ausgesagt, wie wir unter realen Verstandigungshe­dingungen- also in der geschichtlichen Wirklichkeit, so wie sie ist - handeln sollen. Wenn wir aher versuchen, den Grundsatz (U) ais Beurteilungsprinzip für Handein unter nicht-idealen Bedingungen anzuwenden, ergehen sich die folgenden Schwierigkeiten: (a) Versuchen wir uns ais erstes klarzumachen, welche Fol­gen und Nebenwirkungen sich für jeden einzelnen ergehen würden, wenn die Norm »Du sollst nicht lügen« allgemein - und das kann ja, wenn die Worte »Norm« und »allge­mein« hier einen Sinn hahen sollen, nur heiBen: ohne Aus­nahme- hefolgt würden. Kant konnte das Lügen allgemein - d. h. ohne Ausnahme- verhieten, weil er sich um di e Foi-

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gen nicht kümmerte. Wenn wir uns. aber .um die. F~.lge~ kümmern und wenn·wir annehmen, daB dte Welt 1m ubn­gen bleibt: wie sie ist, dann ist zu vermuten, daB die Folgen einer allgemeinen Wahrhaftigkeit die Opfer s~hwerer tref­fen müBten als die Henker: insofern konnte dte Norm »Du sollst nicht lügen« - rebus sic stantibus - nicht gültig sein. Ersichtlich müBten wir, um herauszufinden, wie unter den gegebenen Umstanden zu handeln richtig sei, komplizier­tere Normen formulieren, mit Einschrankungen und Aus­nahmeklauseln, etwa in dem Sin'ne, in dem H are es ( als eine freilich unabschlieBbare Aufgabe) postuliert hat. 1 Hier­durch wachst aber die Schwierigkeit der Aufgabe, die Fol­gen und Nebenwirkungen einer a~lgemeinen Normbefol­gung für jeden einzelnen zu besttmmen und d~zu noch herauszufinden, ob alie diese Folgen und N ebenwtrkungen, die sich für jeden einzelnen ergeben würden, zwanglos a~­zeptieren konnten, ins Ungeheuerliche. Auch der reale Dt~­kurs kann hier am Ende nicht weiterhelfen. Solange wu namlich den Diskurs unter Bedingungen führen müssen, unter denen die Opfer sich durch Lügen vor den Henkern schützen müssen, ist ein zwangloser Konsens nicht vorstell­bar; sobald aber ein allgemeiner Konsens real herbeigeführt werden konnte, würden die Bedingungen wegfallen, unter denen die erwahnten Ausnahmen und Einschrankungen notwendig waren. In jedem Fall macht es offensichtlich kei­nen Sinn anzunehmen, daB wir, unter nicht-idealen Ver­standigungsbedingungen, unsere realen moralischen ~ro~ bleme durch die Herbei.führung realer Konsense losen konnten. Wo die Mõglichkeit der Verstandigung aufhõrt, konnen wir uns nur noch überlegen, was die Vernünftigen und U rteilsfahigen oder was di e von unserem Handeln Be­troffenen, waren sie genügend vernünftig, gutwillig und ur­teilsfahig, sagen würden. Und in diesem Sinne ist natürlich in jedem moralischen Urteil ein moglicher rationaler Kon­sens antizipiert. Wenn wir aber in jeder - am Ende eben

r Vgl. oben, Abschn. m (Exkurs).

64

doch immer wieder: monologischen- moralischen Überle­g~ng zu einer Entscheidung der Frage kommen müBten, ob dte. Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer allge­memen Normbefolgung- und hier müBte ja eine allgemeine Norm formuliert werden - für jeden einzelnen ergeben würden, von allen zwanglos akzeptiert werden kõnnten, dann würden wir niemals zu einem begründeten morali­schen Urteil kommen kõnnen. (b) Eine andere Schwierigkeit ergibt sich, wenn wir Normen wie »Neminem laede« betrachten, von denen wir unterstel­len dürfen, daB ein zwangloser Konsens darüber moglich sein müBte, daB ihre allgemeine Befolgung im gleichmaBi­gen Interesse aller liegt- und zwar auch dann, wenn wir von den nicht-idealen Bedingungen ausgehen, unter denen wir leben. DaB die Unterstellung der Mõglichkeit eines solchen Konsenses in diesem Falle sinnvõll ist, liegt daran, daB die allgemeine Befolgung einer Norm wie »Neminem laede« genau jene Bedingungen auBer Kraft setzen würde, unter denen Ausnahmen und Einschrankungen - etwa für den Fali der legitimen Selbstverteidigung, der Strafe usw.- fak­tisch notwendig sind. Gerade deshalb muB aber der Grund­satz (U) hier zu falschen, d. h. gegen unsere moralischen lntuitionen verstoBenden Resultaten führen: die- kontra­faktische - Unterstellung einer allgemeinen. Normbefol­gung bedeutet in diesem Falle ja, daB Fragen der morali­schen Richtigkeit mit Bezug auf ideale únd nicht auf reale Handlungsbedingungen beantwortet werden. (U) würde uns also gebieten, so zu handeln, wie wir, nach unserem frei­lich immer nur hypothetischen Urteil, unter idealen Ver­standigungs- u~d Handlungsbedingungen tatsachlich han­deln würden. Uberraschenderweise taucht an dieser Stelle ein Problem wieder auf, das schon in der Kantischen Ethik eine zentrale Rólle spielt: Kants >>praktische Gesetze« sind ja eigent!ich Handlurigsnormen für die Glieder eines mogli­chen Retchs der Zwecke. Kant war freilich konsequent und hat di e Mõglichkeit von Ausnahmen- etwa vom Lügenver-

,,.

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hot- kategorisch hestritten. Genau diese Konsequen~ steht der Diskursethik nicht offen; sie widersprache 1hrem Grundansatz. Als Ausweg aus den hier angedeuteten Schwie~i~keiten hie­tet sich noch die Moglichkeit einer »EntdramatlSlerung« des Normhegriffs an. Man konnte den Ausdruck »Norm« etwa

· im Sinne von Hares »prima facie-Normen« verstehen; der Grundsatz (U) hatte es danri nur noch mit der Begründung jener Normen zu tun, hei denen ein zwangloser Konsens darüber moglich sein müBte, daB ihre allgemeine Befolgung unter idealeri Verstandigungs- und Handlungshedingungen im gleichmaBigen Interesse aller lage. Alies andere ware ~in Prohlem der richtigenAnwendung solcher Normen auf eme nicht-ideale Wirklichkeit. Ganz ahgesehen aher von den Prohlemen, die in den hier vorausgesetzten idealisierenden Begriffshildungen als so1chen stecken (ich komme darauf im nachsten Abschnitt zurück), scheint es mir klar, daB der

. ehen angedeutete Ausweg in Wirklichkeit keiner ist. Ich nenne nur den entscheidenden Grund: Der Grundsatz (U) verlore seinen Witz, wenn seine Anwendung auf jenen mo-· ralischen Elementarhereich heschrankt würde, in dem wir schon mit Kant leidlich zurechtkommen. Gemeint ist der Grundsatz (U) doch gerade als ein Prinzip der Beurteilung solcher Normen, die hei Kant gar nicht vorkommen kon­nen, weil Kànt die moralisch gültigen Normen als Hand-. lungsnormen für Glieder eines Reichs der Zwecke ver.steht. Wenn dies aber richtig ist, dann greift die Untersche1dung zwischen Prohlemen der Normenbegründung und Prohle­men der N ormenanwendung an dieser Stelle nicht. Die Prohleme und Unklarheiten, auf die wir hei unserer Diskussion des Grundsatzes (U) gestoBen sind, lassen sich, wie ich denke, zurückführen auf zwei prohlematische Vor­entscheidungen von Hahermas. Die erste hetrifft die An­gleichung von Fragen des ~ora~isch ri~htige~ Hand:Ins ~n Fragen der Normengerecht1gke1t (a), d1e zwe1te betnfft d1e konsenstheoretischen Pramissen der Diskursethik (h).

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I 1:

(a)~abermas h~t das ~oralprinzip so formuliert, als ginge es be1 der morahschen Uberlegung um die gleiche Frage wie hei einer Diskussion über die Gerechtigkeit sozialer Nor­men, die wir einführen oder nicht einführen, auBer Kraft setzen oder heibehalten konnen. Bei einer solchen Diskus· sion geht es ja tatsachlich um die Frage, ob alle von einer Norm Betroffenen die Folgen, die eine aligemeine Normbe­folgung für jeden einzelnen hatte, als unparteiisch Urtei­lende müBten akzeptieren konnen, um di e Frage also, ob die Einführung oder Beibehaltung einer Norm »im gleichmaBi­gen Interesse alier« liegt. Paradigmatischer Fali einer ent­spreche~den Normeneinführung ware dt;r einmütige Be­schluB emer Gruppe von Menschen, Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse nach bestimmten Regeln abzuwik­keln. An diesem Fali kann man namlich ablesen, daB zwar die kontrafaktische Untersteliung einer aligemeinen Norm­befolgung für die Beurteilung der Gerechtigkeit der Norm· eine Rolie spielt, daB aber zum Urteil über die Normenge­rechtigkeit noch etwas anderes hinzukommen muB - in diesem Fali ein Beschlufi -, um eine entsprechende Hand­lungsverpflichtung zu konstituieren. Diese, aus einem ge­meinsamen BeschluB resultierende Verpflichtung konnen wir als moralische verstehen; sie kann aber offensichtlich nicht in der gleichen Weise begründet sein wie das U rteil über die Gerechtigkeit einer Norm, die wir im Prinzip durch BeschluB einführen oder auBer Kraft setzen kõnnen. Kant hat die Differenz, um die es hier geht, durchaus beach­tet. Sie laBt sich daher auch erlautern durch die unterschied­liche Art der Bezugnahme auf einen zwanglosen Konsens vernünftiger Wesen; wie sie in Habermas' bzw. in Kants Formulierung des Moralprinzips impliziert ist. Der Inhalt eines begründeten Konsenses im Sinne des Grundsat'zes (U) ware, wie wir uns klargemacht haben, das U rteil, daB di e all­gemeine Befolgung einer bestimmten Norm im gleichmaBi­gen Interesse alier (Betroffenen) liegt. Der Inhalt eines »Kantischen« Konsenses im Falle moralischer Normen

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ware dagegen, daB wir (als vernünftige Wesen~ nicht woll~n konnen, · daB eine bestimmte Handlungswe1se allgemem wird. Hierbei gehe ich mit Habermas davon .aus, daB das Kantische »ich« durch ein »wir« zu ersetzen 1st, was auch immer die Probleme sein mogen, die sich hieraus ergeben mogen. Unter dieser Vorausset~ung war~ die Antizi~ation eines vernünftigen Konsenses 1m morahschen U~te1l aus Kantischer Perspektive so zu denken,' daB der morahsch U r­teilende etwa sagt: Ich kann nicht, und keiner von »uns« kann vernünftigerweise wollen, daB in dies~r Wei~e allge­mein gehandelt wird. Das Wort »vernünftiger';e1S~« ~e­zieht sich hier auf das >>wollen konnen«; ob w1r namhch faktisch etwa~.wollen konnen, das hangt von ~~ser~n Inter­pretationen, Uberzeugungen un? Selbstve.~sta~dmssen ab, und diese konnen mehr oder wemger >>vernunftig«, d. h. an­gemessen, begründet, richtig oder . auch. wahrhaftig. seio.

· >>Vetnünftigerweise« heiBt also sov1el W1e: wenn. w1~ uns selbst und dieWelt und die Situation der anderen ncht1g se­hen. Hier nun sind argumentative oder auch kommunika­tive Klarungen, sind Lernprozesse im .Medi um von ~rgu­mentationen ohne Schwierigkeiten denkbar. Wenn wu aber die diskursive Dimension der Moral in dieser Weise verste­hén dann kommen wir ohne eine Konsenstheorie der Wahrheit aus· wir konnen vielmehr, wie ich spater zeigen werde, die A~tizipation vernünftiger Konsense im morali-

' schen Urteilfallibilistisch verstehen. Wenn ~an dage~en als den Inhalt des vernünftigen Konsenses, der 1m morahschen Urteil >>antizipiert« ist, das gemeinsame :Urteil über die Ge­rechtigkeit einer Norm versteht, dann 1st kaum z.u sehen, wie ein solcher Gedanke anders als konsenstheoretisch aus-. formuliert werdenkonnte. Dies bringt mich zur zweiten der oben erwahnten problematischen Vorentscheidungen von Habermâs. · . (b) Da ich die Konsensthe~rie der Wahrh~~t aus~ührl.ich 1m folgenden Abschnitt vn erortern werd.e, m~chte 1~h h.1er nur noch einmal auf die Folgeprobleme hmwe1sen, d1e s1ch aus

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der konsenstheoretischen Vor~ntscheidung ergeben. Ich hatte oben auf die Paradoxien hingewiesen, die sich aus der Gegenü.berstellu~g von idealen und realen Verstandigungs­oder D1skursbedmgungen ergeben, die gleichsam in den <?runds~tz (U) einge~aut ist. Diese Gegenüberstellung ist em unmittelbarer Ausdruck konsenstheoretischer Pramis­sen. Meine Kritik der Konsenstheorie wird dementspre­chend zugleich eine Kritik der Idealisierungen sein, a.uf denen sie beruht. Was sich bisher gezeigt hat, ist, daB diese konsenstheoretischen Idealisierungen auch zu internen S~hw_ieri~keiten d~r J?is~urse.thik f~hren, Schwierigkeiten, d1e d1e Dtskurseth1k m eme stcherhch ungewollte Nahe zu Kant rücken. Indes bleibt noch zu zeigen, daB es wirklich die konsenstheoretischen Pramissen selbst sind und nicht Zufalligkeiten von Habermas' Formulierung des Grundsat­zes (U), welche den Schwierigkeiten der Diskursethik zu­grunde liegen.

VII

Die Grundthes~ der Konsens- oder Diskurstheorie der Wahrheit in ihrer Habermasschen Fassung ist, daB >>wahr« oder >>gültig« genau jene Geltungsansprüche genannt wer­den dürfen, über die ein diskursiver Konsens unter Bedin­gungen einer idealen Sprechsituation herbeige(ührt werden ~onn~e. Habermas hat die Strukturen einer idealen Sprech­sttuatwn, von denen er auch sagt, daB sie in jeder ernsthaften Argumentation ais wirklich unterstellt werden, durch eine Gleichverteilung der Chancen, verschiedene Arten von Sprechakten auszuführen, sowie durch das Merkmal der Freizügigkeit hinsichtlich eines Wechsels der Diskursebe­nen charakterisiert.' Durch di e Grundthese· der Konsens-

1 Zuerst in Jürgen Habermas, » Wahrheitstheorien«, in: Helmut Fahren­bach. (Hrsg.), W~rklichkeit und Reflexion. Festschrift für Walter Schulz, Pfullmgen 1973, msbes. S. 252 ff. Die nachfolgende Kritik berührt sich an

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theorie wird somit erstens die »Rationaliüit« von Konsen­sen dur~h die formalen Strukturmerkmal: einer ideale_n Sprechsituation und wird zw~it~ns »Wahr~.ett« als Inhalt et­nes rationalen Konsenses deftmert. Ich mochte demgegen­über zeigen, daB sich ( 1) di e Rationalitat vo~ Ko?~.ensen nicht formal charakterisieren laBt, (2) daB Rattonahtat und

. Wahrheit von Konsensen nicht zusammenfallen müssen, daB deshalb (3) der rationale Konsens ke.in W~hrheit~kr~te­rium sein kann und daB schlieBlich (4) eme mcht-kntenale Interpretation der ~onsenstheorie ~iese, ~en.n ni~?t gehal:­los, so doch ungeetgnet machen wurde fur dte Stutzung et­nes diskursethischen U niversalisierungssatzes. (

1) Meine These ist, daB unsere ~eurteilung von. Konsensen

als rational von unserer Beurtetlung unserer (etgenen oder gemeinsamen) <?ründe als :ri~tig abhangt. Di.ese ~bhangig­keit ist eine logtsche (begnffhche): der Begnff e~nes durch Gründe herbeigeführten ~onsenses setzt den emer ~u~ch Gründe herbeigeführten Uberzeugung voraus .. Nat~rhch ist zuzugestehen, daB wir einen Konsens dann mcht fur ra­tional halten, wenn wir Grund zu der Annahme haben, daB einige der Teilnehmer nur zu~ Schein ode.r aus Furcht oder aufgrund psychischer Blo~kte~ung. z~sttmmen. lnso.~ern ware das Habermassche Kntenum m emem abgeschwach­ten Sinne richtig: Zum Begriff eines radonalen Ko.nsenses gehõrt, daB er auf gut~n Gründen_ be~uh~ u~d mcht auf Furcht usw. Dasselbe gtlt aber beretts fur dte Uberzeugu~­gen einzelner: deren Rationalitat erweist sich daran, daB ste

auf guten Gründen b~r_uhen. . ·. .. . Nun gilt sicherlich tnvtalerwetse, daB wtr eme gememsam gewonnene Überzeugung für wahr hal~en werden,. und zwar kraft der Gründe oder Argumente, dte uns allen emge­leuchtet haben. U nd sofern wir uns wirklich gemeinsam von etwas überzeugt haben, dürfen wir. von einem rationalen

~inigen Punkten mit R. Zimmermann~ ausfü~rlich~: und .scharfs~.nniger Kritik der Konsenstheorie, in: Utopze-Rattonalttat-Poltttk, Munchen

r98 5, S. 303 ff.

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Konsens sprechen. So kann es also scheinen, als ob ein ratio­naler notwendigerweise auch ein wahr,er Konsens sei. Aber so sieht es nur aus der lnnenperspektiv~ der jeweils Beteilig­ten ~us: ~enn ich mit Gründen zustinüne, so heifit das ja, daB tch emen Geltungsanspruch für wahr halte. Die Wahr­heitfo/gt hier aber nicht aus der Rationalitat des Konsenses, sondem aus der Triftigkeit der Grünâe, die ich für einen Geltungsanspruch anführen kann und von der ich mich überzeugt haben muB, bevor ich von der Rationalitat des Konsenses sprechen kann. Nun kõnnen sich solche Gründe aber im Prinzip immer nachtraglich ais unzureichend erwei­sen. Wenn .das ~ber geschieht, kann es unmõglich gleichbe­deutend sem mtt der Entdeckung, daB ein früherer Konsens nicht rational war in dem Sinne, daB die Symmetrie- und Freizügigkeitsbedingungen der idealen Sprechsituation nicht realisiert waren. Wenn diese vielmehr formal charak­terisierbar sein sollen, dann darf unser Urteil darüber, oh sie vorliegen, gerade nicht davon abhangen, welche Gründe wir jeweils für triftig halten. Andernfalls würde sich die krite­riale Bedeutung der Konsenstheorie in nichts auflõsen. Aber auch unabhangig davon gibt es starke Gründe dage­gen, die Rationalitat mit der Wahrheit von Konsensen gleichzusetzen: Weshalb sollte der Konsens bedeutender Physiker des neunzehnten Jahrhunderts über die Wahrheit d~r Newtons~hen Theorie nicht rational gewesen sein (im Smne der Bedmgungen einer idealen Sprechsituation)? Dies kann doch nicht schon deshalb der Fali sein, weil wir in der Physik heute weiter sind. (2) Ebensowenig wie aus der Unwahrheit von Konsensen au.tomatisch de:en ~angel an Rationalitat folgen kann ( es se1 denn, man zteht stch auf tautologische Begriffserklarun­gen zurück), kann aus der Rationalitat von Konsensen deren Wahrheit folgen. Nur aus der lnnenperspektive der jeweils Beteiligten fallt beides, Konsens-Rationalitat und Wahrheit zusammen. Das kann a~er nicht bedeuten, daB die Rati.ona~ litat des Konsenses ein zusatzlicher Wahrheitsgrund ist.

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Dies zu behaupten ware ebe~~o falsch, als wenn ich neben den Gründen, di e ich für eine Uberzeugung habe, auch noch die Tatsache, daB meine Überzeugung gut begründet ist, als einen zusatzlichen Wahrheitsgrund anführen wollte. Mein begründetes Für-wahr-Halten kann jedenfalls für mich kein zusatzlicher Grund für .die Wahrheit des Für-wahr-Gehal­tenen sein; ebensowenig kann unser begründetes Für-wahr­Halten für uns ein zusatzlicher Grund für die Wahrheit des Für-wahr"-Gehdtenen sein. Mit anderen Worten: Das Fak­tum des Konsenses, selbst wenn er unter idealen'Bedingun­gen eintrate, kann kein Grund für die Wahrheit des für wahr Gehaltenen sein. Dann sind wir aber auf die Gründe oder Kriterien der Wahrheit zurückgeworfen, die uns immer · schon verfügbar sind, wenn wir den Sinn von Geltungsan­sprüchen verstehen. Nur dann konnten wir aus der Ratio­nalitat auf di e Wahrheit von Konsensen schlieBen, wenn wir eine ausreichende Urteilsfahigkeit aller Beteiligt~n unter die Bedingungen einer idealen Sprechsituation aufnahmen. Dann aber lieBen sich erstens di e Bedingungen einer idealen Sprechsituation nicht mehr formal charakterisieren, und zweitens würde die Konsenstheorie der Wahrheit sich im

· wesentlichen auf die These reduzieren, daB wahr genau die Geltungsansprüche sind, über die unter den genügend Ur­teilsfahigen ein zwangloser Konsens herbeigeführt werden kann. Diese These ware aber ohne jeden substantiellen Ge­halt. Die Konsenstheorie als eine gehaltvolle Wahrheits­theorie steht und fallt mit einer formalen Charakterisierung der Rationalitat von Konsensen; aber gerade diese formale Rationalitatsbedingung macht sie falsch. Wenn man dage­gen, was nach dem Vorangegangenen naheliegt, den Ratio­nalitatsbegriff nicht-formal zu fassen versucht, wird die Konsenstheorie leer. (3) Nun ist freilich Habermas von einer kriterialen Interpre-tation der Konsenstheorie inzwischen abgerückt.' Und

I Vgl. etwaJürgen Habermas, »Ein Interview mit der New Left Review<<, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt I985, S. 228. Habermas

zwar gesteht er zu, daB wir in einem gewissen Sinne immer schon wis~en müssen, was gute Gründe sind, um überhaupt argu~ent1~re~ zu konnen. Ob aber solche »guten« Gründe letz.tltch ?mrezchend gute <?ründe sin~, dies, so sagt er jetzt, »Zet?t« stch erst unter Bedmgungen emer idealen Sprechsi­tu~twn. I Ich mochte diese neue Wendung des Gedankens bet ~aberm~s zum AnlaB nehmen, um noch einmal die ei­gentl~che Pomte der Konsenstheorie, so wie ich si e verstehe, deuthch zu mache(ol. Wenn Habermas sagt, daB erst der Kor:sens unter Bedmgungen einer idealen Sprechsituation »Zetgen« kann; ob unsere Argumente wirklich hinreichend gute. Argumente sifold, so trifft er damit eine spezifische Ver­g:~wtsserungsfunkuon von Konsensen: Durch die Herbei­fuhrung von ~o.nsensen vergewissern wir uns gemeinsam desse~, daB ~1r (Jeder vo~ »uns«) di e Dinge wirklich von ei-

. nem offenthchen, von em em allgemeinen Standpunkt aus sehen, des~en also,. daB nicht Idiosynkrasien, Blockierun­~~n.' Er~10t1onen, wtshful thinking, Trübungen der U rteils­fahtgkett usw. unser U rteil verzerren und daB unsere Über­zeugungen oder Gründe auch einem erneuten Diskurs unter g~_nügend Gutwilligen und Urteilsfahigen standhalten konnten .. Im Kons~ns vergewissern wir uns, daB wir den Boden emer gememsamen Welt oder einer gemeinsamen Sprache nicht verlassen haben oder daB, wenn wir ihn ver­la~sen ~abe~ - und das geschieht ja gewissermaBen immer · wteder m Wtssenschaft und Philosophie-, wir es mit Grün­de.~ 9etan haben, die eine neue, bessere Gemeinsamkeit mo.ghch mache~. ~u~ kann man ~iesen internen Bezug zwtsc~en der ?ul.ugkett von Wahrhettsansprüchen und der Gemems~m~ett·emer Welt verschieden auffassen; die Kon­senstheorte 1st der Versuch, ihn nicht-relativistisch zu fas-

fügt an der betref~enden Stel!e allerdings einschrankend hinzu, daB die Kon~ens- bzw: Drskurstheone der Wahrheit zugleich »die klare Unter-scherdung zwrschen Bedeutung und Kriterium (untergrabt) a a 0 S. 228. <<, • • .,

I Briefliche Mitteilung.

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sen. Um das deutlich zu machen, mõchte ich zwischen zwei Formen der Gemeinsamkeit oder des Einversüindnisses in der Sprache unteischeiden. Die erste Form liegt vor in der immer schon vorauszusetzenden Gemeinsamkeit einer Sprache. Was diese Gemeinsamkeit betrifft, so kõnnen wir - mit Wittgenstein - sagen, daB das, was »richtig« und »falsch« bei der Verwendung von Worten oder auch hin­sichtlich unserer Urteile heiBt, letztlich durch eine intersub­jektive Praxis festgelegt ist. In gewissem Sinn ist daher die Übereinstimmung der erwachsenen Sprecher einer Sprache das Kriterium dafür, ob ein Wort richtig oder falsch ver­wendet oder ob eine Behauptung wahr ist. >>Zur Verst::indi­gung durch die Sprache gehõrt«, wie Wittgenstein sagt, »nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, son­dem (so .seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen.« 1 Hier geht es aber nicht um argumentativ herbeigeführte Konsense; sondem um ein Einverstandnis in der Sprache, welches Argumentationen überhaupt erst mõglich macht. Freilich geschieht es immer wieder, daB sol­che »naturwüchsigen« Einverstandnisse in der Sprache mit Gründen hinterfragt werden; die Wissenschaft etwa lieBe sich in bestimmten Hinsichten als ein ProzeB fortlaufender, im Medium der Argumentation stattfindender Sprachkritik auffassen. Dies legt den Gedanken nahe, daB im Prinzip an die Stelle »naturwüchsiger« Einverstandnisse in der Sprache ein diskursiv herbeigeführtes Einverstandn,is über di e Ange­messenheit sprachlicher Regeln und Grundbegriffe, kurz, über die Angemessenheit unserer sprachlichen Weltausle­gung treten kõnnte. Habermas hat (in » Wahrheitstheo­rien«) in der Tat eine solche diskursive Form der Sprachver­anderung und Sprachkritik als mõglich und in gewissem Sinne sogar notwendig ins Auge gefaBt: Von wahren Aussa­gen im vollen Sinne kõnnen wir, so Habermas, erst dort re­den, wo auch die Sprache, in der wir solche Aussagen

I Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Schriften Bd. I, S. 389 (§ 242).

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formulieren, »angemessen« ist1; von einer »angemessenen«

Sprache aber kõnnten wir erst dort reden, wo auch die Sprachentwicklung sich im Medium der Argumentation vollziehen würde, das heiBt also dort, wo der rationale Kon­sens über Geltungsansprüche einen rationalen Konsens über di e Angemessenheit der Sprache einschlieBt. • Auf diese Weise würde also das von Wittgenstein analysierte, je vor­gangige Einverstandnis in der Sprache gleichsam in den Sog der diskursiven Revision unserer Überzeugungen hineinge­zogen. Erst durch eine solche Annahme wird die Pointe der · Konsenstheorie ganz deutlich: Wenn man namlich zuge­steht, daB auf einer ersten Stufe das Einverstandnis der Spre­cher einer Sprache eine Art vorlaufig letzter MaBstab der Wahrheit oder Falschheit von Aussagen ist, und wenn man zugesteht, daB eine diskursive Revision solcher Einver­standnisse im Prinzip mõglich ist, so liegt es nahe zu sagen, daB zwar nicht der faktische, wohl aber ein rationaler, d. h. diskursiv herbeigeführter Konsens eine letzte Instanz der Vergewisserung der Wahrheit unserer Geltungs:;J.nsprüche ist. Zugleich wird deutlich, weshalb die Rationalitat eines solchen Konsenses nur noch formal charakterisiert werden darf. Es scheint namlich nur zwei Mõglichkeiten zu geben: Entwederwir sagen, daB jede Sprache, jede Lebensform ihre eigenen MaBstabe von »wahr« und ,falsch« in sich enthalt, und zwar so, daB die Frage nach der Wahrheit oder Falsch­heit dieser MaBstabe sich nicht mehr sinnvoll stellen laBt­dies ist die Antwort, die auf der Ebene des Kulturvergleichs Peter Winch, auf der Ebene des Theorienvergleichs Thomas Kuhn gegeben hat. Oderwir halten, gegen diese tiefbeunru­higende These des Relativismus, an der Unbedingtheit von Wahrheitsansprüchen fest und daher an der Mõglichkeit ei­nes MaBstabs, der jede partikulare Sprache und jede parti­kulare Lebensform übergreift. Die Gegenthese zur Position des Relativismus ware also, daB nicht di e faktische Überein-

I »Wahrheitstheorien<<, a.a.O., S. 244. 2 A.a.O., S. 249.

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stimmung der Sprecher einer Sprache die letzten MaBstabe von Wahrheit und Falschheit liefert, sondem nur diejenige Überein~timmung, die sich àls rationaler Konsens deuten laBt. Und hier darf nun, was >>rational« heiBen soU, ersicht­lich nicht wieder durch die inhaldichen RationalitatsmaB­stabe einer bestimmten Kultur erklart werden; es muB vielmehr durch rein formal e Merkmale definiert werden. Es liegt also in der Konsequenz ihres anti-relativistischen An­satzes, wenn die Konsenstheorie der Wahrheit die Struktur­merkmale einer idealen Sprechsituation zum Definiens der Rationalitat von Konsensen macht. (4) Nun gilt aber für die von Habermas neuerlich betonte >>Zeige-<< oder Vergewisserungsfunktion rationaler. Kon­sense das gleiche, was ich bereits über ihre kriteriale Funk­tion gesagt habe. Die Tatsache namlich, daB wir uns durch die diskursive Herbeiführung von Konsensen vergewissern konnen, daB unsere Gründe w1rklich gute Gründe sind, an­dert nichts daran, daB jeder Konsens unter Vorbehalt steht. Wenn aber daraus, daB Gründe sich uns in einem endlichen ràtionalen Konsens als hinreichend gute Gründe zeigen, nich~ notwendigerweise folgt, daB sie sich auch auf Dauer als hinreichend gute Gründe bewahren werden, dann kann auch die unbestreitbare Vergewisserungsfunktion von Kon­sensen die schwere Bürde einer Konsenstheorie der Wahr­heit nicht tragen. Als Ausweg aus dieser Schwierigkeit legt sich der Versuch nahe, die kriteriale oder auch die Vergewisserungsfunktion von Konseilsen einem infiniten rationalen Konsens zu über­tragen.' Ein infiniter rationaler· Konsens ware ja ein Kon-

r Dies entsprache eher dem Ansatz Apels. Für besonders pragmmte For­mulierungen vgl. Kari-Otto Apel, »Szientismus oder transzendentale Her­meneutik<<, in: ders.; Transformation der Philosophie, Bd. n, Frankfurt 1973, z. B. S. 192, 207. Allerdings unterscheiden sich die Ansatze von Apel und Habermas zum Teil nur in ihren Ausgangspunkten und Akzentset­zungen; was die Resultate betrifft, so ist die Differenz nicht immer ganz leicht zu bestimmen. Apel beruft sich z. B. auf Habermas, wenn e r di e Not­wendigkeit der Unterstellung einer »idealen Sprechsituation« ais Bedin-

sens, der niemals mit Gründen in Frage gestellt wird. In die­sem Falle entfallt daher das Problem, das sich daraus ergibt, daB jeder endliche rationale Konsens unter Vorbehalt steht und daher kein Explikat für >> Wahrheit« sein kann. Dies Problem lieBe sich in der Habermasschen Version der Kon­senstheorie- wie ich oben gezeigt habe- nur dadurch um-

gung der Moglichkeit des Argumentierens postuliert. (Vgl. etwa k.-0. AP,el, ••Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen<i, in: K.-0. Apel (Hrsg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt 1976, S. 121). Umgekehrt ist natürlich für Haber­mas der rationale Konsens (also ein unter Bedingungen einer idealen Spechsituation erzielter Konsens) eo ipso auch ein moglichcr infiniter Kon­sens. (V gl. » Wahrheitstheorien«, a.a.O., S. 2 39: » ... der Sinn von Wahrheit ist nicht der Umstand, dall überhaupt ein Konsens erreicht wird, sondem: dall jederzeit und überall, wenn wir nur in einen Diskurs eintreten, ein Konsens unter Bedingungen erzielt werden kann, di e diesen ais begründe­ten Konsensus auszeichnen.<<) Dall ich die (für Habermas selbstverstandli­che) Bedingung der infiniten Wiederholbarkeit rationaler Konsense nicht von vomherein in meinen Überlegungen berücksichtigt habe, hat einen einfachen Grund: Solange das Vorliegen der formalen Bedingungen einer idealen Sprechsituation ais Kriterium der Wahrheit von Konsensen ver­'standen wird (vgl. »Wahrheitstheorien<<, a.a.O., S. 239f.), ist die Mõglich­keit eines infiniten Konsenscs bloll eine Folge der (durch formale Bedin­gungen definierten) R,ationalitat von Konsensen. Das eigentliche Explikat des Wahrheitsbegriffs ist also nicht der infinite, sondem der rationale Kon­sens. Hiergegen richteten sich zunachst meine Einwa~de: Ich babe zu zei­gen versucht, dall die - formal charakterisierten - Strukturmerkmale idealer Sprechsituationen kein geeignetes Wahrheitskriterium darstellen konnen; entweder ist das Kriterium falsch oder es Hiuft leer, ist also ·kein Kriterium. Wenn man nun den von Habermas unterstellten Zusammen­hang zwischen der Rationalitat und der infiniten Wiederholbarkeit von Konsensen berücksichtigt, wird deutlich, dall die ideale Sprechsituation von Anfang an eher im Sinne eines leerlaufenden Kriteriums konzipiert ist. Wenn namlich aus der Rationalitat von Konsensen rein analytisch ihre infi­nite Wiederholbarkeit folgt, so ergibt sich ebenfalls rein analytisch, dall ein Konsens, der sich nachtriiglich als falsch, ais nicht kritikfest erweist, nicht unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation zustandegekommen sein kann (vgl. » Wahrheitstheorien«, a.a.O., S. 257f.). Dann ware aber in Wirk­lichkeit die Permanenz von Konsensen das Kriterium ihrer Rationalitat (ih­rer Wahrheit). Dies ist die zweite Variante der Konsenstheorie, die eher den Grundintuitionen von Ape1 entspricht.

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gehen, daB eine zureichende Urteilsfahigkeit aller Betei­ligten unter die Strukturmerkmale einer idealen Sprechsi­tuation aufgenommen würde. Dann lieBen sich ideale Sprechsituationen jedoch nicht mehr durch rein formale Strukturbeschreibungen charakterisieren, gerade dies ist aber notwendig, wenn der Begriff eines >>Konsenses unter

· Bedingungen einer idealen Sprechsituation« ein gehaltvolles Explikat für >> Wahrheit« sein soll. Wenn man beim Kon­sensbegriff der Wahrheit dagegen an einen infiniten rationa­len Konsens denkt, so entfallt dies Problem: Die Idee eines infiniten rationalen Konsenses enthalt ja mit der Unterstel­lung der Rationalitat zugleich die Unterstellung, daB keine neuen Argumente mehr auftauchen werden (und natürlich keine unterdrückt werden). Nun kann aber ein infiniter rationaler Konsens nicht nur keine kriteriale, sondem strenggenommen auch keine Ver­gewisserungsfunktion mehr haben: Er ist kein >>Gegenstand moglicher Erfahrung«, sondem eine Idee, die über die Grenzen mogliéher Erfahrung hinausweist. Damit andert sich áuch der mogliche Sinn einer Konsenstheorie der Wahrheit: wenn nicht jeder rationale Konsens, s.ondem nur ein infiniter rationaler Konsens wahrheitsverbürgend sein soll, dann verliert die Theorie wiederum jenen explikativen Gehalt, d~m Habermas ihr geben mochte. Das konnen wir uns anhand von Habermas' neuester Darstellung des Grundgedankens der Konsenstheorie klarmachen. 1 »Der Kem der Diskurstheorie der Wahrheit<<, so heiBt es bei Ha­bermas jetzt, >>laBt sich mit Hilfe von drei Grundbegriffen formulieren:

Geltungsbedingungen (di e erfüllt sind, wenn eine Auílerung gilt), Gel­tungsansprüche (die Sprechcr mit ihren Auílerungen für deren Gültigkeit erheben) und Einlosung eines Geltungsanspruchs (im Rahmen eines Dis­kurses, der den Bedingungen einer idcalen Sprechsituation hinreichend an­genahert ist, so daí! ein unter den Teilnehmern erzielter Konsens einzig

I >>Ein Interview mit der New Left Review«, a.a.O., S. 227ff.

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durch den Zwang des besseren Arguments herbeigeführt werden kann und in diesem Sinne >rational motiviert< ist).<< 1

Die Pointe der Konsenstheorie besteht nun dariri, daB sie, was >>Erfüllung von Geltungsbedingungen« heiBt, mit Hilfe der beiden anderen Grundbegriffe erlautert:

Eine A~Berung ist gültig, wenn ihre Gültigkeitsbedingungen erfüllt sind. Nun lassen sich aber ... di e Erfüllung o der Nichterfüllung von Geltungsbe­dingungen nur mit Hilfe der argumentativen Einliisung eines entsprechen­den Geltungsanspruchs feststellen. Deshalb mui! der Sinn der Erfüllungvon Geltungsbedingungen anhand des Verfahrens für die Einliisung entspre­chender Geltungsansprüche erlautert werden. Di e Diskursethik der Wahr-

. heit unternimmt einen solchen Erlauterungsversuch, indem sie in Begriffen allgemeiner pragmatischer Voraussetzungen für die diskursive Herbeifüh­rung eines rational motivierten Einverstandnisses erklart, was es heií!t, einen Geltungsanspruch einzuliisen. Diese Wahrheitstheorie leistet nur eine Be­deutungsexplikation, si e gibt kein Kriterium an; zugleich untergrabtsie frei­lich die klare Unterscheidung zwischen Bedeutung und Kriterium.<< 2

Versteht man die >>Einlüsung« von Geltungsansprüchen hier im Sinne der argumentativen Herbeiführung eines Konsenses unter Bedingungen einer idealen Sprechsitua­tion, so bleiben die oben .~argelegten Einwande gegen die Konsenstheorie in Kraft. Ubertragt man dagegen die Funk­tion der Wahrheitsverbürgung einem infiniten rationalen Konsens, so kann von einer Einlosung von Geltungsansprü­chen strenggenommen überhaupt nicht mehr die Rede sein; hierdurch würde sich zugleich der explikative Zusammen­hang der drei Grundbegriffe, wie Haberma:s ihn kon­struiert, auflosen. Diese Schwierigkeit laBt sich aber nicht dadurch umgehen, daB man den partikularen ( erfahrbaren) Konsens gleichsam mit dem infiniten Konsens >>kurz­schlieBt«. Wenn man namlich sagt, daB ein rationaler Kon­sens- als rationaler- per definitionem ein infinit wiederhol­barer Konsens ist, dann macht man in Wirklichkeit nicht den infiniten Konsens, sondem den Konsens unter Bedin­gungen einer idealen Sprechsituation zur wahrheitsverbür-

I A.a.O., S. 227. 2 A.a.O., S. 228.

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. genden Instanz, und alle Einwande bleiben in Kraft, die ich gegen diese Version der Konsenstheorie angeführt habe. Das heiíh: Die Moglichkeit eines infiniten Konsenses· kann nicht allein daraus folgen, daB ein Konsens unter den (for­mal charakterisierten) Bedingungen einer idealen Sprechsi­tuation herbeigeführt worden ist - genau dies war ja die Pointe meiner Einwande. Die Moglichkeit eines infiniten Konsenses zu unterstellen bedeutet in Wirklichkeit mehr­oder anderes - als die Rationalitat eines partikularen Kon­s.enses im Sinne der formalen Charakterisierungen einer idealen Sprechsituation zu unterstellen. Dieses >>Mehr« hangt damit zusammen, daB, um es noch einmal zu sagen, der Begriff eines mit Argumenten herbeigeführten Konsen­ses sinnvollerweise nicht gleichgesetzt werden kann mit dem Begriff eines Konsenses, gegen den auch in aller Zu­kunft keine triftigen Argumente werden vorgebracht wer­den konnen. Andernfalls müBte man namlich die Bedin­gung, daB alle moglichen Argumente berücksichtigt worden sind, unter die Rationalitatsbedingungen endlicher Kon­sense aufnehmen. Dies ist aber unmoglich, es sei denn, man

· machte di e Moglichkeit eines infiniten Konsenses zum Kri­terium dafür, daB die Rationalitatsbedingungen endlicher Konsense erfüllt sind. Dann lieBen sich diese ·aber nicht mehr formal charakterisieren - namlich durch das Verfah­ren der Argumentation und die Strukturmerkmale einer idealen Sprechsituation. Wie sich jetzt zeigt, konnte man zwischen einer starkeren und einer schwacheren Version der Konsenstheorie der Wahrheit unterscheiden. Die schwachere Version ist dieje­nige, die einen infiniten rationalen Konsens zur wahrheits­verbürgenden Instanz macht. Die beiden Versionen der Konsenstheorie lassen sich deshalb nicht miteinander zur Deckung bringen, weil sich aus der formalen Charakterisie­rung idealer Diskursbedingungen keine Garantien dafür ab­leiten lassen, daB eín unter solchen Bedingungen erzielter Konsens einer infiniten diskursiven Überprüfung standhal-

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ten wird. Aber konnte es nicht sein, daB sich auf dem Um­weg über die schwachere Version der· Konsenstheorie - die sich, wie gesagt, nicht mehr kriterial verstehen laBt - die starken Hintergrundannahmen rechtfertigen lassen, die der diskursethischen Reformulierung des Universalisierungs­grundsatzes zugrunde liegen? Dieser Frage mochte ich im nachsten Abschnitt nachgehen.

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Ich habe es bisher vermieden, di e beiden oben unterschiede­nen Versionen der Konsenstheorie eindeutig mit den Na­men Habermas und Apel zu verbinden; Der Grund hierfür ist, daB erstens beide Autoren bis zu einem gewissen Grade beide Versionen der Konsenstheorie in Anspruch nehmen und daB zweitens Apels Version der Konsenstheorie an ei­nem wesentlichen Punkte über das hinausgeht, was ich hier als die >>schwachere« Version der Konsenstheorie bezeich­net habe. Diese schwachere Version der Konsenstheorie lieBe sich verstehen als die Erlauterung des internen Zusam­menhangs zwischen der Idee der Wahrheit und der Idee ei­nes moglichen allgemeinen, begründeten Einverstandnisses. Diese beiden Ideen, so konnte man sagen, erlautern einan­der wechselseitig: Zur Idee der Wahrheit gehort es, daB es gegen das, was wir jetzt als wahr einsehen, auch in Zukunft keine triftigen Gegenargumente geben wird, und dies schlieBt ein, daB auch unsere Art, über die Welt zu reden und unsere Probleme zu formulieren, nicht künftig mit gu­ten Argumenten in Frage gestellt werden wird. Andererseits ist schwer zu sehen, in welchem Sinne ein infiniter begrün­deter Konsens nicht auch wahr genannt werden sollte; je­denfalls konnte man argumentieren, daB dies nur denkbar ware, wenn wir den problematischen Begriff einer nicht er­kennbaren oder sprachlich nicht faBbaren Wahrheit einfüh­ren würden.

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Apels Version der Konsenstheorie unterscheidet sich nun von dieser >>schwacheren« Version der Konsenstheorie darin, daB er die Idee eines infiniten (hegründeten) Konsen­ses durch di e Idee einer unhe'grenzten idealen Kommunika­tionsgemeinschaft erlautert. Di e Idee der idealen Kommuni­kationsgemeinschaft hezeichnet hei Apel - ahnlich wie die Idee der idealen Sprechsituation hei Hahermas.- zugleich eine für Argumentationssituationen konstitutive notwen­dige Unterstellung und ein futurisch gemeintes Ideal hzw. eine regulative Idee. In heiden Fallen kennzeichnet di e idea­lisierende Unterstellung- hzw. Antizipation- zugleich die Bedingungen, die die Rationalitat moglicher Konsense ga­rantieren. Nun hatten wir uns aher erstens klargemacht, daB die Idealitat von Diskurshedingungen. die Wahrheit von Konsensen so lange nicht garantieren kann, als diese Kon­sense partikular- d. h. endlich und erfahrhar- sind, und wir hatten uns zweitens klargemacht, daB wir die Rationalitat von Konsensen faktisch immer nach MaBgahe der Gründe heurteilen müssen, auf denen sie heruhen. I-lieraus ergiht sich aher, daB die Idealisierung im Begriff der idealen Kom­munikationsgemeinschaft gleichsam leerlauft: Sie tragt nichts hei zu unserem Verstandnis dessen, was ein hegrün­deter Konsens - oder auch ein infiniter hegründeter Kon­sens - ist: Andererseits suggeriert aher der Begriff einer idealen Kommunikationsgemeinschaft einen zukünftigen Ort endgültiger und ahsoluter Wahrheit, er suggeriert die Idee einer letzten Sprache, in der nicht nur die Wissenschaft an ihr Ende gekommen, sondem auch die Menschheit sich selhst vollkommen transparent geworden ware. GewiB: für Apel handelt es sich hier nur um regula tive Ideen; für ihn hezeichnen diese regulativen Ideen aher ideale Grenzwerte, die zu realisieren - wenn auch vielleicht nur approximativ - der Menschheit zugleich aufgegehen und auch moglich ist. 1 Aus Prasuppositionen des Sprechens und Argumentie-

1 Apel sagt freilich auch, daB es sich um eine regulative Idee handelt,

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rens sind Ideale der Wirklichkeit geworden, auf deren Rea­lisierung wir- und dies ist hereits der Kern der Diskursethik - als Sprecher und Argumentierende immer schon ver­pflichtet sind. DaB an dieser Konstruktion etwas nicht stimmen kann, zeigte sich hisher nur an der eigentümlichen Redundanz der idealisierenden Begriffshildungen in Hinsicht 01-uf das Wahr­heitsprohlem. Nun konnte man, wie ich meine, durchaus zugestehen, daB diese idealisierenden Begriffshildungen, wie Apel und Hahermas es hehaupten, an unvermeidliche idealisierende Prasuppositionen des Sprechens und Argu­mentierens anknüpfen; ich vermute aher, daB sie solche idealisierende Prasuppositionen in irreführender Weise auf­nehmen und interpretieren. Es laBt sich ja leicht zugestehen, daB die Antizipation eines infini~en Konsenses - wie auch di eU nterstellung einer >> idealen Sprechsituation «-in jedem diskursiv herheigeführten Konsens wirksam ist. Unver­meidliche U nterstellungen dieser Art werden aher von der Konsenstheorie der Wahrheit, so scheint es mir, in ahnlicher Weise hypostasiert, wie die ehenso unvermeidliche Unter­stellung, daB unsere Worte und Satze einen definitiven in­tersuhjektiven Sinn hahen, von der formalen Semantik hy­postasiert wird. Solche unvermeidlichen Unterstellungen des Sprechens und Argumentierens führen, wie ich denke, einen quasi·transzendentalen, einen dialektischen Schein mit sich; in ihnen vergessen wir gleichsam den Zeitkern sprachlicher Bedeutungen und sprachlich formulierharer Einsichten, dessen wir uns reflexiv vergewissern konnen. Nur wo hermeneutische Prohleme und Prohleme des sprachlichen Ausdrucks marginal werden- wie z. B. in.der mathematischen Physik -, konnen wir di e unvermeidlichen Unterstellungen des Sprechens und Argumentierens im die niemals >>vollig realisiert werden<< kann. Vgl. K.-0. Apei/D. Boh­ler/G. Kadelbach, Funkkolleg Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge 2,

Frankfurt 1984, S. 136. Vgl. auch »Kant, Hegel und das aktuelle Problem der normativen Grundlagen von Moral und Recht<<, in: Arno Werner, (Hrsg.), Filosofi och Kultur, Lund 1982, S. 85.

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Sinne von Apel und Habermas gewissermaBen realistisch verstehen, nur dort macht namlich die Icl.ee einer >>letzten« Sprache, die ja in der eines infiniten Konsenses einer idealen Kommunikationsgemeinschaft enthalten ist, Sinn, zumin­dest als eine regulative Idee.' Nicht zufallig hat Peirce ent­sprechende Überlegungen, wie sie dann insbesondere Apels Version der Konsenstheorie inspiriert haben, vor allem im Hinblick auf den physikalischen Erkenntnisfortschritt ent­wickelt. Zu der von Peirce angeregten sprachpragmatischen Reformulierung der Transzendentalphilosophie gehõrt die Interpretation .des Wissenschaftsfortschritts als eines Pro­zesses fortlaufender Sprachkritik unter der regulativen Idee einer letzten, einer >>richtigen« Sprache (bzw. eines infiniten Konsenses). Nun scheint mir aber, daB eine sprachpragma­tisch aufgeklarte Transzendentalphilosophie, die, wie dieje­nige Apels, Peirce' regulatives Prinzip eines infiniten Kon­senses der Forschergemeinschaft zur Idee einer idealen

I In diesen Zusammenhang gehoren die Überlegungen C. F. von Weiz­sackers über eine mêigliche EirÍheit der Physik, die zugleich ihre Vollen­dung ware. (Vgl. Carl Friedrich von Weizsacker, Die Einheit der Jl(.atur, München I971, insbes. S. 207ff.) Von Weizsackerverficht mit seinen Uber­legungen freilich die anspruchsvollere Hypothese, daB sich alie Grundg~­setze einer vollendeten Physik am Ende aus der Analyse der Bedingungen der Moglichkeit von Erfahrung ergeben müBten. (Vgl. a.a.O., s: 217) In einer anderen Form taucht die Idee einer >>letzten<<, das heiBt: angemesse­nen Sprache der Physik heute in der Tradition des amerikanischen Pragma­tismus auf, am subtilsten ausgearbeitet in Wilfrid Sellars' Philosophie eines »wissenschaftlichen Realismus<<. Ahnlich wie schon fü,r Peirce stellt sich für· Sellars der Wissenschaftsfortschritt ais ein ProzeB fortlaufender Sprachkritik dar; » Wirklichkeit<< ware nach dieser Konzeption das Korre­lat der schlieB!ich gefundencn wahren physikalischen Theorien. (Vgl. Wil­frid Sellars, .The Language ofTheories<<, in: ders., Science, Perc~ption and Reality, London I963, insbes. S. II9, 126. Dcrs., »Scientific Realism or Ire­nic Instrumentalism. Comments on J. J. C. Smart<<, in: R. S. Cohen u. M. W. Wartofsky (Hrsg.), Boston Studies in the Philosophy of Science, Bd. 11, New York I965, insbes. S. 204. Ders., »Counterfactuals, Disposi­tions, and the Causal Modalities<<, in: H. Feigl, M. Scriven u. G. Maxwell (Hrsg.), MinnesotaStudies in the Philosophy ofScience, Bd. u, Minneapolis I958; insbes. S. 263. Ders., »Theoretical Explanation<<, in: ders., Philoso­phical Perspectives, Springfield/Ill. I967.

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Kommunikationsgemeinschaft zu >>verallgemeinern« sucht, letztlich im Bann eines objektivistischen Erkenntnis- und Erfahrungsbegriffs verbleiben muB, und zwar deshalb, weil sie den dialektischen Schein nicht durchschaüt, der den idealisierenden · Unterstellungen sprachlicher Verstandi­gung anhaftet. Der Schein besteht nicht darin, daB diese Un­terstellu~gen sich immer wieder als falsch erweisen (wenn unsere AuBerungen sich als unverstandlich oder wenn Kommunikationssituationen sich als verzerrt erweisen), sondem darin, daB sie sich uns als Ideale der Wirklichkeit aufdrangen und gerade hierin die Geschichtlichkeit und Unvollendbarkeit des sprachlichen Sinns verdecken. Die sprachpragmatisch transformierte Transzendentalphiloso­phie kommuniziert insgeheim noch mit der szientistischen Tradition der europaischen Aufklarung, die ja in der Tran­szendentalphilosophie Kants einmal ihren klassischen Aus­druck gefunden hat. Auch in ihrer sprachpragmatischen Gestalt bleibt die Transzendentalphilosophie gleichsam noch verhakt in Denkfiguren, die zwar nicht am Erkennt­nisfortschritt der Physik abgelesen wurden, aber doch ge­wissermaBen auf ihn zugeschnitten sind. Diese zugegebe­nermaBen starke These mõchte ich an einem alteren Text Apels, der bedeutenden Abhandlung über >>Szientismus und transzendentale Hermeneutik<< ', erlautern. In dieser Abhandlung versucht Apel zu zeigen, daB Peirce' Interpretation der Wahrheit als der >>ultimate opinion« einer »indefinite community of investigators« 2 sich verallgemei­nern laBt zum 'regulativen Prinzip »einer sich selbst in the long run theoretisch-praktisch realisierenden unbegrenzten lnterpretaÚ.onsgemeinschaft<<.J Apel hatte bekanntlich den Konsens einer unbegrenzten Experimentier- und Interpre­tationsgemeinschaft der Forscher im Sinne von Peirce als

I In: Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. u, a.a.O., S. I78 ff. 2 Vgl. K.-0. Apel, »Von Kant zu Peirce<<, a.a.O., S. I73.

3 »Szientismus oder transzendentale Hermcneutik<<, a.a.O., S. 217.

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den »hõchsten Punkt« einer sprachpragmatisch transfor­mierten Transzendentalphilosophie interpretiert, der ge­wissermaBen die Stelle des transzendentalen >>BewuBtseins überhaupt« als des hõchsten Punktes der Kantischen Tran­szendentalphilosophie einnimmt.' Peirce' sinnkritisch be­gründeter und forschungslogisch >>dynamisierter«. U niver­salienrealismus sieht die Objektiviüitsgarantie der Erkennt­nis nicht in einem in der Einheit des transzendentalen Ich begründeten kategorialen synthetischen Apriori, sondem in der Logik eines Forschungsprozesses, der, im Zusammen­spiel von Abduktion, Induktion und Deduktion, erfinde­risch und seibstkorrektiv alies Falsche mit der Zeit eliminie­ren muB. Wahr sind diejenigen Überzeugungen, die sich in diesem selbstkorrektiven ProzeB auf Dauer intersubjektiv als kritikfest etablieren, und Wirklichkeit ist das Korrelat solcher wahrer Überzeugungen. ·

>>The real. .. is that which, sooner or !ater, information and reasoning would finally result in, and which is therefore independent of the vaga­ries of me and you. Thus, the very origin of the conception of reality shows that this cortception essentially involves the notion of a Commu­nity, without definite limits, and capable of a definite increase of know-

legde_.«'

In Anknüpfung an diese frühe Formulierung von Peirce re­sümiert Apel den Witz der Peirceschen Transformation der transzendentalen Logik:

»Mit anderen Worten: Die >ultimate opinion< der >indefinite community of investigators< ist der >hõchste Punkt< der Peirceschen Transformation der >transzendentalen Logik< Kants. In ihm konvergiert das semiotische Postulat einer überindividuellen Einheit der lnterpretation und das for­schungslogische Postulat einer experimentellen Bewahrung in the long run. Das quasi-transzendentale Subjekt dieser postulierten Einheit ist die unbe­grenzte Experimentier-Gemeinschaft, die zugleich unbegrenzte lnterpre­

tations-Gemeinschaft ist.«3

1 Vgl. etwa »Von Kant zu Peirce<<, a.a.O., S. 163 f., 173. 2 Charles Sanders Peirce, Collected Papers, 5. 311, zitiert nach Apel,

a.a.O., S. 173. 3 A.a.O.

An die Stelle einer Begründung synthetischer Grundsatze a priori tritt in dieser dynamisierten Version der Transzen­dentalp?ilosophie der Nachweis der notwendigen Geltung synthettscher Schluflformen, namlich der Abduktion und Induktion, in the long run.

»-(\n die ~telle von Kants >konstitutiven Prinzipien< der Erfahrung werden h1er gew1ssermaBen die >regulativen Prinzipien< gesetzt, wobei aber vor­a~sgesetzt wird, daB die regulativen Prinzipien in the long run sich ais kon­stltutiv erweisen müssen. Diese Verlagerung der Notwendigkeit und Uni­versalitat der Geltu_ng wis.~e~schaftlicher Satze ans Ziel des Forschungspro­ze.sses macht es Pe1rce moghch, Humes Skeptizismus zu vermeiden, ohne m1t Kant auf der Notwendigkeit bzw. Universalitat jetzt gültiger wissen­schaftlicher Satze zu bestehen.«'

In dem Aufsatz »Szientismus oder transzendentale Herme­neutik« versucht Apel nun, diesen futurisch gedachten Wahrheitsbegriff aus dem, wie er selbst bemerkt, szienti­stisch verengten Horizont der Peirceschen Fragestellung' herauszulõsen: er mõchte die Idee des Konsenses einer un­begrenzten Forschergeméinschaft erweitern zur Idee >>einer absoluten Wah~heit der Verstandigung in einer unbegrenz­ten l?terpret~tiOns- und lnteraktionsgemeinschaft«.J Apel e~twtck:It d~es~n Gedanken zunachst in Anknüpfung an dte neo-tdeahsttsche Umdeutung der Peirceschen Semiotik durch J. Royce, versucht dann aber, ihn aus dem idealisti­schen Bezugssystem herauszulõsen und · gegen Einwande von seiten der hermeneutischen Philosophie zu v'erteidigen. ' Gegen Gadamer macht Apel geltend, daB auch für das Feld ?.es Sinnverstehens - also für di e lnterpretation von Texten, ~uBerung~n, Handlungen oder Lebensformen- die regula­tive Idee emer absoluten Wahrheit grundlegend ist.4 Diese I.~ee ~iner absol.u.ten ~ahrheit im Felde der Interpretation laBt stch nun frethch mcht mehr kognitivistisch erlautern ais

1 A.a.O., S. 174. 2 Vgl. »Szientismus oder transzendentale Hermeneutik«, a.a.O., S. 203. 3 A.a.O., S. 217f. 4 Vgl. a.a.O., S. 215.

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die ietzte theoretische Überze~gung einer Forschergemein­schaft, die sich der methodischen Disziplin forschungslogi:­scher Prinzipien unterviirft, sie mu~ vielmehr dem von der Hermeneutik geltend gemachten Moment der Applikation im Verstehen Rechnung tragen, das heiBt aber ietztlich jener Struktur des Verstehens, an der jeder Versuch einer szienti­fischen Reduktion des Sinnverstehens auf ein Phanomen in­nerhaib der Welt objektivierbarer Tatsachen scheitern muB. Es ist ja im übrigen geradezu der Witz von Apeis sprach­pragrilatischer Transformation der Transzendentaiphiloso­phie, daB das Sinnverstehen ais Komplementarphanomen zur >>szientifischen Erkenntnis objektiver Tatsachen« her­vortritt. 1 SoU daher Peirce' futurischer Wahrheitsbegriff auf das Feid des Sinnverstehens übertragen werden, so ist dies nur moglich, wenn an die Stelle der regulativen Idee eines infiniten theoretischen Konsenses die reguiative Idee einer idealen Verstandigungsgemeinschaft tritt; das heiBt, einer >>Unbegrenzten lnterpretations- und Interaktionsgemein­schaft«, die zugleich einen ideaien Grenzwert des Sinnver­stehens bezeichnet, dessen Reaiisierung gieichbedeutend ware mit der >>Beseitigung aller Hindernisse der Verstandi­gung«.' In der Idee der idealen Kommunikationsgemein­schaft konvergieren theoretische und praktische Vernunft im Grenzwert einer ideaien Verstandigungssituation. Die >>absolute Wahrheit<< von Interpretationen kann nur ge­dacht werden im Zusammenháng mit der praktischen Her­beiführung einer solchen idealen Verstandigungssituation; das praktische Moment, das Moment der Applikation im Verstehen notigt dazu, die Wahrheit der Interpretation auf einen gewaltlos und transparent gewordenen Lebenszusam­menhang zu beziehen. Es ist schwer, sich der Faszination dieses Gedankens zu entziehen, der ja in ahniicher Form auch bei Habermas auftaucht: die sprachpragmatische Umdeutung der Tran-

1 A.a.O., S. 201. 2. A.a.O., S. 217.

szendentaiphilosophie ist hier eins geworden mit einer sprachpragmatischen Umdeutung von Adornos Phiioso­phie der Versohnung. Ist aber die Ideaiisierung im Begriff der idealen Kommunikationsgemeinschaft eine sinnvolle Idealisierung? Apei hat, wenngleich in indirekter Weise, den entscheidenden Einwand seibst formuliert. Er weist namiich darauf hin, daB der infinite Konsens der Forscher­gemeinschaft bei Peirce eine Neutraiisierung des Verstandi­gungsproblems zur Voraussetzung hat: die »ietzte« Sprache der Physik, das Korrelat der ultimate opinion, laBt sich nur denken ais éine Sprache, die sich von den Bedingungen einer hermeneutischen Sinnvermittlung emanzipiert hatte. Peirce' pragmatische Maxime der Sinnkiarung zielt auf die­sen Grenzfall ab, sie bezeichnet namiich den Versuch,

>>allen Sinn auf Operationen und zugeordnete Erfahrungen zu beziehen, die jedes einsame Subjekt unabhangig von seiner geschichtlichen Interak­tion mit anderen jederzeit machen kann und die insofern a priori intersub­jektiv und d. h. zugleich: objektiv sind. Darin liegt das für jede progressive empirisch-analytische Wissenschaft (>Science<) grundlegende Bestreben, die intersubjektive Verstandigung durch eine letzte Verstandigung für die Zukunft überflüssig zu machen und dadurch die Bedingungen der Mi:ig­lichkeit und Gültigkeit logisch und empirisch überprüfbarer Theorien ein für allemal herzustellen. (Das Ideal dieser letzten metaszientifischen Ver­standigung ware die einmalige Ersetzung der geschichtlich gewordenen Umgangssprache einschlieB!ich der auf ihr erwachsenen experimentell be­wahrten Wissénschaftssprache durch eine universelle Kalkülsprache, die zugleich garantiert widerspruchsfrei und experimentell-pragmatisch an­wendbar ware- der ursprüngliche Traum des logischen Empirismus.)<< 1

Apel spricht hier kiar aus, daB die Idee eines >>unbegrenzten moglichen FortschrittS<< 2 der Wissenschaft unter der reguia­tiven ·Idee eines ietzten Konsenses der Forschergemein­schaft, einer ietzten Sprache der Physik, bei Peirce intern zusammenhangt mit der Konzeption der Fórschergemein­schaft gieichsam ais eines Singuiars im Plural; die ultimate opinion wird in einer Sprache formuliert sein, die deshalb keine Probieme der Sinnklarung, keine Probleme der Ver-

1 A.a.O., S. 211f. 2 Vgl. a.a.O., S. 215.

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standigung mehr aufwirft, weii in ihr aller Sino auf Opera­tionen und Erfahrungen bezogen ist, »die jedes einsame Subjekt unabhangig von seiner geschichtlichen Interaktion jederzeit machen kann«. Nur aus diesem Grunde kann die unbegrenzte Gemeinschaft der Forscher die Rolle des tran­szendentaien Subjekts übernehmen; der Fortschritt der Wissenschaft laíh sich verstehen ais das Werden dieses transzendentaien Subjekts. Ich will sagen: Bei Peirce handelt es sich um eine Transfor­mation der Transzendentaiphiiosophie gerade deshaib, weii am »hochsten Punkt<< dieser Philosophie die Sprach­Iichkeit der Vernunft, wie sie von der transzendentaien Hermeneutik gegen Kant geltend gemacht wird, weggear­beitet ware. Oder, weniger miBverstandiich ausgedrückt: am hochsten Punkt dieser Phiiosophie hatte die Sprache der Wissenschaft jenen posthermeneutischen Zustand er­reicht, der, wie Apei es formuliert, der >>ursprüngiiche Traum des Iogischen Empirismus« war. Die Ideaiisierung, die hier im Spiei ist, betrifft nicht die (pragmatischen) Strukturen der Kómmunikation, sondem die (zeitentho­bene) lntersubjektivitat sprachiicher Bedeutungen. Das ~?tscheidende Probiem Iiegt daher in dem unauffalligen Ubergang von der Idee eines infiniten Konsenses der For­scher zur Idee einer ideaien Kommunikationsgemeinschaft ais dem Ort einer absoiuten Wahrheit der lnterpretation. Sollen wir hier auch an eine >>Ietzte« Sprache denken, in der etwa der Wahrheitsgehalt aller phiiosophischen Texte in ungetrübter Prasenz verfügbar geworden ware? Dies ware die Idee einer ideaien Verstandigung im Sinne des Verstan­digtseins; eines Verstandigtseins, durch welches die Men­schen der Mühe einer immer wieder erneuten Aneignung phiiosophischer oder praktischer Wahrheiten endiich ent­hoben waren. Oder sollen wir an ideaie Bedingungen der

. Verstandigung denken, Bedingungen aiso, unter denen Verstiãndigun·g und Seibstverstandigung, obgieich immer noch notwendig, doch gieichsam reibungsios vonstatten

gingen? Dies ware di e Idee einer ideaien Verstandigung im Sinne des lmmer-wieder-sich-verstandigen-Konnens-und­Wollens und zugieich, sofern namiich die Konnotation ei­nes infiniten Konsenses erhalten bieiben soll, die Idee eines immer wieder sich erneuernden rationaien Konsenses. lch behaupte nun, daB in Apels Begriff der ideaien Kommuni­kationsgemeinschaft die beiden hier unterschiedenen lnter­pretationen notwendig miteinander verschrankt sind, so daB also, was ais Situation ideaier Verstandigung gemeint ist, sich als Situation jenseits der Notwendigkeit (und der Probieme) sprachiicher Verstandigung enthüllt. Damit ware aber im Begriff der ideaien Kommunikationsgemein­schaft erneut die konstitutive Piuraiitat der Zeichenbenut­zer aufgehoben zugunsten der Singuiaritat eines nun auch praktisch-hermeneutisch mit sich verstandigten transzen­dentaien Subjekts, eines Subjekts, das ais gewordenes nun gleichsam in der Wahrheit ist. Zur Erlauterung meiner These mochte ich versuchen, den Sino der Rede von einer »unbegrenzten Verstandigung« oder einer »idealen Kommunikation« genauer zu fassen. Apei spricht auch von einer »Beseitigung aller Hindernisse der Verstandigung«.' Man konnte zunachst versuchen,

1wie

Apei seibst es geiegentlich naheiegt, die Idealitat von Kom­munikationssitu.ationen im Sinne von Habermas' Bedin­gungen einer idealen Sprechsituation zu verstehen. Nun hatten wir aber bereits gesehen, daB der Begriff einer idea­len Sprechsituation; so wie wir ihn bisher verstanden hat­ten, nicht ausreicht, um die Konvergenz von geiingender Verstandigung und intersubjektiver Gültigkeit zu fassen, die Apei im Begriff einer ideaien Kommunikationsgemein­schaft zu denken versucht. Wenn die ideaie Kommunika-

. tionsgemeinschaft wirkiich ein- wenn auch nur antizipier­ter - Ort absoiuter Wahrheit seio soll, so ist dies nur mogiich, wenn in ihr die Unterstellungen der Verstandiich­keit und Konsensfahigkeit von Geltungsansprüchen, die

1 A.a.O., S. 217.

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jeder Sprecher mit seinen Ã.u~erungen macht, sich bestan­dig als erfüllte Antizipation erweisen. Was das Sinnverste­

. hen betrifft, so folgt dies unmittelbar aus der Idealitat der Verstandigungssituation als solcher, und was die Konsens­fahigkeit von . Geltungsansprüchen betrifft, so ergibt sie sich daraus, da~ im Grenzfall idealer Verstandigung der » Vorgriff auf Vollkommenheit« bei der Interpretation von Texten und Ã.u~erungen nicht mehr an der faktischen Beschranktheit nicht-idealer Verstandigungsverhaltnisse scheitern konnte. Letzteres macht Apel indirekt klar, wenn er das Scheitern des Vorgriffs auf di e » Wahrheit im Sinne eines moglichen consensus omnium.~ bei der Interpretation von Texten der Nicht-Idealitat faktischer Verstandigungs­verhaltnisse anlastet•: das Unwahre ist, hermeneutisch ge­sprochen, das Unverstandliche. Das »im normativen Sinne ideale Sprachspiel einer idealen Kommunikationsgemeinschaft«, das, wie Apel an anderer Stelle sagtJ,

»von jedem, der eine Rege! befolgt- implizit z. B. von dem, der dem An­spruch nach sinnvollhandelt, explizitvon dem, dér argumentiert-, ais reale Moglichkeit des Sprachspiels, an das er anknüpft, antizipiert, u. d. h. ais Bedingung der Moglichkeit und Gültigkeit seines Tuns ais eines sinnvollen Tuns vorausgesetzt<<

wird, bezeichnet daher ideale Bedingungen der Verstandi­gung ebensowohl als das ideale Resultat eines geschichtli­chen Verstandigungsprozesses, das hei~t ein ideales und unbegrenztes Verstandigtsein der Menschen als Flucht­punkt ihrer je aktuellen Verstandigungsbemühungen. Wenn dies aber richtig ist- und ich sehe nicht, wie man diese Konsequenz vermeiden konnte -, dann mü~te di e Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft zugleich die Idee ei­ner idealen, einer letzten Sprache bezeichnen, durch welche die U nterstellung intersubjektiver Verstandlichkeit, di e wir

1 A.a.O., S. 216.

2 A.a.O. S. 216f.

3 K.-0. Apef, »Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache<<, a.a.O., S. 348.

in jeder sprachlichen Ã.u~erung vornehmen, zur jederzeit erfüllten Antizipation geworden ware. Dies ist abér nichts anderes als >>der ursprüngliche Traum des logischen Empi­rismus«, projiziert auf das Bezugssystem einer sprachprag­matischen Philosophie. Die ideale Kommunikationsge­meinschaft ware über lrrtum, Dissens, Nicht-Verstehen und Konflikt hinaus, aber nur um den Preis einer Stillstel­lung der Sprache, eines Absterbens ihrer produktiven Ener­gien, das hei~t aber um den Preis einer Aufhebung der sprachlich-geschichtlichen Lebensform der Menschen. An dieser Stelle zeigt sich die tiefe Zweideutigkeit in der Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft. Diese enthüllt sich in dem Ma~e als gleichsinnig mit dem »ur­sprünglichen Traum des logischen Empirismus«, als sie ei­nen Versuch darstellt, die Idee des Absoluten noch einmal als die Idee eines innerweltlichen »hochsten Punktes« aus­zubuchstabieren. Indem Apel das Absolute als Grenzwert eines unendlichen moglichen Fortschritts der theoretischen, praktischen und hermeneutischen Vernunft· zu fassen ver­sucht, verkehrt es sich zum Bild einer Vernunft, die sich von den Bedingun.gen ihrer Sprachlichkeit emanzipiert hatte. Adorno war noch Theologe genug, um zu wissen, daK ein solches Absolutes - das auch für ihn die Bedingung der Moglichkeit von Wahrheit bezeichnete- nur dann als Hori­zont der Vernunftgeschichte gedacht werden konnte, wenn man in ihm zugleich den radikalen Bruch mit der geschicht­lichen Kontinuitat mitdachte: Versohnung ware das ganz Andere der existierenden Vernunft. Apel hingegen, nach­dem er zu Recht die (partielle) Vernünftigkeit der existie­renden Vernunft und die Moglichkeit eines moralischen Fortschritts gegen Adorno eingeklagt hat, la~t sich von die­sem ersten Schritt zu einem zweiten Schritt verführen, der ihn in Wirklichkeit hinter die von Adorno (und Benjamin) erreichten Positionen zurückführt: Apel versucht das Ab­solute, das bei Adorno »schwarz verhüllt« ist, theologisch gesprochen: das Reich Gottes, ins Kontinuum der Ge-

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schichte zurückzuholen. Die messianische Perspektive wird zurückverwandelt in die Perspektive eines mõglichen un­endlichen Fortschritts zum Absoluten. Diese Perspektive hat nun zwar als wissenschaftstheoretische Perspektive im Sinne von Peirce ihr partielles Recht, übertragt man sie aber auf die geschichtlich-moralische Welt im Ganzen, so zeigt sich, daB ihr die versõhnende Kraft fehlt, die sie doch bean­sprucht. Nicht zufallig wird ja sub specie einer vollendeten Physik die Geschichte zur Vorgeschichte, die Individualitat zur Zufalligkeitund die lebendige Sprache zu einem Durch­gangsstadium entwertet; immerhin aber laBt sich eine voll­endete Physik noch als ein Wissen endlicher Menschen denken. Demgegenüber müBte die Verallgemeinerung eines futurisch gemeinten Begriffs absoluter Wahrheit am Grenz­punkt des Absoluten eigentlich auch noch di e geschichtliche Zeit durchstreichen: an der Wahrheit, die vor aller Augen liegt, müBten auch die langst Gestorbenen noch teilhaben, die Versõhnung der Menschen untereinander müBte auch die Toten noch einbeziehen. Dies aber laBt sich, wie Adorno sehr wohl wuBte1

, nur noc~ theologisch denken. Nicht in

I Adornos >>Meditationen ~ur Met'aphysik<< im dritten Teil der Negativen Dialektik sind ein einziger Versuch, das theologische Motiv zu retten, das hei Kant in die Konstruktion des Zusammenhangs zwischen dem Begriff des Intelligihlen und den Postulaten der reinen praktischen Vernunft einge­gangen ist. Zwar versucht Adorno dieses theologische Motiv- materiali­stisch- aus der starren Gegenüherstellung von Immanenz und Transzen­denz herauszuli:isen; indem er es aher wi:irtlich nimmt - namlich ais Hoffnung auf die Auferstehung des Leihes -, verhietet er sich zugleich die hloBe Einehnung der Differenz. Die Zweideutigkeit und das Aporetische von Kants Konstruktion sieht er am Ende ais darin gerechtfertigt, daí! für uns das Ahsolute, wie er an anderer Stelle sagt, »schwarz verhüllt<< ist. »Daí! keine innerwelt!iche Besserung ausreichte, den Toten Gerechtigkeit wider­fahren zu lassen; daB keine ans Unrecht das Todes rührte, hewegt die Kan­tische Vernunft dazu, gegen Vernunft zu hoffen. Das Geheimnis seiner Philosophie ist die Unausdenkharkeit der Verzweiflung. Genotigt von der Konvergenz aller Gedanken in einem Absoluten, helieB er es nicht hei der ahsoluten Grenze zwischen dem Ahsoluten und dem Seienden, die zu zie­hen er nicht minder genotigt war. Er hielt an den metaphysischen Ideen fest und verhot denrioch, vom Gedanken des Ahsoluten, das einmal so sich

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der Idee einer vollendeten Physik, sondem im Bild des Jüngsten Gerichts ist die Idee einer die Menschen und ihre Geschichte betreffenden vollendeten Wahrheit vorgebildet, die offen vor a/ler Augen liegt. Zum Bild des Jüngsten Ge­richts aber gehõrt di e Hoffnung auf Auferstehung und Erlõ­sung. Gericht, Erlõsung und Auferstehung sind Kategorien eines radikalen Bruchs, mit der geschichtlichen Welt; dies gerade macht sie zu theologischen Kategorien. Zwar ware die Gewalt der Bilder, die in diesen Kategorien sich nieder­geschlagen haben, philosophisch zu entratseln, aber diese Entratselung ist in der Philosophie der »idealen Kommuni­kationsgemeinschaft« kaum überzeugender géleistet als in Adornos Philosophie der Versõhnung. 1 Ob namlich das Absolute als Horizont der Vernunftgeschichte im Modus des Bruchs mit der existierenden Vernunft (Adorno) oder ob es als deren immanentes Te los (Apel) gedacht wird: beide Male erweist es sich als nicht einholbar in die Grenzen der geschichtlichen Welt. •

verwirklichen konne wie der ewige Friede, üherzuspringen in den Satz, das Ahsolute seidarum. Seine Philosophie kreist, wie ührigens wohl eine jede, um den ontologischen Gottesheweis. In groBartiger Zweideutigkeit hat er die eigene Position offengelassen; dem Motiv des >MuB ein ewiger V ater wohnen<, das Beethovens Komposition der kantianischen Hymne an die Freude in Kantischem Geist auf dem MuB akzentuierte, stehen die Passa­gen gegenüher, in denen Kant, darin Schopenhauer so nahe, wie dieser spii­ter es reklamierte, die metaphysischen Ideen, inshesondere die der Un­sterhlichkeit, ais gefangen in den Vorstellungen von Raum und Zeit, und. darum ihrerseits heschrankt, verwarf. Verschmiiht hat er den Ühergang zur Affirmation<< (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Gesammelte Schriften 6, Frankfurt I973• S. 378). I Vgl. Albrecht Wellmer, »Adorno, Anwa!t des Nicht-Identischen<<, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt I985, S. I6of. 2 Auch für Kant ist freilich die Idee einer unendlichen Annaherung an ei­nen Stand moralischer Vollkommenheit, und daher letztlich einer unendli­chen Annaherung ans Reich Gottes, eine praktisch notwendige Idee. (V gl. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloflen Vernunft, Werke in sechs Banden, Hrsg. W. Weischedel, Bd. rv, S. 68zf., 697, 7I3, 72of., 786f.) Aber eben eine praktisch notwendige Idee; diese Idee ist eigentlich die eines un­endlichen mi:iglichen Fortschritts »VOn mangelhaftem Guten zum Besse-

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Ich babe Apels Philosophie der idealen Kommunikations­gemeinschaft nicht ohne Absicht mit Adornos Philosophie der Versohnung verglíchen. Das Gemeinsame beider Posi­tionen liegt darin, da6 Apel ebenso wie Adorno glaubt, die ldee der Wahrheit lasse sich nur retten, wenn sie aus dem Bezugspunkt einer versohnten Menschheit- einer »idealen Komrriunikationsgemeinschaft« - gedacht wird. In beiden Fallen bezeichnet die ldee des Absoluten die Bedingung der Moglichkeit von Wahrheit. Für Apel bedeutet dies, da6 ~ie

ren<< (a.a.O., S. 720). Was die >>Grenzwerte<< der moralischen Vollkommen­heit oder auch dcs »ethischen StaateS<< (des »Reichs der Tugend<<) (vgl. a.a.O., S. 75 3) bctrifft, so bleiben Kants Überlegungen auBerordentlich zweideutig; unübersehbar sind namlich Kants Hinweise, daB cine Realisie­rung dieser Grenzwerte von einer endlichen Vernunft und unter Bedingun­gen einer endlichen Vernunft kaum angemessen gedacht werden kann (vgl. etwa a.a.O., S. 718, Anm. 720, 8o2). Das theologische Motiv, von dem ich oben sprach (Anm. 76), kommt gerade an jenen Stellen zur Geltung, wo Kant über die Pflicht zum moralischen Fortschritt hinaus dessen Grenz­werte (die moralische Vollkommenheit oder das Reich Gotte~) ais etwas von endlichen Vernunftwesen Realisiertes zu denken versucht. Kant jeden­falls war sich der Schwierigkeit bewuBt, ein in der Sphare des lntelligiblen beheimatetes Reich dér Zwecke ais empirisch verwitklicht zu denken. Apel versucht ~ich dieser Schwierigkeit zu entziehen, indem er- mit Peirce- di e Kantische Unterscheidung zwischen Noumena und Phainomena und zu­gleich die zwischen regulativen Prinzipien und moralischen Postulaten in Frage stellt (vgl. »Von Kant zu Peirce<<, a.a.O., S. 176). Hierdurch erhalt nun aber die Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft neben ihrer regulativen zugleich eine konstitutive Funktion, nicht bloB für die erripiri­sche Erkenntnis, sondern auch fürs moralische Urteil. Dies bedeutet aber, daB Kants Schwierigkeiten mit der Sphare des lntelligiblen unter Auflõ; sung aller Zweideutigkeiten ins Zentrum der Erkenntnistheorie und Mo­ralphilosophie hineingetragen werden. Der Kern dieser Schwierigkeiten ist darin begründet, daB ein Subjekt im Singular der »hõchste Punkt<< der (Kantischen) Transzendentalphilosophie ist. Mein Einwand gegen Apel ist, daB auch die ideale Kommunikationsgemeinschaft noch die Stelle eines Subjekts im Singular besetzt halt- freilich eines Subjekts, das jetzt ais ein innerweltlich erst Werdendes vorgestellt wird. (A_pel spricht explizit von einem transzendentalen Subjekt, das »Zwar immer schon antizipiert, ande­rerseits aber auch immer noch erst realisiert werden muB<<, vgl. »Sprechakt­theorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Nor­men<<, a.a.O., S. 127).

ldee eines unbegrenzten Fortschritts in Richtung auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft - als dem Ort »abso­luter Wahrheit<< - die einzig mogliche Alternative zu einer relativistisch-historistischen Auflosung des Wahrheitsbe­griffs eroffneu lch glaube nicht, da6 diese Diagnose Apels zutreffend ist. lch mochte vielmehr zeigen, da6 sich das ganze Problem neu darstellt, wenn man nicht, wie Apel dies tut, die Antizipation eines infiniten rationalen Konsenses von vornherein gleichsetzt mit dem Vorgriff auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft.• Apel weist ausdrücklich auf das Beispiel philosophischer Satze hin, deren Allgemeingültigkeitsanspruch, wie er meint, sich nur unter Voraussetzung eines. solchen Vorgriffs auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft »verstehen und sinnvoll zur Geltung bringen<< lasse;3 Nun sind aber Geltungsansprüche der Art, wie ·si e durch philosophische Satze zum Ausdruck gebracht werden, an das Medium der U~gangssprache und an den Kontext ihres eígenen Expli­katwnszusammenhangs gebunden. Die argumentative Be­wegung des Philosophierens, wie sie in philosophischen Satzen ihren Niederschlag findet und wie sie philosophi­schen Thesen allererst ihren Gehalt und ihr Gewicht ver­leiht, la6t sich daher in philosophischen Satzen oder Satzsy­stemen nicht ein für allemal »eiqfrieren<;, In diesem Sinne

r Vgl. »Szientismus oder transzendentale Hermeneutik<<, a.a.O., S. 2r6. 2 Man kõnnte natürlich di e Antizipation eines infiniten· Konsenses gleich­setzen mit dem Vorgriff auf eine ideale Kommunikationsgemeinscha:ft. Hierin scbeint mire in mõglicher unverdachtiger Sinn des Begriffs einer ide­alen Kommunikationsgemeinschaft zu liegen; ich glaube, daB z. B. Haber­mas den Begriff gelegentlich in diesem Sinne verwendet (vgl. J. Habermas, »Moral und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwande gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?<<, a.a.O., S. 13). Die ideale Kommunikationsgemein­schaft ist in diesem F alie einfach die Gemeinschaft aller sprachfahigen We­sen, die wir uns gleichsam in idealer Gleichzeitigkeit versammelt denken. Bei dieser Bedeutung des Begriffs kann aber von einer, und sei es auch nur ap.proximativen Realisierung des Ideais sinnvollerweise gar nicht die Rede sem.

3 »Szientismus oder transzend~ntale Hermeneutik<<, a.a.O., S. 218.

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hatte Adorno durchaus recht, wenn er behauptete, die Phi­losophie las se sich nicht auf These~ bringen.' "W_enn dies aber richtig ist, dano sind philosophtsche Wahrh~tten dar­auf angewiesen, immer wieder neu entdeckt, angee1gnet, ge­dacht und formuliert zu werden. Selbst die groBen philoso­phischen Texte, auf die wir uns immer wieder als Paradigm.a einer schriftlich objektivierten philosophischen Wahrhett beziehen, enthalten die Wahrheit nur in verschlüsselter Form; diese Wahrheit gibt sich uns nur preis, indem wir sie übersetzend neu denken, indem wir ihren Entstehungspro­zeB gleichsam mit unseren eigenen Mitteln noch einmal wie­derholen. Aus diesem Grunde spielt die Interpretation phi­losophischer Texte eine so groBe Rolle in der Phil?sophie. Und zwar gilt dies ganz unabhangig davon, daB dte lnter­pretation philosophischer Texte immer auch eine Scheidung des Wahren und Falschen· an ihnen bedeutet, unabhangig davon also, daB es auch Fortschritte in der Philosophie gibt. Entscheidend ist, daB jede philosophische Wahrheit, einmal ausgesprochen, schon verloren ware ohne die u_nabschlieB­bare Mühe einer immer wieder erneuten Anetgnung und Übersetzung. Die Bewahrung phílosophischer Wahrheiten ist ein produktiver ProzeB. Selbst wenn die ganze Wahrheit der Philosophie in einem einzigen Text versammelt ware, so kõnnten wir sie doch nur aufbewahren, indem wir diesen Text mit upendlichen Kommentaren versahen; als bloBer Behalter der Wahrheit ware dieser Text in dem Augenblick tot, in dem wir aufhõrten, ihn neu zu schreiben. · Wenn es sich aber so verhalt, dano kann die Antizipation ei­nes infiniten Konsenses in diesem besonderen Falle nicht die Bedeutung haben, die Apel ihr gibt. Apel denkt die Antizi­pation des infiniten Konsenses letztlich nach dem Modell

1 » ... was in ihr (der Philosophie, A. W.) sich zutragt, entscheidet, nicht .These odei- Position ·das Gewebe, nicht der deduktive oder induktive, ein­gleisige Gedankeng~ng. Daher ist Philosophie wesentlich nicht r:ferierbar. Sonst ware sie überflüssig; daB sie meist sich referieren laBt, spncht gegen sie<< (Negative Dialektik, a.a.O., S. 44) ..

der Physik, wonach die ultimate opinion der Forscher irr ei­ner letzten Sprache und in einem stabilen System von Satzen ihren Ausdruck finden würde. Wenn aber jeder philosophi­sche Satz einen Index der geschichtlichen Zeit und des ge­schichtlichen Ortes tragt, an dem er gesprochen wird, und wenn der Sinn philosophischer Satze eine Funktion des Ex­plikationszusammenhanges ist, in dem sie stehen, dann kann die Mõglichkeit eines infiniten Konsenses in diesem Falle eigentlich nur die Mõglichkeit einer infiniten Wieder­holung im Sinne der Wieder-Aneignung, der Neuformulie­rung oder hermeneutischen Rekonstruktion philosophi­scher Einsichten bedeuten. Hier macht aber die Idee eines Grenzwerts idealer Verstandigung überhaupt keinen Sinn mehr. Die »Hindernisse der Verstandigung« sind hier nam­lich gleichursprünglich mit den Bedingungen der Mõglich­keit der Verstandigung: beide sind begründet in der Sprach­lichkeit des philosophischen Gedankens selbst. »Ideal« im Sinne von Apel kõnnte eine Verstandigungssituation daher nur heiBen, wenn die sprachlichen Zeichen zu einemvoll­kommen transparenten Medium der Kommunikation von Bedeutungsintentionen geworden waren, so daB also die Verstandigung selbst den Charakter der Unmittelbarkeit angenommen hatte. Dies aber ware ein Zustand jenseits der Sprache. Ein mõglicher »infiniter Konsens« kann also im Falle philo­sophischer Satze nicht als ein letzter und gleichsam >>stabi­ler« Konsens gedacht werden. Gerade weil in diesem Falle die in the long run wahrheitsverbürgenden Regeln einer Forschungslogik fehlen, hat es keinen Sinn, den Ort der Wahrheit ail.s Ende der Geschichte zu verlegen. Vergangen­heit, Gegenwart und Zukunft sind vielmehr gleichermaBen mõgliche »Ürte« philosophischer Wahrheit. Natürlich mü6te ein Konsens über philosophische Wahrheiten unter den genügend U rteilsfahigen sich immer wieder erneuern lassen, freilich vermittelt durch ein produktives Neuverste­hen philosophischer Texte. Aber um diesen Gedanken zti

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denken, bedarf es der Idee einer idealen Kommunikations­gemeinschaft nicht, auch nicht als eines regulativen Prin­zips. Eine »letzte« Bewahrung philosophischer Einsichten kann es ebensowenig geben wie eine »letzte« Fundierung philosophischer Wahrheiten. Dies hat mit Relativismus nicht das geringste zu tun. Das Problem des Relativismus wird vielmehr nur durch die Blickrichtung erzeugt, aus der die Philosophie des Absoluten die Probleme der Wahrheits­geltung gewahrt. Es kame darauf an, die Blickrichtung zu andem, um das Problem des Relativismus zum Verschwin~ den zu bringen.' Bisherbin ich freilich nur auf das von Apel hervorgehobene Problem des moglichen Wahrheitsanspruchs philosophi­scher Satze eingegangen. Indes scheint es mir ausreichend, an einem Punkt zu zeigen, daB wir nicht genotigt sind, die Idee der Wahrheit auf die Idee einer idealen Kommunika­tionsgemeinschaft im Sinne Apels zu beziehen. Wenn sich namlich an einer Stelle zeigen laBt, daB di e immanente Kritik an den idealisierenden Begriffsbildungen der Apelschen Transzendentalpragmatik nicht zu jener »relativistisch-hi­storistischen« Auflosung des Wahrheitsbegriffs führen muB, die Apel befürchtet, dann dürfen wir hieraus schlieBen, daB das Problem des Relativismus falsch gestellt war. Und zwar liegt di e Vermutung nahe, daB das Problem des Relativismus bloB der bestandige Schatten eines Absolutismos ist, der die Wahrheit in einem Archimedischen Punkte verankern mochte, der auBerhalb unserer tatsachlichen Diskurse liegt. Der Relativismus ware die Erinnerung daran, daB es einen solchen Archimedischen Punkt nicht geben kann. Wenn es aber stimmt, daB wir keines solchen Archimedischen Punk­tes bedürfen, um an der Idee der Wahrheit festzuhalten, dann konnten wir mit dem Absolutismos zugleich auch dessen Schatten, den Relativismus, verabschieden. Es dürfte sich jetzt gezeigt haben, daB die »schwachere«

1 Dies ist, wenn ich es richtig sebe, auch die Grundidee Richard Bernsteins in Beyond Objectivism and Relativism, Oxford 1983.

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Version der Konsenstheorie, d~e ich oben (vgl. Abschn. vn) von der starkeren HaJ:,ermasschen Version unterschieden babe, nicht ausreicht, um die starken Hintergrundannah­men zu rechtfertigen, die der diskursethischen Reformulie­rung des Universalisierungsgrundsatzes zugrunde liegen. Wenn sich namlich die Idee eines infiniten rationalen Kon­senses unabhangig von der Idee einer idealen Kommunika­tionsgemeinschaft erlautern laBt, dann zeigt dies, daB die idealisierenden Begriffsbildungen, die den konsenstheoreti­schen Pramissen bei Habermas und Apel zugrunde liegen, keine zwingende begriffliche Rekonstruktion unvermeidli­cher Prasuppositionen des Sprecherts und Argumentierens darstellen konnen. An dieser Stelle zeigt sich zugleich, inwiefern die Diskurs­ethik zu Kantisch geblieben ist. So wie namlich Kant, um die Idee der praktischen Vernunft zu erlautern, zur Idee eines Reichs der Zwecke Zuflucht nehmen muíhe, so konnen Apel und Habermas den Zusammenhang zwischen Ratio­nalitat und Wahrheit - und daher auch den Begriff prakti­scher Vemunft- nur durch Rekurs auf eine ideale Verstan­digungssituation erlautem. In beiden Fallen steckt das Pro­blem in den idealisierenden Begriffsbildungen selbst bzw. darin, daB sie als »ldeale der Wirklichkeit<< genommen wer­den. Versteht man sie namlich so, so racht sich das Schein­hafte an ihnen darin, daB sie gleichsam zu flattem beginnen und ungreifbar werden: So wie das Reich der Zwecke einen Zustand bezeichnet, in dem es nicht nur keine moralischen Konflikte mehr geben kann, sondem in dem eine bruchlose Einheit und Verstandigung der Subjekte miteinander rea­lisiert ware- einen Zustand also in Wirklichkeit; in dem eine Pluralitat von Subjekten gar nicht mehr gedacht werden

· kann; so bezeichnen di e formalen Strukturen der idealen Sprechsituation oder die BediJ?-gungen einer idealen Kom­munikationsgemeinschaft, nimmt man sie als idealen Fluchtpunkt einer sprachlichen Wirklichkeit, nicht nur eine ideale Bedingung rationaler Verstandigung, sondem in

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Wirkli~hkeit zugleich eine Bedingung idealen Verstandigt­seins - einen Zustand also wiederum, in dem das Dunkel, das zwischen den Subjekten und in ihnen ist, sich endgültig gelichtet hatte. Ohne dieses Dunkel aber ware au~h keine Sprache mehr; es sei denn di e ideale der konstrukttv.~n Se~ mantiker, die freilich den Tag zur Nacht machen w~rde.

IX

Mit den Überlegungen der beiden letzten Abschnitte ha?e ich implizit bereits dem Letztbegründungsanspruch der Dis­kursethik widersprochen. Dieser Widerspruch bedarf aller­dings, soweit er sich gegen Letztbegründungsargumente von Apel und Habermas richtet, selbst noch einer Begrün~un?. Meine These ist, da6 sich ein universalistisches Moralpnnz1p nicht aus, wie es bei Habermas hei6t, »normativ gehaltvollen Prasuppositionen« der Ar~umentati?n able~ten la6t. Ich übergehe hier die Untersche1dung zw1schen emer »Starken« 'und einer »schwachen<< Versiori des Letztbegründungsargu­ments (Apel versus Habermas'), da si emir für meine eigen~n Überlegungen nur von sekundarer Bedeutung. zu ~em scheint .. Ich werde nicht direkt auf Habermas' Sk1zze emer Ableitung des U niversalis~erun~sgrundsatz~s a~s Pr~su~po­sitionen der Argumentatwn emgehen, we1l d1e sk1Zz1erte Ableitung, wie ich meine, evidenterma6en falsch ist: Haber­mas führt namlich an entscheidender Stelle eine zusatzliche »Semantische<< Pramisse ein (da6 wir »mit gerechtfertigten Normen den Sinn verbindert, da6 diese gesellschaftliche Ma­terien im gemeinsamen Interesse der moglicherweise Betrof­fenen regeln <<, vgl. DE r o 3 ), durch welc?e der zentr~le Gehalt des Universalisierungsgrundsatzes gle1chsam auf emem ver­botenen Seitenweg eingeführt wird. Ich mochte im folge~­den das Problem direkt angehen, das hei6t, ich mochte d1e Frage stellen, in welchem Sinne Prasuppositionen der Argu-

r Vgl. auch die auf Seite 51 Anm. I angegebene Literatur.

mentation einen universalistisch verstandenen moralischen Gehalt haben konnen. Meine Antwort wird sein, da6 dies allenfalls unter Voraussetzung einer (starken) Konsenstheo­rie der Wahrheit der Fali sein konnte, von der ich aber gezeigt habe, da6 sie falsch ist. Ich gehe davon aus, da6 Apels und Habermas' Begründung von unvermeidlichen Prasuppositionen der Argumentation richtig ist, da6 also derjenige, der die Çültigkeit dieser Pra­suppositionen argumentativ zu bestreiten versucht, sich in einen performativen Widerspruch verwickelt.• Argumen-

I Apel hat das Prinzip der Letztbegründung der normativen Grundlagen der Argumentation folgendermaBen formuliert: » Wenn ich etwas ·nicht ohne aktuellen Selbstwiderspruch bestreiten und zugleich nicht ohne for­mallogische petitio principii deduktiv begründen kann, dann gehiirt es ... zu jenen transzendentalpragmatischen Voraussetzungen der Argumenta­tion, die man immer schon anerkannt haben muB, wenn das Sprachspiel der Argumentation seinen Sinn behalten soU. Man kann daher diese tran­szendentalpragmatische Argumentationsweise auch die sinnkritische Form der Letztbegründung nennen« (K.-0. Apel, >>Das Problem der philosophi­schen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragma­tik«, in: B. Kanitschneider (Hrsg.), Sprache und Erkenntnis, Innsbruck 1976, S. 72f.). Obwohl ich im folgenden davon ausgehe, daB es im Sinne von Apel und Habermas unhintergehbare Prasuppositionen des Argumen­tierens gibt, habe ich eine stringente Durchführung des Letztbegründungs­arguments bei Apel oder Habermas bisher nicht gefunden. Hiermit hangt, wie ich glaube, zusammen, daB bisher nicht klargeworden ist, welches ge­nau die unhintergehbaren Prasuppositionen des Argumentierens wirklich sind. Hier zwei Beispiele für einen angeblich »performativen<< oder »prag­matischen<< Selbstwiderspruch, der keiner ist: (r) Apel behauptet, daB die folgende Behauptung einen pragmatischen Selbstwiderspruch enthalte: »Ich behaupte hiermit (= ich proponiere ais universal konsensfahig in der idealen Kommunikationsgemeinschaft), daB nicht alie diskursiv begründ­baren Normen - einschlieBiich der pragmatisch zweckmaBigen Diskurs­einschrankungen - universal konsensfahig sein müssen« (K.-0. Apel, »LaBt sich ethische Vernunft von strategischer Zweckrationalitat unter­scheiden?<<, in:Archivo diFilosifia, 1983, Nr. 1-3, S. 424). Die Behauptung, um die es geht, ist, daB nicht alie diskursiv begründbaren (also auch kon­sensfahigen) Normen konsensfahig sein müssen. Dies scheint mir eine Be­hauptung der Art zu sein wie etwa, daB nicht alie weiBen Elefanten weiB sein müssen. Daher handelt es sich zwar um einen Widerspruch, aber doch wohl eher um einen simplen logisch-semantischen Widerspruch. (2) Das

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tierend kann ich nicht bestreiten, daB ich meinen Argumen­tationspartnern gegenüber zur Aufrichtigkeit verpflichtet bin, daB nur das bessere Argument zahlen soll oder daB nie­mand der Beteiligten daran, gehindert werden darf, Argu­mente vorzubringen. Ich behaupte aber, daB die allgemei­ne~ Argumentationsnormen, auf die wir hier stoBen, keine universalistischen Moralnormen oder auch Metanormen der Moral sind. Diese These mõchte ich in zwei Schritten begründen: . (1) Die Argumentationsnormen, von denen die Rede ist,

zweite Beispiel stammt aus Habermas' Arbeit über die Diskursethik. Es heilh dort: »Auf ahnliche Weise mügten sich performative Widersprüche für AuBerungen eines Proponenten nachweisen lassen, der den folgenden Satz, begründen mochte: (3)'' Nachdem wir A, B, C, ... von der Diskussion ausgeschlossen (zum Schweigen gebracht bzw. ihnen unsere Interpretation aufgedrangt) haben, konnten wir uns endlich davon überzeugen, dag N zu Recht besteht, wobei von A, B, C, ..• gelten soll, daB sie (a) zum Kreise derer gehoren, die von der Inkraftsetzung der Norm N betroffen sein würden, und sich (b) ais Argumentationsteilnehmer in keiner relevanten Hinsicht von den übrigen unterscheiden<< (DE 101).

In welchem Sinne konnte die Behauptung (3)* unter den Voraussetzungen (a) und (b) einen Widerspruch enthalten? Ich glaube, die Antwort ist wie­derum einfach: Wenn di e aus der Diskussion Ausgeschlossenen .sich in kei­ner relevanten Hinsicht von den Argumentierenden unterscheiden, so kann dies nur heiBen, daB ihre Argumente ebenso gewichtig oder ernst zu nehmen sind wie die der zur Diskussion Zugelassenen. Diese Argumente zu unterdrücken heiBt somit, Argumente zu unterdrücken, die für die Wahrheitsfindung erheblich sein konnen. Die Behauptung (3)'' besagt da­her, daB »WÍr« uns von etwas überzeugt haben, indem wir einen Teil der moglicherweise relevanten Argumente nicht zur Kenntnis genommen ha­ben. Es heiBt also zu sagen, daB es moglicherweise gute Argumente gegen unsere Überzeugung gibt: aber wir werden sie nicht zur Kenntnis nehmen. Es heiBt zu sagen, daB unsere Überzeugung gut begründet, aber moglicher­weise nicht gut begründet ist. Und dies scheint mir wiederum kein perfor­mativer, sondern ein .logischer Widerspruch zu sein. Ich babe diese beiden Beispiele angeführt, um deutlich zu machen, daB alies davon abhangt, daB genau gezeigt wird, an welcher Stelle di e Letztbegrün­dung wirklich greift.

kõnnen evidenterweise keine Normen für die Aufnahme oder den Abbruch von Argumentationen sein. Wenn diese Normen mir aber freistellen, ob ich mich auf Argumentatio­nen einlasse oder nicht, ob ich Dialoge abbreche oder nicht dann ist es prima facie unplausibel, sie überhaupt als mora~ li~ch gehalt.vo~l z~ verstehen. Apel und Habermas glauben d1ese Schw1engke1t umgehen zu kõnnen, indem siê auf die allgemeine ?eltungsorientierung der Rede oder sogar, wie Apel, des emsamen Denkens hinweisen. Wenn ich diese Geltungsorientierung der sprachlichen Rede und des Den­kens wirklich verstanden habe, so kõnnte man sagen, dann habe ich auch verstanden, daB ich Argumente - vor aliem solche; die gegen mich sprechen- nicht unterdrücken darf, und zwar unabhangig davon, wer sie auBert. Dies ist sicher­lich in gewissem Sinne richtig: Wir nennen jemand irratio­nal, der Argumente oder Erfahrungen, die seine Überzeu­gungen erschüttern müBten, nicht an sich herankommen laBt; der also Argumente und Erfahrungen >>Unterdrückt« nicht, weil die Argumente ín Wirklichkeit schlecht oder di~ Erfahrungen irrelevant waren, sondern im Sinne einer blo­Ben Abwehr. Zum Begriff eines guten Arguments aber ge­hõrt es, daB ~~~ von der Person absehen, die es jeweils auBert. Diese Uberlegungen scheinen nun, jedenfalls für den .Fall kontr.?verser Geltungsansprüche; gleichsam eine Nõugung des Ubergangs vom Reden, Handeln und Denken zum Argumentieren zu beweisen, und zwar so, als ware es in einem fundamentalen Sinne irrational, wenn wir uns nicht mit jedem sprach- und handlungsfahigen Wesen auf dessen Verlangen auf einen Diskurs einlassen würden. Ich glaube, daB dies .in etwa clie Grundintuition ist, welche bei Apel und Habermas gleichsam die Brücke schliigt von den Prasuppositionen der Argumentation zur universalistischen Moral. Aber diese Brücke tragt nicht. Di e Forderung, keine ~rgume?te zu unterdrücke~, die wir als q:undforderung emes ratwnalen Umgangs m1t den eigenen Uberzeugungen anerkannt haben, ist namlich keineswegs gleichbedeutend

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mit der Forderung, uns der Argumentation mit anderen -wer immer sie seien - nicht zu verweigern. Irrational wird eine spkhe Verweigerung erst, wenn wir uns verweigern,

'etwa weil wir Angst vor den Argumenten der anderen ha­ben. Im übrigen mag eine solche Verweigerung unmoralisch sein, weil wir dem anderen ein Recht bestreiten, das wir ce­teris paribus sehr wohl für uns selbst in Anspruch nehmen würden. Diese moralische Dimension der Argumentation lafh sich aber nicht aus der Geltungsorientierung der Rede zusammen mit den Prasuppositionen der Argumentation erklaren, sondem viel eher durch ein Verallgemeinerungs­prinzip im Kantischen Sinne. Ich behaupte also, da6 die Verpflichtung, keine Argumente zu unterdrücken, die in der Geltungsorientierung der Rede begründet ist, keinerlei direkte Konsequenzen hinsichtlich der Frage hat, wann und mit wem und worüber ich zu argumentieren verpflichtet bin. 1 Nur unter Voraussetzung einer Konsenstheorie der Wahrheit kann es so scheinen, und zwar deshalb, weil un­ter dieser Voraussetzung die argumentative Herbeifüh­rung von Konsensen als Grundform eines rationalen Um­gangs mit den jeweils eigenen Geltungsansprüchen definiert ist. (2) Die bisherigen Überlegungen legen die Vermutung nahe, da6 es sich bei den unausweichlichen Prasuppositionen der

I Dies zeigt sich auch an den von Habermas (im AnschiuB an Aiexy) ange­führten Diskursregein, aus denen dann der Grundsatz (U) abgeieitet wer­den soll. Di e Regei (3. I) (vgl. DE 99) iautet: >> Jedes sprach- und handiungs­fahige Subjekt darf an Diskursen teiinehmen<<. Ich brauche nicht zu betonen, daB ich die universaiistischen lntuitionen teiie, die in dieser Regei zum Ausdruck kommen. Aber es iaBt sich doch nicht übersehen, daB die Regei, so wie sie formuiiert ist, entweder faisch oder (reiativ) nichtssagend ist. Entweder sagt die Regei namlich, daB ich vcrpflichtet bin, mit jedem sprach- und handlungsfahigen Wesen auf dessen WUJisch jederzeit und über jeden Gegenstand in einen Diskurs einzutreten, und dann ist sie evi­.dentermaBenfalsch. Oder sie sagt, daB kein sprach- und handlungsfahiges Wesen prinzipiell von Diskursen ·ausgeschlossen werden darf, und in die­sem Falle ware die Regei viel zu schwach.

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Argumentation gar nicht um moralische Verpflichtungen handelt. Wohlgemerkt: Ich bestreite nicht, da6 moralische Verpflichtungen gleichsam die Praxis des Argumentierens durchdringen. Dies lie6e sich aber dadurch erklaren, da6 eine Maxime der Dialogverweigerung nicht verallgemeiner­bar ist. Fraglich ist aber, ob diejenigen Argumentationsnor­men, die wir nicht ohne performativen Widerspruch be­streiten konnen, Verpflichtungen moralischer Art bezeich­nen. Anders ausgedrückt: Fraglich ist, ob das »müssen<< der Argumentationsnormen sich sinnvoll als ein moralisches »müssen« verstehen la6t. Ein solches »müssen« kommt si­cherlich an den »Randern« der Argumentation ins Spiel, dort also, wo es um den B.eginn oder die Fortsetzung oder die Verweigerung von Dialogen geht. Wenn aber die Argu­mentationsnormen nichts darüber sagen, ob ich dem ande­ren, dem ich als Argumentationspartner gleiche Rederechte zugestehen mu6, auch noch die Ausübung dieser Rechte gleichsam im nachsten Augenblick gestatten werde, dann la6t sich das »müssen« der Argumentationsnormen schwer­lich als ein moralisch gehaltvolles »müssen« interpretieren. Es scheint sich hier vielmehr um ein »müssen« zu handeln, wie es mit konstitutiven Regeln verbunden ist: dieses »müs­sen« kann ich als Argumentierender deshalb nicht bestrei­ten, weil es für die Praxis des Argumentierens konstitutiv ist. Freilich sind Argumentationsnormen nicht Regeln eines Spiels, auf das wir uns nach Belieben einlassen oder nicht einlassen konnen. Si e hangen vielmehr intern zusammen mit Rationalitatsnormen wie etwa derjenigen, die besagt, da6 wir keine für unsere Geltungsansprüche relevanten Argu­mente unterdrücken dürfen, und solchen Normen konnen wir uns - das ist das Richtige an den lntuitionen von Apel und Habermas - als sprechende und argumentierende ·We­sen nicht entziehen. Gerade darin aber, da6 sich die Unaus­weichlichkeit von Rationalitats-Verpflichtungen durch ein »Prinzip des zu vermeidenden performativen Wider-

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spruchs<< zum Ausdruck bringen laBt, zeigt sich zugleich, daB die allgemeinsten Rationalitatsnormen nicht unmittel­bar einen moralischen Gehalthaben kõnnen. Rationalitats­Verpflichtungen beziehen sich auf die Anerkennung von Argumenten, moralische Verpflichtungen auf die Anerken­nung von Personen. Es ist eine Forderung der Rationalitat, auch di~ Argumente meines Feindes. anzuerkennen, wenn si e gut sind; es ist eine Forderung der Moral, auch diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die noch nicht gut argumentie­ren kõnnen. Überspitzt gesagt: Rationalitats-Verpflichtun­gen beziehen sich auf Argumente ohne Ansehen der Person; moralische Verpflichtungen beziehen sich auf Personen ohne Ansehen ihrer Argumente. DaB Rationalitatsforde­rungen und moralische Verpflichtungen vielfach und auf komplexe Weise miteinander verschrankt sind, ist natürlich gar nicht zu leugnen, aber nur vom imaginaren >>hõchsten (Blick-)Punkt<< einer idealen Kommunikationsgemein­schaft kann es so scheinen, als ob beide letztlich zusammen­fallen würden. Ich mõchte meine grundsatzlichen Argumente gegen den Versuch einer Letztbegründung der Diskursethik verdeutli­chen am Beispiel der klaren und sorgfaltigen Ausarbeitung des Letztbegründungsarguments durch Wolfgang Kuhl­mann.' Die Letztbegründung bezieht sich bei Kuhlmann zunachst - ebenso wie bei Apel und Habermas - auf die »Regeln und Prasuppositionen sinnvollen Argumentie­rens', die in einem zweiten Schritt dano als (diskursinterne) Normen der Kooperation gedeutetwerden.J Diese Koope­rationsnormen sind das Gegenstück zu den von Habermas angeführten >>Diskursnormen<< (vgl. DE 99); sie verpflich­ten uns, wie es bei Kuhlmann heiBt, >>dazu, als gleichberech­tigte Partner zu kooperieren, uns wechselseitig als gleichbe-

I Wolfgang Kuhlmann, Ref/exive Letztbegründ11ng, München I985. 2 A.a.O., S. 22ff. 3 A.a.O., S. I96ff.

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rechtigt in der Argumentation anzuerkennen und zu behan­deln.« Sie verlangen, >>daB in der Argumentation jedem Teilnehmer das gleiche Recht zugestanden wird, zu wider­sprechen, zu unterbrechen, neu anzufangen, die Fortset­zung der Argumentation zu verlangen, Fragén zu stellen, auf Begründung zu bestehen, neue Gesichtspunkte heran­zuziehen etc.«' Auf dem Umweg über diese in den Prasup­positionen der Argumentation impliziten Kooperations­normen versucht nun Kuhlmann, die Grundncirm der Kommunikationsethik abzuleiten; sie lautet bei ihm: >>Be­mühe dich in allen Fallen, in denen deine lnteressen mit de­nen anderer kollidieren konnten, um einen vernünftigen praktischen Konsens mit ihnen.<< 2 Nun kann aber Kuhl­mann die Brücke von den diskursinternen Verpflichtungen zu einem diskursübergreifenden Moralprinzip nur dadurch schlagen, daB er die Differenz zwischen einsamer Überle­gung und realem Diskurs von vornherein einzieht: er ge­braucht das Wort »Argumentation« so, daK es die geltungs­orientierte einsame Überlegung mit umfaBt.J Weil er die einsame Überlegung von der realen Argumentation her deutet, fühlt er sich berechtigt, an entscheidenden Stellen seiner Ableitung die Bemühung .um konsensfahige (d. h. wahre) Lõsungen gleichzusetzen mit der Bemühung um die Herbeiführung vernünftiger Konsense. So etwa in der Grundnorm Nz, die >>die Unhintergehbarkeit des Willens zum vernünftigen KonsenS<< zum Ausdruck bringen soll; sie lautet: >>Wenn wir an der Lõsung eines Problems ernsthaft interessiert sind, dann müssen wir uns um eine Lõsung be­mühen, der jedermann zustimmen konnte, um einen ver­nünftigen Konsens«.4 Erlauternd hierzu heiBt es bei Kuhl­mann: >>Was wir in Wahrheit wollen, wenn wir wirklich

I A.a.O., S. I98. . 2 A.a.O., S. 208.

3 Vgl. die Diskussion des >>Zweiten Einwandes«, a.a.O., S. 227ff. 4 A.a.O., S. I89.

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etwas wissen wollen, wenn wir wirklich die Losung eines Problems haben wollen, das ist eine Losung,für die sich alle guten Gründe anführen lassen, gegen die sich kein berech­tigter Widerspruch erhebt und erheben kann, eine Losung also, der jedermann mit Recht zustimmen konnte. Was wir wollen, ist ein vernünftiger Konsens.«' Wenn der Wille zur Wahrheit gleichbedeutend ist mit dem Willen zur Herbei­führung vernünftiger Konsense, dann sind in der Tat uni­versalistisch zu verstehende Normen einer.realen, gleichbe­rechtigten Kooperation mit allen anderen von allem Anfang an in die Geltungsorientierung der Rede eingebaut. In die­sem Falle ware die Grundnorm der Kommunikationsethik nichts weiter als eine Spezifikation der allgemeinsten Ratio­nalitatsverpflichtungen für den Spezialfall von lnteressen­konflikten. Meine Einwande betreffen nicht eigentlich die Deutung der einsamen Überlegung als eines virtuellen Dialogs. lm Ge­genteil: Wenn wir in unseren Überlegungep verschiedene Gesichtspunkte berücksichtigen, ·uns selbst Einwande ma­chen usw., so laíh sich dies kaum anders verstehen als nach dem Bild eines verinnerlichten Dialogs. Dementsprechend konnte mandas Bemühen um »richtige<< Losungen verste­hen als die Bemühung, zu einem Einverstandnis mit uns selbst zu kommen, das stellvertretend steht für ein in einem offentlichen Dialog erzielbares Einverstandnis: auf der in­neren Bühne des einzelnen Subjekts werden zugleich die Stimmen der anderen laut. Aus diesem Grunde haben reale »Offentliche« Dialoge immer auch die Funktion eines Tests, in ihnen muB sich erst erweisen, ob wir di e moglichen Argu- · mente, Gesichtspunkte oder Einwande der anderen in unse­ren einsamen Überlegungen wirklich richtig getroffen ha­ben. Nun sind aber die anderen, die in unseren einsamen Überlegungen zu Wort kommen, immer »reprasentative« andere, ihr Anspruch, gehort zu werden, ist der Anspruch,

I A.a.O., S. I90.

den ihre Argumente darauf haben, berücksichtigt zu wer­den. Deshalb kann aber auch die Verpflichtung zum Eintritt in reale Diskurse nur so weit reichen wie die Verpflichtung, keine relevanten Argumente ZU unterdrücken oder mogli­chen Einwanden nicht auszuweichen. Diese Verpflichtung ist aber nicht gleichbedeutend mit der Verpflichtung, einen realen und allgemeinen vernünftigen Konsens herbeizufüh­ren, sie ist daher auch nicht gleichbedeutend mit universali­stisch verstandenen Kooperationsverpflichtungen. Di e For­derung, keine Argumente zu unterdrücken, laBt vielmehr die Frage offen, mit welchen realen Personen und worüber und wann ich zu argumentieren verpflichtet bin, sie laBt da­her auch die Frage offen, in welchen Fallen ich verpflichtet bin, auf einen realen Konsens hinzuwirken. Nur wenn man eine starke, kriteriale Version der Konsenstheorie voraus­setzt, lassen sich elementare Rationalitatsverpflichtungen unmittelbar deuten als die Verpflichtung, in strittigen Fra­gen auf die Herbeiführung eines vernünftigen Konsenses hinzuarbeiten. Wenn man diese Voraussetzung fallenlaBt, zeigt sich dagegen, daB allgemeine Rationalitatsverpflich~ tungen oder auch allgemeine Prasuppositionen des Argu­mentierens zu schwach sind, um allein ein universalistisches Moralprinzip zu tragen.' · . Die letzten Uberlegungen legen im übrigen eine neue Deu­tung des Begriffs einer >>idealen Kommunikationsgemein­schaft<< nahe. In der einsamen Überlegung, so konnte man sagen, ist die reale Kommunikationsgemeinschaft als ideale prasent, das heiBt aber: sie ist prasent in der Form aller der moglichen Argumente, die von den Mitgliedern einer unbe­grenzten Kommunikationsgemeinschaft geauBert werden · konnten. »Ideal« aber ist diese virtuell prasente Kommuni­kationsgemeinschaft in einem doppelten Sinn: si e ist erstens ideal, weil sie nur in der Form moglicherArgumente prasent ist, die von wirklichen Personen und aus einer Vielzahl von

I Vgl. aber unter Abschn. XI.

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Perspektiven geauBert werden konnten; si e ist also prasent als eine Gemeinschaft der Argumentierenden, in welcher nur der zwanglose Zwang des besseren Arguments zahlt. Und diese Gemeinschaft ist zweitens ideal, weil wir uns auf eine unbegrenzte Komrriunikationsgemeinschaft so bezie­hen, als ware sie in idealer Gleichzeitigkeit versammelt. In diesem Sinne nun laBt sich leicht zugestehen, daB die Unter­stellung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft kon­stitutiv ist auch für reale Argumentationssituationen. Die Idealisierung erlautert hier iri der Tat eine Sinnbedingung dessen, was wir »rationales Argumentieren<< oder auch >>ra­tionales Überlegen« nennen. Es handelt sich um eine ideali­sierende Abstraktion von den empirischen Personen, wel­che Argumente auBern- daR wir Argumente als Argumente betrachten, schlieBt ein, daB wir sie uns gleichsam abgelõst denken von den Personen, die sie vorbringen oder vorbrin­gen kõnnten. So verstanden ist die Unterstellung einer idea­len Kommunikationsgemeinschaft zwar notwendig; wir würden uns aber über den moglichen Sinn dieser V nterstel­lung tauschen, wenn wir sie als Antizipation eines von der realen Kommunikationsgemeinschaft zu realisierenden I dealzustands verstehen würden, und zwar eb~nso, wie wir uns über den Sinn der notwendigen Unterstellung intersub­jektiv geteilter Bedeutungen tauschen, wenn wir sie als An­tizipation einer letzten, einer idealen Sprache verstehen. Ich will sagen: Wir tauschen uns über den Sinn der Notwendig­keit dieser Untersiellungen, wenn wir sie zu Idealen der Wirklichkeit hypostasieren, auch wenn vielleicht, wie ich es früher angedeutet habe, der tauschende Schein in der Spra­che selbst verankert ist. Die Prasenz der idealen Kommuni­kationsgemeinschaft in der realen laBt sich zwar, wie Apel es mõchte, verstehen als Ausdruck der unhintergehbaren Geltungsorientierung menschlicher Rede, aber der Stoff, aus dem dies Ideal gemacht ist, eignet sich nicht für den Ent­wurf einer idéalen Lebensform. Die idealisierenden Unter­stellungen der Argumentation enthalten weder ein letztes

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Fundament der Moral noch den Vorschein emer letzten Versõhnung.'

r Nach diesen Überlegungen iaBt sich der Fehier der Apeischen Letztbe­gründungsidee an eirÍer einzigen kurzen Passage aus einem neueren Text Apeis verdeutlichen (K.-0. Apel, »Laih sich ethische Vernunft von strate­gischer Zweckrationaiiüit unterscheiden?«, a.a.O., S. 375 ff.). Die Passage steht im Zusammenhang einer Kritik am transzendentaien Soiipsismus Kants, der Kant, wie Apel meint, dazu notigte, das Moraigesetz ais ein >>Faktum der Vernunft<< auszugeben, statt es zu begründen. »Diese Situa­tion andert sich entscheidend<<, so Apei, »wenn gezeigt wird, daB schon das intersubjektiv gültige Denken ais sprachgebundenes die Struktur des Dis­kurses hat. Jetzt iaBt sich durch transzendentaie Seibstreflexion des >lch denke< nachweisen, daB mit der Diskursstruktur zugieich auch eine - im Prinzip unbegrenzte - Gemeinschaft endlicher Vernunftwesen und die ebenso grenzenios zu verallgemeinernde Gegenseitigkeit der Ansprüche (=der argumentativ vertretbaren Interessen bzw. Bedürfnisse) und der Überprüfungskompetenz für Argumente, kurz: eine in der reaien Kommu­nikationsgemeinschaft kontrafaktisch antizipierte ideale Kommunika­tionsgemeinschaft vorausgesetzt wird. Konsensfiihigkeit für die ideaie, unbegrenzte Argumentationsgemeinschaft ist damit ais reguiative Idee in­tersubjektiver Gültigkeit von theoretisch relevanten wie von praktisch­ethisch reievanten Argumenten anerkannt<< (a.a.O., S. 421). An dieser Passage wird unmitteibar deutlich, daB die vermeintliche Letztbegrilndung der Ethik unmitteibar zusammenhangt mit der Transformation einer not­wendigen Unterstellung i~ eine notwendige Antizipation ( eine notwendige reguiative Idee), wobei natürliéh entscheidend ist, daB der Sinn der Unter~ stellung seibst miBdeutet wurde. ·

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3. Ansatze einer Vermittlung zwischen Kantischer und Diskursethik

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Ich habe oben (Abschn. VI) zu zeigen versucht, daB in Ha­bermas' Formulierung des Universalisierungsgrundsatzes ein universalistisches Moralprinzip auf unglückliche Weise mit · einem prozeduralen (naturrechtlichen) Legitimitats­prinzip konfundiert ist. Diese Konfundierung ist in einer Konsenstheorie der Wahrheit begründet, die sich ais eine gehaltvolle Theorie im Sinne von Habermas und Apel nicht verteidigen laBt. Was allerdings die Konfundierung von Moral- und Legitimitatsprinzip bei Habermas betrifft, so habe ich die Unterscheidung zwischen Fragen der morali­schen Richtigkeit und Fragen der Normengerechtigkeit bis­her mehr vorausgesetzt ais erlautert. Der Einfachheit halber werde ich die Unterscheidung zunachst ais eine zwischen moralischen u~d Rechtsnormen erlautern. Was die soge­nannten morahschen Normen betrifft, so ist bei ihnen im­mer mitzudenken, daB sie entweder unbestimmt sind wÍe das Moralprinzip selbst (>>Die Würde des Menschen ist un­antastbar«) oder auch wie ethische Pflichten von »weiter<< Verbindlichkeit (»hilf den Notleidenden<<) oder aber auf die Moglichkeit von Ausnahmen hin »angelegt« sind. Letzteres hangt damit zusammen, daB es beim moralischen Urteil primar um Handlungsweisen-in-Situationen- Kan­tisch: Maximen- geht und erst in einem abgeleiteten, wenn­gleich moralpsychologisch wichtigen Sinne um allgemeine Normen. Diesen Vorbehalt vorausgesetzt, mochte ich auf drei charakteristische Unterschiede zwischen moralischen und Rechtsnormen hinweisen. (I) Rechtsnormen werden, im Gegensatz zu Moralnormen in Kraft oder auBer Kraft gesetzt, und sie gelten, wenn si~

in Kraft sind, jeweils für einen bestimmten Kreis von Be­troffenen. Rechtliche Verpflichtungen sind eine Funktion von in Kraft befindlichen Rechtsnormen. Moralische Nor­men dagegen und desgleichen moralische Verpflichtungen gelten, wenn sie gelten, unabhangig von Akten der Inkraft­setzung. Den Unterschied, auf den es hier ankommt, kann man sich leicht am Artikel I. I unseres Grundgesetzes klar­machen: DaB die Würde des Menschen unantastbar ist, gilt - ais moralisches Gebot - auch unabhangig davon, daB es in unserer Verfassung steht. DaB dieses moralische Gebot ais eine Rechtsnorm in unsere Verfassung aufgenommen wurde, hatte natürlich den Sinn, nach den Erfahrungen der deutschen Geschichte den Gesetzgeber und die Rechtspre­chung auch durch eine entsprechende rechtliche Verpflich­tung zu binden. - Natürlich paBt die analytische Unter­scheidung zwischen Moral- und Rechtsnormen nicht auf die konkrete Sittlichkeit traditionaler Gesellschaften. Der Übergang zur post-konventionellen .Moral bedeutet aber zugleich eine Konventionalisierung des Rechts: Rechtsgel­tung wird gewissermaBen frei verfügbar, wenngleich mora­lischen Einschrankungen unterworfen. Einige dieser mora­lischen Einschrankungen sind als Rechtsnormen- und zwar mit gutem Grund - in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen worden. Der Begriff der moralischen Verpflichtung hangt zusam­men mit dem der Begründung eines normativen Geltungs­anspruchs; der Begriff der rechtlichen Verpflichtung dage­gen hangt zusammen mit dem der sozialen ( also in gewissem Sinne faktischen) Geltung einer Norm. Auch wenn Rechts­geltung ohne ein Moment von Anerkennung kaum denkbar ist, geht sie doch in Anerkennung niemals auf: es gehort zu ihr ein Moment purer Faktizitat, und sei es auch nur das ei­nes freiwilligen gemeinsamen Beschlusses. Nur weil morali­sche und Rechtsgeltung analytisch nicht zusammenfallen, konnen wir überhaupt die Frage stellen, bis zu welchem Grade wir moralisch verpflichtet sind, den faktisch gelten-

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den Rechtsnormen zu folgen. U nd selbst wenn wir eine mo~ raiisch begründete Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Normen voraussetzen, bieibt es immer sinn­voll zu fragen, wie weit wir moraiisch verpflichtet sind, auch ungerechte Normen zu respektieren, oder ob wir unter be­stimmten Umstanden das moraiische Recht oder sogar die moraiische Pflicht haben kõnnten, eine gerechte Norm zu verietzten. Dagegen ware es purer Unsinn, wenn jemand die Frage stellte, ob wir auch ungültigen moraiischen Normen zu foigen moraiisch verpfiichtet sind. (2) Rechtsnormen sind in der Regel- im Gegensatz zu mo­raiischen N ormen- konstitutiv für eine Praxis: Wir kõn.nen uns Rechtssysteme ohne einen groBen Anteii konstitutiver Regein gar nicht denken. Rechtsnormen sind konstitutive Regeln, insofern sie nicht bioB Rechte und Pflichten, Befug­nisse und Sanktionen festlegen, sondem darüber hinaus Praktiken (etwa »Wahi zum Bundestag«), lnstitutionen ( etwa »Bundestag«, » Verfassungsgericht«) oder Organe ( >> Bundeskanzier«) >> konstituieren «. Bundestagswahien, Regierurigsbeschlüsse, Gesetzesverkündigungen oder ~uch Steuerschulden gabe es nicht ohne das System einander wechselseitig stützender Definitionen und konstitutiver Regein, weiches das Recht auch ist. Natürlich kõnnte sich, wie es in Engiand der Fali war, ein entsprechendes System von lnstitutionen und Praktiken gieichsam naturwüchsig­das heiBt namiich: historisch - herausgebiidet haben, ebenso wie sich inxevoiutionaren Situationen neue lnstitu­tionen und Praktiken spontan herausbiiden kõnnen- etwa ein System von Raten. Aber für den konstitutiven Charak­ter von Regeln spielt es keine entscheidende Rolle, oh sie ex­piizit kodifiziert oder nur in einem allgemeinen Einver­standnis begründet sind. Wie hei Spielen kann eine Praxis bestehen, ohne daB die für diese Praxis konstitutiven Regein ·(etwa: was zahit ais >>Tor«, als >>Schach«, was ist ein richtiger Zug im Schachspiei usw.) schriftlich kodifiziert worden sind; es genügt, wenn in strittigen Fallen jeweils- sei es ein

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für allemai, sei es ad hoc- solche Kodifikationen vorgenom­men werden kõnnen. Der konstitutive Aspekt von Rechtsnormen bringt es mit sich, daB Rechtsnormen in Form von Systemen auftreten, hierin wiederum vergieichbar Spieiregein: Man kann nicht Gefangnis für Totschiag androhen, ohne festzuiegen, was ais Totschiag gelten soll, ohne die Regein eines Gerichtsver­fahrens festzuiegen und ohne Regein für den Strafvollzug. Man kann nicht Abstimmungsprozeduren im Bundestag festlegen, ohne zugieich festzulegen, worüber der Bundes­tag ~u beschiieBen hat, wie er zu wahlen ist, wer über die Ausführung der beschiossenen Gesetze wacht usw. Moraii­sche Normen haben diesen systemischen Charakter deshaib nicht, weil sie die Frage des richtigen Handeins in einer mir vorgegebenen Welt betreffen, wobei zu dem, was in der Wirkiichkeit vorgegeben ist, unter anderem auch Rechts­normen zahien. Die soziaie Geltung von Rechtsnormen ist unter moraiischen Gesichtspunkten zunachst einmai eine Tatsache unter anderen; so etwa, daB ich weiB, daB meine Stimme nicht >>zahlt«, wenn ich den Wahischein nicht rich­tig ausfülle, oder daB ich mit Strafe rechnen muB, wenn ich gegen die Verkehrsregein oder gegen die Steuergesetze ver­stoBe. Dies bringt mich zum dritten Punkt: zum Probiem der Sanktionen. (3) Rechtsnormen sind in der Regei mit der Androhung au­Berer Sanktionen verbunden. Soweit es sichum konstitutive Regein handelt, bestehen di e Sanktionen ganz einfach darin, daB die Nicht-Beachtung der Regein eine entsprechende Handiung rechtlich ungültig oder unwirksam macht: Ab­stimmungen oder Gerichtsurteiie etwa sind ungültig, wenn Verfahrensregein verletzt wurden- so wie ein Tor kein Tor ist, wenn es aus dem Abseits erzielt wurde. In anderen Fai­Ien bestehen die Sanktionen in gesetzlich festgelegten Stra­fen, wie Gefangnis, GeidbuBe, Veriust der bürgerlichen Ehrenrechte usw. Man kõnnte sogar behaupten, daB mora­Iische Grundnormen wie >>Neminem laede<<, >>nichttõten<<,

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»nicht lügen« usw. vor aliem in Form von Strafgesetzen in das Recht Eingang finden; wer das und das tut, wird mit Ge­fangnis nicht unter ... Jahren bestraft. lm Strafrecht werden Sachverhalte und Tatbestande mit StrafmaBnahmen ver­knüpft; es ist gleichsam der Witz des Strafrechts, daB es ein System abgestufter Sanktionen einführt für Handlungen, deren moralische Verwerflichkeit in der Regei (und durch­aus nicht immer zu Recht) einfach vorausgesetzt wird. Die Notwendigkeit einer analytischen Unterscheidung zwi­schen moralischen und entsprechenden Rechtsnormen wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich klarmacht, daB es zwei ganz verschiedene Fragen sind, ob eine Handlung moralisch verwerflich ist oder ob man si e unter Strafe stelien sollte. Ich kann die Rede von der Auschwitzlüge für mora­lisch absGheulich halten und doch zugleich dagegen sein, daB man sie genereli mit Strafen bedroht. Im Gegensatz zu Rechtsnormen sind moralische Normen nicht in einem wesentlichen Sinne mit auBeren Sanktionen verknüpft; moralisch gutes Handeln ist nicht erzwingbar, im Gegensatz zu rechtmaBigem Handeln. lm F alie der Mo­ral sind die wesentlichen Sanktionen interner Art': Schuld­gefühl, Reue, Selbstvorwürfe, Selbstverachtung. Daher kann aber auch das moralische »muB«· nicht den gleichen Sinn haben wie das rechtliche »muB<< oder »solk Der Sinn des jeweiligen >>muB<< oder >>soli<< kann nicht unabhangig sein von der Antwort auf die Frage: Und was geschieht, wenn ich nicht tue, was ich tun muB? lm ersten Fali, dem des moralischen >>muB<<, kann die Antwort nur von der Art sein: Ich werde mit mir selbst uneins sein, werde mir selbst

I Hierauf hat insbesondere Ursula Wolf in ihrer Kritik an Tugendhat hin­gewiesen; in: Das Problem des moralischen Sollens, Berlin und New York I984, S. 23, 35ff. Tugendhat hat diese Kritik aufgenommen und im An­schluB daran eine sich wieder Kant nahernde Begründung der Moral vorge­schlagen, an deren Grundgedanken ich weiter unten anknüpfen werde. Vgl. Ernst Tugendhat, >>Retraktationen«, in: ders., Probleme der Ethik, Stuttgart I 984, S. I 32 ff.

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T nicht mehr in die Augen sehen konnen. lm zweiten Fali, dem des rechtlichen >>muB<<, besteht die typische Antwort in der Androhung einer auBeren Sanktion. Das Moment der Faktizitat im Begriff der Rechtsgeltung, auf das ich unter Punkt (1) hingewiesen habe, hat natürlich unter anderem etwas mit dem System abgestufter auBerer Sanktionen zu tun, welches das Rechtauch ist. Freilich kon­nen Rechtssysteme nicht auf Dauer durch pure Gewalt be­stehen: zur sozialen Geltung des Rech~s gehort auch, daB zumindest ein wesentlicher Teil des Rechtssystems von den Betroffenen als legitim (>>gerecht<<) und daher als mit morali­schen Verpflichtungen verbunden anerkannt wird. Aber >>geltendes Recht<< bedeutet nicht dasselbe wie >>als gültig (gerecht) anerkanntes Recht<<.' Vielmehr sind im Begriff der Rechtsgeltung die Momente der Anerkennung und der Er­zwingbarkeit auf eine komplexe Weise miteinander ver­mischt. Das Moment der mit erwartbaren auBeren Sanktio­nen verbundenen Faktizitat laBt sich aus dem Begriff der Rechtsgeltung ebensowenig eliminieren wie das der Aner­kennung. Ware es nicht so, so hatte die Frage, ob und wann und wie weit ich moralisch verpflichtet bin, den geltenden Gesetzen zu gehorchen (oder sie anzuwenden), überhaupt keinen Sinn. Wo freilich die Legitimitat des Rechts mit der Idee einer freien Zustimmung aller Betroffenen (up.d daher letztlich mit demokratischen Prozeduren) verknüpft wird, wird ein Rechtszustand denkbar, in dem physische Sanktio-

I Hierin sieht H. L. A. Hart das Wahrheitsmoment der rechtspositivisti­schen Tradition. Hart erkennt durchaus die Moral ais Bewertungsmaftstab für Rechtsnormen an, wendet sich aber gegen die Reduktion des Begriffs der Rechtsgeltung auf den der moralischen Gültigkeit. »Es gibt also zwei Gefahren, zwischen denen hindurchzusteuern das Bestehen auf diesem Unterschied (d. h. dem Unterschied zwischen Sein und Sollen, A. W.) uns helfen wird: die Gefahr, daB das Recht und scine Autoritat sich in den Vor­stellungen der Leute davon, was Recht sein sollte, auflõst; und die Gefahr, daB das bestehende Recht die Moral in ihrer Funktion ais letzten MaBstab des Verhaltens verdrangt und sich so der Kritik entzieht<< (H. L. A. Hart, Recht und Moral, Gõttingen I97I, S. I9).

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nen nicht mehr notwendig waren, weil Konflikte in gewalt­loser Form ausgetragen würden. Eine Gesellschaft ohne Gefangnisse ist denkbar. Ob es aber sinnvoll ware, die Mõg­lichkeit eines Rechts ohne auBere Sanktionen anzunehmen, scheint mir. ungewiB: in der » VerauBerlichung« der Sittlich­keit in positiviertes Recht und seine externen Sanktionen steckt ja auch ein S~ück Befreiung von verinnerlichtem nor­mativem Zwang. Ich habe den Unterschied zwischen Moral und Recht an drei charakteristischen Aspekten des Rechts zu verdeutli­chen versucht. Ich mõchte jetzt genauer erlautern, warum und in welchem Sinne ein universalistisches Moralprinzip von einem demokratischen Legitimitatsprinzip zu unter­scheiden ist. In beiden Fallen wird die Unterscheidung zwi~ schen »richtig<< und >>falsch<< verknüpft mit dem Bezug· auf einen zwanglos gebildeten gemeinsamen Willen, sei es ver­nünftiger Wesen, sei es der Betroffenen. Dieser Bezug auf einen gemeinsamen Willen ist in den beiden Fallen aber un­terschiedlich zu verstehen. Beim moralischen Urteil geht es darum, in konkre.ten Situationen das zu treffen, was wir als eine verallgemeinerbare Handlungsweise- in der Termino­logie von B. Gert - »õffentlich vertreten<< kõnnten. Ich werde noch zeigen, welche Rolle Argumentationen in die­sem Zusammenhang spielen. Die Frage, die sich jeweils stellt, ist, ob wir- namlich vernünftige Wesen- wollen kõn­nen, daB eine bestimmte Handlungsweise allgemein wird, Und erst die negative Antwort auf diese Frage konstituiert ein moralisches >>muB<<. Normen spielen daher in der Moral eine abgeleitete Rolle, so wichtig sie auch unter moral- und erkenntnispsychologischen Gesichtspunkten sein mõgen. Im Recht geht es dagegen wirklich um Normen und Regeln. Ich hatte oben darauf hingewiesen, daB die >>Ent-Konven­tionalisierung<< der Moral im Übergang zur post-traditiona­len Gesellschaft zugleich die Konventionalisierung des Rechts bedeutet hat. Mit dieser gegenlaufigen Entwicklung von Recht und Moral wird freilich zugleich das Recht unter

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die Forderungen der Moral gestellt: Die Moral wird zu einer Instanz jenseits und »oberhalb<< des Rechts. Hiermit hangt zugleich die Entwicklung eines prozeduralen, eines demo­kratischen Legitimitatsbegriffs zusammen: Danach ist eine Rechtsordnung legitim, wenn sie ais Ausdruck des gemein­samen Willens der ihr Unterworfenen verstanden werden kann. Das moderne Naturrecht bis hin zu Kant hat ver­sucht, einen entsprechenden Begriff der Rechtslegitimitat auszuarbeiten. Nun bedeutet aber der Bezug auf einen ge­meinsamen Willen der von einem Réchtssystem Betroffe­nen hier etwas strukturell anderes ais im Falle der Moral: Es geht hier namlich um den positiven gemeinsamen Wilien der Betroffenen, ihr Leben gewissen Regeln- und das heiBt im­mer auch i diesen und nicht anderen- und den mit ihnen ver..; knüpften Sanktionen zu unterwerfen. Der gemeinsame Wille ist hier gleichsam in Aktion zu denken: als BeschluB oder Abmachung; zum positivierten Recht gehõrt die Handlung des In-Kraft-Setzens oder AuBer-Kraft-Setzens analytisch hinzu. Dieser Begriff der Rechtslegitimitat hat durchaus auch eine kontrafaktische Anwendung; in diesem Sinne etwa sagt Kant, der Gesetzgeber dürfe nur Gesetze er­lassen, die das Volk auch über sich selbst hatte beschlieBen kônnen. Freilich liegt es in der Logik des modernen Legiti­mitatsbegriffs, daB die Gemeinsamkeit des BeschlieBens so weit wie mõg1ich als eine faktische realisiert wird - sofern · namlich allen Betroffenen schlieBlich ein gleiches Recht zur Teilnahme an den koliektiven Wiliensbildungsprozessen zuzugestehen ist: dies ist die Idee der Demokratie. Wenn aber legitime Gesetze so sein solien, daB alie Betroffenen sie hatten gemeinsam beschlieBen kõnnen, und wenn alie Be­troffenen - im Prinzip - ein gleiches Recht zur Teilnahme ari der koliektiven BeschluBfassung haben sollen, dann ver­steht sich von selbst, daB die õffentlich-argumentative Kla­rung normativer Fragen eine zentrale Rolle bei jedem Ver­such spielen muB, legitimes Recht im Sinne des .modernen Legitimitatsbegriffs zu verwirklicheri und die Anerkennung ·

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seiner Legitimiüit sicherzustellen. Für eine Rechtsnorm -oder ein System von Rechtsnormen- zu argumentieren be­deutet in diesem Falle den Versuch,gegenüber allen anderen Betroffenen mit Gründen zu zeigen, weshalb alle Gutwilli­gen und Einsichtigen das soziale Gelten dieser Norm oder dieser Normen als gleichermaBen gut für alle müBten beur­teilen kõnnen. Habermas hat im Grunde, wie wir gesehen

. haben, diesen besonderen Fali des Zusammenhangs zwi-schen normativer Gültigkeit und realen Argumentationen zum Modellfall normativer Gültigkeit gemacht. Hierdurch fallt aber sein Universalisierungsgrundsatz hinter eine Dif­ferenzierung von moralischen und Rechtsfragen zurück, die bei Kant bereits deutlich ausgearbeitet (wenngleich nicht befriedigend gekHirt) ist. Dies bedeutet insbesondere, daB Habermas, weil er strukturell gesehen auf der Ebene der Normengerechtigkeit ansetzt, das Problem der moralischen Geltung verfehlen muB. Es ist kein Zufall, sondem durch­aus in der Sache begründet, daB von Hobbes bis Kant die Vertragstheoretiker des modernen Naturrechts Fragen mo­ralischer Geltung entweder im Vorfeld oder aber als Grund­lage von Fragen der Rechtslegitimitat behandelt haben. Das berechtigte Anlieg~n de~ Diskursethik, das Recht gegen die moralische Gegenaufklarung an eine universalistische Mo­ral zurückzubinden und hierdurch zugleich di e Ethik Kants und das moderne Naturrecht in sich »aufzuheben« - dies Anliegen laBt sich nur verwirklichen, wenn wir nicht hinter bereits erreichte Problemdifferenzierungen zurückfallen.

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In den vorangegangenen Überlegungen sind die wichtigsten Elemente einer fallibilistischen Rekonstruktion der Dis­kursethik bereits enthalten. Diese Elemente·gilt es jetzt zu­sammenzufügen. Ich werde dies auf eine indirekte Weise tun, indem ich zeige, in welcher Weise di e Idee einer diskur-

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siven Klarun'g moralischer Geltungsansprüche innerhalb der quasi-Kantischen Perspektive, die ich bisher vertreten habe, zur Geltung gebracht werden kann. Ich nenne diese Perspektive »quasi-Kantisch<<, weil ich von vornherein ver­sucht habe, den fruchtbaren Grund~edanken Kants aus der formalistischen Hülle herauszulõsen, in der Kant ihn ver­steckt hat. Diese selektive Kant-Lektüre beruht auf einer Kritik an Kant, die meiner K.ritik an der Diskursethik ganz analog ist: In beiden Fallen richtet sich die Kritik gegen eine philosophische Architektonik, di e. auf ein Ideal als SchluB­stein angewiesen ist: das Reich der Zwecke bei Kant, eine ideale Verstandigungssituation bei Apel und Habermas. So wie aber Gewõlbe und SchluBstein nur gemeinsam ihre Lage behaupten kõnnen, so gilt auch hier, daB die Kritik an den idealisierenden Begriffsbildungen Auswirkungen ha­ben muB auf die ganze Konstruktion. Was dies im Falle Kants bedeutet, habe ich bisher nur angedeutet, aber nicht im Zusammenhang erlautert. Meine These ist, daB der For­malismus und Rigorismus der Kantischen Ethik direkt zu­sammenhangt mit dem Versuch, die Ethik sub specie aeter­nitatis, das heiBt aus dem Gesichtspunkt eines Reichs der Zwecke, zu begründen. Kants Moralnormen sind Hand­lungsmaximen für die Mitglieder eines Reichs der Zwecke. Deshalb kann es für Kant keine Ausnahmen, Unentscheid­barkeiten, Uneinigkeiten oder unlõsbaren Konflikte geben, und aus demselben Grund kann die U rteilskraft keine wich­tige Rolle in der Kantischen Ethik spielen. Fürs Reich der Zwecke genügt·die »Fo'rm der Allgemeinheit«, und diese duldet keine Verunklarungen. Die wirklichen Probleme der Moral dagegen beginnen erst mit dem Problem der Vermitt­lung von Besonderem und Allgemeinem; hierin zumindest hatte Hegel recht. Nun ist zwar die Diskursethik eigentlich genau auf dieses Problem zugeschnitten, sie kann es aber nicht lõsen, weil sie in einer zentralen Hinsicht an einer Kantischen Architektonik festhalt: auch die Diskursethik beschreibt die Moral sub specie aeternitatis.

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Gegen eine Deutung der Ethik, die von deddee einer Voll­endung des Sinos geleitet ist, mêichte ich eine Deutung set­zen, di e auf dem Gedanken einer Eliminierung des U nsinns beruht. Meine These ist, daB die Eliminierung des Unsinns denkbar ist, auch wenn wir sie nicht auf die Idee eines voll­endeten Sinos, einer letzten Versêihnung, einer endgültigen Wahrheit beziehen. Ich glaube ferner, daB Kants Gnindge­danke sich in diesem Sinne fallibilistisch (und zugleich dia-logisch) deuten laBt. · Ich wahle, wie gesagt, einen indirekten Weg, indem ich . zeige, welchen Stellenwert Argumente und Argumentatio­nen in Zusammenhangen moralischer Urteilsbildung und moralischer Lernprozesse haben, wenn man diese- in dem bisher erlauterten Sinne- »Kantisch<< versteht. Sobald erst einmal klar ist, in welchem Sinne argumentative und kom­munikative Klarungen moralischer Fragen moglich sind, wird es üb.rigens nicht schwer sein, auch eine Dialognorm Kantisch zu begründen. Denn sofern überhaupt dialogische Klarungen moglich und womêiglich für die Betroffenen· wichtig sind, ist leicht zu sehen, daB eine Maxime der Dia­logverweigerung nicht verallgemeinerbar ist. DaB eine ent­sprechende Dialognorm weitgehend unbestimmt bleiben muB und gleichsam erst im Kontext bestimmter.Situations­deutungen - die freilich ihrerseits revidierbar sind - einen qestimmten Gehalt annehmen kann, betrachte ich eher als Vorzug gegenüber den quasi-transzendentalen Argumenta­tionsnormen der Diskursethik: diese versprechen namlich zwangslaufig mehr, als sie halten kêinnen. Ich gehe im folgenden von einer simplifizierenden Voraus­setzung aus, die ich erst in einem zweiten Schritt zurück­nehmen werde. Die Voraussetzung ist, daB die Logik mora­lischer Argumentationen bereits durch ein universalistisch vetstandenes Moralprinzip bestimmt ist. Dies ist nicht im Sinne einer empirischen Annahme über alle Mitglieder un­serer Gesellschaft zu verstehen, sondem im Sinne einer (me~ thodischen) Ausgrenzung solcher Argumente und Über-

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zeugungen, in denen konkurrierende Quellen normativer Geltung wie etwa Gottes Wille, die natürliche Ordnung oder die Autoritat der Tradition vorausgesetzt werden. Wir beschranken uns ·also auf moralische Argumentationen, in denen die Verallgemeinerbarkeit von Handlungsweisen als Kriterium des moralisch Richtigen oder als MaBstab des moralischen Wertes vorausgesetzt ist. Meine These ist, daB unter dieser Voraussetzung moralische Argumentationen fast ausschlieBlich die lnterpretation von Handlungs- und Bedürfnissituationen sowie das Selbstverstandnis von Han­delnden und Leidenden betrifft; so daB also, wenn wir uns über Situationsdeutungen und Selbstverstandnisse geeinigt haben, di e moralischen Kontroversen in aller Regei sich auf­lêisen. Dies heiBt, daB die Frage, ob wir (vernünftigerweise) wollen kêinnen, daB meine Maxime ein allgemeines Gesetz. wird, mehr oder weniger gleichbedeutend wird mit der Frage, ob meine Situationsdeutungen, mein Selbstverstand­nis, meine lnterpretationen angemessen, treffend oder wahrhaftig sind. Das »Wir«, das die Diskursethik so beun­ruhigt, steckt gleichsam in der Gültigkeit meiner Situations­beschreibungen, meiner Wirklichkeitsauffassung und mei­nes Selbstverstandnisses. Hier liegt deshalb auch der Ein­satzpunkt für Kritik und argumentative Klarungen. Diese These ware aufzwei verschiedenen Beispielebenen zu erHiutern: erstens der der kollektiven Deutungsmuster, zweitens derdes moralischen Urteils.in komplexen Situatio­nen. Was die Ebene der kollektiven Deutungsmuster be­trifft, so lieBen sich einschlagige Beispiele in der Revision traditioneller Auffassungen der Homosexualitat, der Frau­enrolle, der Erziehung, der Abtreibung oder der Kinder­rechte finden. Natürlich haben die Vertreter einer universa­listischen Moral (und um die geht es hier) auch früher nicht geglaubt, daB die Moral bei Homosexuellen, Frauen oder Kindern aufhêirt. Sie haben vielmehr geglaubt, daB Homo­sexualitat die Menschen verdirbt, daB Frauen nicht zu ver­nünftiger Selbstbestimmung fahig sind oder daB Kinder vor

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allem gehorchen lernen müssen, um anstandige Menschen zu werden. In dem MaBe, in dem solche Auffassungen frag­würdig werden, und da~ heiBt: nicht mehr mit guten Grün­den verteidigt werden konnen, andern sich auch di e morali­schen Auffassungen, die mit ihnen verbunden waren: Kin­der zu schlagen wird moralisch fragwürdig, wenn man erkennt, daB es eine sinnlose Verletzung statt eine notwen­dige ErziehungsmaBnahme bedeutet; Homosexuelle recht­lich zu verfolgen und gesellschaftlich zu diskriminieren wird moralisch fragwürdig, wenn man erkennt, daB die Ver­urteilung der Homosexuellen unbegründet ist; Frauen an der Selbstverwirklichung zu hindern, wird moralisch frag­würdig, wenn man erkerint, daB die traditionellen Auffas­sungen über die Natur der Frau unhaltbar sind. Mit anderen WoÍ'ten: Gesellschaftlich wirksame moralische Orientie­rungen, wie sie etwa das Verhalten gegenüber Homosexuel­len, Frauen oder Kindern bestimmen, sind verankert in kollektiven Deutungsmustern; kollektive moralische Lern­prozesse finden dort statt, wo solche Deutungsmuster mit Gründen in.Frage gestellt und mit Gründen revidiert wer­den, wobei sogleich hinzuzufügen ist, daB solche Revisio­nen in der Regei nicht im Medium von Argumentationen allein, sondern unter dem Druck eines Kampfes um Aner­kennung und unter dem Einflufl neuer Erfahrungen statt­finden. Das Result~t solcher Lernprozesse ist, um hei den angeführten Beispielen zu bleiben, eine neue Art und Weise, in der wir über Homosexuelle, Frauen und Kinder reden und uns zu ihnen verhalten; eine neue Art und Weise zu­gleich~ in der die jeweils Betroffenen sich selbst sehen und sich zu sich selbst verhalten. M oralisch gesehen aber handelt es sich dabei um eine Eliminierung von Ungleichheiten und U ngleichbehandlungen, di e gleichsam ihren Boden verloren haben, nachdem der Dogmatismus traditioneller Auffas­sungen sich ais grundlos erwiesen hat. Kollektive morali­sche Lernprozesse, so betrachtet, bestünden in der Erweite­rung von Verhaltnissen wechselseitiger Anerkennung durch

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die kritische Zersetzung gesellschaftlich tradierter Deu­tungsmuster und Einstellungen. DaB es sich hier eher um bestimmte Negationen ais um Annaherungen ·an ein Ideal handelt, kann man daran sehen, daB di e falschen ode r ideo­logischen Ungleichbehandlungen ja gleichsam ein genuines Urbild haben: Ich meine jene Falle begründeter Ungleich­behandlung, in denen Menschen eine gleiche Moglichkeit zur faktischen Selbstbestimmung nicht, oder noch nicht, oder nicht mehr eingeraumt wird. Kleine Kinder, schwer Geisteskranke und Verbrecher sind drei Beispiele. Ich mochte nicht miBverstanden werden: Gerade Kinder, Gei­steskranke und Verbrecher sind zugleich Beispiele dafür, daB die Idee der Selbstbestimmung weit über die Grenzen traditioneller Auffassungen hinaus in Geltung bleibt. Das heiBt aber nur, daB die Forderung, uns zu jedem mensch­lichen Wesen sub specie seiner moglichen Selbstbestim­mung zu verhalten, in dem MaBe in ihrer Bedeutung sich radikalisieren muB, ais falsche Auffassungen über die kind­liche Sozialisation, über die Natur psychischer Krankheiten oder über die Ursachen des Verbrechens sich auflosen. Kants Einsicht, daB Freiheit nur durch Einübung in die Freiheit gelernt werden kann, hat heute zum Beispiel ein ganz neues Anwendungsfeld in der demokratischen Psych­iatrie gefunden. Einen idealen Grenzwert solcher Verande­rungen a:ber konnen wir nicht einmal denken: nicht die Vollendung des Sinns, .sondern die Eliminierung des Un­sinns ist das Prinzip des moralischen Fortschritts. Die zweite Beispielebene, auf der ich meine Grundthese er­lautern mochte, ist die des moralischen Urteils in komple­xen Situationen. Ich mõchte zunachst zwischen drei ver­schiedenen Formen der moralisch relevanten Komplexitat von Situationen unterscheiden. Moralisch komplex nenne ich Situationen, in denen verschiedene moralische Forde­rungen gleichsam aufeinanderstoBen, ohne daB eine leichte oder auch eine eindeutige Entscheidung moglich ist. Mora­lisch undurchsichtig nenne ich Situationen, in denen die mo-

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ralische Bedeutung von Handlungen unklar ist; entweder weil die Handelnden sich über ihre Motive tauschen oder weil die Kommunikationssituation im Ganzen verzerrt ist. Praktisch undurchsichtig schlieBlich nenne ich Situationen, in denen dieFolgen unserer Handlungen unklar sind. Mora­lisch komplex ware eine Situation, in der sich mir die Frage stellt: >Soll (oder darf) ich ihm (wirklich) helfen?< Moralisch undurchsichtig ware eine Situation, in der ich mich frage oder fragen müBte: > Will ich ihm wirklich helfen?< Praktisch undurchsichtig schlieBlich ware eine Situation, in der ich mich frage: >Kann ich ihm auf diese Weise helfen?< Alle drei Formen einer moralisch relevanten Komplexitat von Situa­tionen müssen offenbar berücksichtigt werden, wenn man mich der Logik moralischer Argumentationen fragt, in de­nen es um das richtige Handeln in konkreten Situationen geht. Nun konnte man aber, zumindest im Sinne einer er­sten groben Orientierung, die moralisch undurchsichtigen Situationen der Geltungsdimension der Wahrhaftigkeit, die praktisch undurchsichtigen Situationen der Geltungsdimen­sion der empirischen Wahrheit zuordnen. Die entsprechen­den Dimensionen des moralischen Diskurses konnte man dann, im Sinne von Habermas' Unterscheidungen, mit den Namen »therapeutischer« bzw. »empirisch-theoretischer« Diskurs belegen. Ich benutze diese Klassifizierungen hier nur, um jene Dimension einer spezifisch normativen Argu­mentation auszusondem, die im diskursethischen Moral­prinzip gemeint ist und die als normativer Diskurs dem therapeutischen und dem empirisch-theoretischen Diskurs zur Seite gestellt wird. Darüber hinaus müssen wir noch eine weitere Einschrankung vornehmen: Wir haben ja einen wichtigen Aspekt moralischer Diskurse bereits behandelt, jenen namlich, hei dem es um allgemeine moralische Orien­tierungen, letztlich aber um gesellschaftlich wirksame Wei­sen der Wirklichkeitsdeutung und Bedürfnisinterpretation geht. An dem, was nach ali diesen Einschrankungen ais Kem des moralischen Diskurses übrigbleibt, müBten wir

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uns die Logik moralischer Argumentationen klarmachen konnen. Es mag zunachst unbillig erscheinen, die Diskussion auf moralisch komplexe Situationen einzuschranken. Ich gehe aber davon aus, daB, was die moralische Elementarlehre be­trifft- also das willkürliche Belügen, Verletzen, Toten oder auch Im-Stich-Lassen anderer -, für di e hier vertretene qua­si-Kantische Perspektive keine Probleme entstehen. Das heiBt, ich gehe davon aus, daB wir- und zwar vernünftiger­weise - nicht wollen konnen, daB entsprechende Hand­lungsweisen allgemein werden. Daraus ergeben sich prima facie Normen wie »Neminem laede« oder ein Verbot, die Unwahrheit zu sagen. Das Problem der moralisch komple­xen Situationen betrifft dann die Frage, wie, etwa im Falle des .Normenkonflikts, die Begründung von Ausnahmen zu verstehen ist. Allerdi:ngs enthalt diese Formulierung bereits eine Irreführung. Wenn Normen in der Moral nicht ein Er­stes, sondem -logisch gesehen- ein Abgeleitetes sind, dann bedeutet die Begründung eines moralischen Urteils in mo­ralisch komplexen Situationen nicht die Begründung einer Ausnahme, sondem letztlich wiederum nur die Begrün­dung der Verallgemeinerbarkeit- oder Nicht-Verallgemei­nerbarkeit - einer Handlungsweise. Ich greife an dieser Stelle zurück auf die Überlegungen des Abschnitts III. Ich hatte dort gezeigt, daB sich die sogenannten moralischen Ausnahmesituationen nicht in einem strengen (Kantischen) Sinne unter Regeln bringen lassen. Ich mochte dies noch einmal anhand von zwei Beispielen in Erinnerung rufen. Ais Beispiele wahlen wir di e beiden folgenden Maximen: >Notfalls werde ich einen unschuldig Verfolgten (Angeklag­ten) durch eine Lüge vor der Verhaftung (vor der Verurtei­lung) zu bewahren versuchen<; und: >Einem Todkranken werde ich auf dessen Wunsch Sterbehilfe leisten<. Bei beiden Maximen scheint klar, daB sie, so wie sie da stehen, nicht verallgemeinerbar genannt werden konnen. In beiden Fal­len kann ich mir namlich ohne Mühe Situationen ausden-

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ken, in denen ich es für katastrophal oder doch für falsch halten würde, wenn nach diesen Maximen gehandelt würde. Der Mensch, dem ich Sterbehilfe leiste, kõnnte ja nur glau­ben, todkrank zu sein; ich kõnnte ihn auch ganz gern los­werden wollen, bevor er ein Testament hat machen kõnnen,

· und diesen günstigen Augenblick ausnutzen usw. Was den Unschuldigen betrifft, so kõnnte ich mich in seiner Un­schuld tauschen, es kõnnte sein, daB meine Lüge einen ande-. ren Unschuldigen gefahrdet usw. Wohlgemerkt handelt es sich hier nicht um die Frage, ob das, was ich als allgemeines Gesetz wollen kann, auch alle anderen als allgemeines Ge­setz wollen kõnnen. Vielmehr kann schon ich selbst, wenn ich es recht bedenke, selbst wenn ich vielleicht in einer be­stimmten Situation eine entsprechende Handlung für rich­tig halte, die entsprechende Maxime nicht als allgemeines Gesetz wollen. Es zeigt sich also in der Tat, daB sich di e so­genannten moralischen Ausnahmesituationen im Gegen­satz zu den moralisch elementaren Situationen nicht wirk­lich unter Regeln bringen lassen. Wollte man entsprechende »Erlaubnisnormen« formulieren, so müBten sie lauten: »In Situationen, die dieser hier genügend ahnlich sind, darf man ... « ( oder vielleicht sogar: »muB man ... «). Wir stoBen hier wieder auf die eigentümliche Asymmetrie zwischen moralisch elementaren und moralisch komplexen Situationen. Im ersten Fali ergibt sich aus der Nicht-Verall­gemeinerbarkeit von Handlungsweisen wie derjenigen einer willkürlichen Verletzung anderer die Norm >>Neminem lae­de, es sei denn, du hattest einen guten, einen >õffentlich ver­tretbaren< Grund«. Solche õffentlich vertretbaren Grü.nde aber, das zeigt die Analyse des zweiten Falls, lassen sich in Form von Ausnahmenormen nur formulieren, wenn man sie entweder mit einem indexikalischen Element versehen denkt oder aber mit einer unbestimmten Einschrankungs­klausel wie >>Unter bestimmten Umstanden ist es moralisch richtig, .. ;« Dies alies gilt, wie gesagt, ganz unabhangig von der Frage einer mõglichen Koinzidenz zwischen meinem

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»Wollen-Kõnnen« und dem aller anderen. Jedoch: wenn meine Analyse richtig ist, stellt sich das Problem, weil es ein rein begriffliches Problem ist, für jeden moralisch Urteilen­den in derselben Weise. Dies bringt mich zum letzten Schritt meiner Überlegungen. Wir haben gesehen, daB sich das moralische Urteil in mora­lisch komplexen Situationen nicht als Urteil über die Verall­gemeinerbarkeit einer Maxime (in einem strengen Sinne des Wortes) wiedergeben laBt. Dies bedeutet aber, daB ein Ur­teil über di e Verallgemeinerbarkeit o der Nicht-Verallge­meinerbarkeit von Handlungsweisen-in-Situationen- und an dieser Deutung des moralischen Urteils mõchte ich fest­halten- sich in diesem Falle letztlich nur durch di e Analyse konkreter Situationen begründen laBt. Anders ausgedrückt: Moralische Argumentationen betreffen in diesem Falle vor aliem die Angemessenheit und relative Vollstandigkeit von Situationsbeschreibungen, einschlieBlich der in einer Situa­tion gegebenen Handlungsalternativen .. Dies wird noch deutlicher; wenn wir uns an die >>negatorische Genese« des moraJischen >>muB« oder >>soll« erinnern, auf die ich oben (Abschn. n) hingewiesen habe. Aus dieser negatorischen Genese des moralischen >>muB« oder »SOll« folgt namlich, daB nicht die Verallgemeinerbarkeit, sondem die Nicht­Verallgemeinerbarkeit von Handlungsweisen das primare Thema der moralischen U rteilsbildung und der moralischen Argumentation ist. Verallgemeinerbar ( erlaubt, legitim) sind Handlungsweisen, die nicht nicht-verallgemeinerbar sind. Das ist deshalb nicht tautologisch, weil es hier um ei­nen begrifflichen und kognitiven Primat der Negation geht; einen kognitiven Primat deshalb, weil die Feststellung der Nicht-Verallgemeinerbarkeit von Handlungsweisen in ei­ner gegebenert Situation gleichsam die elementare Opera­tion der moralischen Urteilsbildung ist. Nun scheint mir aber klar zu sein, daB die Beurteilung einer Handlungsweise ais nicht-verallgemeinerbar eine Funktion ihres Verstand­nisses ais Handlungsweise in einer gegebenen Situation ist.

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Ob ich etwa di e Ausiieferung eines Fiüchtigen an di e Poiizei ais Akt der Kooperation init der Iegitimen Staatsgewalt oder ais das Im-Stich-Lassen eines Hilfiosen und unschuidig Verfoigten (bzw. ais Akt der Kompiizitat mit einem Terror­system) verstehe, davon hangt ab, ob ich die entsprechende Handiungsweise ais nichtverallgemeinerbar beurteilen werde oder nicht. In einer gegebenen Situation kann aber hõchstens eine der beiden Interpretationen richtig sein. So­baid jedoch die Frage eines richtigen Situationsverstandnis­ses gekiart ist, wird sich in der Regei auch die Frage ~ach der Verallgemeinerbarkeit bestimmter Handiungswe1sen eriedigen. Moraiische Urteilskraft Iief~e sich demnach ver­stehen ais die Fahigkeit, diejenigen Aspekte von Hand­Iungssituationen zu erfassen, von denen die Nicht-Verallge­meinerbarkeit (oder die Veraligemeinerbarkeit) von Hand­Iungsweisen abhangt. Der moraiisch~ Diskurs ab~rware vor aliem ein Diskurs über das unter emem morahschen Ge­sichtspunkt richtige Wirkiichkeitsverstandnis. Meine These ist somit, daB in alier Regei moraiische Kon­troversen sich auflõsen, wenn in den bisher erwahnteri ver­schiedenen Dimensionen des moraiischen Diskurses -allgemeine lnterpretationen, Seibstverstandnisse der Be­troffenen, Situationsbeschreibungen sowie das Verstan?nis der in einer Situation absehbaren Handiungsalternauven und Handiungsfoigen- Einverstandnis erzieit ist. In diesem Sinne kõnnte man sagen, daB die Frage, ob wir- vernünfti­gerweise- wolien konnen, daB eine Handiungsweise alige­mein wird, vor aliem die Frage. nach einem angemesse­nen Verstandnis konkreter Handiungssituationen ist. Auf diese Weise erkiart sich auchv.daB die Frage, was wir -ais vernünftige Wesen - gemeinsam wolien kõnnen, sich praktisch zusammenzieht auf die Frage, wie wir - die Be­troffenen - unsere Handiungssituationen angemessen ver­stehen kõnnen. Was aber diese Frage betrifft, so .ist der Konsens einiger weniger l,Jrteiisfahiger, die den konkreten Situationen genügend pahe stehen, für die moralische Ver-

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gewisserung haufig wichtiger ais ein reaies Einverstandnis aller. Die vorangegangenen Überiegungen nõtigen uns, die zuvor eingeführte Unterscheidung zwischen >>therapeutischen«,' •empirisch-theoretischen« und (im engeren Sinne) »norma­tiven« Aspekten des moraiischen Diskurses wieder in Frage zu stellen. Es dürfte namiich deutlich geworden sein, daB man Fragen der Wahrhaftigkeit und der empirischen Wahr­heit (im weitesten Sinne) aus dem moraiischen Diskurs nicht ausgrenzen kann, ohne ihn seiner Substanz ZU berauben. Es ist ersichtlich nicht so, daB nach der Ausgrenzung jener Fra~ gen noch ein - gieichsam anaiytisch scharfgeschnittenes -Probiem der Begründung moraiischer Normen übrigbieibt. Das, was ich den » Kern des moraiischen Diskurses«- nam­lich nach dér Ausgrenzung jener subsidiaren Aspekte ..: ge­nannt habe, scheint vieimehr jenen Aspekt der moraiischen Urteiisbiidung zu bezeichnen, der sich entwr:der von seibst versteht (in dem Sinne, in dem es sich nach Kant von seibst versteht, daB ich, im Lichte des kategorischen lmperativs besehen, nicht zum eigenen Vorteii lügen darf) oder aber keine intersubjektiv verbindlich!! Entscheidung mehr zu- . laBt. Dies ist weniger paradoxais es klingt; man muB nam­lich nur die Pramisse aufgeben, daB móralische Urteile nur durch Rekurs auf Normen begründet werden kõnnen, um zu sehen, daB moraiische Argumente nicht normativer Art zu sein brauchen. >Du hast es ihm versprochen<- das ist ein (einfaches) moralisches Argument. DaB man aber- ceteris paribus - Versprechen halten solle, das ist nicht eigentlich die Pramisse des Schlusses >Also muBt du es tun<; eine >>Pra­misse<<, über die sich dann auf einer hõheren Ebene der Ar­gumentation mit guten Gründen streiten lieBe. Vielmehr bringt diese »Praniisse« eigentlich nur unser .Verstandnis entsprechender Handiungssituationen in der Form einer prima-facie-Norm zum Ausdruck. Natürlich will ich nicht bestreiten, daB moraiische Urteile einen Index normativer Allgemeinheit tragen; in diesem

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Sinno in leicht zuzugestehen, d.Jl es in m~<ali,chen A.-gu- T mentationen immer aucb .um die Begründung von Normen f gebt. Entscbeidend ist aber, wie man diesen Zusammenbang zwiscben der Begründung von Normen und der Bewe~tung von Handlungsweisen verstebt. Habermas verstebt dtesen Zusammenbang im Sinne eines Ableitung~zusammenban-ges: daB eine bestimmte Handlung ~eboten tst, folgt ?araus, daB sie einer gültigen Norm entspncbt. Nacb der bter ver­tretenen Auffassung reicbt dagegen die Gültigkeit morali­scber Normen nur so weit wie die Gültigkeit der morali­scben Urteile, welcbe durcb diese Normen- nicbt ~egrün-det sondem - zum Ausdruck gebracbt werden. Dte Nor-me~ selbst tragen gleicbsam ein~n situati;en _Jnd~x, du~cb welchen sie zurückgebunden bletben an dte Sttuauonen tb-rer Generierung. Nur desbalb gibt es ein Problem der ~n­wendung moraliscber Normen - und nur so laBt es stcb verstehen. M:it anderen Worten: Begründungs- und An­wendungsdiskurs lassen sich im Falle moraliscber Norm~n nicht kategorial voneinander trennen. Nur wen~ man cites im Auge bebalt, kann mandas Problem der morahsc?en U r­teilsbildung in konkreten Situationen .sinnvoll.als emes der »Anwendung« moraliscber Normen mterprettere~. Icb glaube, daB die h~er vorg~scblag~n.e_J~terpre~atton m~­raliscber Argumentatwnen dte Plaustbt~ttat der dtskur~etbt­scben Grundidee eber verstarkt. Morahscber Dogmattsmus und moraliscber Selbstbetrug verscbanzen sicb namlicb in der Regei· binter Situationsdeutungen - einscblieBlic.b der Interpretation von Bedürfnissen und lnteressen -, dte .der Diskussion entzogen werden. In solcber Abwebr von Wuk­licbkeit steckt aber potentiell immer aucb ein Stüc~ Ve~let­zung von Menschen. Das Gebot. ein~r kommumkauven oder diskursiven Klarung von Sttuatwnsdeutungen ·~nd Selbstverstandnissen bat daher nicbt nur den Status emer Rationalitatsverpflicbtung, sondem den Rang ein~r morali­scben Norm- zumindest soweit es darum gebt, dte Betrof­fenen selbst zu Wort kommen zu lassen. Freilicb gilt aucb

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für diese Norm, was icb früber über andere moralische Nor­men gesagt habe; scbon aus diesem Grunde kann sie nicbt alies andere tragen.

Exkurs. Entgegen der bier vertretene~ Position insistiert Habermas auf einer scbarfen analytiscben Unterscbeidung zwiscben Begründungs- und Anwendungsproblematik.' Habermas siebt in der Ausdifferenzierung der Begrün­dungsproblematik von der Problematik der Anwendung sogar ein erst durcb Kant erreicbtes neues Differenzierungs­niveau, hinter das >>wir nicbt zurückfallen dürfen«. 2 lcb babe demgegenüber argumentiert, daB Kant das Anwen­dungsproblem aufgrund seines Gesetzes-Rigorismus syste­matiscb vernachlassigt. Es bandelt sicb bei Kant in Wirk­licbkeit um eine Ausdifferenzierung der Problematik der Normenbegründung auf Kosten der Anwen.dungsproble­matik. Habermas' Differenzierungstbese leucbtet mir denn aucb nicbt ein. Was die Begründung moraliscber Normen betrifft, so batten wir ja bereits geseben, daB es sicb allenfalls um »prima facie«-Normen handeln kann (wie: Du sollst nicht lügen). Wenn es sicb aber so verbalt, dann fallt die An­wendungsproblematik zu einem guten Teil zusammen mit der Problematik der Ausnabme- oder Konfliktsituationen (das beiBt mebr oder weniger: der moraliscb komplexen Si­tuationen). Wenn sicb aber, wie icb weiter gezeigt babe, mo­raliscb komplexe Situationen nicbt im gleicben Sinne unter Regeln bringen lassen wie moraliscb elementare Situationen und wenn, was eigentlicb begründet wird, die Verallgemei­nerbarkeit oder Nicbt-Verallgemeinerbarkeit von Hand­lungsweisen in Situationen-einer-Art ist, dann lassen sicb

r Vgl. Jürgen Habermas, Die neue Übersichtlichkeit, a.a.O., S. 237; ders., »Moral und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwande gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?,,, a.a.O., S. 21 f.

2 »Moral und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwande gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?«, a.a.O., S. 2rf.

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Begründungs- und Anwendungsprohlematik nicht mehr im Hahérmasschen Sinne voneinander trennen. Etwas üher­spitzt ko!Jnte man hehaupten, daB das, worum es hei mora­lischen Begründungen geht, ein Anwendungsprohlem ist; was »angewendet«' wird, ist das Moralprinzip selhst; Für den Fall moralisch komplexer Situationen hahe ich dies he­reits erlautert, aher auch die Begründung allge~einer inora­lischer Orientierungen, von denen ohen die Rede war, kõnnte manso verstehen. Um hei meinen Beispielen zu hlei­hen: Es ging dort um die Frage, was Prinzipien wie »Die Würde des Menschen ist unantasthat« oder »Jeder Mensch

. hat ein gleiches Recht auf freie Entfaltung seiner Persõnlich­keit« - Prinzipien, die gleichsam noch nicht sehr weit ent­fernt sind von der Zweckeformel des Kategorischen Impe­rativs - in Hinsicht auf das Verhalten gegenüher Frauen, Kindern oder Homosexuellen bedeuten. Im Gegensatz zu Hahermas hin ich also der Meinung, daB das Begründungs­prohlem im Falle der Moral den Charakter eines Anwen­dungsprohlems hat; das, worum es im moralischen Diskurs

· geht, ist die »Anwendung« des moral point of view, sei es auf konkrete gesellschaftliche·Prohlemlagen, sei es auf indi­viduelle Handlungssituationen. Wenn Hahermas demgegenüher sagt, daB >>keine Norm ... die Regeln ihrer eigenen Anwendung (enthalt)«', so ist dies zwar richtig, es rechtfertigt aher in dieseni Falle nicht die Trennung der Begründungs- von der Anwendungsprohle­matik. Hier liegt vielmehr, wie mir scheint, eine Konfundie­rung zweier verschiedener Anwendungsprohleme vor. Das eine dieser heiden Prohleme stellt sich, wenn vorgegehene Regeln, Verhaltensvorschriften oder Normen- etwa Nor­men des Strafrechts - auf konkrete Falle angewendet wer­den sollen; in solchen Fallen sind Normenbegründung und Normenapplikation zwei verschiedene Dinge: Die Begrün­dung der Norm (oder doch ihr >>ErlaB«) geht ihrer Anwen­dung,voraus~ Gerade aher weil mit der.Ausdifferenzierung

r A.a.O.

v_on Recht und Moral und dem Ühergang zum postkonven­t!Onellen MoralhewuBtsein das moralische BewuBtsein sich emanzipiert von d~r Dogmatik vorgegehe~er Normenin­halte, ergiht sich für die Prohleme der Moral ein Anwen­dungsprohlem anderer Art: Bei diesem zweiten Anwen­dungsprohlem geht es um die Frage, wie der >>Standpunkt der Moral« selhst jeweils in der richtigen Weise :zur Geltung gehracht werden kann. Der moralische Diskurs hat es mit dieser Frage zu tun und erst in einem ahgeleiteten Sinn mit der Begründung von Normen; er ist also in einem wesentli­chen Sinne ein Anwendungsdiskurs. Moralischer Diskurs und m~ralische ~ rteilskraft sind daher ihrem Gegenstand nach mcht vonemander verschieden; praktische Vernunft auBert sich als moralische Urteilskraft. (Dies scheint mir auch die eigentliche Pointe von Hannah Arendts Üherle­~ungen in ih~em Aufsatz >>Thinking and Moral Considera­twns«' zu sem. Hannah Arendt trifft freilich wiederum nur den im Vergleich zu Hahermas' Vorgehen koniplementaren Aspekt der Sache: Wahrend Hahermas das Anwendungs­~rohle~ geg~nüher dem Beg~ündungsprohlem marginali­stert, wtrd het Arendt undeuthch, was das moralische Urteil mit mõgliche-?' mor~lischen Diskursen zu tun hat.) In dem Int.ervtew mtt der N ew Left Review, auf das ich mich ohen heretts hezogen hahe, hat Hahermas eine weitere ei­gentümliche Begründung für die Ahtrennung des Begrün­dungs- vom A~we?dungsprohlem gegehen. Er sagt dort, daB 1'.:1oraltheonen m der Nachfolge Kants >>typischerweise auf dte Frage der Rechtfertigung von Normen und Hand­lun~en spezialisiert« sind und >>auf die Frage, wie gerecht­ferttgt~ Norm~n auf ?es.timmte Situationen angewendet und Wte morahsche Emstchten verwirklicht werden kõn­nen, ... keine Ant~ort« hahen. Zur Begründung aher giht er an, man solle >>dte Moraltheorie nicht üherfordern son­dem einiges der Gesellschaftstheorie und das meiste d:n Be­teiligten selhst üherlassen- sei es deren moralischen Diskur-

r In: Social Research, Vol. 38 Nr. 3, Herbst ·I97I.

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sen oder deren Klugheit«.' Diese Begründung der »Diffe­renzierungsthese« ist deshalb eigentümlich, weil ja gar nicht in Frage steht, daB »das meiste den Beteiligten selbst über­lassen« werden soll. Auch nach Habermas gehort ja gerade die Normenbegründung nicht zum Geschaft der Moral­theorie, sondem ist Sache des moralischen Diskurses unter den »Beteiligten«. Was in Frage steht, ist also gar nicht eine richtige Grenzziehung für die Moraltheorie, sondem das richtige Verstandnis dessen, was den Beteiligten überlassen werden soll: des moralischen Diskurses.

Ich bin bisher von der Voraussetzung ausgegangen, daB die Logik moralischer Argumentationen durch ein universalisti­sches Moralprinzip bestimmt ist. Wie früher angekündigt, will ich in einem zweiten Schriti: jetzt diese Voraussetzung fallen lassen .. Wenn Kant behauptet, der Kategorische Impe­rativ sei ein universelles und unausweichliches >>Faktum der Vemunft«, dann macht eine solche These offenbar wenig Sinn, wenn man den Kategorischen lmperativ bereits als ein universalistisches Moralprinzip versteht. Man konnte ihn aber auch in einem schwacheren Sinne verstehen; er konnte dann etwa lauten: »Handle entsprechend deinen normativen Überzeugungen«, will heiBen: »Mach für dich selbst keine Ausnahme«, oder: »Tue, was du (glaubst, das du) tun sollst<<. In diesem Sin·ne verstanden ist der Kategorische Imperativ ein Faktum der Vernunft; er formuliert namlich nu reine ele­mentare Konsistenzbedingung für menschliches Handeln. So verstanden ist der Kategorische Imperativ freilich verein­bar mit partikularistischen, feudalen oder religios fundierten Normensyste1:11en der verschiedensten Art. lch glaube frei­lich, daB er selbst in dieser eingeschrankten Bedeutung keine triviale Forderung enthalt - zumindest dann nicht, wenn man annehmen darf, daB die "Neigung zum moralischen Selbstbetrug und zur Ausnahme im eigenen Fall in allen be­kannten menschlichen Gesellschaften verbreitet .ist.

1 In: Die neue Unübersichtlichkeit, a.a.O., S. 237·

Die hier erwogene »minimale<< lnterpretation des Kategori­schen Imperativs beruht natürlic}l auf der Annahme, daB für alle Fornien menschlichen Zusammenlebens eine Dimen­sion der moralischen Beurteilung und Selbstbeurteilung konstitutiv ist.' Das soll heiBen: In die Reziprozitatsstruk­tur menschlicher Sozialbeziehungen ist ein kategorisches »muB« eingebaut, dessen Gebote nur um den Preis von mo­ralischer Verurtepungund Selbstverurteilung (Schuldgefühl) verletztwerdenkonnen. Darin, daB wiruns di e ser Dimension des moralischen Urteils als solcher nicht entziehen konnen, kommt zum Ausdruck, daB wir uns den Bedingungen eines Lebens .in wechselseitiger Anerkennung nicht entziehen konnen. Gleichwohl bezeichnet die (vielleicht) universale Existenz eines kategorischen »muB« natürlich als solche noch kein Faktum der Vernunft. Es ist vielmehr so, daB par­tikularistische, traditionalistische oder religiose Auffassun­gen und Begründungen dieses kategorischen »mug« sich erst zersetzt haben müssen, bevor überhaupt die Frage nách seinem moglichen rationalen Sinn gestellt werden kann. Nun denke ich, daB das Kantische Moralprinzip eine Ant­wort, wenn nicht auf die Frage nach dem rationalen Sinn des kategorischen »muB<<, so doch auf die Frage nach seinem ra­tionalisierbaren Kern gibt. Der rationalisierbare Kem des kategorischen »muB<<- das als solches weniger ein Fa,ktum der Vernunft als ein Faktum der menschlichen Naturge­schichte ist- ist das GemuBte als die Negation dessen, was wir nicht als allgemeine Handlungsweise wollen konnen. Retrospektiv gilt dies auch für traditionale Gesellschaften oder auch für partikularistische Stammesmoralen, Qbwohl es dort natürlich nicht so verstanden wurde, sondem- zum Beispiel- als Gebot Gottes o der als Ausdruck einer natürli­chen Ordnung. Der rationalisierbare Kem des kategori­schen »muB<< wird somit in der Reziprozitatsstruktur als

1 Ich knüpfe hier und im folgenden, allerdings in freier Variation an Über­legungen von Ernst Tugendhat an. Vgl. ders,, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. IJÚ.

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solcher verankert. Die Entwicklung einer uoiversalistischen MorallaBt sich dann verstehen ais die sukzessive Eliminie~ rung der Grundlagen eines parcikularistischen Verstandnis­ses solcher Reziprozitatsstrukturen. Wahrend wir retro­spektiv auf jenes Gemeinsame stoBen, das in allen Rezipro­zitatsstrukturen einen universellen Kern der Moral bildet -es laBt sich, inhaltlich betrachtet, wiedergeben durch Ge­bote wie >Nicht lügen<, >Nicht tõten<, >Nicht willkürlich verletzen< usw. -, wird doch erst durch die Entdeckung der Bodenlosigkeit des traditionellen kategorischen »muB« die­ses für die Vernunft zuganglich, »rationalisierbar«. Auch die universalistische Moral verdankt ihre Entstehung einer Eliminierung des Falschen, und zwar ohne daB si e ihre eige­nenGrundlagen auf dem Wege einer Letztbegründung ganz einholen kõnnte: Es bleibt in ihr ein Moment bloBer Fakti­zitat, welches datnit zusammenhangt, dàB wir nicht auBer­halb von Strukturen wechselseitiger Anerkennung wir selbst werden und leben kõnnen. Dies Faktum aber, das kein Faktum der Vernunft, sondern eine Grundlage aller mõglichen Vernunft ist, kõnnen wir nachtraglich unter Be­dingungen der Vernunft bringen. In diesem Sinne holt in der universalistischen Moral die Vernunft ihre eigene Grund­lage ein. DaB aber eine sprachpragmatische Letztbegrün­dung der Moral nicht mõglich ist, hangt damit zusammen, daB wir die Untnõglichkeit, ein gutes Leben zu führen, wenn wir uns selbst nicht in die Augen sehen kõnnen, in letzter Instanz nicht begründen, sondern nur hinnehmen kõnnen. Wir kõnnen keine Prozesse gelungener Individuie­rung denken, in denen nicht andere, Kantisch gesprochen, als »Zwecke an sich« uns gegenübertreten, oder welche nicht, Hegelisch gesprochen, in Strukturen wechselseitiger Anerkennung eingebunden waren. Das Medium solcher Anerkennungsverhaltnisse ist die Sprache. In der Sprache sind Anerkennungsverhaltnisse als normative Geltungsan­sprüche reprasentiert, und als sprachliche sind solche Gel­tungsansprüche immer schon implizit auf die mõgliche

Zustimmung aller sprachfahigen Wesen bezogen. Genau hierin liegt das Recht des Versuchs, die universalistische Moral in den Grundlagen der Sprache aufzusuchen. Aber das Wegarbeiten der ursprünglichen Partikularitat von An­erkennungsverhaltnissen ·im Medium der Sprache ware nicht denkbar, wenn nicht die Grundlage eines affektiv ver­ankerten moralischen »muB« vorgegeben ware, das mit den Bedingungen unseres mõglichen Selbstseins zusammen­hangt. In der Gewalt dieses moralischen »muB« sind rioch die schwachen Spuren einer realen Gewalt erkennbar, die als Drohung den ProzeB der Selbstwerdung begleitete. In der universalistischen Moral ist diese reale Gewalt aufgehoben im zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Aufgeho­ben freilich nur, wenn an die Stelle der bloBen »Nõtigung« durchs moralische Gesetz ein BewuBtsein dessen tritt, wel­chen Preis die Verletzung von Reziprozitatsstrukturen für ein Selbst hat, das sich der Verinnerliehung solcher Rezipro­zitatsstrukturen ·verdankt. Dann- und erst dann- ist nam­lich das kategorische »muB« moralischer Geltungsansprü­che aufgehoben in einem praktischen Wissen um die Bedin­gurigen eines guten Lebens. Moralische Geltungsansprüche sind ja Ansprüche in einem doppelten Sinn: Sie enthalten ein Ansinnen auf allgemeine Zustimmung, und sie fordern ein bestimmtes Verhalten. Kants kategorisches »Sollen« ist der Ausdruck dieses Forderungscharakters der MoraL Von Schopenhauer bis Maclntyre ist der rationale Sinn dieses ka­tegorische,n Sollens immer wieder in Frage gestellt worden'; für Kant dagegen war er schlicht ein Ausdruck des Span­nungsverhaltnisses zwischen Vernunft und Sinnlichkeit in endlichen vernünftigen Wesen. Erst ein »vollkommen guter Wille« würde, wie Kant sagt, nicht mehr als durch objektive Gesetze des Guten »ZU gesetztnaBigen Handlungen geno­tigt vorgestellt werden kõnnen,

weil er von selbst, nach seiner subjektive~ Beschaffenheit, nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werderi kann. Daher gelten für den gottli-

1 Vgl. oben Anm. 17.

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chen und überhaupt für eirien heiligen Willen keine lmperativen; das Sollen ist hier am unrechten Orte, weil das Wollen schon von selbst mit dem Ge­setz notwendig einstimmig ist.<< 1

Kant denkt di e Aufhebung des >>Sollens« in ein >> Wollen« als Fluchtpunkt eines mõglichen moralischen Fortschritts. Da aber der >>vollkommen gute Wille« Kantisch eígentlich nur als der Wille eines vollkommen entkõrperlichten Subjekts, und daher gar nicht mehr als Wille, vorgestellt werden kann, bleibt die Aufhebungsformel aporetisch. Sie ware - gegen Kant- zu verweltlichen, nicht indem die Idee eines voll­kommen guten Willens verweltlicht wird, sondem indem das Stück Weltlichkeit im kategorischen Sollen selbst- ver­innerlichter Zwang- namhaft gemacht wird, durch welches es noch auflerhalb de.r Vernunft steht. Die Aufhebung des Sollens in ein Wollen - und das ware zugleich die Aufhe­bung des Gegensatzes von deontologischer und teleologi­scher Ethik - ware zu denken als die Form eines morali­schen BewuBtseins, für welches Selbstliebe und Solidaritat mit anderen, Selbstbehauptung und Anerkennung anderer kein Gegensatz mehr ware. Diese Aufh~bungsfigur nõtigt uns nicht zur Annahme eines >>vollkommen<< guten Willens - von dem wir nicht einmal sagen kõnnten, wie er beschaf­fen sein müBte -, sie bringt vielmehr eine mõgliche Aufkla­rung des moralischen BewuBtseins über sich · selbst zum Ausdruck, die Aufhebung der (bloBen) Tugend in ein (prak­tisches) Wissen. In diesem Sinn ist eine universalistische Moral kognitiv. Gleichwohl ist der >>lack of moral set'lse« kein kognitives Defizit. In ihm kommt vielmehr zum Ausdruck, daB die Einübung in Verhaltnisse wechselseitiger Anerkennung miBlungen ist. Dagegen aber sind bloBe Argumente macht­los. Gesetzt aber, ein MoralbewuBtsein hatte sich bereits entwickelt, dann ist unter Bedingungen der Aufklarung die Entwicklung eines universalistischen MoralbewuBtseins die einzige Alternative zum Rückzug au.s dem Sprachspiel der

I GMS 42f. (BA 39)·

Moral. Ein solcher Rückzug aber, der die Bande der Solida­ritat mlt den anderen zerrisse, statt sie zu erweitern, bedeu­tete zugleich eine Selbstverletzung des Individuums, im Grenzfall seine Selbstzerstõrung.' Eine Einsicht dieser Art war es, so denke ich, die Kant zum Ausdruck brachte, wenn er die Nõtigung des Willens durchs moralische Gesetz ein >>Faktum der Vernunft« nannte. Weniger irreführend kõnnte man vom Faktum eines Lebens unter Bedingungen der Vernunft reden. An dieses Faktum kõnnen wir uns selbst und andere erinnern, aber diese Erinnerung ist nicht gleichbedeutend mit dem Nachweis der Unausweichlich­keit von Rationalitatsverpflichtungen. Vielleicht ist jedoch

I In diesem Sinne mochte ich die von Habermas in seinem neuesten Buch zitierten Satze von Klaus Heinrich verstehen: >>Den Bund mit Gott halten ist das Symbol der Treue, diesen Bund brechen das Modell des Verrats. Gott die Treue halten heilh, dem lebendig-machenden Sein selbst die Treue halten, in sich und anderen- und in allen Bereichen des Seins. Es verleug­nen in irgendeinem Bereich des Seins heiBt, den Bund mit Gott brechen und das eigene Fundament verraten ... Darum ist Verrat an anderen zu­gleich Selbstverrat, und jeder Protest gegen Verrat nicht nur Protest im ei­genen Namen, sondem zugleich in dem der anderen<< (Kiaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt I964, S. 20. Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt I985, S. 377f.). Erlautemd, in Anknüpfung an den frühen Hegel, sagt Ha­bermas: »In der Unrast der realen Lebensverhaltnisse brütet eine Ambiva­lenz, ~ie,sich der Dialektik von Vcrrat und rachender Gewalt verdankt<< (a.a.O., S. 378). Mit der »rachenden Gewait<< ereilt die Verletzung eines ge­meinsamen Lebens den, der die Verletzung bewirkt hat. Von einer »Dia­lektik<< aber konnen wir nur sprechen, wenn wir die rachende Gewalt zugleich ais eine in sprachliche Urteile aufgehobene Gewalt denken: ais Verurteilung oder Verachtung durch die anderen und - wegen der unaus­weichlichen Intersubjektivitat solchen Urteilens - ais Selbstverurteilung oder Selbstverachtung. Aber eben ais eine im sprachlichen Urteil- und in der Selbstverurteilung aufgehobene Gewalt. DaB in der moralischen Ver­urteilung und Selbstverurteilung noch ein Abglanz der realen Gewalt er­halten bleibt, das zeigt sich daran, daB solche Verurteilung und Selbstverur­teilung eine das Leben des "Verurteilten<< verletzende Kraft besitzt. Diese lebensverletzende Kraft der moralischen Verurteilung und Selbstverurtei­lung ware nicht erklarbar, wenn die »rachende Gewalt<< im moralischen Urteil nicht nur aufgehoben, sondem ganz verschwunden ware.

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diese Erinnerung, die sicherlich nicht die Form eines Letzt­begründungsarguments annehmen kann, die einzig mõgli­

.che Form einer Letztbegründung der Moral.

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Ich habe oben (Abschn. VI) Habermas' Versuch erwahnt, das moraiische Sollen ais ein Pradikat hõherer Stufe- anaiog zum Pradikat »ist wahr«- zu interpretieren. Habermas ver­sucht auf diesem Wege, das Probiem des moraiischen Soi­Iens kognitivistisch aufzuiosen, indem er das Sollen ais einen von drei Typen universaler Geltungsansprüche interpre­tiert, In der Durchführung des diskursethischen Ansatzes führt dieser Versuch, wie ich zu zeigen versuch.t habe, zu kaum auflõsbaren Schwierigkeiten. Nun giaube ich, daB sich diese Schwierigkeiten bereits in dem grammatischen Rekonstruktionsvorschiag seibst ankündigen; und zwar deshaib, weii Habermas ihn von vornherein ausschiieBlich auf moralische Geltungsansprüche bezieht. Die Pointe sei­nes Rekonstruktionsvorschiags ist ja, wie eben bemerkt, daB durch ihn moraiische Forderungen ais einer von genau drei Typen un~versaier Geltungsansprüche erkiart werden sollen (Wahl;'heit, Wahrhaftigkeit, normative Richtigkeit), vón denen Habermas behauptet, daB si e in jeder sprachii­chen AuBerung- direkt oder indirekt- prasent sind. LieBe sich das moraiische Sollen auf diese Weise erkiaren, so würde dies heiBen, daB es in universaien sprachiichen Struk­turen so tief verankert ware, daB die Frage nach seinem mõglichen rationaien Sinn sich erledigen würde. Aus diesem Grunde hangt aber auch so viel daran, daB die Letztbegrün­dung eines Moralprinzips geiingt, denn nur eine Letztbe­gründung kõnnte die Brücke schiagen von der allgemeinen Grammatik normativer. Geltungsansprüche zu den beson­deren Forderungen einer universaiistischen Moral. Nun scheint es mir aber bereits problematisch, wenn·man den ali-

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gemeinen Begriff eines normativen Geltungsanspruchs von vornherein aufladt mh dem besonderen Sinn moralischer Geltungsansprüche. Der moralische Gebrauch von Wõr­tern wie »sollen«, »müssen«, »dürfen<<, »Íst geboten«, »rich­tig<<, »gut<< usw. ist ja ein sehr spezieller Gebrauch. Da aber auch der allgemeine (nicht-moralische) Gebrauch dieser Worte mit Geltungsansprüchen verknüpft ist, hatte es nahe­gelegen, die grammatische Rekonstruktion des Sinns dieser normativen Grundworte nicht von vornherein àuf den spe­ziellen Fali moralischer Geltungsansprüche zu beziehen. Mit anderen Worten: Auch hypothetische Imperative im Kantischen Sinn, grammatische Praskriptionen (>>hier muB man den Infinitiv benutzen<<) und sogar asthetische »muB<<­Satze (»hier muB ein plõtzliches forte kommen<<) sind Gel­tungsansprüche normativer Art, auf die Habermas' Rekon­struktionsvorschlag, wenn er richtig ist, zutreffen müBte. In allen diesen Fallen handelt es sich um begründbare und kri­tisierbare Geltungsansprüche, ebenso wie im Fali morali­scher Satze, und es handelt sich in einem allgemeinen Sinn des Wortes sicherlich um normative Geltungsansprüche (im Unterschied zu Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsansprü­chen). Normative Geltungsansprüche im allgemeinen Sinne des Wortes unterscheiden sich nun aber von moralischen Geltungsansprüchen darin, daB sie lediglich prima facie Gründe liefern, etwas Bestimmtes zu tun, aber nicht -:- wie moralische Geltungsansprüche- eine unbedingte {kategori­sche) Verpflichtung zum Ausdruck bringen. Der Verpflich­tungscharakter hangt ersichtlich mit der Art der Gründe zusammen, di e man für normative Geltungsansprüche eines Typs jeweils vorbringen kann. Das heiBt aber, daB der kate­gorische Sinn des moralischen Sollens erst im Zusammen­hang mit den Gründen erlautert werden kann, di e man für moralische Geltungsansprüche anführen kann. Aus diesem Grunde taucht bei Kant das kategorische Sollen im Moral­prinzip selbst auf. Da nun bei Habermas im Grundsatz (U) nur der Begriff einer »gültigen<< (gerechten) Norm auf-

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taucht, ware der Zusammenhang zwischen seiner gramma­tischen Rekonstruktion der Soll-Satze und seiner Formuiie­rung des Grundsatzes (U) so zu verstehen, daB erst im Zusammenhang mit dem Grundsatz (U) die Worte »rich­tig« oder >>geboten« den Sinn von »moraiisch richtig« oder »moraiisch geboten« annehmen. Aiso etwa: >Unter Um­standen S p zu tun ist moraiisch (unbedingt) geboten (rich­tig), wenn p einer gültigen Norm entspricht<. Hieran zeigt sich aber, daB das Probiem des moraiischen Sollens sich kei­neswegs durch die grammatische Rekonstruktion normati­ver Geltungsansprüche eriedigt hat, es bieibt vieimehr ein besonderes Probiem: Das Probiem besteht darin, daB in die­sem besonderen Falle das Tun - nicht des Richtigen, son­dem - des in einem bestimmten Sinne Richtigen unbedingt geboten ist, so daB aiso in diesem F alie die Mogiichkeit ent­fallt, das Tun des in einem Sinne Richtigen durch Berufung auf altetnative Kriterien der Richtigkeit mit guten Gründen zu verweigem. (Ich Iasse es dahingestellt, ob dies ein voll­kommen angemessenes Biid des Vorrangs moraiischer vor anderen normativen Geltungsansprüchen ist; es ist jeden­falls das Bild, das Habermas mit Kant teilt.) Weil der Vor­rang moraiischer Geltungsansprüche vor anderen normati­ven Geltungsansprüchen in Habermas' Rekonstruktion nicht einsichtigwird, denke ich, daB Habermas das Probiem des moraiischen Sollens in Wirkiichkeit nicht sprachprag­matisch neutraiisiert, sondem gieichsam nur in einer Grau­zone zwischen seiner grammatischen Rekonstruktion nor­mativer Geitungsansprüche und seiner Formuiierung des Grundsatzes (U) abgeiaden hat. Hiergegen IieBe sich allenfalls geltend machen, daB das mo­raiische Sollen so tief in der Geltungsorientierung des kom­munikativen Handeins verankert ist, daB sogar noch der Wahrheitsanspruch assertorischer .AuBerungen in Katego­rien eines morai-anaiogen Rechtsanspruchs eriautert wer­den kõnnte'. Wenn man »Wahrheit« ais »Warranted,asserti­bility« versteht, deutet man ja das Behaupten ais das Gei-

tendmachen eines Rechts'anspruchs und zugieich ais das Eingehen einer Verpflichtung: der Rechtsanspruch, der in der behauptenden AuBerung erhoben wird, ware argut?en­tativ einzuiõsen, und wenn ich etwas behaupte, verpfhchte ich mich einen solchen Rechtsanspruch gegebenenfalls ar-

' h . gumentativ einzuiõsen .. Man kõnn:~ daher vers.uc t sem, den für die phiiosophrsche Trad1t10n kennzetchnenden Vorrang der propositionaien Wahrheit vor anderen ?ei­tungsmodi umzukehren in einen Vorrang ~er normattven Richtigkeit. Wenn sich ein Primat der prakttsch.en Vemunft in diesem Sinne begründen IieBe, dann müBte srch das Pro­biem des moraiischen Sollens ais ein Ausdruck der »Iogo­zentrischen<< Voreingenommenheit des abendiandischen Denkens' in nichts auflõsen; die Anerkennung moraiischer oder morai-anaioger Verpflichtungen erwiese sich ais Be­dingung der Mõgiichkeit für die Teiinahme an verstandi­gungsorientiertem Handein überhaupt und .. daher auch ais Bedingung der Mõgiichkeit assertorisc?er AuBerung~n. In der Tat ist schon die Konsenstheone der Wahrhett der Ausdruck einer solchen radikaien Umkehrung traditionei­Ier Prioritaten. Habermas hat diese Umkehrung der Priori­taten in seiner Theorie des kommunikativen Handelns auch »geneaiogisch<< zu rechtfertigen versucht. ~m AnschiuB an Durkheim sieht er die Ursprünge der morahschen Soll-Gei­tung in einer vor-rationaien, symboiisch strukt~rierten Sphare des Sakraien - gieichsam ~Is der Sphare emes u~­sprüngiichen, seiner seibst noch mcht bewuBten normatt­ven Konsenses. 1 Hierdurch ist ein noch vor-rationaies Ver­standnis von Normgeitung konstituiert, welches zum ent­scheidenden Vermitdungsgiied wird für eine grammatische Ausdifferenzierung der menschiichen Rede: Diese vollzieht

1 Vgl. Jürgen Habermas, Derphilosophische Diskurs der Moderne, Frank­furt 1985, S. 361. 2 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981, Bd. 2, S. 69ff., insbes. S. 84.

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sich in der Form einer »Versprachiichung des. Sakraien<<.' Di e Sphare des. Sakraien kann diese Vermittlungsfunktion deshaib übernehmen, weii sie unter den »drei Wurzeln des kommunikativen Handeins« 2 eine ausgezeichnete Position einnimmt. Die drei Wurzein des kommunikativen Han­deins sind die vorsprachiichen Wurzein sprachiich artíku­Iie~ter Kognitionen, Obiigationen und ExpressionenJ, die gietchsam ais eiementare Bausteine jeder grammatisch aus­differenzierten sprachiichen ÃuBerung anzusehen sind: Die grammatisch ausdifferenzierte Rede ist nichts anderes ais die lntegration dieser Momente zu einem Ganzen aus pro­positionaien, illokutionaren und expressiven Bestandtei­Ien.4 Nun Iassen sich aber nur die propositionaien und die expressiven Bestandteiie der sprachiichen Rede zurückfüh­ren auf ein nicht selbst schon symboiisch strukturiertes Vorsprachiiches; Wahrnehmungen, Vorstellungen und ad­aptives Verhalten sind das vorsprachiiche Korreiat des pro­positionaien Bestandteiis sprachiicher ÃuBerungen, Ieibge­bundene Expressionen das vorsprachiiche Korreiat ihres expressiven Bestandteiis.s Dagegen verweisen die illokutio­naren Be·Standteiie der Rede, durch welche assertorischen und expressiven Satzen erst di e Kraft zuwachst, »den Hõrer zur Annahme eines Sprechaktangebots zu motivieren6, auf eine vorsprachiiche Wurzei anderer Art: namiich auf jene Sphare des Sakraien, die, obwohi vorsprachiich, doch nicht natürlich, sondern bereits symboiisch strukturiert ist.

>>Das Irritierende an dicser Wurzel ist der Umstand, daB sie von Haus aus symbolischer Natur ist. Der kognitive Umgang mit wahrnehrnbaren und manipulierbaren Gegenstanden steht ebenso wie die Expression von Erleb­nissen über unsere Sinnesreizungen bzw. unsere Bedürfnisse in Kontakt mit der auBeren bzw. inneren Natur; sie berühren sich mit einer nicht nur

r A.a.O., S. II 8 H. 2 Vgl. a.a.O., S. 97ff .

. 3 A.a.O., S .. 99· 4 Vgl. a.a.O., S. 97ff. 5 A.a.O., S. 99· 6 A.a.O., S. ro6.

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sprachtranszendenten, sondem auch von Symbolstrukturen freien Rea­fitãt. Die wie immer auch sprachlich gepragten Kognitionen und Expres­sionen des Menschen lassen sich zudem bis in die Naturgeschichte tieri­scher Intelligenzleistungen und Ausdrucksgesten zurückverfolgen. Dem­gegenüber hat das NormbewuBtsein keine gleicheimaBen triviale aufler­$Jirachliche Referenz; und für Obligationen finden sich nicht, wie für Sinneseindrücke und Bedürfnisse, unzweideutige naturgeschichtliche Kor­relate. Dennoch sichert das KollektivbewuBtsein, sichern jener palaosym­bolisch gestützte normative Konsens und die von ihm getragene kollektive Identitat den Verpflichtungserlebnissen einen Kontakt mit einer, wenn nicht symbolfreien, so doch vorsprachlichen Realitat - sie sind »a!tet« ais die sprachlich vermittelte Interaktion.<<'

Die »Bindu~gseffekte« des illokutio?aren Bestandteiis sprachiicher AuBerungen verdanken stch dem Umstand, daB dessen vorsprachiiche Wurzel ein bereits symboiisch­bzw. »paHiosymbolisch«- strukturierter normativer Kon­sens ist. Ware dies freilich alies, so kõnnten, wie Habermas feststellt, »ko~stative und expressive Sprechhandiungen Bindungseffekte nicht aus eigener Kraft, sondern nur dank ihres normativen Kontextes erzieien. Der illokutionare Be­standteii einer soichen Sprechhandiung hatte dann keine motivierende Kraft, die Last der Handiungskoordinierung müBte vieimehr von dem vorgangigen Konsensus, derden normativen Kontext stützt, getragen werden.« 1 An dieser Stelle nun greift Habermas auf die von ihm behauptete Par­allelitat von

(r) »Es ist geboten, daB h in S<<

und

(2) »Es ist der Fali (ist wahr); daB p<<

zurückJ und auBert foigende Vermutung: Es sei anzunehmen, daB das · Geltendmachen von Wahr­heitsansprüchen mit Hilfe konstativer ÃuBerungen des Typs (2) erst mõglich wurde dadurch, daB ein bereits ver-

r A.a.O., S. 96f. 2 A.a.O., S. ro6f. 3 Vgl. a.a.O., S. ro7.

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fügbarer Begriff der Normgeltung gleichsam einwanderte in den illokutionaren Modus des Behauptens, und zwar so, daB ein Typus von Rechtsansprüchen sich konstituierte, bei dem, anders als im F alie der eigentliçhen Normgeltung, Ein­lõsung und Begründung von vornherein zusammenfallen muBten.

>>Einerseits kiinnte der Anspruch auf propositionale Wahrheit die Struktur eines Geltungsanspruchs, der berechtigterweise eingeliist werden kann, je­ner Art von Ansprüchen entlehnt haben, die sich auf gültige Normen stüt­zen; andererseits muB er sogleich in einer radikalisierten, namlich auf Begründungen abzielenden Version auftreten. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, daB sich der Begriff eincs kritisierbaren Geltungsan­spruchs einer Assimilation der Wahrheit von Aussagen an die (zunachst keineswegs kritisierbare) Geltung von Normen verdankt.« 1

Mit dem Begriff der Normgeltung, so erlautert Habermas wiederum im AnschluB an Durkheim, ist bereits die Unter­stellung eines idealisierten Einverstandnisses aller Angehõ­rigen einer Gesellschaft verknüpft. Deshalb kann der ur­sprüngliche, symbolisch strukturierte normative Konsens zum Ansatzpunkt einer grammatischen Ausdifferenzierung der Rede, das heiBt zum Modell für alle Geltungsbegriffe­insbesondere des Begriffs der Wahrheitsgeltung - werden.

>>Der norma tive Konsens, der sich in der Semantik des Sakralen auslegt, ist den Angehiirigen in der Form eines idealisierten, raum-zeitliche Verande­rungen transzendierenden Einverstandnisses gegenwartig. Dieses bietet das Modell für alie Geltungsbegriffe, vor aliem für die Idee der Wahrheit.« 2

Der als Sphare des Sakralen sich artikulierende normative Konsens ist das U rbild eines idealisierten Einverstandnisses, »einer auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft bezo­genen IntersubjektivitatJ, und daher das Urbild mõglicher intersubjektiver Geltung. Durch die Versprachlichung des Sakralen wird dieses U rbild aller Geltung aus seiner palao­symbolischen Hülle befreit und als Grundlage mõglicher

1 A.a.O., S. 109.

2 A.a.O., s .. JIO.

3 A.a.O., S. III.

rationaler Geltung verfügbar; auf dem Umweg über die Ausdifferenzierung der Geltungsmodi wird schlieBlich auch der Begriff der Normgeltung selbst aus seiner ur­sprünglichen sakralen Immunisierung herausgelõst und -analog zur Wahrheitsgeltung - in die Form eines diskursiv einlõsbaren Geltungsanspruchs transformiert.' Auf diesem Wege wird am Ende >>die bindende Kraft eines s~kral be­gründeten moralischen Einverstandnisses ... durch ein mo­ralisches Einverstandnis ersetzt ... , das in rationaler Form zum Ausdruck bringt, was im Symbolismus des Heiligen immer schon intendiert war: die Allgemeinheit des zugrun­deliegenden Interesses.<<' Mit diesem faszinierenden Gedankengang scheint es Haber­mas nun doch gelungen zu sein, das moralische Sollen so tief in den allgemeinen Strukturen sprachlicher Ve:rstandigung zu verankern, daB die Frage nach seinem rationalen Sinn ge­genstandslos wird. Wenn ein BewuBtsein moralischer Ver­pflichtung sich gleichsam als Kern aller mõglichen Rationa­litat sprachlicher Verstandigung erwiese, dann hatte sich das Problem des moralischen Sollens in der Form, in der es schon Kant beunruhigte, endgültig als ein Scheinproblem erwiesen. Nun speist sich Habermas' »genealogische« Re­konstruktion eines· grammatisch ausdifferenziertén Gel­tungsbegriffs freilich von theoretischen Voraussetzungen, die auf dem Wege dieser Rekonstruktion erst untermauert werden sollten: Habermas gebraucht die Begriffe eines »idealisierten Einverstandnisses« oder einer »idealen Kom­munikationsgemeinschaft« bereits im Sinne einer Konsens­theorie der Wahrheit. Nu r wenn sich die Rekonstruktion an ihren entscheidenden Punkten unabhangig von solchen Voraussetzungen einsichtig machen lieBe, kõnnte man aus ihr ein. unabhangiges Argument für di e theoretischen Pra­missen der Diskursethik gewinnen. An ihren ents~heiden­den Punkten scheint mir jedoch Habermas' Rekonsttuktion

1 A.a.O., S. 112.

2 A.a.O., S. 124.

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keineswegs einsichtig. Wenn Habermas den Symbolismus des Sakralen als Ausdruck eines moralischen Einverstand­nisses deutet, so ist dies im Sinne einer funktionalistischen Betrachtungsweise vielleicht gerechtfertigt; nicht gerecht­fertigt erscheint es mir aber als These über den sprachprag­matischen Vorrang moralischer Geltung über die anderen Geltungsmodi. Es ware vielmehr naheliegend, den Begriff des Sakralen, so wie Habermas ihn verwendet, einer Denk­weise zuzuordnen; für di e die spater ausdifferenzierten Gel­tungsmodi noch nicht klar voneinander sich geschieden haben, so daB also etwa moralische und Wahrheitsgeltung gleichsam noch ineinander verflieBen. Wahlt man eine sol­che Perspektive, so stellt sich das Differenzierungsproblem anders dar als in Habermas' Überlegungen im AnschluB an Durkheim. Und zwar stellt es sich eher so dar, wie Haber­mas selbst es im ersten Band der Theorie des kommunikati­ven Handelns.in dem Abschnitt über »Einige Merkmale des mythischen und des modemen Weltverstandnisses« erõr­tert hat.' Habermas hat dort die >>Geschlossenheit« mythi­scher Denkformen in Verbindung gebracht mit dem Fehlen grundlegender Differenzierungen, wie sie für die »offenen« Denkformen der Modeme kennzeichnend sind. Und zwar geht es nicht nur um di e Differenzierung zwischen verschie­denen Geltungsmodi, sondem auch um di e Differenzierung · zwischen kausalen und symbolischen Zusammenhangen, zwischen Kultur und Natur, zwischen Sprache und Welt. Das Fehlen .entsprechender Differenzierungen macht es un­mõglich,· die Sphare symbolischer Geltung ais eine Sphare kritisierbarer Geltungsansprücke überhaupt in den BliCk zu bekommen. Di e mythische Denkform ist gleichsam noch in

· sich selbst verkapselt, weil si e die sprachlichen Ressourcen noch nicht ausgebildet hat, die ihr eine reflexive Rückwen­dung auf sich selbst erlauben würden.

»Es gibt offenbar noch keinen prazisen Begriff für die nicht-empirische Geltung, die wir symbolischen AuBerungen zuschreiben. Geltung wird

r Theorie des kommunikativen Handelns, a.a.O., Bd. r, S. 72ff.

mit empirischer Wirksamkeit konfundiert. J?abei dürfen wir .nicht an s~e­zielle Geltungsansprüche denken: im myth1schen ~enken s1~d ve~sch~e­dene Geltungsansprüche wie propos.itionale W~hrheJt, n?rmat1v~ Richug­keit und expressive Wahrhaftigkeit noch gar mc.ht ausdlf~erenz1ert. A?c;r selbst der diffuse Begriff von Geltung überh~upt JS~ noch m~~.t von empm­schen Beimengungen befreit; Geltungsb~gnffe .w1e Mor.a~~tat und Wahr­heit sind mit empirischen Ordnungsbegnffe~ w1e Kau~al~tat und Ge~und­heit amalgamiert. Darum kann das spr~chhc·h· ~onstitUierte Weltbii~ so weitgehend mit der Weltordnung se.lbst J~enufJzJert werden, ~aB es mcht ais Weltdeutung, ais eine Interpretauon, d1e dem Irrtum .unterh~gt ~nd der Kritik zuganglich ist, durchschaut werden k~nn. In d1eser ~msJc~t. ge­winnt die Konfusion von Natur und Kultur d1e Bedeutung emer Reiflka-

tion des Weltbildes.<< 1

Wenn man das Differenzierungsproblem so stellt, wird zu­nachst einmal verstandlich, weshalb in der Geschichte der Anthropologie die Sphare des Sakral~n nicht nur als eine Sphare ursprünglicher N ormgeltung (e me V?rform der M?.­ral), sondem auch als eine Sphare ursprüngh~her·We~~erkl~­rung (eine Vorform der Wissensch~ft), áls eme Sphare ml­metisch-expressiver Handlungen (eme Vorform der K~?st) oder sogar als eine Sphare noch unbeholfener ~elt?emach­tigungsversuche (Magie als Vorform der Techmk) mterpre-· tiert worden ist. • In Wirklichkeit scheint es unmõglich, das lneinander von Symbolik und Ritus im Sakralen aufeine dieser Funktion.en festzulegen.l Habermas selbst weist auf den vo~ Durkhe~m betonten Zusammenhang zwischen der morahschen Bm-

r A.a.O., S. 8rf. 2 Für Belege vgl. etwa die in Bryan R. Wilson (Hg.), Rationality, Oxford

1974 gesammelten Aufsatze. . .

3 Vgl. Alasdair Maclntyre, »Rationality and the Explanauon of ActJOn«,

in: ders., Against the Self-Images of the Age, New York 1971, S. zp: ·~For when we approach the utterances and a~tivities ?f an alien cultur~ w1t~ a well-established classification of genres m our mmd and ask of a g1ven nte o r practice ,rs it a piece o f app!ied science? O r a p~ece o f symb~lic and dra­matic activity? Ora piece of theology?< .we m~y m fact be askmg as set of questions to which any answer may b.e m1sleadmg ... For the utterances and practice in question may belong as 1t were, to ali and none of the genres

that we have in mind.« .

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I I ..

dungsfunktion d~s Sakralen ~nd seiner Funktion als Spiegel und AuBenhalt emer kollekuven Identitat hin. Die kollek­tive Identitat der Gruppe ist das BewuBtsein eines » Wir« das sich selbst in sakralen Symbolen und Riten erfahrba; wird, in ihnen zugleich sich entladt und regeneriert. • U nter dem funktionalen Gesichtspunkt des Gruppenzusammen­h~lts bedeutet dies, »daB der Motivhaushalt der assoziierten Emzelnen symbolisch erfaBt und über dieselben semanti­schen Gehalte strukturiert wird«. 2 Das Saknile kann diese no~U?-ativ~ Bindungsfunktion aber gerade deshalb erfüllen, wetl In semer s.emantik die kog?itiven, mimetisch-expressi­v.en und morahschen Gehalte mcht voneinander geschieden smd. Selbst wenn man Habermas' These akzeptiert daB die affe~tiven Ambi.valenzen, von denen das Sakral~ umge­ben 1st - das Inemander von Heil und Schrecken, von Re­spekt und Grauen, von Anziehung und Abscheu -, sich als Ursprungsgestalten der mit moralischen Verpflichtungen verbundenen Gefühlsambivalenzen verstehen lassen J so konnte man doch nicht. eigentlich von moralischen G;füh­len sprechen, denn zu dtesen gehort ein wie auch immer ru­dimentarer Begriff der moralischen Verpflichtung. Dieser scheint aber die A:usdifferenzierung der Geltungsspharen vorauszusetzen, dte Habermas mit seiner Hilfe erklaren mochte. Hiergegen lieBe sich freilich einwenden, daB ein in der Sphare des Sakralen bereits verfügbarer Begriff der Norm­geltung (man denke etwa an rituelle und Tabu-Vorschrif­ten) aus~eicht, u~.?as Habermassche Argument zu tragen. Wen.n d~e Autontat ~es Sakralen bedeutet, daB jede Vor­schnft, ;ede Regei gletchsam mit der Aura eines unbeding­ten »muB« umgeben un.d mit entsprechenden Affekten besetzt ist, dann konnte man hieraus schlieBen, daB das dem Sakralen zugeordnete NormbewuBtsein seiner Struktur

r Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, a.a.O., S. 84f. 2 A.a.O., S. 88. 3 Vgl. a.a.O., S. 79·

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nach moralisch ist.' Dies würde bedeuten, daB ein Normbe­wuBtsein sich nur als moralisches konstituieren konnte, auch wenn seine wichtigsten Inhalte - Ritual und Tabu -vielleicht nicht in unserem Sinne moralische waren. Dieser Gedanke, so verführerisch er ist, scheint mir indessen psy­chologisch und begrifflich unplausibel. An den abgespalte­nen Resten ritueller und tabugesteuerter Praktiken, die bis in unsere eigene Kultur hineinreichen, kann man namlich sehen, wie ich denke, daB das unbedingte Sollen, das mit ri­tuellen und Tabu-Vorschriften verknüpft ist, nicht nur kei­nen moralischen Inhalt zu haben braucht, sondem auch Notigungen ganz anderer Art zum Ausdruck bringen kann als di e eines moralischen Sollens- Bedürfnisse ganz anderer Art als das nach Anerkennung oder Selbstachtung. Ich kann diesen Gedanken hier nicht anthropologisch oder psycho­logisch, sondem nur begrifflich zU untermauem versuchen. Wenn etwa ein Kind auf einer bestimmten Ordnung von Dingen oder Verrichtungen, auf einem bis in die Wortwahl fixierten Ritual des Vorlesens oder Erzahlens besteht, so ist hierin sicherlich ein unbedingtes »richtig« oder »falsch«, also ein unbedingtes »Sollen« impliziert, aber mit diesem >>Sollen«, mit diesem »richtig« oder >>falsch« verteidigt das kindliche Ich die Ordnung einer Welt, in deres zu Haus ist; die Verletzung dieser Ordnung ist eine Bedrohung des Ich. Das >>Du muBt« ist eigentlich ein >>So muB es seio«. Natür­lich steckt hierin ein genuiner moralischer Anspruch an an­dere, aber den moralischen Anspruch kann nur erkennen, wer den nicht-moralischen Charakter des >>richtig« und »falsch« erkennt. Der moralische Anspruch ist der An­spruch auf Respektierung der Bedürfnisse eines Kindes; was das Kind aber fordert, ist, paradox gesagt, nicht die Respek-

r Dies entspricht auch Freuds Deutung des Tabu. Freud deutet das Tabu­verbot ais ••das Resultat einer GefühlsambivalenZ<< (Sigmund Freud, Totem und Tabu, Gesammelte Werke, Bd. rx, Frankfurt 1968, S. 84) und das »Ta­bugewissen<< ais altestc Form des (moralischen) Gewissens (vgl. a.a.O., S. 85).

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tierung seines moralischen Anspruchs, sondem die Respek­tierung der richtigen Ordnung der Dinge. Diese richtige Ordnung der Dinge ist keine moralische Ordnung, es ist vielmehr eine Ordnung der Welt, ohne die nicht nur das Kind, sondem - in einem erweiterten Sinne verstanden -letztlich keiner bei sich selbst bleiben kann. Was ich hiermit zeigen will, ist die MogÜchkeit ~ines kate­gorischen »muB«, eines NormbewuBtseins also, das, ob­wohl affektiv hochbesetzt, nicht moralisch genannt werden kann, weil es auch seiner Funktion rtach nicht moralisch ist. Dies wird klar, wenn man, gleichsam nachtraglich, eine mo­ralische Begründung zu geben versuchte. Es ist nicht so, daB sich dann herausstellte, daB die Forderung moralisch unbe­gründet war; was sich vielmehr herausstellt, ist, daB die For- . derung keine moralische war. Wenn dies aber richtig ist, dann konnte man die Existenz eines affektiv hochbesetzten NormbewuBtseins in archaischen Gesellschaften nicht ohne weiteres aufs Konto der Moral verbuchen. Es lage vielmehr nahe anzunehmen, daB dies NormbewuBtsein ·von »ge=­mischter« Art ist. Wir konnen die moralischen von den nicht-moralischen Anteilen dieser Normen nur aussondem . , indem wir uns überlegen, nicht, ob die Normen gut begrün­det sind, sondem welche Art von Begründungen denkbar ware, nachdem einmal das »Begründungsspiel<< eingeführt 'o/urde. Was den Bereich des Tabu betrifft, so gibt es analoge Uberlegungen in der anthropologischen Literatut selbst. Robin Horton hat in Anknüpfung an Mary Douglas 1 das Tabu in Zusammenhang gebracht mit der »protektiven« Einstellung archaischer Gesellschaften gegenüber einem klassifikatorischen System, dessen Infragestellung als Be­drohung erfahren wird. • Auch hier würde, wenn di e anthro-

I Mary Douglas, Purity and Danger, London I966. Robin Horton, »Afri­can Traditional ThoJ.lght and Western Science<<, in: Bryan R. Wilson (Hg.), Rationality, a.a.O., S. IJI ff. 2 Horton, a.a.O., S. I64-I66. Ãhnlich auch Edmund Leach, Kultur und Kommunikation, Frankfurt I976, S. 45 ff.

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pologischen Beobachtungen richtig sind, die affektiv hoch­besetzte Unterscheidung zwischen »tichtig« und >>falsch«, zwischen >>gut« und >>base« mit der Stabilisierung einer kol­lektiven Identitat zusammenhangen, ohne doch »mora­lisch« genannt werden zu konnen. SchlieBlich kõnnte man auch noch an den >>quasi-sakralen« Charakter erinnem, den Spielregeln und sogar Regeln der Etikette auch in unserer Gesellschaft in gewissen Kontexten - und nicht nur bei Kindem- annehmen konnen. Dies zeigt sich an der hochaffektiven Besetzung solcher Regeln. Nun ist natürlich der Anspruch auf Einhaltung der Spiel- oder Etikette-Regeln immer auch ein morallscher Anspruch. Aber die Regeln selbst sind nicht moralischer Art, auch wenn sie ein kategorisches >>muB« beinhalten. 1 Die Regeln sagen, daB man in bestimmten Situationen etwas Bestimm­tes tun muB oder nicht tun darf oder daB man etwas in einer bestimmten .Weise zu tun hat oder nicht tun darf. Die~es »muB« oder >>darf« ist kein moralisches >>muB« oder >>darf«, es ist vielmehr das >>muB« oder >>darf« von Regeln, die kon­stitutiv sind für das Spielen e\nes Spiels oder doch konstitu­tiv für eine bestimmte Art, ein Spiel zu spielen. Zwar kõnnte man vermuten, daB unter Bedingungen geringer kognitiver und sozialer Differenzierung das kategorische >>muB« jeder Regei die Aura eines moralischen >>muB« erhalt; aber dies konnte nur bedeuten, daB erst mit wachsender Differenzie­rung die moralischen von den nicht-moralischen.Regeln un­terscheidbar werden. Dabei geht es nicht nur·darum, daB an die Stelle ~onventioneller Moralnormen moralische Prinzi­pien treten, sondem auch darum, daB die konventionellen

I Philippa Foot hat darauf hingewiesen, daB nicht das kategorische Sollen ais solches, sonden1 allenfalls die Art der Begründung moralische Regeln von Klubregeln ·oder Regeln der Etikette unterscheiden kõnne: »It is ob­vious that the normative character of moral does not guarantee its reason­giving force .. Moral judgements .are normative, but so are judgements of manners, statements of club rules, and many others<< (»Morality as a Sy­stem of Hypothetical Impetatives<<, in: Philippa Foot, Virtues and Vices, Berkeley und Los Angeles I978, S. I62).

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· Normen sich gleichsam aufspalten in moralische und nicht­moralische Regeln - grammatische, asthetische, juridische, konstitutive Regeln aller Art usw. Ich will sagen: es gibt sowohl empirische als auch begriffli­che Gründe für di e Vermutung, da~ der normative Konsens archaischer Gesellschaften einem motalischen Konsens

. nichtgleichgesetzt werden kann. Ich glaube, daB dieser Um­stand nur deshalb leicht aus dem Blick gerat, weil der in der Moralpsychologie im AnschluB an Kohlberg gangig gewor­dene Begriff des »konventionellen« MoralbewuBtseins die Suggestion mit sich führt, als waren alle »konventionellen« Normen Vorlaufer von moralischen oder moralisch be­gründbaren Normen, als ware also ihre Pointe (oder auch ihre Funktion) die von moralischen Normen. Selbst wenn man aber davon ausgeht, daB die gemeinsamen Normen ei­ner archaischen Gesellschaft die »Allgemeinheit« eines »ZU­grundeliegenden InteresseS<< zum Ausdruck bringen, kann man hieraus nicht folgern, daB sie immer schon das Gel-' tendmachen eines gemeinsamen- im Gegensatz zum indivi­duellen- Interesses, wie Habermas es formuliert,· intendie­ren. Mit anderen Wbrten: Auch wenn der in der Sphare desSa­kralen bereits verfügbare Begriff der Normgeltung sich durch ein affektiv hochbesetztes unbedingtes Sollen charak­terisieren laBt, folgt hieraus nicht, daB dieser Begriff der Normgeltung mit einem ursprünglichen Begriff moralischer Geltung gleichgesetzt werden darf. Vielmehr ist zu erwar­ten, daB der Begriff moralischer Geltung in diesem ur­sprünglichen Begriff der Normgeltung noch ebenso verkap­selt ist wie die wissenschaftliche Welterklarung in der my­thischen Weltdeutung: namlich als einer unter mehreren Bedeutungsaspekten. Welchen moglichen rationalen Sinn dann das unbedingte Sollen >>konventioneller« Normen zum Ausdruck bringt, das hinge davon ab, welche Arten von Begründungeri denkbar werden, wenn das »konventio­nelle« Weltverstandnis sich reflexiv offnet. Wenn aber nicht

jedes (»konventionelle«) kategorische »muB« seinem Sinne nach ein moralisches »muB« ist, dann verlagert sich das Dif­ferenzierungsproblem in den von Habermas angenomme­nen ursprünglichen Begriff der Normgeltung selbst hinein. Dies würde heiBén, daB man zwar vielleicht die Soll-Gel­tung als einen universalen Geltungstypus interpretieren dürfte, si e aber gerade als solchen nicht mit moralischer Gel­tung gleichsetzen dürfte. Und dies entspricht genau meinen Überlegungen zu Habermas' grammatischer Rekonstruk­tion normativer Geltungsansprüche am Anfang dieses Ab­schnitts. Ich bin mir des tentativen Charakters der vorangehenden Überlegungen sehr wohl bewuBt. Ich hoffe aber, gezeigt zu haben, daB Habermas' suggestive und gedankenreiche Wei­terführung von Durkheims Deutung des Sakralen kaum we­niger begriffliche Probleme aufwirft, als sie losen soll. Ich kann daher in Habermas' Rekonstruktion zumindest kein zusatzliches Argument für die konsenstheoretischen Pra­missen der Diskursethik sehen, die ich oben rein immanent kritisiert habe. Werin aber, wie ich es vermute, der Begriff der moralischen Verpflichtung das Resultat einer Ausdiffe­renzierung von Geltungsspharen (gerade auch normativer Ge~tungsspharen) ist, so sprache dies wiederum dafür, (all­gemeine) Rationalitatsverpflichtungen von (speziellen) mo­ralischen Verpflichtungen zu unterscheiden, so wie ich dies oben getan habe. Die eigentliche Pointe dieser Unterschei­dung für eine Rationalitatstheorie sehe ich darin, daB, wie ich glaube, erst sie es erlaubt, einen »pluralen« und offenen Rationalitatsbegriff zu denken, der weder von letzten Be­gründungen abhangig noch auf letzte Versohnungen ange­wiesen ist. Mir scheint, daB die konsenstheoretischen Pra­missen der Diskursethik, die mit der Deutung des morali­schen Sollens ais einer sprachpragmatischen Universalie aufs engste verknüpft sind, der Entfaltung eines solchen pluralen und offenen - aber keineswegs relativistischen -Rationalitatsbegriffs im Wege stehen. Dieser Rationalitats-

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begriff, so meine ich, ist auch derjenige, den Habermas selbst überall dort vertritt, wo er di e metatheoretischen Pra­missen der Universalpragmatik in eine Analyse des norma­tiven Gehalts der Moderne »übersetzt<<, An solchen Stellen wird insbesondere deutlich, daB es der starken konsens· theoretischen Pramissen gar nicht bedarf, um die »Rationa­lisierung der Lebenswelt« - im Allgemeinen - und eine dialogische »Óffnung« der Ethik- im Besonderen- zu den­ken. In seinem letzten Buch (Der philosophische Diskurs der Moderne)' bezeichnet Habermas als »Fluchtpunkte« einer moglichen Rationalisierung der Lebenswelt: ,,für die Kultur (einen) Zustand der Dauerrevision verflüssigter, d. h. re­fle:xiv gewordener Traditionen; für di e Gesellschaft ( einen) Zustand der Abhangigkeit legitimer Ordnungen von forma­leu, letztlich diskursiven Verfahren der Normsetzung und Normbegründung; für die Personlichkeit (einen) Zustand der riskanten Selbststeuerung einer hoch abstrakten Ich­Identitat.« Durch di e Rationalisierung der Lebenswelt nam­lich >>entstehen strukturelle Zwange zur kritischen Auflo­sung von garantiertem Wissen, zur Setzung generalisierter Werte und Normen und zur selbstgesteuerten Individuie­rung (da die abstrakten Ich-Identitaten auf eine Selbstver­wirklichung in autonomen Lebensentwürfen verweisen.«' Die >>Fluchtpunkte« einer Rationalisierung der Lebenswelt, von denen Habermas spricht, bezeichnen nicht die Struktu­ren einer idealen Kommunikationsgemeinschaft, sondem die >>strukturellen Zwange« einer Lebenswelt, die durch eine Gemeihsamkeit universalistischer Werte und das Be­wuBtsein allgemeiner Rationalitatsverpflichtungen gepragt ist. Hierdurch ist kein gesellschaftlicher I dealzustand, son­dem ein,rational nicht hintergehbarer Problem- und Mog­lichkeitsbestand modemer Gesellschaften bezeichnet; die >>Fluchtpunkte« der Rationalisierung der Lebenswelt sind

I Jürgen Haberm~s, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt I985. 2 A.a.O., 399f.

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eigentlich Fluchtpunkte eines Rationalitatsverstandnisses, binter das wir nur um den Preis von Regressionen, Unter­drückung oder Terror zurückgehen konnen. Erst auf dem Boden dieses Rationalitatsverstandnisses lassen sich die substantiellen Probleme der gesellschaftlichen Ordnung und des guten Lebens angemessen bearbeiten, konnen sich die >>Negationspotentiale sprachlicher Verstandigung« 1 so entfalten, daB die Moglichkeiten eines guten Lebens, die Moglichkeiten kritischer Revisionen und di e Moglichkeiten innovatorischer Veranderungen offengehalten werden.

.Rationalisierung der Lebenswelt bedeutet Differenzierung und Verdich­tung zugleich- die Verdichtung der schwebenden Textur eines Gespinstes aus intersubjektiven Faden, welches die immer scharfer ausdifferenzierten Bestandteile der Kultur, der Gesellschaft und der Person gleichzeitig zu­sammenhalt. Der Reproduktionsmodus der Lebenswelt verandert sich freilich nicht linear in der durch die Stichworte Reflexivitat, abstrakter Universaiismus und Individuierung gekennzeichneten Richtung. Die ra­tionalisierte Lebenswelt sichert vielmehr die Kontinuitat von Sinnzusam­rnenhangen mit den diskontinuierenden Mitteln der Kritik; wahrt den sozialintegrativen Zusammenhang mit den riskanten Mitteln des indivi­dualistisch vereinzelten Universalismus; und sublimiert, mitMitteln einer extrem individuierenden Vergesellschaftung, die überwaltigende Macht des genealogischen Zusammenhangs zu einer fragilen, verletzbaren Allge­rneinheit.<<1

Wenn aber dieses suggestive Bild einer rationalisierten Le­benswelt keinen moglichen Idealzustand bezeichnen kann, wenn es vielmehr eine Beschreibung struktureller Verande­rungen enthalt, die sich gewissermaBen vor unseren eigenen Augen vollziehen, dann wird zugleich klar, daB der Begriff einer Rationalisierung der Lebenswelt zu unspezifisch ist, um die besonderen Probleme und Rationalitatsdefizite be­stimmter Gesellschaften zu fassen. Die Rationalisierung der Lebenswelt ist ja kein ProzeB, an dessen Ende eine vollkom­men rationale Lebenswelt auch nur gedacht werden konnte (dies ware vielmehr eine Vorstellung ohne klaren Sinn), sie ist vielmehr ein ProzeB, in dem das BewuBtsein dessen ge-

I A.a.O., S. 401. 2 A.a.O., S. 4oof.

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sdlschaftlich wirksam wird, daB es keine gesicherten Grondlagen mõglicher Geltung gibt und daB ein Netz tra­gender Gemeinsamkeiten nur mit den Mitteln einer kom­munikativen und argumentativen Praxis gesichert und im­mer wieder neu befestigt werden kann. Gerichtet ist dieser ProzeB, weil die · »Entfaltung der Negationspotentiale sprachlicher Verstandigung« nur als Lem- und Innova­tionsprozeB gedacht werden kann; dessen Bezugspunkt aber ist nicht eine futurisch gedachte ideale Kommunika­tionsgemeinschaft, sondem die Gegenwart mit ihren je er­fahrbaren Pathologien, Irrationalitaten, Blockierungen und U nmenschlichkei ten. Die beiden altemativen Differenzierungsmodelle, die ich oben unterschieden habe, implizieren, wie ich denke, zwei altemative Mõglichkeiten, die Einheit der Vemunft zu­gleich mit der Ausdifferenzierung ihrer Momente zu denken. Das erste, das »konsenstheoretische« Differenzie­rungsmodell, bleibt an eine Versõhnungsperspektive ge­bunden, die, je na:çh Akzentuierung, entweder über­schwenglich o der rationalistj,séh' · ·aüs~or.muliert werden wird. Die Einheit der Vernunft wird hier von einem idealen Endpunkt der Verstandigung her gedacht, an dem di e ent­zweiten Vemunftmomente in eine Konstellation definitiver Versõhnung getreten waren. Das zweite Differenzierungs­modell ist demgegenüber vergleichsweise konventionell. Es knüpft namlich direkt a:n das in der modemen europaischen Philosophie vorherrschende Problembewu6tsein an, dem­zufolge unter den ausdifferenzietten Geltungsmodi nicht die Wahrheitsgeltung, sondem die moralische Soli-Geltung ais da:s Unverstandlichere erscheint. Sicherlich hangt dies auch mit tiefsitzenden »logo-zentrischen«, sprich: szienti­stischen Voreingenommenheiten der tnodemen Philoso­phie zusammen. Dies ist áber nicht alies. Die Ratselhaftig­keit des moralischen Sollens erweist sich vielmehrdarin, daB die Versprachlichung des Sakralen hier auf Widerstande stõ6t, für die es im Bereich der Wahrheitsgeltung kein Aqui-

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valent gibt. Zwar ist die Befürchtung, daB ohne Stützung durch die Autoritat des Sakralen das moralische BewuBtsein seinen Halt verlieren müsse, ein Topos der Gegenaufkla­rung, aber jene Befürchtung hat ein fundamentum in re darin, daB die Wirksamkeit moralischer Argumente an Vor­aussetzungen nícht nur kognitiver, sondem auch affektiver Art gebunden bleibt: Ein rationales Âquivalent für ein sa­kral oder religiõs gestütztes moralisches Einverstandnis kann es nur geben, sofem die - kognitive und affektive -Einübung in Verhaltnisse wechselseitiger Anerkennung gé­lingt. In dem Ma6e, in dem dies nicht der Fali ist, verlieren moralische Argumentationen ihren Angriffspunkt, ohne daB dies zugleich auch für empirisch-technische Argumen­tationen der Fali sein mü6te. Es gibt einen lack of moral sense; diesen kann man aber nur dann ais ein Defizit an Ra­tionalitat deuten, wenn man bereits Bedingungen unter­stelit, die gerade nicht erfülit sein kõnnen, wo dieser lack of moral sense auftritt. Im zwelten der oben genannten Differenzierungsmodelle wird einerseits mit der Eigenstandigkeit der ausdifferenzier­ten Geltungsmodi emst gemacht; daher la6t sich die Einheit der Vemunft nicht mehr vom Fluchtpunkt einer idealen Kommunikationsgemeinschaft her denken, an welchem die Partialitat der Vemunftmomente in der Einheit eines mora­lischen Ideais aufgehoben ware. A~dererseits erlaubt jenes zweite Differenzierungsmodeli, den intemen Zusammen­hang der ausdifferenzierten Geltungsmodi scharfer zu kon~ turieren. Ich hatte oben zu zeigen versucht, daB der morali­sche Diskurs sich zu einem guten Teil ais Diskurs über » Tatsachen « - im weitesten Sinne- bzw. über di e Angemes­senheit und Vollstandigkeit von Situationsbedeutungen verstehen laBt. Für di e Sphare der Moral ist daher der Über­gang von »Sein« zum »Solien<< immer schon vorgebahnt, nicht durch letzte normative Pramissen, sondem durch den

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»moral point of view« selbst.' In die lnterpretation der für moralische U rteile relevanten Tatsachen aber gehen immer schon iisthetische Erfahningen ein: Der moralische Diskurs ist auch zum iisthetischen Diskurs hin offen. Andererseits ist auch der Diskurs über Tatsachen nicht gegenüber mora­lischen oder iisthetischen Gesichtspunkten abgedichtet. Nicht nur ist die Sprache, in der wir über die menschliche Lebenswelt und Geschichte sprechen, mit Werturteilen im­priigniert; vielmehr stellen sich die Tatsachen im Lichte alterna tiver lebensweltlicher Orientierungen- in denen im­mér.schon moralische Einstellungen und empirische Über­zeugungen miteinander verknüpft sind - auch verschieden dar. Dies scheint auf einen Zirkel und daher letztlich doch auf Relativismus hinauszulaufen. Dieser Zirkel ist aber kein theoretisches, sondem ein praktisches Problem: Er bezeich­net immer wieder sichtbàr werdende faktische Grenzen des rationalen Diskurses. Wir kõnnen aus diesem Zirkel nu.r von innen herausgelangen, niimlich durch die Anstrengun­gen einer Vernunft, die keinen Geltungsanspruch der Kritik entzieht. Theoretisch handelt es sich deshalb nicht um einen Zirkel, weil das Ineinander von praktischen Orientierungen und empirischen Überzeugungen an keiner Stelle durch letzte Priimissen abgesichert ist, die nicht einer immanenten Kritik oder einer Kritik im Lichte von neuen Erfahrungen prinzipiell zugiinglich wiiren. Zumindest in der Lebenswelt sind also moralische, prak­tisch-technische, iisthetische und Wahrheits-Gesichtspunk­te bzw. -Diskurse immer schon miteinander verknüpft. Rationalitiit zeigt.sich hier ebensowohl in der Fahigkeit, die verschiedenen Gesichtspunkte auseinanderzuhalten, ais auch in der Fiihigkeit, sie in der richtigen Weise miteinander zu verbinden. Âhnliches gilt aber in mehr oder minder star­kem MaBe auch für die institutionell ausdifferenzierten

r Eine ahnliche Position vertritt, wie ich erst nachtraglich gesehen habe, auch William Frankena in >>Has Morality an Independent Bottom«, in: The Monist, Vol. 63; Nr. r, Januar 1980, S. 49ff.

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•Wertsphiiren« der Wissenschaft, der Kunst und des Rechts. lm Falle des Rechts scheint mir dies evident. Was die Kunst betrifft, so hat Martin Seel gezeigt', daB sich der Sinn iisthetischer Geltung geradezu erliiutern laBt durch die Verschrankung von empirischen, moralischen und expressi­ven Geltungsansprüchen im iisthetischen Diskurs. Was schlieBlich die Wissenschaft betrifft, so stellt sich das Pro­blem verschieden je nach dem Typus der Wissenschaft. Die · Human- und Sozialwissenschaften partizipieren gleichsam von Haus aus an der lebensweltlichen Verschriinkung von Geltungssphiiren, selbst wenn sie auf Fragen empirischer und theoretischer Wahrheit spezialisiert sind. Vielleicht sind die mathematischen Naturwissenschaften das einzige Paradigma einer empirischen Wissenschaft, die nur noch an ihren »Riindern~< von normativen, geschweige denn.astheti­schen Fragestellungen eingeholt wird: von moralischen Fra­gestellungen, wo es über die Ziele und die Anwendung der Forschung geht, von methodologischen und »grammati­schen« Fragestellungen, wo es um die Grundlagen der Wis­senschaft geht. Die mathematische Naturwissenschaft ist denn auch in der gesamten modernen Philosophie zum ei­gentlichen Paradigma für die Ausdifferenzierung der Gel­tungssphiiren geworden, namlich zum Paradigma reiner Wahrheitsgeltung. Dies ist auch noch bei Habermas und Apel so. Wenn man diesen Bezugspunkt wiihlt, tritt zwar die Frage nach dem Sinn und der Mõglichkeit moralischer Geltung in aller Scharfe hervor, ich habe aber Zweifel, ob sich von diesem Bezugspunkt her auch der interne Zusam­menhang der Geltungssphiiren angemessen rekonstruieren laBt. Zwar spielt naturwissenschaftliches Wissen eine immer grõBere Rolle auch für motalische Kontroversen (der letzte

I Vgl. Martin Seel, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der astheti­schen Rationalitat. Frankfurt 1985. Vgl. auch Albrecht Wellmer, »Wahr­heit, Schein, Versõhnung«. Adornos asthetische Rettung der Modernitat<<, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt 1985, S. JOff.

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nen 1Ypen von Geltungsansprüchen und zugeordneten Ar­gumentationsformen zu unterscheiden. Im theoretischen Diskurs geht es um die Gültigkeit von Aussagen und Aussa­gezusammenhangen, im praktischen Diskurs um die Rich­tigkeit von Handlungen. Im theoretischen Diskurs kann es etwa um mathematische, physikalische, historiographische, literaturhermeneutische oder moralphilosophische · Wahr­heitsansprüche (Behauptungen, Theorien, Erklarungen, In­terpretationen, Rekonstruktionen) gehen, denen jeweils ganz unterschiedliche Argumentationsformen, Geltungs­kriterien und Überprüfungsverfahren zugeordnet sind: Die Wissenschaft ist ein Konglomerat von Einzelwissenschaf­ten, deren Gemeinsames einzig in der hand}ungsentlasteten .Spezialisierung auf Wahrheitsfragen besteht. Solche Wahr­heitsfragen müssen von Fragen moralischer oder astheti­scher Geltung nicht unabhangig sein, ohne da6 hierdurch der theoretische zum praktischen oder kunstkritischen Dis­kurs werden mü6te. Im übrigen geht es hier nicht in erster Linie um die Wahrheit von Einzelaussagen, sondem um die Gültigkeit von Aussagezusammenhéingen (Theorien, Er­klarungen, Rekonstruktionen, lnterpretationen usw.), die in sich auf komplexe Weise artikuliert sein kõnnen und de­ren Gültigkeit (di e ein »Mehr« oder » Weniger« zula6t) ka­tegorial weder mi~ der Wahrheit von Einzelaussagen noch mit der Angemessenheit eines Sprachsystems gleichgesetzt werdendarf. » Propositionale Wahrheit« istdeshalb ein unzu­

. reichender Titel dessen, worum es in theoretischen Diskur-sen geht: Es geht in ihnen vor aliem um die Gültigkeit von propositionalen Gebilden hõherstufiger Art ( die unter Um­standen selbst die Form von Argumentationszusammen­hangen annehmen konnen) und in diesem Zusammenhang natürlich auch um die Wahrheit von Einzela.ussagen. - Im praktischen Diskurs geht es demgegenüber um die Begrün­dung und Bewertung von H andlungen, das hei6t um Fragen des -politisch, juridisch, õkonomisch, technisch, asthetisch oder moralisch richtigen Handelns, wobei den verschiede-

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nen Gesichtspunkten der Richtigkeit wiederum ~nt~r­schiedliche Argumentationsformen und ~eltungskr~tene? entsprechen. Wahrend im theoretischen D1skurs Rauonah­tãtsma6stabe sich jeweils aus ·dem Sinn der verhandelten Geltungsansprüche bzw. aus dem internen Zusammenhang von Geltungsansprüchen und Voraussetzungen ergeben, ergibt sich im praktischen Diskurs das zusatzlic~e Problem, daB konkurrierende RationalitatsmaBstabe aufemander be­zogen und gegeneinande; rela.tiviert werden m~sse.~: .Pra~­tische Vernunft auBert SlCh mcht zuletzt als dle Fahlgkelt, die verschiedenen Rationalitatsdimensionen des Handelns­wie technische, okonomische, moralische oder asthetische Rationalitat- in angemessener Weise aufeinander zu bezie­hen und gegeneinander zu relativieren; sie auBert. sich, wie Seel es ausgedrückt hat, als »interrationale U~~ells.kraft«'. Im Wort »Urteilskraft<< ist angedeutet, daB es fur d1e >>Yer­mittlung der Vernunftmomente<< 1 nur hier und i:tzt rich­tige, das heiBt immer auch: begrü~dbare, aber ~~m~ all~e­meinen oder letzten Losungen g1bt. »Unvernunfugkelt<< ware in diesem Zusammenhang ZU verstehen ais eine par­tielle Unempfindlichkeit für ganze Erfahrun?sbe;eic~e und Geltungsdimensionen und daher als ~nfah1~ke1t, ?1e ver­schiedenen Erfahrungs- und Geltungsd1mens10nen m ange­messener Weise aufeinander zu beziehen.l- Im dsthetischen Diskurs schlieBlich geht es weder um die Gültigkeit von Aussagen noch um die Richtigkeit von.~~ndlu?gen, son­dern um den Sinn und die Gelungenhe1t asthet1sdier Ob­jekte, das heiBt um deren (asth~tischen). »Geltu~gsan­spruch<<. Wie im theoretischen und 1m prakuschen D1skurs

1 Martin Seel, »Die zwei Bedeutungen kommunikativer Rationalitat. ~e­merkungen zu Habermas' Kritik der pluralen Vernunft,,, Manusknpt

(1985), S. 16. 2 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen·Handelns, Bd. 2,

a.a.O. S.585. 3 Ich folge hier einem Vorschlag von Seel. Vgl.~ auch z.um folgenden, Mar-tin Seel, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der asthettschen Rattona-

litat, a.a.O. S. 32off.

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sind-Interpretationen, empirische Behauptungen und mora­lische Richtigkeitsansprüche im asthetischen biskurs mit­einander verknüpft, aber si e sind nicht di e Themen, sondem - ebenso wie expressive Geltungsansprüche - die Argu­mente des asthetischen Diskurses. Was im asthetischen Dis­kurs begründet wird, sind asthetische Wertaussagen; diese weisen aber über sich hinaus auf den Geltungsanspruch der asthetischen Objekte, derien sie gelten, und dieser ist nur in asthetischer Erfahrung einzulosen. Theoretische, praktische und asthetische Diskurse sind viel­fach miteinander verschrankt, aber es geht in ihnen jeweils um etwas anderes: Theoretische Diskurse zielen auf gültige Aussagen, Erklarungen und Interpretationen ab, praktische Diskurse auf richtige Handlungen, Einstellungen und Ent­scheidungen, asthetische Diskurse auf die angemessene Wahrnehmung asthetischer Objekte. Aber auch innerhalb der verschiedenen Diskurse sind die unterschiedlichen Ar~ gumentationsformen auf vielfache Weise immer schon- je­denfalls potentiell - miteinander vernetzt: Argumente be­ziehen ihren Sinn jeweils aus der Prasenz von Gesichts­J?.unkten und Voraussetzungen, die im Zweifelsfall den Ubergang zu einer anderen Argumentationsform notwen­dig m~chen konnen. Gerade die interne Verknüpfung der verschtedenen Argumentationsformen miteinander laBt sich jedoch mit Hilfe einer universalpragmatisch begründe­ten Typologie von Geltungsansprüchen (propositionale Wahrheit, moralische Richtigkeit, [expressive] Wahrhaftig­keit) nicht einsichtig machen; anders ausgedrückt: mit Hilfe von sprechakttheoretischen Unterscheidungen allein laBt ~ich weder die Differenz der »Geltungsspharen« noch ihr mterner Zusammenhang verstandlich machen. Die univer· salpragmatische und konsenstheoretische Rekonstruktion der Vernunfi:einheit setzt gleichzeitig zu tief und. zu hoch an; deshalb verfangt sie sich einerseits noch in fundamentali­stischen und versohnungsphilosophischen Denkfiguren, und deshalb bleibt sie andererseits szientistischen Unter-

scheidungen in eigentümlicher Weise verhaftet. Aus der Perspektive solcher Unterscheidungen wird letzdich unver­standlich, was doch eigendich verstandlich gemacht werden soll: daB die Partialmomente der Vernunft, auch nachdem sie sich voneinander getrennt haben, doch miteinander kommunizieren. Die Einheit der Vernunft stellt sich jetzt dar als ein Netz­werk von Verbindungslinien und Übergangen zwischen theoretischen, technischen, moralischen und asthetischen Fragestellungen und Argumentationen. Wo diese Verbin­dungen und Übergange blockiert oder abgeschnitten sind, resultieren jeweils spezifische Pathologien und Vereinseiti­gungen'des Vernunftgebrauchs: »lrrational« konnen wir ein Verhalten nennen, das gegen elementare Konsistenzforde­rungen verstoBt oder das Konsistenz nur um den Preis einer Abwehr von Argumenten und Erfahrungen aufrechterhal­ten kann; demgegenüber konnen wir, wie Seel es vorge­schlagen hat1

, di e reduzierten Formen eines rationalen Ver­haltens, hei denen eine Rationalitatsdimension auf Kosten der anderen verabsolutiert wird, »unvernünftig« nennen. Das Wort >>Vernünftig« nahme dann etwa jene Stelle ein, die bei Habermas das Wort >>kommunikative Kompetenz« be­zeichnet, das ja auch eine lntegration der Vernunftmomente meint. Nur laBt sich, was >>v6rnünftig« heiBt, jetzt nicht mehr durch ein formal-prozedural charakterisierbares idea­les Strukturmodell erlautern. Díe, wie Habermas es formu­liert, >>beharrliche Verfo1gung jener verschlungenen Píade, aúf denen Wissenschaft, Moral und Kunst auch miteinander kommuriizieren«', verlangt Spürsinn, Phantasie und guten Willen; Elemente der >>Vernünftigkeit<<, für die es keinen Idealzustand zu realisieren, sondem Freiheitsspielraume und Lebensmoglichkeiten offenzuhalten und zu erweitern gilt. Die Einheit der' Vernunft verwirklicht sich im Zusam-

I A.a.O. 2 Jürgen Habermas, Theo.rie des kom'munikativen Handelns, Bd. 2,

a.a.O., S. 585.

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menspiel partialer Vernunftmomente, für welches es weder letzte Fundamente noch letzte MaBstabe, noch letzte Ver­sohnungen geben kann. Freilich hat die Vernunft eine Grundlage: ihre Grundlage ist eine existierende » Kultur der Vernunft«. 1 Wo eine solche Grundlage einmal vorhanden ist, muB das Postulat der Freiheit aller zu einem Postulat der (praktischen) Vernunft werden. Dies ist der unaufgebbare (praktische) Chiliasmus der Vernunft>, an dem Apel und Habernias in der Nachfolge Kants zu Recht festhalten. Je­nes Postulat gewinnt seinen genauen Sinn aber jeweils nur auf dem Hintergrund vorhandener und erfahrbarer Unfrei­heit. Es meint keine letzte Versohnung und keine ideale Verstandigung. Gabe es einmal keinen Grund mehr, für die Freiheit politisch zu kampfen, so müBte die Freiheit doch immer noch bewahrt, weitergegeben und neu angeeignet werden. Dies ist aber im Modus einer idealen Verstandigung nicht einmal denkbar. Jede neue Generation würde ja diese ideale Verstandigung durchkreuzen. Ohne solches Element des Neubeginns aber würde es auch keine Freiheit geben.J

r Vgl. Friedrich Karnbartel, >>Vernunft: Kriteriurn oder Kultur? Zur Defi­nierbarkeit des Vernünftigen«, in: ders., Philosophie der humanen We[t, Frankfurt a. M. 1989, S. 27 ff. . 2 Eine Anspielung auf Kant, der von einern »philosophische(n) Chiliasm« spricht, »der auf den Zustand eines ewigen, auf einen Vi:ilkerbund ais Welt­republik gegründeten Friedens hofft<<. Von diesern philosophischen Chi­liasrnus unterscheidet Kant einen theologischen, »der auf des ganzen Menschengeschlechts vollendete moralische Besserung harret«. Natürlich verteidigt Kant auch diesen theologischen Chiliasmus im Sinne einer prak­tischen Idee. Vgl. Die Religion innrirhalb der Grenzen der bloflen Ver­nunft, a.a.O., S. 682f.

3 Diesen Gesichtspunkt hat vor aliem Hannah Arendt betont: hierauf be­zieht sich auch ihr Begriff den>Natalitat«. Vgl. Vita Activa, StuÚgart 1960, S. I64ff.

ANHANG

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Vorbemerkung

Die ~ folgenden abgedruckte Arbeit habe ich bereits 1979 cesdlneben, aber seinerzeit nicht verõffentlicht Ich f' · ais A h b · 'I 'ch I · uge s1e .. n. ang . e1, We1 .. 1 g aube, sie kõnnte etwas zum Ver-standms memer Knt1k der Diskursethik in diesem B d bzw zum V .. d . 'h . an e . . . . e~stan .ms 1 res Hmtergrundes beitragen. Obwohl 1ch m1ch m d1es;r Arbeit mit einer alteren Phase der Haber­~asschen Theone auseinandersetze, halte ich die in ihr disku­tt;rten. ~robleme nach wie vor für aktuell. überdies enthalt d1e ~nt1k. d~r Konsenstheorie der Wahrheit am SchluB der Arbe1t, W1~ 1ch. glau?e, einige zusatzliche Argumente, auch wen? ~s mtr semerzett nicht gelungen ist, die Kritik in eine b.efned1gende Fo~m zu bringen. Im übrigen stimme ich mit e~nzelnen Formulterungen und Argumenten der Arb 't h , mcht meh ''b · d' .1 e1 eute h .~ u eretn; 1es gt t vor aliem für einige an Tugend-

kat an~nupfend; überlegungen zur Logik normativer Dis­urse auf den Se1ten 203_ 205 •

Über Vernunft, Emanzipation und Utopie Zur kommunikationstheoretischen Begründung

einer kritischen Gesellschaftstheorie

I Modelle der Revolution bzw. des »Zusammenhangs« zwischen kapitalistischer und klassenloser Gesellschaft

1. Bekanntlich hat Marx die kommunistische Revolution ais Ge­burtshelferin einer neuen Gesellschaft verstanden, mit welcher die alte, die kapitalistische Gesellschaft bereits schwanger ging. In die­ser Auffassung der Revolution liegt die Idee eines dialektischen Fortschritts der Geschichte beschlossen; eine Idee des geschichtli­chen Fortschritts, derzufolge die »Logik« der Geschichte über den gegenwartigen Zustand der kapitalistischen Gesellschaft bis in eine Zukunft hineinreicht, die als Zustand der Emanzipation in den Konfigurationen und der Dynamik der Gegenwart sich abzeich­net. Wenn die- subjektiven und objektiven- Bedingungen der zu­künftigen Gesellschaft sich bereits im SchoBe der gegenwartigen Gesellschaft entwickeln, dann macht das Wissen darum es mogl~ch, durch bewufites révolutionares Handeln die Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen. Dies durch die Theorie gelieferte Wissen ist aber zugleich ein Wissen um die mogliche Vorzeitigkeit von Revolutionen: Marx war der Auffassung, daB eine kommuni­stische Revolution, also der historische Übergang zur klassenlosen Gesellschaft, nur dort moglich sei, wo alle historischen Bedingun­gen dieser Revolution im SchoBe einer vollentwickelten kapitali­stischen Gesellschaft zur Reife gekommen waren. Dem objektivistischen FehlschluB der marxistischen Dialektik liegt die Verkeonung der Tatsache zugrunde, daB von einer dialek­tischen Notwendigkeit oder einer »Logik<< des geschichtlichen Fortschreitens - wenn überhaupt ~ nur retrospektiv die Rede sein kann. Eine dialektische Ko~struktion der Geschichte kann nur bis zu dem Punkt des antizipierten Übergangs zum Reich der Freiheit, nicht bis zu diesem selbst reichen. Die Vorstellung, ein zukünftiges Reich der Freiheit sei im Sinne einer theoretisch faBbaren histori­schen Dialektik in den antagonistischen Lebenszusammenhang

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der kapitalistischen Gesellschaft eingezeichnet, stellt letztlich eine naturalistische Perversion der Hegelschen Dialektik dar. Diese -bei Marx mehr oder weniger deutlich hervortretende - Tendenz ztir Perversion der Dialektik erweist sich als zentrales Dilemma ei: · ner Theorie, die den Boden Hegelscher Einsichten und Problem­stellungen nicht verlassen und doch zugleich wissenschaftlich- im modernen Sinne- und radikal gesellschaftskritisch sein móchte: (a) Wo Hegel ein geschichtliches Faktum konstatierte, sieht Marx eine historische Aufgabe; dies nótigt ihn zu einer >>Temporalisierung<< der Dialektik von Entzweiung und Versóhnung, die in Hegels Theorie der Modernitat strukturell gemeint war. »Temporalisie­rung<< der Dialektik, das bedeutet auch: Marx will die Aufhebung der entfremdeten Verhaltnisse nicht - vor-Hegelisch - einer schlechten Wirklichkeit als abstraktes und deshalb ohnmachtiges Sollen entgegensetzen, er will sie vielmehr als l;!ine durch die Ent­wicklung des Kapitalismus selbst sowohl moglich als auch notwen­dig gemachte Losung eines Systemproblems begreifen, das inner­halb der Schranken der kapitalistischen Produktionsweise unlós­bar bleiben mu6. Úm diesen Gedanken in einer nicht-sp~kulativen Weise einzulósen, bedarfes einer wissenschaftlichen Rekonstruk­tion der Struktur- und Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft. (b) Marx versucht dementsprechend nachzuweisen, einerseits, da~ die selbstdestruktiven Mechanismen des Systems ei­nen Punkt des Zusammenbruchs approximieren, andererseits, da~ sich im Scho~e der kapitalistischen Gesellschaft die objektiven und subjektiven Voraussetzungen eines Übergangs zur klassenlosen Gesellschaft herausbilden. Er versucht, so kónnte man auch sagen, immer mehr geschichtliche Kontingenz wegzuarbeiten bis zu dem Punkt, an dem theoretisch sichergestellt ist, da~ die Geschichte nicht anders kann, als durchs Nadelohr der gro~en Krise zum Reich der Freiheit fortzuschreiten; die einzige Alternative ware der Rückfall in Barbarei. (c) Hiermit hat Marx unterderhand das Reich der Freiheit zum notwendigen Resultat eines im Ganzen na­turwüchsig verlaufenden Geschichtsprozesses erklart; beinah zwangslaufig verfangt er sich in Ãquivokationen, entsprechend dem Umstand, da~ die dem Kapitalismus immanente geschichtli­che Logik kaum weiter reicht als bis zu einem System geplanter oder halb-geplanter wohlfahrtsstaatlicher Okonomie. Ob dieses die Züge der von Marx antizipierten klassenlosen Gesellschaft oder aber vielmehr diejenigen einer neuen Form bürokratischer

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Herrschaft annehmen wird, darüber la~t sich mit den Mitteln der Marxschen Theorie in Wirklichkeit nichts mehr aussagen. 2. Der geschichtliche Fortschritt hat nach Marx eine andere, eher an Max Weber als an Marx anknüpfende Konzeption der histori­schen Dialektik plausibel gemacht, namlich die einer dem Fort­schritt und der Aufklarung selbst immanenten Dialektik. Für die Vertreter der kritischen Theorie wird die Dialektik des Fort­schritts zur Dialektik eines geschichtlichen Verblendungszusam­menhangs, dessen immanentes Telos nicht Emanzipation, sondem technologische Barbarei ist. Gegenüber der in der marxistischen Tradition wirksamen, aber schon bei Marx angelegten naturalisti­schen Perversion der Dialektik betonen Horkheimer, Adorno und Benjamin' die Diskontinuitat zwischen der einer dialektischen Notwendigkeit gehorchenden Vorgeschichte der Emanzipation auf der einen Seite und dem Schritt ins Reich der Freiheit auf der anderen. Die dialekiische Notwendigkeit des geschichtlichen Fortschritts reicht allenfalls bis an die Schwelle des Reichs der Frei­heit; der Übergang ins Reich der Freiheit bedeutet demgegenüber das Durchbrechen dieser geschichtlichen Notwendigkeit, den ra­dikalen Bruch mit dem Kontinuum der menséhlichen Vorge­schichte. Will man diesen Bruch selbst noch einmal »dialektisch<< nennen, so handelt es sich dabei jedenfalls um eine andere Art von Dialektik ais jene des geschichtlichen Fortschritts, die ja mit einer über die Kópfe der Menschen hinweg sich durchsetzenden Not­wendigkeit identisch ist. Diese Korrektur am marxistischen Ver­standnis der Revolution hat aber tiefgreifende Konsequenzen hin­sichtlich der Bedeutung, welche der Geschichte der Entfremdung und Verdinglichung ais einer Vorgeschichte der Emanzipation bei­gemessen werden kann: Erstens wird namlich der Geschichte eine Ambiguitat zurückgegeben, die sie bei Marx verloren hatte; zwei­tens wird nun der Gedanke fragwürdig, es konne so etwas wie das

I Vgl. insbes. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklarung, Amsterdam I944· Max Horkheimer, Autorit!rer Staat (Auf­siitze I9J9-I94I), Amsterdam I967. Walter Benjamin, >>Über den Begriff der Geschichte<<, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1.2 (Hrsg. R. Tiedemann und H. Schweppenhiiuser), Frankfurt I9l4· Die beiden Aufsatze »Autori­tiirer Staat<< und » Über den Begriff der Geschichte« erschienen erstmals I 942 in einer Sonderausgabe der Zeitschrift für Sozialforschung, di e unter dem Titel Walter Benjamin zum Gedachtnis vom Institut für Sozialfor­schung in Los Angeles herausgegeben wurde.

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»Reifen« al~~r für die Revolution notwendigen Voraussetzungeri geben: der Ubergang ins Reich der Freiheit erscheint vielmehr ais eine in jedem geschichtlichen Augenbiick vorhandene Mõglich­keit; diese müBte nur von den Menschen ergriffen werden. Allen­falls lieBe sich sagen, daB mit dem Fortschreiten der Geschichte, also je mehr Fortschritt ais Verhangnis sich durchsetzt, sowohl di e Mõglichkeiten der Unfreiheit und Barbarei ais auch diejenigen der Freiheit anwachsen. Die Schwachen dieser Auffassung verhalten sich komplementar zu 4.enjenigen der Marxschen. Versucht Marx, die Kontingenzen im Ubergang zur befreiten .Gesellschaft und damit die Diskontinuitat zwischen kapitalistischer und klassenloser Gesellschaft wegzuar­beiten, so erscheint bei den Vertretern der kritischen Theorie die Emanzipation in der Perspektive purer Kontingenz; die Diskonti­nuitat zwischen der Freiheit und ihrer Vorgeschichte wird absolut. Unter einem solchen Blickwinkel erscheint das Reich der Freiheit am Ende ais ein Jenseits der Geschichte, die Geschichte aber ais hoffnungslos gottverlassen, ais ein Trümmerhaufen, der >>zum Himmel wachst«.' 3· Habermas' Theorie lieBe sich ais Versuch einer dialektischen Aufhebung des eben beschriebenen Gegensatzes verstehen. Ha­bermas versucht namlich, den Gedanken einer in der Struktur ka­pitalistischer Cesellschaften beschlossenen Blockierung emanzipa· torischer lmpulse mit dem eines in diesen Gesellschaften angeleg­ten emanzipatorischen Potentials systematisch zu verknüpfen. Habermas versteht den Entfremdungs- und Herrschaftszusam­menhang der kapitalistischen Gesellschaft ais einen Zusammen­hang systematisch verzerrter Kommunikation. Die Theorie erhalt eine doppelte Funktion: Auf der einen Sei te soll sie Reflexionspro­zesse in Gang setzen, welche eine emanzipatorische Praxis ermõg­lichen würden; eine Praxis also, durch welche eine gesellschaftliche Ordnung herbeigeführt würde, in der die »freie Übereinkunft<< (Horkheimer) der Menschen die gesellschaftlichen Reproduk­tionsprozesse bestimmen würde. Auf der anderen Seite soll die Theorie Krisenmechanismen nachkonstruieren und durch diese Nachkonstruktion die Schwachstellen oder mutmamichen zu­künftigen Schwachstellen des Systems - bei Habermas insbeson­dere: Legitimations- und Motivationsprobleme - identifi:úeren

1 Vgl. W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, a.a.O., S. 698.

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helfen. Anders ais bei Marx lassen sich diese beiden Aspekte einer kritischen Gesellschaftstheorie aber nicht mehr umstandslos mit­einander zur Deckung bringen: Diejenigen,für welche Legitima• tions- und Motivationsprobleme entstehen, sind nicht notwendi­gerweise auch die natürlichen Subjekte einer transzendierenden Praxis. Ais die natürlichen Adressaten einer kritischen Theorie kõnnen sie namlich ebenso zum Ansatzpunkt regressiver oder technokratischer Entwicklungen der bestehenden Gesellschaft werden. Die Theorie kann, anders ais bei Marx, keine gesellschaft­liche Gruppierung mehr benennen, für die sie eine prastabilierte Harmonie zwischen subjektiver Abwendung vom System einer· seits und einer Disposition zu einer im Sinne einer radikalen Alter­na tive aufgeklarten Praxis andererscits behaupten kõnnte .. PaB Krisen zum Ansatzpunkt eines gesellschaftlichen Emanzipations­prozesses werden kõnnten, lieBe sich nur durch die Entstehung al­ternativer Organisationsformen »Ím SchoBe<< der bestehenden Ge­sellschaft sichern. Im Medium gesellschaftlicher Praxis muB sich entscheiden, ob die vo.n der Theorie gelieferte Perspektive- die ihr ais einer kritischen zugrundeliegt- eine real mõgliche geschichtli­che Alterna tive zur bestehenden Klassengesellschaft bezeichnet. Dabei haben sich unterderhand die zentraien Annahmen über »ob­jektive Voraussetzungen<< einer kommunistischen Gcsellschaft ge­genüber den von Marx gehegten verandert: Für Marx war eine ge­nügende Entfaltung der Produktivkrafte eine entscheidende Vor­bcdingung der kommunistischen Revolution; diese Entfaltung der Produktivkrafte wurde ermõglicht-durch die Durchsetzung einer auf dem Tauschwert beruhenden Produktionsweise. Die Durch· sctzung dieser Produktionsweise bedeutet für Marx zugleich die Durchsetzung eines universellen Verkehrs und einer universellen Verbindung unter den Proletariern, die unbegrenzte Entwickiung von Fahigkeiten und Bedürfnissen, die Emanzipation von den na­turwüchsigen Herrschaftsformen und den persõnlichen Abhan­gigkeitsverhaltnissen traditionaler Gesellschaften - und dies alies, zusammen. mit den Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals im Zeitalter der vollentwickelten Industrie, ist für Marx beinahe sçhon hinreichend für den historischen Übergang zur kiassenlosen Gesellschaft. Es ist somit die Logik der kapitalistischen Produk­tionsweise, welche die notwendigen und (fast) hinreichenden Vor­aussetzungen einer kommunistischen Revoiution schafft. Die bür­gerlichen Formen des Rechtsuniversaiismus ers.cheinen dabei ais

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durchaus abhangige Momente: dieser Rechtsuniversalismus ist der juristisch-politische Ausdruck der kapitalistischen Eigentumsver­haltnisse, d. h. einer auf dem Tauschwert basierenden Produk­tionsweise. Für Habermas stellen sich hingegen der bürgerliche Rechtsuniversalismus und das mit ihm verbundene universali­stische moralische BewuBtsein, zusammc:;n rhit der für die bür­gerliche Gesellschaft charakteristischen lnstitutionalisierung von Diskursen in Wissenschaft, bürgerlicher Offentlichkeit und Parla­menten, ais zwar mit der Entwicklung der Produktivkrafte histo~ risch verbundene, aber von ihr kategorial zu unterscheidende und gleichsam eigenstandige historische Errungenschaften dar: In ih­nen steckt, mehr noch ais in der Entfaltung der Produktivkrafte, das emanzipatorische Potential einer künftigen, demokratische Selbstbestimmung und Solidaritat verwirklichenden Gesell­schaftsform. Das kapitalistische Privateigentum erscheint daher ais F esse!, nicht so sehr der Produktivkrafte ais der in der bestehenden Gesellschaft bereits institutionalisierten und im moralischen Be­wuBtsein anerkannten Formen demokratischer Legitimitat. Die bürgerliche Gesellschaft ist bereits auf ein universalistisches und demokratisches Organisationsprinzip der Gesellschaft verpflich­tet; zugleich blockiert das kapitalistische Privateigentum die reale institutionelle Durchsetzung dieses Organisationsprinzips. DaB alie Elemente einer emanzipierten Gesellschaft bereits im SchoBe der bestehenden Gesellschaft vorhanden sein müssen - diese Denkfigur bekommt jetzt eine neue Bedeutung: sie wird bei Ha­bermas erlautert durch eine Form des historischen Materialismus, die wesentlich ais eine Theorie der Herausarbeitung eines univer­salistischen Typus des Rechts und der Moral konzipiert ist. Unter dieser Perspektive laBt sich nun der Übergang zu einer emanzipierten (post-kapitalistischen) Gesellschaft nach zwei ver­schiedenen Modellen konstruieren; Habermas hat, wie sich zeigen wird, beide Modelle benut:it. Das erste Modell entsprache deram Beispiel der Psychoanalyse entwickelten Idee einer Emanzipation durch Selbstreflexion.' Das zweite Modell entsprache dem an die Theorie Piagets anknüpfenden Versuch von Habermas, den Pro­zeB der kulturellen Evolution ais eine einer immanenten >>Ent­wicklungslogik<< gehorchende Stufenfolge gesellschaftlicher »Ür-

I J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt I968 und I973·

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ganisationsprinzipien<< zu rekonstruieren.' lch mochte im folgen­den zunachst deutlich machen, in welchem Sinne diese beiden Mo­delle auf zwei verschiedene Typen praktischer Lemprozesse ver­wersen. Beide Modelle bezeichnen, in Habermas' Terminologie, Prozesse praktischer Rationalisierung, ausgelost durch Lemprozesse in der Dimension des Verhaltnisses der Individuen zu sich selbst und zu anderen. Di e beiden Formen des Lemprozesses sind indes struktu­rell klar voneinander zu unterscheiden: Lemprozesse in dem von den genetischen Wissenschaften analysierten Sinne sind strukturell verschieden von Lemprozessen im Sinne einer Kritik und Auflo­sung falschen BewuBtseins, d. h. im Sinne einer Emanzipation durch Selbstreflexion. Erstere gelingen unter bestimmten Urnstan­den, d. h. bei geeigneten Randbedingungen (wie im ProzeB der so­zialen Evolution) oder »normalerweise<< (wie in der Ontogenese). Sie entsprechen gleichsam »natürlichen<< Reifungsstadien eines -individuellen oder sozialen - Organismus. Ihr Nicht-Gelingen bedeutet nicht, daB Formen blockierter oder verzerrter Kommu­nikation- im Sinne eines habituell gewordenen »falschen BewuBt­seins<< - nicht aufgelost worden sind, auch wenn natürlich ein kausaler Zusammenhang zwischen den beiden Formen der Blok­kierung bestehen mag. Entwicklungsstufen des moralischen Be­wuBtseins oder der gesellschaftlichen Organisation sind, wenn wir einmal von der Annahme ausgehen, di e Existenz solcher Entwick­lungsstufen lieBe sich nachweisen, nicht Stufen verzerrter Kom­munikation, sondem Stufen eingeschrankter Reflexivitat, Allge­meinheit und Individuierung. Auch wenn Weltbilder und Rituale primitiver Volker Züge aufweisen, die sie individuellen Neurosen analog zu machen scheinen, so würde doch gerade eine entwick­lungslogische Betrachtungsweise eine solche Analogie weitgehend ausschlieBen: »Neurotisch<< oder »pathologisch<< kann nicht das genetisch Frühere ais solches sein, sondem allenfalls eine konflikt­tuose Beziehung verschiedener Entwicklungsstufen zueinander, also Organisationsformen - des Subjekts oder der Gesellschaft -, bei denen genetisch altere Denk- und Handlungsweisen in den ge-

. netisch spateren zwanghaft sich reproduzieren. Der zweite Typus von Lemprozessen, also das, was Habermas Emanzipation durch

I J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt I976.

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Selbstreflexion nennt, kann daher sinnvollerweise erst angenom­men werden, wenn entsprechende Lemprozes'se im Sinne der ge­netischen Theorien bereits stattgefunden haben. Der Neurotiker ist nicht jemand, der etwa bestimmte kognitiv-moralische Kompe­tenzen noch nicht erworben hat, sondem jemand, der an der"Aus­übung dieser Kompetenzen in bestimmter Hinsicht gehindert ist­daher kann er auch um diese Blockierung wissen. MiBglückte oder blockierte Entwicklungsprozesse im Sinne der genetischen Psy­chologie waren in erster Linie nicht Ansatzpunkte einer kritisclien Wissenschaft, sondem Ansatzpunkte für die Entwicklung padago­gischer Techniken oder einer geeigneten Stimulierung: Wo die normale Entwicklung auf einer bestimmten Stufe steckenbleibt, kann nur der Versuch untemommen werden, Bedingungen iu schaffen, unter denen sie weitergeführt oder beschleunigt werden kann. Für die Psychoanalyse ist dagegen die Blockierung des gene­tisch Spateren durch das genetisch Frühere das eigentliche Thema. · Soweit man also di e in den beiden Wisse·nschaften angenommenen Entwicklungsstufen überhaupt aufeinander beziehen kann, müBte man hier von einer Blockierung genetisch spaterer, formal bereits ausgebildeter Strukturen durch genetisch frühere Denk- und In­teraktionsmuster r.eden. Die Psychoanalyse nimmt das erwach­sene, genetisch vollentwickelte lch in Anspruch, um jene Zwange reflexiv aufzulosen, die dieses Ich - trotz formal vorhandener Kompetenzen - schwachen, paralysieren und in seinen syntheti­schen Funktionen einschranken. Ich behaupte keineswegs, daB das Verhaltnis psychoanalytischer zu genetisch-psychologischen Theorien h eu te auch nur annahemd geklart ist; auch behaupte ich nicht, · daB die beiden Typen von Lernprozessen, die ich hier analytisch unterschieden habe, nicht in komplizierter Weise miteinander verschrankt sein konnten. Ich ·môchte lediglich die beiden Theorietypen mit ihren verschiedenar­tigen Problemstellungen und Modellen, so wie sie von Habermas aufgenommen worden sind, gegeneinander abgrenzen. Aus einer solchen Abgrenzung ergibt si_ch die Notwendigkeit, zumindest analytisch zwischen zwei verschiedenen Begriffen praktischer Ra­tionalisierung zu unterscheiden, die beide von Habermas in An­spruch genommen werden: der eine bezeichnet das Erreichen neuer Entwicklungsstufen und damit die Herausbildung neuer ko­gnitiv-moralischer K.ompetenzen (bzw. neuer Organisationsprin­zipien); hierbei lassen sich Entwicklungsstufen jeweils mit Hilfe

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formaler Strukturbeschreibungen charakterisieren. Der zweite Be­griff praktischer Rationalisierung bezeichnet die Auflosung vo~ Kommunikationssperren und unbewuBten Zwangen auf dem Nt­veau bereits (formal) erreichter Kompetenzen oder Organisa­tionsprinzipien; für Lemprozesse dieser zweiten Art lassen sich­das wird jedenfalls meine These seio - keine >>Zielzustande« im Sinne formal charakterisierbarer Strukturen wie bei dem ersten Typus von Lemprozessen angeben. · Beide der soeben skizzierten Modelle praktischer Rationalisierung Iassen sich zur Konstruktion eines moglichen Übergangs von der kapitalistischen Klassengesellschaft zu einer. »klassenlosen<< Ge­sellschaft verwenden. Versteht man diesen Übergang nach dem Modell eines durch die reflexive Auflosung falschen BewuBtseins vermittelten Emanzipationsprozesses, so kann man vom Boden ei­nes in der kapitalistischen Gesellschaft, d. h. der bürgerlichen Re­publik, bereits institutionalisierten Universalismus ausgehen. Man ware dann nicht genotigt, ein erst noch zu realisierendes neues Or­ganisationsprinzip ( d. h. eine historisch noch nicht erreichte Stufe der sozialen Evolution im Sinne der Entwicklungslogik) ais mog­lich na:chzuweisén oder doch zumindest zu unterstellen. Eine entsprechende Theorie der Gesellschaft kann »kritisch« (negativ) verfahren, weil sie den Boden eines bereits institutionalisierten Universalismus voraussetzt und auf diesem Boden Aufklarungs.­prozesse zu initiieren versucht, deren praktisch.e Folgen sie theore­tisch nicht vorwegzunehmen braucht. Wenn s1e neue Formen der Freiheit antizipiert, so in dem Sinne, in dem auch der Neurotiker eine neue Form der Freiheit antizipiert: zugrunde liegen die er­fahrbaren Blockierungen eines Lebens, das in seiner universalisti-schen Organisationsform nicht zur Disposition steht. · Geht man von dem zweiten Modell aus, namlich dem einer prakti­schen Rationalisierung durch Erreichen einer neuen Entwick­lungsstufe ( eines neuen gesellschaftlichen Organisationsprinzips ), so ist das eigentliche Problem der Gesellschaftstheorie nicht die Analyse falschen BewuBtseins, sondem die. Erforschung derjeni­gen Systemstrukturen und T~ndenzen, die den entwi~klungslo­gisch bereits formulierbaren Ubergang entweder block1eren oder aber begünstigen. Der Theoretiker formuliert unter diesen Um­standen die angesichts der oestehenden Systemprobleme einzig »normal e«- d. h. praktisch angemessene- Losung dieser System­probleme, d. h. eine Lôsung, hei der die Defizienzen und Wider-

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sprüch~. des hesteheriden Organisationsprinzips der Gesellschaft durch Uhergang ZU dem entwicklungslogisch nachsthõheren Or­ganisationsprinzip heseitigt werden. Im gegehenen Fali heiíh dies da~ er die Institutionalisierung einer Form des Universalismus an~ tizipiert, die von den Begrenzungen, Blockierungen und Wider­sprüchen der hürgerlichen Form des Universalismus hefreit ist. Der Theoretiker (un.d der Revolutionar) kann dahei an ein morali­

. sches Bewu~tsein appellieren, das innerhalh der Grenzen des hür­gerlichen Rechtsuniversalismus zumindest potentiell immer schon üher diese Form des Universalismus hinaus ist. Eine von den Fesseln des hürgerlichen Parlamentarismus hefreite Form der ge­sellschaftlichen Organisation, hei der das Prinzip demokratisch­repuhl!kanischer Selhs.thes.timmung in alie Bereiche des gesell­schafthchen Lehens emdrmgen würde, kann prinzipiell schon unte.~ Bedingungen einer hürgerlic~-parlamentarisch einge­s~hr~nkte.n ~orm der J?emokratie antizipiert werden (auch wenn s1e mch.t m 1hren Deta~ls vorweg konst.~uiert werden kann). ~s schemt nun, da~ he1de Modelle des Uhergangs- jedenfalls für s1ch genom~e~ - u?zureichend sind. lch mõchte zeigen, welche Prohleme s1ch Jewe1ls ergehen, wenn man von nur einem dieser h~iden Modelle ausgeht, um sodann die Frage zu diskutieren, oh d1e entst~he~den Prohl.eme sich durch die- natürlich naheliegende - Kombmatzon der he1den Modelle lõsen lassen. Ich mõ.chte den heidel). Modellen Namen gehen, in denen ihre theoretische Herkunft zum Ausdruck kommt; ich werde sie daher ais »Freud-Modell« und ais >>Piaget-Modell« hezeichnen. Zu­nachst zu~ Freud-M~del1: Da~ die Analogie zwischen einem psy­cho-analyusch vermmelten Emanzipationsproze~ und einem durch . theoretisch .ang.eleitete Aufklarung vermittelten gesell­schafthche~ Emanz1pauonsproze~ nur in Grenzen Gültigkeit ha­h~n k~nn, hegt auf der Hand. ~ch.mõchte auf einige Unterschiede hmwe1sen: Im Freud-Modell (Jetzt wõrtlich genommen) hedeutet Selhsterkenntnis eines handelnden Suhjekts Assimilierung seiner Vergangenheit, Bewu~twerden der eigenen Wünsche und Motive u.nd zugleich dere~ U~strukturierung durch Neu-Interpretation; s1e hedeutet zugle!ch eme Erweiterung der synthetischen Kraft des Ich- d. h. auf der einen Sei te zwanglose Integration der zuvor ent­weder auseinanderlaufenden, einander hlockierenden und in .un­durchsichtiger Weise miteinander sich vermengenden oder aher zwanghaft integrierten Triehimpulse, auf der anderen Sei te die Bil-

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dung eines Willens, deres dem Suhjekt erlauht, einer kontingenten Wirklichkeit mit einem zugleich konsistenten und nicht auf Selhst­tauschung heruhenden Entwurf seiner selbst zu begegnen: also die Fahigkeit zur Selhstbestimmung sowohl ais auch die zur Selbstent­au~erung. Dieser nicht blo~ kognitive Lernproze~ ist Emanzipa­tion von undurchschauten, naturwüchsig wirksamen Zwangen. Der hestimmte Inhalt eines solcherma~en mit sich selbst üherein­gekommenen Willens la~t sich nicht theoretisch vorweg bestim­men. Im Falle von Ideologien ist demgegenüber eine reflexiv erzeugte Einsicht mit Emanzipation nicht gleichhedeutend. Emanzipation ware vielmehr die gelingende Umstrukturierung des institutionel­len Apparats, d. h. der sozialen Beziehung zwischen den Indivi­duen. Man kann hier nicht, wie noch Lukács es tat, gleichsam ein gesellschaftliches » Üher-Suhjekt<< einsetzen, für welches Einsicht mit Emanzipation zusammenfide. Ideologien sind in gesellschaft­liche Strukturen eingehettet und werden durch sie hindurch repro­duziert: gesellschaftlich notwendiger Schein. Die kritische Auflõ­sung dieses Scheins ais eines blo~en Scheins ist mõglich im Me­dium individueller (philosophischer) Reflexion. Aher durch eine solche kritische Auflõsung von ideologischem Schein im Medium der Reflexion ist dieser Schein nicht auch ais gesellschaftlich wirk­samer schon aufgelõst- ganz ahnlich so wie Selbsttauschungen im Sinne der Psychoanalyse nicht durch hlo~e Argumente sich auflõ­sen lassen. Im Falle von Ideologien steckt der >>Widerstand<< aber gleichsam in den gesellschaftlichen Strukturen selbst und den durch sie hindurch reproduzierten Einstellungen, Motivationen, Interpretationen und Verhaltensweisen. Wenngleich eine Ande­rung institutioneller Strukturen ohne die gleichzeitige Verande­rung von Verhaltensweisen, Einstellungen und Motivationen, kurz, ohne die Anderung des Verhaltnisses der Individuen zu sich selbst und zu anderen, kaum denkbar sind, so handelt es sich doch um kategorial verschiedene Prozesse, je nachdem, ob die Gewalt verinnerlichter, aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinra­gender sozialer Zwange durch eine praktisch gewordene Einsicht gebrochen, oder oh die Gewalt eines in gesellschaftlichen lnstitu­tionen verkõrperten, auf der Ebene der lntersubjektivitat gegen­wartigen sozialen Zwanges durch eine einsichtig gewordene Praxis au~er Kraft gesetzt werden soll. lm ersten Fali, so kõnnte· man auch sagen, handelt es sich um die Aufhebung einer privatsprachli-

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chm Deformation auf dem Hintergrund einer funktionierenden (oder doch ais funktionierend unterstellten) offentlichen Sprache, im zweiten Fali um das In-Ordnung-Bringen der offentlichen Sprache selbst. Anders formuliert: Im Falle gesellschaftlicher Emanzipationspro­zesse wird die durch Theorie vermittelte Aufklarung zum Kristal­lisationspunkt von Prozessen, in denen Selbsterkenntnis, eine Ver­anderung der Praxis und der Erfahrung zusammenschieBen sollen. Wenn ein entsprechender EmanzipationsprozeB in Gang kommt, werden sich rationalere, durchsichtigere Beziehungen zwischen den aufgeklarten lndividuen herausbilden, wird ihre Praxis auf eine Dur.chsetzung solcher Beziehungen in der Organisation der Gesamtgesellschaft abzielen und solche Beziehungen zugleich in ihren eige~en Organisationsformen vorwegnehmen. Das bedeutet aber, daB anders ais beim analytischen HeilungsprozeB ein durch theoretische Aufklarung erzeugtes besseres Selbstverstandnis han­delnder Individuen zugleiçh ein Wissen um empirisch mogliche ~nd praktisch notwendige gesellschaftliche Strukturanderungen 1st - Strukturanderungen, die eintreten müssen, wenn das veran­derte Selbstverstandnis sich in veranderten gesellschaftlichen Strukturen gleichsam niederschlagen und bewahren und damit erst eigentlich in Emanzipation einmünden sol!. Die Einsicht, die die Theorie vermittelt, ist also sowohl reflexives Wissen (um.meine Lage, die Zwange; unter denen ich stehe, meine Intentionen usw.) als auch gesellschaftstheoretisches Wissen über die Moglichkeiten und praktischen Notwendigkeiten einer Neu­strukturierung gesellschaftlicher Beziehungen. Dem entspricht, daB die Differenz zwischen Theorie und auf den konkreten Fali ?ezogenen Interpretationen, wie sie beim Freud-Modell besteht, llll F alie der Gesellschaftstheorie nicht im gleichen Sinne existiert: die Theorie ist die Interpretation einer konkreten historischen Si­tuation {Vehikel von Selbsterkenntnis) und zugleich ein objektives Wissen um Systemprobleme und die Richtung ihrer moglichen Losung. Beide Funktionen der Theorie lassen sich aber nicht von­einander trennen: die. Triftigkeit der Kritik ist nicht unabhangig von der Triftigkeit der im .theoretischen Sinne hypothetischeri Ele­mente. Unterstellt man, daB die Theorie wahr ist, so ist mit der durch die Theorie vermittelten Selbsterkenntnis handelnder Indi­viduen zugleich eine defini tive politische Aufgabe und Zielsetzung ( ein bestimmter Inhalt des Willens) vorgezeichnet; ware di e Theo-

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rie falsch, so konnte sie auch zu einer wirklichen Selbsterkenntnis der Individuen nicht führen. Ob die Theorie wahr ist, kann sich daher eigentlich erst in der gelingenden Praxis, in der Emanzipa­tion und Umwandlung der Gesellschaft zeigen. Es handelt sich um das merkwürdige Phanomen einer »hypothetischen<< Selbster­kenntnis: Die Triftigkeit der reflexiv gewonnenen Einsicht ist ge­bunden an die Triftigkeit von Antizipationen. Das ist aber eine Struktur von grundsatzlich anderer Art ais im Freudschen Modell: wahrend hier Einsicht mit Emanzipation zusammenfallt - und zwar genau deshalb, weil die Einsicht gleichbedeutend ist mit einer Umstrukturierung (einer praktischen Veranderung) -, besteht im Falle der Gesellschaftstheorie eine Differenz zwischen Einsicht und Emanzipation; das bedeutet aber, daB die Einsicht selbst hy­pothetisch ·in dem Grade bleibt, in dem di e Emanzipation noch nicht wirklich geworden ist, und das bedeutet weiterhin, daB hier Einsicht. etwas strukturell anderes bedeuten muB ais im Freud­Modell: Sie ist nicht im gleichen Sinn die reflexive Aneignung der »abgespaltenen<< Momente eines Lebenszusammenhangs und darin zugleich · eine praktische Veranderung von Subjekten. Im Freudschen Modell stellt sich die Frage nicht, ob ein antizipierter Zustand der Freiheit moglich, ob der zugrundegelegte Begriff von Autonomie angemessen ist: wo undurchschaute Zwange reflexiv gebrochen werden, darf dies ais Emanzi pation gelten; der Analy­sand antizipiert nicht eine künftige Struktur seines psychischen Apparats im Augenblick der Einsicht, ihm wird vielmehr etwas klar, und darin zugleich wird er Zwange los, andert sich die Reich­weite seines Ich (ohne daB es hier ein >>Ideal<< geben müBte). Im Falle der Gesellschaftstheorie ist dagegen die Frage, ob es sich um wirkliche Einsicht handelt, von der Frage nach der Triftigkeit der Antizipationen einer künftigen gesellschaftlichen Organisations­form nicht zu trennen. Die Frage, ob bestimmte Zwange sich auf­heben lassen, ist in beiden Fiillen nicht a priori enrscheidbar. Aber im F alie des Freud-'Modells bedeutet Einsicht dieAufhebung von Zwangen: Erkenntnis und Emanzipation sind eins. Im Falle der Gesellschaftstheorie entscheidet dagegen letztlich erst die Aufhe­bung der Zwange darüber, ob etwas eine Einsicht war: Die Ein­sicht greift hier gleichsam der Aufhebung des Zwanges voraus, sie ist, so konnte man auch sagen, immer auch Einsicht in die Aufheb­barkeit von Zwangen - daher haftet ihr ein hypothetisches Mo­ment an.

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Man versteht jetzt, warum eine kritische Gesellschaftstheorie in der Tradition der Marxschen zugleich ldeologiekritik und Theorie der gesellschaftlichen Systemprohleme und ihrer moglichen Lo­sung sein mu6. Das Prohlem ist nicht, da6 die Theorie die poten­tiellen revolutionaren Suhjekte dirtgfest machen mu6, sondem da6 si e ein ohjektives Wissen üher gesellschaftliche Strukturen und de­ren mogliche Veranderungen erzeugen mu6: Das Eigentümliche ist somit die Verknüpfung von reflexiver Einsicht mit ohjektivem Wissen, wohei di e Triftigkeit beider letztlich erst durch gelingende Praxis sich erweisen kann. All dies spricht aher dafür, da6 das Freud-Modell nicht ausreicht, um lnha!t und Funktion einer kriti­schen Gesellschaftstheorie im Zusammenhang mit gesellschaftli­chen Emanzipationsprozessen. und damit auch den Charakter die­ser Emanzipationsprozesse selhst zureichend zu hestimmen. . Andererseits ist das Piaget-Modell, für sich genommen, ehenfalls unzureichend. Es kann namlich den Widerstand gegen Aufklarung nicht erklaren, der in den gesellschaftlichen Strukturen und in der Eigenlogik des gesellschaftlichen Fortschritts verankert ist. In ihm kommt, verkürzt gesprochen, kein falsches, sondem nur >>unter­entwicke!tes<< Bewu6tsein vor. Das spricht aher dafür, die heiden Modelle miteinander zu komhinieren - jedenfalls liegt dies nahe, solange man an Grundintentionen der Marxschen Theorie festhal­ten will: Das durch die gesellschaftlichen Strukturen reproduzierte falsche Bewu6tsein ware (u. a.) verantwortlich dafür, da6 ein ent­wicklungslogisch >>falliger<< und in suhjektiver wie ohjektiver Hin­sicht moglicher Ühergang ZU einem post-kapitalistischen Organi­sationsprinzip der Gesellschaft hlockiert hleiht. Eine solche Auf­fassung würde es gestatten, Marx' evolutionistische und zugleich dialektische Konzeption eines Ühergangs von der kapitalistischen zur klassenlosen Gesellschaft zu retten, und sie würde zugleich den anti-ohjektivistischen Zug der a!teren kritischen Theorie in sich aufhehen und ihre Betonung einer Diskontinuitat zwischen entfremdeter und emanzipierter Gesellschaft hestatigen: Die Emanzipation wird zu einer Sache der Aufklarung und des Willens der lndividuen, den Verhlendungszusammenhang des gesell­schaftlichen Fortschritts zu durchhrechen; dieser Schritt ist prinzi­piell in jedem Momente moglich, aher niemand kann sagen, wann der Zeitpunkt wirklich gekommen sein wird. Zugleich würde die für die Marxsche Theorie charakteristische Verknüpfung von hi­storischem Materialismus, ldeologiekritik und Theorie des kapita-

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listischen Systems in einer neuen Weise einsichtig: Alie diese Teile oder Momente der Theorie waren gleich wesentlich für eine theo­retische Bestimmung des geschichtlichen Ortes der gegenwartigen Gesellschaft. · ·

n Die emanzipierte Gesellschaft

r. lch h in hisher von der für die marxistische Tradition zentralen praktischen Hypothese ausgegangen, da6 der Kapitalismus ii? Lichte einer erst noch historisch durchzusetzenden neuen Orgam­sationsform der Gesellschaft verstanden und analysiert werden kann und da6 diese zukünftige Gesellschaft ais eine >>hefreite<<, >>klassenlose<<, eine >>vemünftig<< organisierte Gesellschaft charak­terisiert werden kann. In dieser ldee sind sich im ührigen ortho­doxe Marxisten, Anarchisten und kritische Theoretiker immer einig gewesen ·- was immer ihre Differenzen in Hinsicht auf das Verha!tnis von ge~enwartiger und zukünftiger Gesellschaft SC?wie das Prohlem des Úhergangs von der einen zur anderen gewesen sein mogen. Eine entsprechende ldee findet sich sogar noch hei ei­ner konservativen Anarchistin wie Hannah Arendt: In ihrem Buch üher die neuzeitlichen Revolutionen' hat sie ais den einzig wahr­haften revolutionaren Kem aller modemen gesellschaftlichen Um­walzungen die immer wieder emeuerten und immer wieder ge­scheiterten Ansatze zu einer radikaldemokratischen Raterepuhlik herauszuarheiten versucht. Ãhnlich wie hei Benjamin freilich, der sich wohl am entschiedensten unter den im Umkreis des histori­schen Materialismus angesiede!ten Theoretikem von der Idee eines evolutionaren Kontinuums losgesagt hat, wie es noch hei Marx die Geschichte der Entfremdung und des Fortschritts mit dem Reich der Freiheit verhindet, so ist auch hei Hannah Arendt die Errich­tung einer Raterepuhlik nicht ais eine theoretisch antizipierhare Auf!osung einer we!tgeschicht!ich einmaligen und historisch sich zuspitzenden Prohlemkonstellation konzipiert, sondem ais die .in jeder Epoche prinzipiell mogliche, im Gegenzug zum Verhangms­zusammenhang des Fortschritts zu geschehende Tat der zum Mit­einander-Handeln hefreiten lndividuen. Zwischen Hannah Arendt und dem Marxismus liegt eine We!t. Was heide gleichwohl

r H. Arendt, Über die Revolution, München 1963.

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miteinander verbindet, ist eine revolutionare Tradition, auf die ~ beide sich berufen: die eines immer wieder versuchten undimmer wieder gescheiterten radikaldemokratischen Ausbruchs aus den Herrschaftsstrukturen und Entfremdungszusammenhangen der neuzeitlichen ~uropaischen Massengesellschaften. Dementspre­chend teilt Hannah Arendt auch die Kritik am Parlamentarismus mit den Marxisten und Anarchistep. Im Gegensatz zum Parlamen­tarismus moderner Industriegesellschaften bezeichnet die Rate­republik für sie die Idee einer im alltaglichen Leben der Menschen real gewordenen Form politischer Selbstbestimmung. Kehren wir zur marxistischen Tradition zurück: In Frage steht jetzt díe, meinen bisherigen Überlegungen zugrundeliegende, >>praktische Hypothese<<, daB eine rationaleNeu-Organisation der Gesellschaft moglich sei, die gegenüber der Organisationsform ka­pitalistischer Gesellschaften etwas · strukturell N eues bedeuten würde und durch welche Freiheit in einem substantiellen Sinne wirklich werden würde. Ais naheliegende Alternativen zu dieser praktischen Hypothese mochte ich zwei ebenfalls geschichtsphilo­sophisch untermauerte Positioneri nennen: einen revidierten He­gelianismus und eine systemtheoretische Gesellschaftskonstruk­tion. Hegelisch in einem revidierten Sinne ware eine Position, die davon ausgeht, daB die in der bürgerlichen Gesellschaft institutio­nalisierten Formen des Rechtsuniversalismus in gewissem Sinne »Unüberholbar<< sind und daB, wenn nicht die Grundzüge der H~­gelschen Staatskonstruktion, so doch Hegels Losungsstrategie für das Problem einer Verwirklichung von Vernunft in der modernen Welt richtig war.' Demgegenüber lieBe eine systemtheoretische Konstruktion der modernen Gesellschaft sich dadurch auszeich­nen, daB in ihr das Problem eines vernünftig gewordenen Lebens­zusammenhangs der Menschen als obsolet aus der Theorie ausge­schieden wird: Sozialintegration wird durch Systemintegration endgültig überholt.' ' Ich mochte auf die systemtheoretische Positíon hier nicht naher eingehen, da ich Habermas' Einwande gegen diese Position über-

I Den überzeugendsten Versuch, Elemente der Hegelschen Rechts- und Geschichtsphilosophie gegenüber der marxistischen Tradition wieder zur Geltung zu bringen, sebe ich bei Ch. Taylor, Hegel and Modern Society, Cambridge 1979; sowie ders., Hegel, Frankfurt 1978. 2 Vgl. J. Habermas und N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder So­zialtechnologie, Frankfurt 1971.

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zeugend finde.' Dagegen mochte ich etwas zur Antithese von he­gelianischen und marxistisch-anarchistischen Positionen sagen. Eine hegelianische Position lieBe sich durch die folgenden Grund­überzeugungen charakterisieren: ( 1) Unter Bedingungen komple­xer moderner Gesellschaften laBt sich das Moment der »Entfrem­dung<< oder »Entzweiung<<, das durch die Ausdifferenzierung einer Sphare »negativer<< (oder »abstrakter<<) Freiheit zum Struktur­merkmal der bürgerlichen Gesellschaft geworden is.t, nur um den Preis des Totalitarismus oder der ko!lektiven Regression wieder rückgangig machen. Das bedeutet nicht Festlegung auf eine kapita­listische Wirtschaftsform; es bedeutet vermutlich aber. wohl, daB ein »Kommunikationsmedium<< wie das Geld und ein Steuerungs­mechanismus wie der Markt sich nicht ohne eine empfindliche Einschrankung bürgerliche( Freiheitsrechte durch politische oder administrative Formen der Entscheidung und Steuerung ersetzen lieBe. Somit ware nicht nur- wie ja schon Marx annahm- die Form der Systemintegration und Systemsteuerung,wie sie durch.die ka­pitalistische Okonomie zuerst realisiert wurde, die »Basis<< des bürgerliçhen Rechtsuniversalismus, vielmehr ware anzunehmen, daB von einer »Aufhebung« des bürgerlichen Rechtsuniversalis­mus in einer hõheren, substantiellén Form gesellschaftlicher Frei­heit jedenfalls nicht - und das ware das Hegelsche an diesem Ge­danken- ohne di e gleichzeitige Annahme der Persisten:z, einer sol­chen Basis systemischer Selbststeuerung und entsprechend partiell »entsittlichter<< Sozialbeziehungen die Rede sein konnte. (2) Das würde bedeuten, daB die Ausdifferenzierung von Recht und Mo­ral, von Politik und bkonomie, von Kunst, Wissenschaft und pro­faner Lebenspraxis nicht ais solche rückgangig gemacht werden konnte, ohne zugleich die universalistischen Strukturen des Rechts und des moralischen BewuBtseins selbst in Mitleidenschaft zu zie­hen. Die Einheit der Vernunft ware unter Bedingungen der Mo­dernitat wesentlich und notwendig eine Einheit in der Entzweiung - bàsierend auf einem unwiderruflichen Auseinandertteten von »Gemeinschaft<< und »Gesellschaft<<, von solidarischen und instru­mentellen Beziehungen zwischen den Individuen und, nicht zu­letzt, vermittelt durch ein System fortgeschrittener funktionaler Differenzierung. (3) Eine Hegelsche Konzeption würde schlieB­lich damit rechnert, daB der Begriff einer vernünftig organisierten

A. a. O.

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Gesellschaft jedenfalls nicht von dem einer (idealen) Vernünftig­keit der Einzelsubjekte her konstruiert werden kann. Auf der Eberte der einzelnen lndividuen und ihrer sozialen Beziehungen wiire ein Stück unaufléisbarer Kontingenz und Partikularitat anzu­nehmen, so wie auch die Unaufhebbarkeit von Leiden und Mangel ais Signaturen des Lebendigen. Hieraus folgt die Persistenz von Konflikten sowie die perennierende Méiglichkeit von lrrtum, Ver­brechen, Geisteskrankheit, Selbstverfehlung und Unglück. Dies, so muB betont werden, nicht ais Zeichen einer noch unvollkom­menen Sozialordnung bzw. eines noch nicht bis zu seiner zumin­dest denkbaren Grenze geführten praktischen Rationalisierungs­prozesses, sondem ais Signatur eines Geistes, der ais subjektiver in lebendigen, situierten, vom Tode bedrohten Wesen verkéirpert ist. Von den beiden vorhin erlauterten Modellen der gesellschaftlichen Emanzipation- dem Freudschen und dem Piagetschen -lieBe sich am ehesten das Freudsche in den Rahmen einer solchen »Hegel­schen« Konzeption von Modernitat integrieren: Emanzip;ttion ware die Entbindung des _vollen Potentials der in der modernen Gesellschaft bereits institutionalisierten Strukturen eines uni versa~ listischen Rechts und einer uriiversalistischen Moral. Die Marxsche Position, die - soweit es um die hier betrachteten Probleme geht- die anarchistische Position mitumfaBt, lieBe sich · demgegenüber durch folgende Grundannahmen kennzeichnen: (r) Der Übergang von der kapitalistischen zur klassenlosen Gesell­schaft bedeutet den Übergang zu einem neuen »Ürganisations­prinzip<< der Gesellschaft. In der klassenlosen Gesellschaft bringen die vereinigten lndividuen ihren Stoffwechsel mit der Natur ebenso wie den gesellschaftlichen LebensprozeB unter ihre be­wuBte und rationale Kontrolle. Damit sind Entfremdung und Na­turwüchsigkeit aus der menschlichen Geschichte getilgt. (2) In der klassenlosen Gesellschaft sind die bürgerlichen Formen des Rechts, der Moral und der Politik funktionslos geworden. Diese Formen des Rechts, der Moral und der Politik drücken namlich in ihren Strukturen den antagonistischen Lebenszusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft aus: Di e bürgerliche Politik ist der Ort einer nur illusionaren Verséihnung von Einzelnem und Allge­meinem; das bürgerliche Recht ist einerseits Ausdruck einer auf Tauschbeziehungen gegründeten gesellschaftlichen Organisation, · andererseits Ausdruck einer unter der Decke der Freiheif und

Gleichheit fortbestehenden Klassenherrschaft. Die bürgerliche Moral ist die Form der Subjektivitat, die sich aus der Verinnerli­chung des bürgerlichen Rechts und der kapitalistischen Leistungs­ethik herausgebildet hat: eine Form der Subjektivitat, durch wel­che zugleich die Vereinzelung der lndividuen bekraftigt und ihre antagonistische Beziehung zueinander verschleiert wird. (3) Will man die sozialen Beziehungen zwischen den lndividuen in der klassenlosen Gesellschaft sowie ihren moralischen Char;tkter kennzeichhen, so gibt es in der marxistischen Tradition, wenn ich recht sebe, zwei verschiedene Modelle, di e sich beide mit einem ge­wissen Recht auf Marxsche AuBerungen berufen kéinnen. (a) Das erste Modell ist von Engels und Lenin vertreten worden und ent­spricht der berühmten Passage über das Verhaltnis des Reichs der Freiheit ~um Reich der Notwendigkeit aus dem dritten Buch des >>Kapitak Danach ware das, was wir politische Probleme zunen·­nen gewohnt sind, in der klassenlosen Gesellschaft auf ein admi­nistratives Problem reduziert: namlich das Problem einer méig­lichst rationellen Regelung des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur. Es wird unterstellt, daB in diesem Problem kein Stoff für gesellschaftliche Konflikte mehr steckt; da die Produktion nach ei­nem Gesamtplan frei vereinigter lndividuen organisiert wird, ist sichergestellt, daB alie lndividuen zu gleichen Teilen den unauf­hebbaren Zwangen des fortbestehenden >>Reichs der Notwendig­keit« sich unterwerfen; ihre Freiheit in dieser Sphare besteht darin, daB sie dies - zum erstenmal in der Geschichte- aus Einsicht tun werden. Jenseit dieses Reichs der Notwendigkeit, im eigentlichen Reich der Freiheit, kéinnen sich die lndividuen frei und ungehin­dert entfalten. Marx spricht von einer >>Gemeinschaft«, in der >>die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwick­lung aller ist.« An anderer Stelle1 spricht er von einer >>Entwick­lung der lndividuen zu totalen lndividuen«, von der >>Verwand­lung der Arbeit in Selbstbetatigung« und der >> Verwandlung des bisherigen bedingten Verkehrs in den Verkehr der lndividuen ais solcher«. Unter Bedingungen, unter denen >>alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums« flieBen, gibt es kein Problem des Mangels und daher auch kein Problem der distributiven Gerech­

. tigkeit mehr: >>Jedem nach seinen Bedürfnissen«. Entscheiden:d ist,

r K. Marx, Frühe Schriften, Bd. n (Hrsg. H. J. Lieber und P. Furth), S. 9of.

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daB, abgesehen von den administrativen Organen für die Regelung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, keine institutionelle >>Yergegenstandiichung<< und EntauBerung der menschiichen So­ziaibeziehungen mehr ais notwendig gedacht wird: Die Versoh­nung von Einzeinem und Allgemeinem ist gieichsam unmittelbar geworden, unmittelbar verkorpert in einer Personiichkeitsstruk­tur der Individuen, aus der durch die Aufhebung der Kiassenge­gensatze und durch die Bedingungen materiellen Überflusses die Spuren egoistischer Partikuiaritat getilgt sind. Mit der Beseitigung von Ausbeutung, Kiassenherrschaft und Knappheit sind die Be­dingungen verschwunden, unter denen eine EntauBerung mensch­iicher Beziehungen in gesellschaftliche Institutionen - mit den Merkmaien der » Verselbstandigung« und der Repressivitat __: not­we!ldig war. Auf dein Hintergrund solcher Annahmen hat Engels von der Überführung der Herrschaft über Personen in die Verwai­tung von Sachen gesprochen, hat Lenin das Absterben des Staates vorausgesagt. (b) Das zweite Modell der Soziaibeziehungen in der kiasseniosen Gesellschaft ist bei Marx ebenfalls angedeutet, ob­wohi in einer sehr unentwickelten und zweideutigen Form. Es entspricht der. ratedemokratischen Tradition der modernen Revo­iutionsgeschichte. Danach ware die kiasseniose Gesellschaft zu aharakterisieren durch eine radikaidemoi)ratische Form der Selbstbestimmung auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Marx hat in seiner Würdigung der Pariser Kommune1 einige Struk­turmerkmaie dieser radikai-demokratischen Organisationsform hervorgehoben; namiich ein von unten (den iokaien Raten oder Kommunen) über evtl. mehrere Zwischenstufen nach oben (dem Zentrairat) veriaufendes Delegationsprinzip; jederzeitige Abwahi­barkeit aller Delegierten durch das deiegierende Gremium; Aufhe­bung der Gewaltenteiiung von Exekutive, Legisiative und Recht­sprechung; so weit wie mogiich Veriagerung von Kompetenzen von der jeweiis hoheren auf die jeweils niedrigere Stufe der Selbst­verwaltung; Zerschiagung der für den modernen bürgeriichen Nationaistaat charakteristischen Instanzen der (zentraiistischen) Integration, Kontrolle und Repression: d. h. der Bürokratie, der Poiizei und des stehenden Heeres. Im Gegensatz zum Engels-Le­ninschen Modell der kiasseniosen Gesellschaft handelt es sich beim râ'.tedemokratischen Modell um eine politische Konzeption der

r K. Marx, Politische Schriften, Bd. 11 (Hrsg. H.J. Lieber), S. 918ff.

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1 I

kiasseniosen Gesellschaft - jedenfalls wenn ,man den Begriff des Poiitischen aus der für Marx typischen Verkiammerung mit dem der Kiassenherrschaft herausiost und an ein alteres, etwa Aristote­iisches Verstandnis des Poiitischen anknüpft. Von den oben diskutierten Modellen des Übergangs- dem Freud­schen Modell und dem Piaget-Modell- eignet si c h das Piaget-Mo­deU am eindeutigsten, um den von Marx erwarteten Übergang von der Kiassengesellschaft zur kiasseniosen Gesellschaft zu konzep­tuaiisieren- freiiich nur dann; wenn man andas politische Organi­sationsmodell der kiasseniosen Gesellschaft und nicht an das "(har­nionistische) Nicht-Organisations-Modell anknüpft. Wenn ich­stark schematisierend- das Freud-Modell eher dem hegelianischen Modell einer rationaien Gesellschaftsorganisation, das Piaget-Mo­dell eher dem marxistischen Modell zugeordnet habe, so drückt sich hierin die Vermutung aus, da6 in der nicht restlos gekiarten Beziehung dieser beiden Modelle zueinander bei Habermas Pro­bieme sich verbergen, di e mit einer ungekiarten Rivaiitat zwischen einer eher hegelianisch-zurückgenommenen und einer eher em­phatisch-marxistischen Kpnzeption einer emanzipierten Gesell­schaft zusammenhangen. Freiiich verhaiten sich die beiden Mo­delle bei Habermas eigentlich genau umgekehrt zueinander, ais ich es nahegelegt habe: Das Freud-Modell entstammt einer Phase, in der Habermas di e poiitisch verstandene Konzeption einer kiassen­iosen Gesellschaft noch gieichsam ungebrochen in Anspruch nahm; das Piaget-Modell hat er in einer Phase entwickelt, in der er mit der Rezeption systemtheoretischer Einwande zugieich ein Stück rationaiistischer Gesellschaftsutopie verabschiedet zu haben scheint. Andererseits spricht die Mogiichkeit einer Umkehrung der Zuordnungen dafür, daB die eben skizzierten beiden Konzep­tionen einer >>vernünftigen« Gesellschaft viel zu unscharf sind, um eindeutige Zuordnungen und scharfe Abgrenzungen zu ermogii­chen. Ich mochte sie daher auch nur zum Ausgangspunkt eines Versuchs nehmen, die systematische Frage, auf die die beiden Konzeptionen antworten- die Frage namiich, wie eine vernünftige Gesellschaft unter Bedingungen von Modernitat gedacht werden kann -, zumindest in einigen ihrer Aspekte zu prazisieren. 2. Ich mochte zunachst auf Probieme und Schwachen der beiden eben skizzierten Konzeptionen hinweisen. Eine hegelianische Konzeption insistiert auf der irreduzibien Kompiexitat moderner Gesellschaften, auf der irreduzibien Partikuiaritat und »Situiert-

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heit« der Individuen- sowohl in Hinsicht auf den gesellschaftlich- I geschichtlichen Lebenszusammenhang ais auch in ihrer Eigen­sch'aft ais Naturwesen und daher auf der Unmoglichkeit der Wie­derherstellung einer >>unmittelbaren Einheit« von Individuum und Gesellschaft unter Bedingungen von Modernitat, sei es im Sinne archaischer oder antiker Vorbilder oder sei es im Sinne eines den Lebenszusammenhang der Gesellschaft unmittelbar und ubiquitar durchdringenden vernünftigen Allgemeinwillens. Die Frage stellt sich freilich, wie sich eine solche Position mit der Idee einer ver­nünftigen Organisation der Gesellschaft noch vereinbaren laBt, wenn man die Pramissen aufgibt, unter denen Hegel diese Idee noch bei gleichzeitiger Kritik an allen aufklarerisch->>subjektivisti­schen« Konzeptionen einer ratíonalen Gesellschaftsordnung fest­halten konnte. Je nachdem, ob man die hier »hegelianisch<< ge­nannte Konzeption systemtheoretisch ausdünnt, universalprag­matisch unterlauft oder durch eine Philosophie der »Situierten Freiheit<< neu interpretiert, wird sie ganz verschiedene Bedeutun-gen annehmen. Ihre Hauptschwache ist daher zunachst ihre funda­mentale Unscharfe. Das Problem der marxistischen Konzeption besteht darin, daB sie Hegels Einwande gegen aufklarerisch-rationalistische Begriffe von Freiheit und vernünftiger - individueller wie gesellschaftlicher -Selbstbestimmung nicht ernst genug genommen hat. Marx' Bild der kommunistischen Gesellschaft tragt Züge einer absolut und gleichsam wlderstandslos gewordenen Freiheit oder vielmehr: ei­ner Freiheit, die nur durch die Notwendigkeiten des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur begrenzt ist. Es sind Züge einer natu· ralistisch gewendeten transzendentalen BewuBtseins- und -Frei­heitsphilosophie. Die befreite Menschheit ist namlich in gewissem Sinne ais ein » Über-Subjekt<< - d. h. im Singular - konzipiert, ais mit sich einig gewordenes Subjekt, dessen Freiheit nur andem Wi­derstand der auBeren Natur eine Schranke findet. Eine Schranke für die Freiheit stellt die auBere Natur dar, insoweit Freiheit hier­im Kantischen Sinne- ais »Freiheit der Willkür<< verstanden wird; freilich unterstellt Marx für die klassenlose Gesellschaft einen Grad der Naturbeherrschung, der diese Schranke kaum noch spür­bar erscheinen laBt. Was demgegenüber die Freiheit vernünftiger Selbstbestimmung betrifft, so rechnet Marx damit, daB das, was der Einigkeit des noumenalen Ich mit sich selbst in der geschicht­lich-natürlichen Wirklichkeit einer Pluralitat von Individuen bis-

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her entgegengestanden hat, durch den Übergang zur klassenlosen Gesellschaft gleichsam weggearbeitet worden ist: Das Reich der Freiheit ist das Reich der Zwecke. Deshalb bedarf es, strengge­nommen, der institutionellen Vermittlungen nicht mehr, welche ja immer ein Stück Differenz zwischen dem unmittelbaren Meinen und .Wollen der Individuen und dem, was als gemeinsame Inter­pretation und ais gemeinsamer Wille anerkannt werden kann, vor­aussetzen. Die politische Konzeption der klassenlosen Gesellschaft enthalt bereits eine Korrektur dieses naturalistisch gewendeten transzendentalen Monismus: für Marx freilich ist kennzeichnend, daB er die Kommunalverfassung eigentlich nur ais ein Durch­gangsstadium zur kommunistischen Gesellschaft aufgefaBt hat: ais »die endlich entdeckte politische Form, unter der die Befreiung der Arbeit sich vollziehen« konne. Trotz dieser bei Marx vorhandenen Zweideutigkeit mochte ich im folgenden von der politischen Kon­zeption der klassenlosen Gesellschaft ausgehen. Auf sie laBt sich Habermas' universal-pragmatische Rekonstruktiori der normati­ven Grundlagen des historischen Materialismus beziehen: Eine herrschaftsfreie Gesellschaft ware diejenige, in der die kollektiven Willensbildungsprozesse die Form zwangloser, diskursiv herbei­geführter Einigungen angenommen hatten. Hier tritt die befreite Menschheit nicht mehr 'im Singular auf, vielmehr ist die Idee der Emanzipation aus · dem Bezugssystem einer mo~listisch verfahre­nen BewuBtseinsphilosophie explizit herausgelost und die Hegel­sebe Einsicht in die konstitutive Bedeutung intersubjektiver, sym­bolisch vermittelter Lebensverhaltnisse für die Subjektivitat der Subjekte in einen radikal aufklarerischen Begriff von Freiheit und Rationalitat eingetragen. Dieser Begriff, so konnte man sagen, ver­sucht eine Synthese aus Kant und Hegel: Die Rationalitat der Sub­jekte wird zu einer Funktion rational gewordener intersubjektiver Lebenszusammenhange; da dieser Konzeption aber di e Basis einer »übersubjektiv<< konzipierten, vom Wollen und Meinen der Indi­viduen unabhangigen Vernunft im Sinne Hegels fehlt, muB er das Verhaltnis zwischen subjektiver Rationalitat und der Rationalitat transsubjektiver Lebenszusammenhange ais einen wechselseitigen Bedingungszusammenhang konstruieren: die Gesellschaft wird so vernünftig sein, wie die durch sie v~reinigten Individuen es sein werden. Damit laBt sich die Problematik der Marxschen Konzep­tion neu formulieren: Konnen wir von der emanzipierten Gesell­schaft so reden, daB wir si e gleichsam vom idealen Grenzwert einer

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von allen Trübungen gereinigten Vemünftigkeit der Individuen und ihrer sozialen Beziehungen her konstruieren? Wieweit der Zustand der Gesellschaft sich diesem Grenzwert wirklich anna­hem mag, das bliebe natürlich in jedem Fall eine empirische Frage: Wir konnen es nicht a priori wissen. Die Konstruktion enthalt aber die Unterstellung, daB wir den faktischen Zustand der Gesellschaft an einem solchen Grenzwert >>messen<< konnen. Ich mochte das Problem genauer bezeichnen, das ich in einer sol­chen Konstruktion sehe: Sie beruht auf eihem Begriff der Rationa­litat, der- ais Grenzwert- eine bruchlose Identitat sowohl der ln­dividuen ais auch der Gesellschaft _mit sich selbst unterstellt. Das ist natürlich eine sehr grobschlachtige Vermutung; ich moc?te sie an einem Punkt verdeutlichen: Mir scheint, daB der Begnff der herrschaftsfreien Kommunikation, wie Habermas ihn konstruiert, die Unterstellung enthalt, daB praktische Probleme eine eindeutig bestimmte rationale Losung haben - auch wenn wir sie verfehlen mogen oder aufgrund intemer oder extemer Kommunikations­sperren praktisch an einer rationale~ Lo~ung dieser Proble~e ge­hindert werden. Habermas rechtfertlgt d1ese U nterstellung, mdem

· er ais MaBstab der Richtigkeit praktischer Problemlosungen nicht mehr eine ontologisch festgeschriebene rationale Ordnung, son­dem die zwanglose Einigung der Individuen selbst ansetzt. Ich glaube, daB dieser Gedanke einen Zirkel enthalt; ich mochte aber an dieser Stelle nicht auf die Konstruktion ais solche eingehen, son­dem statt dessen das Problem erlautem, das ich in ihr vermute: Es ist das Problem einer ungeschichtlich verstandenen Ein~eit der Vemunft mit sich selbst. Aus der Perspektive eines solchen Ver­nunftbegriffs erscheinen (I) die Beziehungen der Individuen un­tereinander und zu sich selbst ais potentiell vollstahdig transparent gewordene Bezieh~ngen; es erscheinen ~2) di_e Selb~tinterpr~tatio­nen von Individuen und Gesellschaften 1m L1chte emes zummdest kontrafaktisch antizipierten >>wahren<< Wissens, das gleich~am_kei­nen geschichtlichen Index mehr trüge - a~ch wen~ .w1~ d1eses wahre Wissen nie erreichen sollten; es erschemen (3) d1eJemgen na­türlichen und geschichtlichen Bedingungen, die gleichsam jeder menschlichen Situation einen Partikularitatsindex verleihen, nur ais mogliche Begrenzungen rationaler Selbstbestimmung_ und ra­tionaler Kommunikation, vielleicht noch ais deren genettsch not­wendige Voraussetzungen, nicht aber ais die im Begriff der Ver­nunft mitzudenkenden Momente der Situiertheit und der begren-

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J

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zenden Perspektive ais einer Ermoglichung von Wahrheit. Daher erscheint di e vemünftige Gesellschaft ais System, in dem gleichsam alle Faden an einem Punkte zusammenlaufen, auch wenn dieser Punkt in die kontrafaktische Wirklichkeit einer idealen Kommuni-kationsgemeinschaft verlegt wird. · Das Problem, das ich in der Marxschen Konzeption, auch in ihrer von Habermas rekonstruierten Form, sehe, liegt in den festgehal­tenen Strukturen eines rationalistischen Vemunft" und Freiheits­begriffs. Nicht, daB wir nicht wissen konnen, bis zu welchem Grad wir dem Zustand einer vemünftig gewordenen Gesellschaft uns empirisch annahem kotmen, ist das Probletn; das Problem sehe ich vielmehrim idealen MaBstab stl!bst- ein Problem, welches mir von einer ahnlichen Natur zu sein scheint wie dasjenige, das Wittgen­stein im Auge hatte, wenn er von alltagssprachlichen Kontexten sagte, ein »Ideal der Genauigkeit<< sei hier nicht vorgesehen. Wir waren somit vor das folgende Dilemma gestellt: Auf dem Boden einer hegelianischen Position nach Hegel scheint sich der Begriff einer vemünftigen Gesellschaft ais solcher aufzulosen. Da~ gegen scheint der Versuch, die marxistische Position unter Auf­nahme Hegelscher Einwande durch die Reformulierung eines ra­dikal aufklarerischen Vemunftbegriffs neu zu begründen, zurück zu fragwürdigen rationalistischeri Positionen zu führen. .. Soweit das Dilemma, das sich ais Resultat der bisherigen Uberle­gungen ergibt. Ich mochte nun der Frage nachgehen, wie wir uns eines von rationalistischen Identitatsforderurtgen freien Begriffs der Vemunft und der vemünftigen Organisation der Gesellschaft versichem konnen.

m Überlegungen zu einem post-rationalistischen

Begriff der Vernunft

I. Ich mochte zunachst wieder an eine Überlegung von Habermas anknüpfen. Habermas hat in mehreren Arbeiten Hypothesen über die sich abzeichnenden Strukturmerkmale post-modemer Gesell­schaften geauBert. Seine Grundthese ist, daB nach der Erosion aller jener Traditionen, Lebensformen und Deutungssyste'!le, die gleichsam auf dem Wege einer naturwüchsig wirksamen Uberlie­fening in der bisherigen Geschichte eine an bestimmte Inhalte -

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Werte, Normen, lnterpretationen - gebundene Form kollektiver Identitat ermoglicht hatten, heute »kollektive Identitat nur noch in reflexiver Gestalt denkbar (ist), namlich so, daB sie im BewuBtsein allgemeiner und gJeicher Chancen der Teilnahme an solcheq Kommunikationsprozessen begründet ist, in denen Identitatsbil­dung als kontinuierlicher LernprozeB stattfindet.<<' In diesem Zu­sammenhang weist er auf zwei miteinander zusammenhangende Phanomene hin, die er als Anzeichen eines evolutionar neuen ge­schichtlichen Niveaus versteht: das Reflexivwerden von Motivbil­dungsprozessen und die Verknappung von Sinn als einer bisher

~- naturwüchsig reproduzierten Ressource.' Die >>Verknappung<< r) von Motivation und Sinn auBert sich auf der einen Seite in einer :.) >>kommunikativén Verflüssigung von Werten, Normen und Be­

dürfnisinterpretationen, die z. B. in Tendenzen zur »Entdifferen-~...... ;

' zierung bisher autonomer Lebensbereiche<< sichtbar wird.3 Haber-;R: t mas weist insbesondere auf Tendenzen zur »Entkunst~ng<< der Cl t Kunst, der Entmoralisierung von Verbrechen, der Entpathologi­.-!i , sierung von Geisteskrankheiten und der Entstaatlichung der Poli­U.~ \ tik hin.4 Die kommunikative Verflüssigung von Werten, Normen U~- I und Bedürfnisinterpretationen laBt sich nicht angemessen durch -~ das Wort »Demokratisierung« bezeichnen, da es sich um Prozesse 0 handelt, die gleichsam komplementar zu den organisationsformig CO geordneten Prozessen politischer Willensbildung verlaufen. >>Sie

. (/) ?leiben h~ufig diffus, treten unter sehr verschiedenen Definitionen

.-~ m Erschemung und dringen, von der >Basis< ausstromend, in die Poren der organisationsformig geordneten Lebensbereiche ein. Sie haben einen subpolitischen Charakter, d. h., sie laufen untérhalb der Schwelle politischer Entscheidungsprozesse ab: sie nehmen aber indirekt EinfluB auf das politische System, weil sie den nor­mativen Rahmen der politischen Entscheidungen verandern.<<s Auf der andern Seite fordert die Verknappung der Ressourcen Mo-

I J. Habermas, »Kiinnen komplexe Gesellschaften eine vernünftige Iden­titat ausbilden?<<, in:J. Habermas und D. Henrich, Zwei Reden, Frankfurt 1974, S. 66. 2 J. Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, a.a.O., S. I82. 3 J. Habermas, >>Kiinnen komplexe Gesellschaften eine vernünftige Iden-titat ausbilden?<<, a.a.O., S. 67. · 4 A.a.O.. . 5 A.a.O., S. 66f.

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tivatiori und Sinn Tendenzen zur Entstehung neuer Typen der So­zialadministration, die mit der Erzeugung und Kontrolle von Mo­tivationen und lnterpretationen befaBt waren. Habermas vermu­tet, daB mit dem Reflexivwerden der Motivbildungsprozesse und der Verknappung von Sinn ein neues Organisationsprinzip der· Gesellschaft sich abzeichnet, dem, wie man hinzufügen darf, die reflexiv gewordene Form einer kollektiven Identitat entsprechen würde. Worauf es mir nun ankommt, ist eine von Habermas formulierte Alterna tive, die mich zu meinem Ausgangsproblem zurückbringt. Auf der einen Sei te spricht er von der Moglichkeit eines sich in Zu­kunft einspielenden » Teufelskreises<< >>zwischen erweiterter Parti­zipation und anwachsender Sozialadministration, Z'o/ischen dem Reflexivwerden der Motivbildungsprozesse und der Zunahme an sozialer Kontrolle ( d. h. an Motivmanipulation).<<' Dies ist sozusa­gen die pessimisti'sche Variante seiner Konzeption einer post-mo­dernen Gesellschaft. Würde diese Variante Wirklichkeit werden, so bliebe die von ihm ins Auge gefaBte neue Form kollektiver Iden­titat eine bloBe Projektion. 2 Die alternative, optimistische Variante ware demgegenüber verwirklicht in einer Gesellschaft, in der die reflexive Form kollektiver Identitat ihren Niederschlag in den realen Lebensprozessen der Gesellschaft gefunden hatte. » Wenn in komplexen Gesellschaften eine kollektive Identitat sich ausbilden würde, hatte sie die Gestalt einer inhaltlich kaum prajudizierten, von bestimmten Organisatiorien unabhangigen Identitat einer Ge­meinschaft derer, 'di e ihr identitatsbezogenes Wissen über konkur­rierende Identitatsprojektionen, also: in kritischer Erinnerung.der· Tradition oder angeregt durch Wissenschaft, Philosophie und Kunst diskursiv und experimentell ausbilden.<<J Mir scheint, daB in dieser .ÃuBerung wie auch in einigen der zuvor zitierten .ÃuBerun­gen ein gleichsam »dezentrierter<< Begriff der Vernunft und der vernünftigen Identitat sich abzeichnet, der über die oben erlauterte Alternative von »hegelianischen<< und »marxistischen<< Konzep­tionen einer »rationalen Gesellschaft<< hinausführen konnte. Aller­dings will hierzu, wie mir scheint, der letzte Satz der Habermas­schen Hegel-Rede nicht recht passen: »Unterdessen würde es die

I Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, a.a.O., S. I8J. 2 »Kiinnen komplexe Gesellschaften eine vernüriftige Identitat ausbil­den?<<, a.a.O., S. 71. 3 'A.a.O., S. 75·

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zeidiche Struktur einer zukunftsorientierten Erinnerung erlauben, universalistische Ich-Strukturen über die Parteinahme für jeweils besondere Interpretationsrichtungen auszubilden: denn jede Posi­tion kann mit den übrigen Positionen, denen sie in der Gegen'1iJart gegenübersteht, gera.de in der Parteilichkeit für ein künftig zu rea­lisierendes Allgemeines übereinkommen.<<' Ich meine, daB dieser Satz zu der oben ins Auge gefaBten Interpretation deshalb nicht paBt, weil er gleichsam di'ejenige aporetische Struktur in die Kon­zeption einer emanzipierten Gesellschaft wieder einführt, zu der in der marxistischen Tradition die Idee der klassenlosen Gesellschaft immer wieder geführt hat: Trotzkis Theorie der permanenten Re­volution is't ein Beispiel; allgemeiner gesprochen kommt diese apo­retische Struktur darin zum Ausdruck- Merleau-Ponty hat darauf hingewiesen -, daB die klassenlose ~esellschaft zu einem uner­reichbaren Fixpunkt jenseits der Geschichte oder am Ende der Ge­schichte werden muB, obwohl sie zugleich ais das historisch ein­deutig lokalisierte Nachfolgesystem des Kapitalismus konzipiert ist. Ich meine, daB es sich um eine Inkonsequenz handelt, wenn Habermas die in der emanzipierten Gesellschaft - die von ihm durch eine reflexiv gewordene Form kollektiver Identitat charak­terisiert wird- fortbestehendén Gegensatze auf ein erst künftig zu realisierendes Allgemeines bezieht; mit anderen Worten: Wenn das zu realisierende vernünftige Allgemeine ais ein zu Realisieren­des wirklich gedacht werden kann, dann ki:innen wir es nicht durch den Bezug auf ein erst künftig zu realisierendes Allgemeines cha­rakterisieren. Mit Hegel ist man versucht, an dieser Stelle zu sagen: Hic Rhodos, hic salta. Ich mi:ichte im folgenden versuchen, den vorher zitierten .AuBe­rungen von Habermas eine etwas andere Pointe zu geben, indem ich den Begriff einer Gesellschaft zu konstruieren versuche, die >>Vernünftig<< genannt werden kann, ohne auf eine erst noch zu rea­lisierende Vernunft bezogen werden zu müssen. 2. Ich gehe davon aus, daB in einer >>vernünftig<< organisierten Ge­sellschaft ein Prinzip >>diskursiver Rationalitat<< bei prinzipiell glei­chen Diskurs- und Partizipationschancen aller ~ine institutionelle Verki:irperung finden würde. Unter einem Prinzip diskursiver Ra­tionalitat verstehe ich ein Prinzip des Umgangs mit intersubjekti­ven Geltungsansprüchen: Es zeichnet ais. einzig rationales Verfah-

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ren einer Klarung strittiger intersubjektiver Geltungsansprüche­neben den Verfahren der empirischen Überprüfung und der logi­schen Analyse- das Verfahren der Argumentation unter gleichbe­rechtigten Diskussionspartnern aus. Hierbei kommt der intersub­jektive Charakter von Geltungsansprüchen darin zum Ausdruck, daB >>gute<< oder >>gültige<< Argumente von jedem zureichend kom­petenten ( einsichtigen, urteilsfahigen) Sprecher akzeptiert werden müBten. In jedem intersubjektiven Geltungsanspruch steckt Somit die Antizipation eines zwanglosen, auf Argumenten bzw. auf Ein­sicht beruhenden Konsenses ali derer, an die ein solcher Geltungs­anspruch sich richtet. Meine These ist: Wenn wir der Idee einer Gesellschaft, in der >>dis­kursive Rationalitat<< als Organisationsprinzip anerkannt und durchgesetzt ist, einen zureichend bestimmten Sinn geben ki:innen, so b_edeutet das nicht, daB wir damit zugleich das Ideal einer voll­kommen rational gewordenen Form des Lebens formuliert haben. Ein solches Ideal kann es nicht geben. Um diese These zu erlautern, mi:ichte ich zunachst, in Anknüpfung an Tugendhat, einige Argumente gegen einen universalpragma--tisch gefaBten Konsensbegriff der Wahrheit formulieren. · Der Wahrheitsanspruch empirischer Aussagen enthalt den Bezug dieser Aussagen auf eine- in einem gewissen Sinne- sprachunab­hangige Realitat. Die Wahrheitsbedingungen solcher Aussagen sind durch die semantischen Regeln determiniert, welche die Be­deutung der in ihnen vorkommenden Ausdrücke bestimmen. Der Geltungsanspruch normativer Aussagen enthalt demgegenüber den Bezug auf einen MaBstab der Richtigkeit, der- mangels eines Bezugs dieser Aussagen zu einer von ihnen unabhangigen Realitat - nicht durch die semantischen Regeln für die Verwendung der in ihnen vorkommenden Ausdrücke bestimmt ist, sondern der durch die semantischen Reg~ln für die Verwendung von Worten wie >>ge­recht<< definiert ist. Uber empirische Aussagen zu streiten heiBt, für oder gegen die Wahrheit dieser Aussagen zu argumentieren; empirische Aussagen begründet zu akzeptieren heiBt sie begründet für wahr nehmen. Über normative Aussagen zu streiten heiBt demgegenüber, dafür oder dagegen zu argumentieren, daB p ge­recht (moralisch richtig) ist. Dem Bezug auf eine sprachunabhan­gige Realitat im einen F alie entspricht der Bezug auf einen vom In­halt der Aussagen unabhangigen MaBstab der Richtigkeit dieser Aussagen. Die >>Unabhangigkeit<< des MaBstabs ist freilich in bei-

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den Fiillen eine nur relative: lm Falle empirischer Aussagen ist der Ma~stab (die sprachunabhangige Realitat) 'nur gegeben vermoge der semantischen Regeln· für die Verwendung von Ausdrücken, über deren Anwendung - in bestimmten Grertzen - vorgangiger Konsens bestehen mu~, d. h. ein praktisch funktionierendes Ein­verstandnis, das freilich dann auch mit Gründen kritisiert und mit Gründen korrigiert werden kann. Konsens über semantische Re­geln la~t sich aber nicht insgesamt mit Gründen herbei.führen, et ist vielmehr das Resultat der Einübung in eine gemeinsame Le­benspraxis, .die die Voraussetzung jeden Argumentierens ist. Im F alie norma tiver Aussagen ist der Ma~stab der Richtigkeit gegeben vermoge der semantischen Regeln für die Verwendung von Aus­drücken wie >>gerecht« - und diese semantischen Regeln sind zu­nachst einmal kulturabhangig. Der semantische Kern- kulturinvariant- von Worten wie >>ge­recht<< scheint mir in der Forderung begründet zu sein, Gleiches gleich zu behandeln. Was hei~t das? ' Von einer Handlung p zu behaupten, sie sei richtig, hei~t zunachst ohne Zweifel zu behaupten, jeder müsse sie ais richtig akzeptieren. Es hei~t aber zugleich zu behaupten, da~ jeder unter vergleichba­ren Umstiinden so handeln solle oder dürfe. pais richtig zu beur­teilen heiflt zunachst einmal zu behaupten, da~ jeder (mich einge­schlossen) unter vergleichbaren Umstanden so handeln solle (wie eine empirische Behauptung ais wahr anerkennen hei~t, anzuer­kennen, da~ jeder diese Behauptung zu Recht erheben dürfe). Zu­gleich hei~t p ais richtig anzuerkennen oder zu behaupten aber auch, zu unterstellen oder den Anspruch zu erheben, daB jeder die Behauptung >p ist richtig< ais (normativ) wahr akzeptieren mü~te. Von einer Norm zu behaupten, sie sei gerecht, hei~t zu behaupten,

· da~ die Ansprüche aller »gleicherma~en« berücksichtigt werden (da~ »Gleiches gleich behandelt wird«). Zugleich hei~t es, den An­spruch zu erheben(nicht behaupten), da~ jedermann dieser Norm als einer gerechten müsse zustimmen konnen. In der Beurteilung einer Normais richtig oder gerecht ist also ein doppelter Bezug auf jedermann (oder jeden aus einer Gruppe) enthalten: einmal ver­moge der Semantik des Wortes »gerecht«, zum anderen vermoge der Intersubjektivitat des Geltungsausspruchs. Nun hangt aber eine intersubjektiv verbindliche Verwendung des Wortes »ge­recht« davon ab, daB Konsens besteht über das, was ais »gleich<< im relevanten Sinne- und ais »gleiche Behandlung oder Berücksichti-

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gung« zu gelten habe. Ob aber die Behauptung, eine Norm N sei gerecht, zu Recht erhoben wird (und daher zu Recht jedermann zugemutet werden kann), hangt davon ab, oh die Kriterien dessen, was im relevanten Sinne »gleich« hei~en solle, angemessen sind. Die Frage nach der Richtigkeit der Kriterien für Gleichheit und Ungleichheit ist aber nicht wieder eine Frage nach der »Gerechtig­keit« von.Normen, es ist vielmehr eine Frage der lnterpretation, Bewertung und Erkliirung von Ungleichheiten. Wir konnen daher zwischen einer »monologischen« und einer >>dialogischen« Ebene der Begründung von Normen unterschei­den. Solange eine Basis gemeinsamer lnterpretationen von Interes­sen, Bedürnissen und Situationen unterstellt werden kann, sind Diskurse nicht prinzipiell ( obwohl vielleicht aus pragmatischen Gründen) nofwendig, um Normen angemessen zu begründen. So­bald aber Situationsverstandnisse und Bedürfnisinterpretationen divergieren, bedarf es faktischer Diskurse, wenn die Moglichkeit eines begründeten Einverstandnisses über Normen wieder herge­stellt werden soll. Hier kommen nun die Regeln der idealen Sprechsituation zu ihrem Recht. lch meine mit Tugendhat, da~ man sie ais moralische Regeln verstehen solle, die die Gleichheit der Diskurschancen und die Aufrichtigkeit der Diskursteilnehmer sichern. Wenn aber diese Regeln anerkannt sind, dann ist klar, da~ es keine privilegierte Position für di e Festlegung von Bedürfnisin­terpretationen und Situationsverstandnissen geben kann: Zwang­lose Einigung über Bedürfnisinterpretationen und Situationsver­standnisse ist die einzig mogliche Basis einer Begründung von Normen, von der erwartet werden kann, da~ sie intersubjektiv ak­zeptiert werden mü~te. Solange jenes Einverstandnis nicht be­steht, fehlt es an einem in 'gemeinsamen lnterpretationen festge­machten Verhaltnis wechselseitiger Anerkennung. Soweit es aber um solche Bedürfnisinterpretationen und Situationsverstandnisse geht, ist die Moglichkeit von Einverstandnis ein Kriterium ihrer Wahrheit - und nicht nur, wie bei empirischen oder normativen Satzen, die auf der Basis gemeinsam anerkannter semantischer Re­geln behauptet werden, eine Folge ihrer Wahrhl!it. Ob. sich nun ein· Verhiiltnis wechselseitiger Anerkennung über ge­memsame lnterpretationen herstellt, das ist eine im Einzelfall nie­mals a priori entscheidbare Frage. Es gibt keine Regeln oder Ver­fahren, mit deren Hilfe die Erzielung von Konsens in praktischen Fragen sichergestellt werden konnte. Deshalb sind die Symmetrie-

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forderungen der idealen Sprechsituation zugleich zu verstehen ais Forderungen, die für alie Beteiligten gleiche Chancen der Partizi­pation am Zustandekommen von Entscheidungen verlangen. Ge­rade wo eine Einigung nicht erzielt werden kann, müssen zurpin­desf alie die gleichen Rechte haben, ihre Argumente zu Gehõr zu bringen und an den Entscheidungen teilzunehmen, wobei, was »gleiche Chancen<<, institutionell gesprochen, faktisch bedeutet, wiederum nicht durch formale Überlegungen a priori entschieden werden kann. »Rational<< organisiert nennen wir eine Gesellschaft, die durch eine bestimmte Form des (diskursiven) Umgangs mit Dissensen, der Herbeiführung von Entscheidungen und der KHirung von ln­terpretationep gekennzeichnet ist. Solange wir aber nicht unter­stellen dürfen, daB die Rationalitat der Verfahren die Richtigkeit der Resultate oder auch nur die Mõglichkeit von (inhaltlichen) Konsensen garantiert, solange wir also zwischen (formalen) Ra­tionalitatsstrukturen und inhaltlichen Konsens~hancen bzw. der Chance einer auch in gemeins~men lnterpretationen und gelunge­nen Lebensformen festgemachten kollektiven Identitat unter­scheiden müssen, solange kõnnen wir von einem idealen Grenz­wert der rationalen Gesellschaftsorganisation nicht sprechen. Dás heiBt aber auch, wir müssen davon absc:;hen, Gesellschaften gleichsam auf einer Skala grõBerer oder geringerer Annaherung an einen idealen Grenzwert »herrschaftsfreier Kommunikation<< abzutragen. Statt dessen ware, wie ich meine, ein Bewertungs­standard anderer Art einzuführen, den man ebenfalls ais >>Ratio­nalitatsmaB<< bezeichnen kõnnte, ein RationalitatsmaB freilich, bei dem von vornherein klar ware, daB es kein formal charakteri­sierbares Optimum zulaBt. lch mõchte diesen Gedanken zunachst indirekt erlautern, indem ich eine Analogie auf der Ebene der Lebensform von Individuen konstruiere. Ich unterstelle, daB man Individuen einer bestimmten Entwicklungsstufe eine moralisch-kognitive BewuBtseinsstruktur zuschreiben kann, die man ais >>diskursiv rational<< bezeichnen kõnnte. Solche Strukturen bezeichnen Formen der Problemlõsung und des Umgangs mit Geltungsansprüchen und daher ;tuch nur formale Eigenschaften, nicht aber inhaltliche Qualitaten von Pro­blemlõsungen. Ich mõchte den Punkt, auf den ich hinaus will, ver­deutlichen am Problem der Neurose und ihrer Heilung. Ic\1 unter­stelle, daB di e formalen Kompetenzen (moralischer und kognitiver

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Art) des Neurotikers hinter denen des sogenannten >>Gesunden<< nicht zurückstehen. Das neurotische >>Rationalitatsdefizit<<- wenn wir davon reden wollen -laBt sich daher nicht nach MaBgabe ei­nes formalen Standards >>kommunikativer Kompetenz<< (oder >>Zwangloser lch-Identitat<<) beschreiben. Das Gegenstück der Neurose ist vielmehr ein Zustand (eine Verfassung des Subjekts), der sich etwa durch eine gesteigerte synthetische Kraft des Ich, eine zwanglose lntegration zuvor auseinanderlaufender Triebimpulse und im Zusammenhang damit natürlich auch durch eine erhõhte Selbsttransparenz und ein angemesseneres Selbstverstandnis des betroffenen Subjekts charakterisieren laBt. Die Veranderung der lnterpretationen (kognitive Ebene) geht mit einer Veranderung des lch, seiner Affektstruktur, seiner Motivationen und seiner syn­thetischen Fahigkeiten einher. Bei dieser Art der Veranderung von Subjekten, so behaupte ich, gibt es keine ideale Norm, es sei denn in dem Sinne, in dem man von der >>idealen Balance<< von Bildele­menten oder der zwanglosen lntegration der Momente eines Kunstwerks zu einem Ganzen sprechen kann. Freilich sind Men­schen keine Kunstwerke, und deshalb ist auch diese Analogie si­cher in gewisser Hinsicht irreführend. Di e Differenz zwischenN eurose und dem Zustand der Heilung be­schreiben wir somit ais eine Differenz zwischen zwei verschiedenen Arten des Gebrauchs der gleichen-formalen- Kompetenzen. Beim Nicht-N eurotiker wird di e ser Gebrauch besser sein, aber nicht not­wendigerweise rationaler in irgendeinem formal charakterisierba­ren Sinne. Es handelt sich um einen Zuwachs an Einsicht, an U rteils­und Handlungsfahigkeit und gewiB um einen Zuwachs an Autono­mie. Aber eben soweit es sich hier um die Fahigkeit eines zwanglo­sen Umgangs mit sich selbst und die Fahigkeit einer Herstellung zwanglos-reziproker Beziehungen mit anderen handelt, um Ur­teils- und Handlungsfahigkeit, gibt es keine ideale Norm >>vollkom­mener<< Gesundheit. Ich glaube, daB selbst in Hinsicht auf das Pro­blem der ,,seJbsttauschung<< (bzw. der Aufrichtigkeit) eine ideale Norm derSelbsttransparenz keinen Sinn macht; ich meine namlich, daB man den Begriff der Selbsttransparenz (im Gegensatz zu Selbst­tauschung) falsch konstruiert, wenn man ihn nach dem Muster eines kognitiven Verhaltnisses auffaBt; es handelt sich eher um etwas wie Zuganglichkeit des Subjekts für sich selbst, gleichsam eine Fahig:­keit, sich frei im eigenen H a use zu bewegen- und wenn man, utn bei diesem Bild zu bleiben, hier von »vollkommener<< Bewegungsfrei-

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heit spricht, so kann das immer nur einen relativen, auf einen be­stimmten Kontext bezogenen Sinn haben. 3· Ich glaube nun, daB sich für Gesellschaften eine analoge Betrach­tung anstellen lassen muB. Ich unterstelle, daB wir von diskursiver Rationalitat ais von einem Organisationsprinzip künftiger Gesell~ schaften sprechen kõnnen; diesem Organisationsprinzip entspra­che eine reflexiv gewordene Form kollektiver Identitat. Innerhalb des Bereichs der auf diese Weise formal charakterisierten Gesell­schaftsformationen kõnnte es immer noch viele mõgliche verschie­dene Organisationsformen geben, wobei die Unterschiede zwi­schen diesen Organisationsformen nicht zu charakterisieren waren in terms eines unterschiedlichen lnstitutionalisierungsgrades dis­kursiver Rationalitat, sondem eher in Analogie zu den Unterschie­den zwischen Neurotikern und Gesunden oder auch zwischen der Physiognomie und der Lebensform zweier verschiedener Iridivi­duen. Es gabe >>gelungene<< und weniget gelungene, mehr oder we­niger mit der Fortdauer von Konflikten und Zwangen verbundene Lõsungen, aber es gabe keinen denkbaren Endpunkt einer >>Voll­kommen<< emanzipierten Gesellschaft. Da die formalen Rationali­tatsstrukturen weder di e Richtigkeit von Entscheidungen (betrach~ tet etwa im Lichte spaterer Erfahrungen) noch die argumentative Auflõsbarkeitvon Gegensatzen, nochein sinnvolles odergar.glück­liches Leben der Individuen garantieren, waren für das, was wir ein >>gutes Leben<< nennen kõnnten, in den formalen Rationalitats­strukturen nur notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen gegeben. Das Vernünftige im Sinne des guten Lebens aber würde sich von dem, was nu rim Sinne einer formalen Struktur ais vernünf­tig bezeichnet werden kõnnte, etwa so unterscheiden wie der Ur­teilsfahige vom Dummen, der Gesunde vom N eurotiker, der Blinde vom Sehenden oder der Glückliche vom Unglücklichen.

IV Rationalitat, Wahrheit und Konsens

Di~ kritischen Überlegungen des Teils m werden im folgenden fortgeführt ais Kritik an Habermas' Versuch, die Begriffe der >>Ra­tionalitat<< und der »Wahrheit<< mit Hilfe der Idee der >>idealen Sprechsituation<< zu erlautern.'

I Vgl. insbes. ]. Habermas, >>Wahrheitstheorien<<, in: H. Fahrenbach (Hrsg.), Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 6o. Geburtstag,

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1. Der Inhalt eines rationalen, eines begründeten Konsenses ist nicht notwendigerweise wahr, auBer in dem folgenden Sinne: So­lange nicht jemand kommt, der den Konsens in Frage stellt, wer­den wir seinen Inhalt jedenfalls, mit Gründen, für wahr halten -sonst ware es kein Konsens, in den wir einstimmen. Aber zu sagen: Da es ein rationaler Konsens ist, ist er wahr- ist falsch. Wir haben vielmehr eine Behauptung ais gut begründet anerkannt ~das heiBt, wir halten sie mit Gründen für wahr. Aber man kann nicht sagen: Da wir sie alie mit Gründen für wahr halten, ist sie wahr. DaB wir sie mit guten Gründen für wahr halten, heifh, daB wir ihre Falsch­heit ausschlieBen: Aber es folgt daraus nicht, daB sie nicht falsch sein kõnnte. Wenn es gute Gründe für p gibt, folgt daraus, daB p. Aber daraus, daB ich mit - wie ich glaube - guten Gründen p für wahr halte, folgt nicht, daB p. Aber das macht nichts, da ich ja zu­reichende Gründe dafür angeben kann, daB p. Wenn wir alie p mit - wie wir alie glauben- guten Gründen für wahr halten, liefert di e Tatsache, daB wir alie der gleichen Meinung sind, keinen zusatzli­chen Grund dafür, daB p wahr ist. Allerdings ist die Tatsache, daB niemand zweifelt, daB niemandem ein Gegenargument einfallt, ein guter Grund dafür, der eigenen Einsicht nicht zu miBtrauen. Nur wo ein Zweifel an einer gemeinsam anerkannten Behauptung auf­grund der Tatsache, dafl sie gemeinsam anerk.annt wird, sinnlos wird- Farbaussagen sind diesem Fali zumindest sehr nahe -, ist der Konsens ein Kriterium der Wahrheit: Es handelt sich um ein Ein­verstandnis hinsichtlich des >>MaBstabs<< - und solch ein Einver­standnis ist die Voraussetzung daftir,. daB es überhaupt·Meinungs­verschiedenheiten geben kann. Weil ein solches Einverstandnis je­dem Diskurs über Geltungsansprüche zugrundeliegen muB, kann man auch sagen, daB es in gewissem Sinne eine Frage des Blickwin­kels ist, ob man einen Dissens ais Dissens über die Wahrheit einer Behauptung oder ais einen Dissens über di e Verwendung von Aus­drücken verstehen will, oh es sich also um einen Streit über die richtige Anwendung semantischer Regeln oder um einen Streit über >>sprachunabhangige<< Tatsachen handelt. Aber daB beide Blickwinkel gleichermaBen mõglich sind, bedeutet nicht, daB man Wahrheitsfragen nur aus einem dieser Blickwinkeherstehen kann:

Pfullingen I 973; ders., >> Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz«, in: J. Habermas und N. Luhmann, Theo­rie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt I97I.

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Korrespondenz" und Konsenstheorie der Wahrheit erfassen je­weils nur einen Aspekt. (Koharenztheorien der Wahrheit erfassen sozusagen den Zusammenhang dieser beiden Aspekte, d. h. einen dritten Aspekt). Wenn ein allgemeiner und zwangloser Konsens über eine Behauptung p oder eine Theorie T wieder und wieder­ad infinitum- bestatigt würde, so würde das heiBen, daB sich nie­mand mehr Gründe für die Falschheit von p oder T vorstellen kõnnte - p oder T waren in die Nahe a priorischer oder analyti­scher Wahrheiten gerückt. Es kann aber niemals einen Zeiq)unkt geben, zu dem man sagen kõnnte: von jetzt an kann uns e r Konsens nicht mehr in Frage gestellt werden; vielmehr, daB er nicht mit gu­ten Gründen in Frage gestellt werden kann, folgt daraus, daB er gut begründet ist. Dafl es sich aber um einen gut begründeten Konsens handelt, folgt daraus, daB die Gründe gut sind, auf denen er beruht - nicht daraus, daB alle diese guten Gründe akzeptiert haben. Mit anderen Worten: Was ein guter Grund ist, kann man sich nicht (hinreichend) dadurch klarmachen, daB man auf Konsense einer bestimmten Art verweist. Denn um Konsense dieser Art (>>ratio­nale Konsense<<) kennzeichnen zu kõnnen, muB man schon wis­sen, was ein guter Grund ist. Nun ist es sicher richtig zu sagen, daB auch ein Einverstandnis über semantische Regeln mit Gründen kritisiert und korrigiert werden kann- ganz abgesehen davon, daB ein solches Einverstandnis auf­grund der Eigentümlichkeit semantischer Regeln niemals ein für allemal >>Stabil<< sein kann ( es ist ein Einverstandnis, das sich immer wieder praktisch bewahren muB; dabei bilden sich die Regeln fort im Zuge ihrer Applikation). Die Frage nach der richtigen Verwen­dung von Ausdrücken ist ebenso wie die Frage der Festlegung der semantischen Regeln selbst eine normative Frage (auch wenn es nicht um Gerechtigkeit, sondem um die Mõglichkeit wahrerAus­sagen geht). Hier kann man wieder sehen, weshalb ein Konsens­begriff der Wahrheit einen Aspekt des Wahrheitsbegriffs richtig trifft: Man kõnnte namlich sagen, daB in normativen Fragen tat­sachlich ein Konsens das Kriterium dei: Wahrheit ist (soweit es sich nicht um Universalisierungsoperationen handelt) - d. h., man konnte das sagen, wenn sich norma tive von empirischen Fragen in letzter lnstanz eindeutig trennen lieBen. Es steht zu vermuten, daB eine weitere Komplikation dadurch ein­tritt, daB semantische Regeln, die Fragen unseres Selbstverstand­nisses und der Interpretation unserer wechselseitigen Beziehungen

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betreffen, daran gemessen werden kõnnen, wie weit auf ihrer Grundlage ein nicht-widersprüchlicher Zusammenhang zwischen verbalen und nicht-verbalen AuBerungen und Handlungen mõg­lich ist, also daran, oh ihre Geltung mit der Notwendigkeit einer Verschleierung von Widersprüchen verbunden ist oder nicht. Ihr Kriterium ist also die Mõglichkeit einer durch sie vermittelten wahrhaftigen Beziehung zwischen Individuen. Man kõnnte sagen, da~ ein Kriterium für die Angemessenheit semantischer Regeln oder vielmehr: eines semantischen Regelsystems, das Kriterium der Koharenz des durch dieses Regelsystem bestimmten Zusam­menhangs von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen ist. Bei normativen Geltungsfragen (im Sinne der Gerechtigkeit und der moralischen Richtigkeit) verhalten sich die Aspekte des Konsenses und der - pragmatischen - Koharenz, wie es scheint, etwa ebenso wie hei empirischen Geltungsfragen die Aspekte der Korrespondenz und des Konsenses. Aber auch normativer und theoretischer Diskurs sind voneinander nicht unabhangig. DaB ein Konsensbegriff der Wahrheit nicht ausreicht, liegt also letztlich daran, daB er den »Korrespondenzaspekt<< der Wahrheit nicht mit umfaBt. (Universalisierungs· und Induktionsprinzip scheinen spe­zielle Fassungen des Satzes vom Widerspruch zu sein.) Rational begründete und wahre Aussagen sind nicht koextensiv. Es gibt namlich nichtnur eine interne Verschrankung der verschie­denen Diskurstypen miteinander, sondem auch eine interne Ver­schrankung der verschiedenen, in der Tradition jeweils einseitig betonten Aspekte des Wahrheitsbegriffs miteinander: Korrespon­denz, Koharenz und Konsens. Dies zu betonen, bedeutet nicht, Objektivitats- und Wahrheitsfragen miteinander zu konfundieren. Aber natürlich kõnnen (und müssen) wir nicht weiter kommen als bis zu rational begründeten Aussagen: mit guten Gründen halten wir si e für wahr. In den infiniten Konsens kõnnen wir nicht mehr einstimmen. Aber die Gründe, auf denen er beruht, müssen zugleich Gründe dafür sein, daB es mõglich sein müBte, auch uns noch zu überzeugen, wenn wir am Diskurs noch teilnehmen kõnnten. Nur laBt sich die Probe aufs Exempel nicht mehr machen. Daher ist dem infiniten Konsens ein Stück jener Bestatigungprinzipiell verschlossen, die er benõtigte, wenn er als Wahrheitskriterium verstanden werden sollte. Aber da er auf guten Gründen beruht, wird trotzdem nie­mand an seiner Wahrheit zweifeln.

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2. Die Festlegung der MaBstabe- auch dessen, was ein gutes Argu­ment ist- geschieht durch Verstandigung überRegeln des Sprach­gebrauchs. Von einer solchen Verstandiguhg kann nicht die Rede sein, wenn es nicht bis zu einem gewissen Grad eine »Gemeinsam­keit der Urteile« gibt(Wittgenstein). Wenn nun ein faktischer und begründeter Konsens über die Berechtigung eines Geltungsan" spruchs erzieltwürde- also ein Konsens darüber, daB nach den zu­grundegelegten grammatischen Regeln dieser Geltungsanspruch zu Recht besteht -, ware immer noch denkbar, daB dieser Konsens spater einmal in Frage gestellt werden konnte, etwa mit dem Argu­ment, daB die Konsentierenden nicht wirklich den gemeinsam an­erkannten Regeln gefolgt seien. Sofern hierüber Einverstandnis er­zielt würde, ware dies auch ein Einverstandnis darüber, daB der vorangegangene Konsens nicht (zureichend) begründet war. Wenn nun der neue Konsens nicht wieder in Frage gestellt wird, folgt daraus, ·daB er zureichend begründet, also ein >>wahrer« Kon­sens ist? Nein, was folgt, ist, daB niemand mehr an den Gründen zweifelt, auf denen er beruht. Wenn nun die Bedingungen einer idealen Sprechsituation realisiert sind, folgt daraus, daB der Kon­sens ein wahrer Konsens ist? Nein, das folgt aus den Gründen, auf denen er beruht. Aber müBte man nicht sagen, daB, gabe es noch mogliche Gegengründe, diese unter Bedingungen. einer idealen Sprechsituation auch vorgebracht und anerkannt werden würden, und daB, da dies nicht geschieht, der Konsens wahr sein mufi? Das konnte man nur dann tun, wenn man die ideale Sprechsjtuation da­durch definierte, daB in ihr keine moglichen Argumente übersehen und alie gültigén Argumente akzeptiert werden. Ein Konsens, der unter diesen Bedingungen zustande kame, ware eo ipso ein wahrer Konsens. lmmer wenn wir einen begründeten Konsens erreichen, unterstellen wir in gewissem Sinne solche Bedingungen. Und wir konnen uns in dieser U nterstellung tauschen- das zeigt sich, wenn neue Argumente auftauchen. Natürlich ist ein Zustand, in dem alie moglichen Argumente überprüft und alie gültigen Argumente ak­zeptiert worden sind, in gewissem Sinne »ideal«: Es ist das Ideal des begründeten Wissens. Wenn wir aber die ideale Sprechsitua­tion in diesem Sinne verstehen, dann ist die Frage, oh sie vorliegt, nicht gleichbedeutend mit der Frage, oh eine bestimmte Kommu­nikationsstruktur vor!iegt, sondern gleichbedeutend mit der Frage, oh unsere (gemeinsam anerkannten) Gründe wirklich gute Gründe sind. (Wenn wir in Zukunft eine Überraschung erleben

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würden, dann betrafe sie nicht die Struktur der vergangenen Sprechsituation, sondern die Überzeugung jedes einzelnen, alie Argumente seien bereits zureichend geprüft.) Versteht man dage­gen die ideale Sprechsituation im Sinne einer Struktur von Ko'?­munikationssituationen (Gleichverteilung der Chancen, verschte­dene Arten von Sprechakten auszuführen usw.), so konnte man nur dann sagen, ein unter Bedingungen der idealen Sprechsituation erzielter Konsens sei eo ipso ein wahrer Konsens, wenn die ideale Struktur der Kommunikationssituation rnit Notwendigkeit zur Folge hat, daB alie moglichen Argumente vorgebracht und alie gül­tigen Argumente akzeptiert werden. Das kann aber nich~ der Fall sein, da sonst die Moglichkeit von Dissensen (unter Bedmgungen der idealen Sprechsituation) ausgeschlossen werden müBte. Das macht aber darum keinen Sinn, weil dann ja die ideale Sprechsitua­tion nicht eine ideale Bedingung diskursiver Verstandigung be­zeichn~te, sondern vielmehr - wie zunachst oben angenommen -das ideale Resultat diskursiver Verstandigungsprozesse: den wah­ren Konsens. Also ware die ideale Sprechsituation genau jene Si­tuation, in welcher Verstandigung und Diskurs überflüssig gewor­den waren, weil ein wahrer Konsens bereits besteht. Wenn wir die beiden eben erlauterten » Unterstellungen<<- di e Un­terstellung, daB eine ideale Kommunikationsstruktur realisiert sei, eirierseits, und die Unterstellung, daB alie moglichen Gründe vor­gebracht und alie gültig.en Argumente akz~ptiert worden seien, a~­dererseits - klar vonemander unterschtuden, so folgt: DaB em Konsens dann und nur dann »wahr<< ist, wenn die in ihm enthal­tene Unterstellung der zweiten Art zu Recht besteht, ist trivialer.­weise richtig. DaB eine ebensolche Unterstellung auch zu einem Konsens gehort, der unter Bedingungen einer idealen Sprechsitua­tion (im Sinne einer Kommunikationsstruktur) erzielt wurde, ist ebenfalls richtig. DaB aber diese Unterstellung zu Recht bestehe­daB also der Konsens »wahr<< sei-, das ergibt sich nicht ais logische Folgerung daraus, daB die Unterstellung, eine (strukturell) ideale Sprechsituation sei realisiert, zu Recht besteht. Daraus ergibt sich aber, daB die These, ein unter Bedingungen einer idealen Sprechsi­tuatiori erzielter Konsens sei eo ipso ein wahrer Konsens, entweder trivialerweise (namlich analytisch) wahr oder aber falsch ist. Falsch, das heiBt: nich~ vereinbar mit der Annahme, daB in einer (struktureil) idealen Sprechsituation Verstandigungen ~nd Dis­kurse noch notwendig sein konnten. LaBt man aber dtese An-

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nahme fallen, so lautet die These nur noch: Ein wahrer (rational begründeter) Konsens ist ein wahrer (tational begründeter) Kon­sens. Und das kann nicht ihr Sinn gewesen sein. Wenn aber nicht einmal die unter Bedingungen einer idealen Sprechsituation fak­tisch erzielten Konsense >>wahr<< sein müssen, dann gilt um so mehr, da6 diese Bedingungen weder Wahrheit noth Konsens ga­rantieren. Was Wahrheit sei, das kann man nicht durch Rekurs auf die formale Struktur einer idealen Verstandigungs- und Diskurssi­tuation und di e unter solchen Bedingungen erzielten Konsense zu­reichend erlautern. 3· Eine Lebensform durch das Merkmal diskursiver Rationalitat zu charakterisieren, kann somit weder mit der Annahme gleichbedeu­tend sein, da6 die Wahrheit vor aller Augen liegt, noch mit der An­nahme, da6 allgemeiner Konsens herrscht. Es hei6t vielmehr, Be­dingungen zu unterstellen, unter denen ein Streit über Geltungsan­sprüche, wo man sich auf ihn einla6t, mit Argumenten ausgetragen wird, und dafl man sich auf ihn einla6t, wenn es geboten ist. Hierzu gehort, wie wir gesehen haben, ein gewisses Ma6 an Ober­einstimmung in Urteilen; eine Übereinstimmung in Urteilen ge­hort zur Gemeinsamkeit einer Lebensform. Ebenso gehort aber dazu die Moglichkeit von Dissensen, bei denen keinem der Dissen­tierenden ein Mangel an Rationalitat vorgeworfen werden kann -es sei denn, man versteht unter der »Rationalitat<< der Individuen nicht eine Einstellung, eine Form des Verhaltens und der Problem­losung, ein Bemühen und eine formale Fahigkeit, sondem so etwas wie »Einsicht<< oder »Urteilskraft<<. Wenn man aber die »Rationa­litat<< der Individuen in letzterem Sinne verstehen wollte, so konnte man erstens- entsprechend dem oben entwickelten Argu­ment- ihre Rationalitat nicht mit Hilfe einer durch formaleStruk­turen beschreibbaren »kommunikativen KompetenZ<< erlautern, und zweitens konnte man die Rationalitat der Lebensform nicht allein durch .formale Strukturen charakterisieren, man mü6te sie vielmehr durch einen hohen Grad von Konsens und von Konsens­chancen und durch etwas wie eine »gelungene<< kollektive Identitat charakterisieren. Versteht man unter »diskursiver Rationalitat<< eine mit Hilfe for­maler Merkmale beschreibbare Eigenschaft von Individuen und Systemen, so kann man von dieser Eigenschaft sagen, da6 sie vor­liegt, ohne noch etwas Wesentliches, sei es über die Urteilsfahigkeit oder Einsicht der Individuen, sei es über den für die Gesellschaft

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charakteristischen Grad zwanglosen Einverstandnisses gesagt zu haben. Allerdings hei6t das nicht, da6 man in dieser Hinsicht nichts gesagt hatte: Es mu6 eine gemeinsame Lebenspraxis geben, und dazu gehort eine von allen mehr oder weniger geteilte Fahig­keit, den der gemeinsamen Lebenspraxis zugrundeliegenden Re- . geln zu folgen. Gabe es nicht diese wechselseitige Bestatigung der Urteilsfahigkeit und Einsicht, so hatte diskursive Rationalitat kei­nen »Angriffspunkt<< mehr. Will man nun aber darüber hinaus von »R~tionalitat<<, von einer vernünftigen Identitat von Individuen oder Gesellschaften insgesamt anders als im Sinne eines in Einstel­lungen und Fahigkeiten bzw. in Institutionen verkorperten forma­len Prinzips reden, will man also Rationalitats- und Wahrheitsbe­griff so miteinander verknüpfen, wie es etwa in den Begriffen der Urteilskraft oder einer »Zwanglosen<< oder »gelungenen<< Identitat· geschieht, dann denkt man an eine gelingende Verknüpfung oder Versohnung von Einzelnem und Allgemeinem- ob nun im Sinne einer Fahigkeit der Individuen (Urteilskraft) oder im Sinne der Struktur eines intersubjektiven Lebenszusammenhanges (das gute Leben) -, und dieser Gedanke la6t sich nicht zureichend formulie­ren oder prazisieren durch Angabe eines Rationalitatsprinzips oder durch die Angabe von Symmetriebedingungen einer)dealen Sprechsituation. Vielleicht konnte man die Differenz auch so ver-

. deutlichen: Die Unterstellung, da6 die Chancen, verschiedene Klassen. von Sprechakten zu verwenden, in einer aktuellen Dis­kurssituation symmetrisch verteilt sind, ist keine zureichende for­male Explikation der weitergehenden Unterstellung, da6 wir uns hier und jetzt rational verstandigen (und daher einen wahren Kon­sens erzielen) konnen. Wenn wir, auf der anderen Seite, ·.einen Konsens erzielen, halten wir ihn nicht deshalb für wahr, weil die Symmetriebedingungen einer idealen Sprechsituation vorlagen; vielmehr halten wir ihn für rational, weil wir unterstellen, da6 er auf der Einsicht aller und auf der Qualitat der Gründe beruht, die vorgebracht wurden; und wir halten ihn für wahr, weil wir die Gründe für zureichend halten und damit den in Frage stehenden Geltungsanspruchals einen, den man als begründet einsehen kann. Die Beurteilung der Rationalitat des Konsenses ist zu unterschei­den von der Beurteilung der Triftigkeit der Gründe ( diese konnen wir ja anerkennen, auch ohne da6 ein Konsens zustande kame)­und diese Unterscheidung wird wiederum nur dort hinfallig, wo die Triftigkeit der Gründe daraus folgt, da6 wir uns einig sind;

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letzteres kann aber, wie schon· wiederholt betont, nicht an allen Punkten des Diskursuniversums zugleich der Fall sein. Deshalb mufl ein unauflõsbarer Dissens nicht auf einen Mangel an Rationa­litat (im Sinne der idealen Sprechsituation) hindeuten, und das Zu­sammenbrechen eines für rational gehaltenen Konsenses mufl nicht bedeuten, daB die >>Rationalitatsunterstellung« (im Sinne der idealen Sprechsituation) irrig war. 4· Was bedeutet es, zu sagen (der von Habermas ins Auge gefaBte Fall), ein Konsens, den wir für rational gehalten haben, kõnne sich nachtraglich als »tauschend<< erweisen? lch mõchte zwei Falle un­terscheiden; in beiden Fallen gehe ich davon. aus, daB in Situatio­nen des - auch scheinbaren - Einverstandnisses ein Stück Antizi­pation steckt: namlich die Unterstellung, daB dies Einverstandnis auch in zukünftig denkbaren neuen Konstellationen sich als Ein­verstandnis bewahren wird. (Wir kõnnen niemals jetzt für alle Zei­ten sicher sein, daB wir uns- jetzt- verstanden haben. In gewissem Sinne muB es sich immer noch erst zeigen.) Die beiden Falle lieBen sich folgendermaBen beschreiben: Entweder passiert, was beije­dem Einverstandnis mõglich ist: es »lauft« gleichsam an einem be­stimmten Punkte >>auseinander« - das ist, im weitesten Sinne, das Problem der unabschlieBbaren Fortentwicklung semantischer Re­geln im ProzeB ihrer Applikation. Wir haben uns nicht eigentlich getauscht, aber es gelingt uns nicht, das Einverstandnis im gleichen MaBe fortzuentwickeln, in dem jeder von uns neue Erfahrungen macht und die gemeinsamen Bedeutungen fortentwickelt. Wenn man hier von einem »tauschenden« Einverstandnis reden wollte, so betrifft die Tauschung doch nicht die »Rationalitat« des Kon­senses, sondem seine »Tragfahigkeit«. Oder wir entdecken, daB ein innerer Zwang am Werke war, wo wir ein zwangloses Einver­standnis unterstellt hatten. Das ist die Erfahrung eines Auseinan­derbrechens von Lebensformen, in denen - den Beteiligten nicht bewuBt- ein Stück Zwang, Unterdrückung oder Abhangigkeit die Kommunikation blockierte,. Dies ist der von Habermas ins Auge gefaBte Fali. Entscheidend ist nun die Frage, ob wir diesen Fall in­terpretieren kõnnen als einen Fall, in dem wir nachtraglich entdek­ken, daB- entgegen unserer Unterstellung-c die Bedingungen einer idealen Sprechsituation nicht realisiert waren. Die Antwort hangt davon ab, welche Bedeutung wir dem Begriff der idealen Sprechsi­tuat.ion geben: eine gleichsam »emphatische« oder eine »formale«. Die. Problematik des Begriffs bei Habermas scheint mir genau

darin zu liegen, daB eigentlich die emphatische Bedeutung gemeint ist, daB aber an bestimmten Stellen der Argumentation zwangslau­fig die formale Bedeutung in den Vordergrund tritt. Wenn wir den Begriff der idealen Sprechsituation in einem formalen Sinne verstehen, also im Sinne einer Gleichverteilung von Rede­chancen und von Freizügigkeit im Wechsel der Diskursebenen, so wie diese Bedingungen etwa realisiert waren in einer Beratungs­oder Diskussionssituation, bei der alle, die Klugen und die Dum­men, die Neurotiker und die Gesunden, gleiche Rederechte haben, ohne daB damit über die Qualitat der Redebeitrage oder die Wahr­haftigkeit der AuBerungen schon etwas ausgemachtware, dann sind damit verzerrte, unproduktive oder auch in falschen Konsensen re­sultierende Kommunikationsstrukturen offenbar keineswegs aus­geschlossen. We~n wir dagegenunter einer Gleichverteilung von Chancen, verschiedene Arten von Sprechakten zu verwenden, ver­stehen wollen, daB alle nicht nur gleichermaBen willens, sondem auch imstande sind, wahrhaftige AuBerungen zu tun, wahre Be­haupu,mgen aufzustellen, richtige Handlungen auszuführen und di e Triftigkeit von Gründen einzusehen und sich von ihnen zur An­nahme oder Ablehnung von Geltungsansprüchen motivieren zu lassen- dann entsprache di e oben angenommene Situation ersicht· lich nicht den Bedingungen einer idealen Sprechsituation. Aber dann kõnnte man sich eine ideale Sprechsituation eigentlich nur dort realisiert.denken, wo keine Diskurse mehr nõtig sind, weil die Wahrheit gleichermaBen offen vor aller Augen liegt. Oder vielleicht ware es besser, zu sagen, daB in einer idealen Sprechsituation keine Dissense mehr stattfinden (und daher keineDiskussionen), sondem alle Sprecher gleichermaBen durch ihre Redehandlungen bisher Verborgenes offenbarmachen. Einen Geltungsanspruch zu bestrei­ten heiBt namlich, di e besseren Gründe und di e grõBere Einsicht für sich in Anspruch zu nehmen; vom anderen wird angenommen, daB er bereit und imstande ist, meinen Argumenten zu folgen und von ihnen sich überzeugen zu lassen (so wie ich bereit bin, die Argu­mente des anderen unparteiisch zu prüfen und gegebenenfalls von ihnen mich überzeugen zulassen). Zu Diskurssituationen gehõren somit strukturelle Asymmetrien, solange wir unterstellen, daB zu ihnen das BewuBtsein gehõrt, daB nicht alle gleichermaBen zu Be­ginn das Richtige treffen. In gewissem Sinne kann daher die Sym­metrie erst das Resultat eines Diskurses sein - im Sinne einer ge­meinsam gewonnenen Einsicht.

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~un ~cheint es, da~ Hahermas mit dem Begriff der ideaien Sprech­Situatwn etwas metnt (und meinen mu~), was zwischen den hier er­iauterten Extremen iiegt: namiich Kommunikationssituationen in denen diskursive Lernprozesse notwendig und sinnvoll sein k6n­n~n, i.? ~ene~ aher nehe~ den formaien Bedingungen auch noc~.(a) d1e Fah1gkett und ~ere1tschaft der Sprecher zu wahrhaftigen Au­~erungen und (h) 1hre Fahigkeit, einander zu verstehen ihre Be­reitschaft, aufeinander zu horen, und ihre Bereitschaf/ von den triftigen Argumenten des anderen sich üherzeugen zu ia;sen- un­terstellt wird. (Daher sind therapeutische Diskurse nicht einmai unter Bedingungen einer ideaien Sprechsituation denkbar.) Eine ideaie Sprechsituation in diesem Sinne ware mit Asymmetrien der ohen heschriehenen Art vertragiich hei voller »Rationaiitat« aller Beteiligten. E.rsichtli~h ware.ein »faischer<< Konsens im ohen ange­nommenen Stnne Ze1chen emer Ahweichung von den Bedingun· gen einer ideaien Sprechsituation. Versteht man die ideaie Sprechsituation in dem zuietzt erlauterten Sinne, so scheint das entscheidende Prohiem jetzt in dem unter (h) genannten Merkmai der >>Fahigkeit zu verstehen<< zu iiegen. Ich gehe davon aus, da~ die ideaie Sprechsituation eine in Diskurssi­tuationen notwendige Unterstellung sein soll; in weichem Sinne gilt dies. für die Fahigkeit, einander zu verstehen? Wenn ich selhst der Sprecher hin und einen für mich seihst kiaren und einieuchten­den Gedanken, ein Argument oder e.ine Frage formuiiere, unter­stelle ich die Fahigkeit des anderen, mich zu verstehen. Nehmen wir an, der andere antwortet mit einem Einwand, einem Gegenar­gument, einer Frage, die mir zeigen, da~ er mich nicht verstanden hat oder nicht ganz verstanden hat. Ich werde das Mi~verstandnis aufzukiaren versuchen- auf der Grundiage dessen, was ich von der Rede des anderen verstanden hahe; daraufhin wird vielleicht der andere versuchen, mcin Mi~verstandnis aufzukiaren usw. Ein Teil unserer Bemühung, und oft der wichtigste Teii, wird aiso darin iie­gen, eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Verstandnis der Prohieme zu entwickein, und vielleicht- ein zuweiien eintre­tender, ofter nicht eintretender Fali- werden wir zu einem Kon­sens oder doch zu einem partiellen Konsens kommen .. Kann man nun sagen, da~ das zum Verlauf dieses Diskurses gehorende.Fak­tum par~iellen Mi~- ~der Nichtverstehens eine Ahweichung von d~? Bed1~g~ng~n d~r 1deaien Sprechs.ituation anzeigt? Wenn ja, so waren w1r hmsichthch des Verstandmsses der ideaien Sprechsitua-

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tion wieder sehr nahe hei dem ohen zurückgewiesenen Falf einer »emphatischen<< lnterpretation dieses Begriffs. Werín nein, so mü~ten wir die Unterstellung, die jeder mit einem kiaren und (ihm selhst) einieuchtenden Argument antretende Sprecher im Augen­hiick der Rede macht, die Unterstellung namiich, da~ seine kiare Rede auch für den anderen kiar sei, anders interpretieren ais in der hisher angenommenen Weise. Es ware namiich die Unterstellung nicht so sehr eines ideaien Charakters der Sprechsituation- es ge­nügte vielmehr die freiiich ebenfalls »ideaiisierende<< Unterstellung einer hereits gemeinsamen Sprache, eine Unterstellung, von der wir uns sofort - in reflexiver Einstellung - üherzeugen konnen; da~ sie ais die Unterstellung eines Faktums zugieich einen gieich­sam ontoiogischen Schein enthalt - und dazu die Üherzeugung von der Kiarheit und Triftigkeit der eigenen Argumentation, d. h. aiso eine Unterstellung, die gar nicht die Struktur derSprechsitua­tion, sondem den Wahrheitsgehalt und die Kiarheit meiner eige­nen Rede hetrifft. Beide Maie aher wird ais realisiert unterstellt, was in der Regei erst Resultat einer rationaien Verstandigungshe­mühung sein kann. Das hie~e aher, da~ mit der Unterstellung der ideaien Sprechsituation ein diaiektischer Schein verhunden ist, der daraus resuitiert, da~ wir immer schon von Einsichten ausgehen und auf eine gemeinsame Sprache uns veriassen ~üssen, ohwohi gerade der rationaie Diskurs die entsprechende Unterstellung im­mer wieder in Frage stellt hzw. korrigiert: gerade darin hewahrt er sich ais rationaier.

·wenn diese Üherlegungen richtig sind, dann enthalt der Begriff der ideaien Sprechsituation einén unaufgelosten diaiektischen

· Schein, der darin zum Vorschein kommt, da~ in diesem Begriff Ausgangspunkt und Resultat einer rationaien Verstandigungsbe­mühung ais identisch und verschieden zugieich erscheinen. Und hieraus resuitiert di e Zweideutigkeit des Begriffs, wenn man ihn ais normative~ Bezugspunkt der Idee einer vernünftig gewordenen Lehensform versteht: Er hezeichnet ehensowohi eine formaie Struktur, gieichsam Bedingungen der Mogiichkeit rationaier Ver­standigungshemühungen, ais auch das Resuitat solcher Bemühun­gen im Sinne eines vernünftigen Einverstandnisses. Der ohen angedeutete Gedanke ia~t sich et:Weitern: Auch die Un­terstellung, da~ der andere versteht, was er selhst sagt, und sagt, was er meint, ist eine Ideaiisierung, die wir- in reflexiver Einstei­iung - ·ais mit einem faischen ontoiogischen Schein hehaftet,

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durchschauen konnen: rationale Verstandigung findet gerade dort statt, wo jeder den anderen besser versteht, ais er sich selbst ver­steht, wo also über das produktive Verstehen des anderen ich meine eigenen Argumente besser verstehen lerne. Die eben er­wahnte Idealisierung ist notwendig und zugleich Ursache eines dialektischen Scheins: Wenn ich si e wortlich nehme und aus ihr di e Idee einer vollstandig transparent gewordenen Kommunikation oder auch einer vollstandigen Selbst-Transparenz der Individuen ableite, hypostasiere ich eine unvermeidliche >>idealisierende« Un­terstellung zu einer der Moglichkeit nach an-sich-seienden Struk-

. tur einer Kommunikationssituation. , 5· Das Resultat der bisherigen Überlegungen ist: Wir konnen den Begriff einer in einem >>vollkommenen<< oder >>idealen<< Sinne ver­nünftigen Forro des Lebens, die zugleich eine Forro endlicher, menschlicher lntersubjektivitat ware, nicht bilden, und zwar eben­sowenig, wie wir den Begriff einer vollkommenen oder idealen Gesundheit ais Gegenbegriff des Neurotischen bilden konnen. Aus diesem Grunde konnen wir nur bestimmte formale Bedingun­gen eines vernünftigen Lebens angeben - wie universalistisches moralisches BewuBtsein, universalistisches Recht, eine reflexiv ge­wordene kollektiveldentitat usw. Soweit es aber um die Moglich­keit eines in einem substantiellen Sinne vernünftigen Lebens, einer vernünftigen Identitat geht, gibt es keinen in terms formaler Struk­turen beschreibbaren idealen Grenzwert; es gibt vielmehr nur das Gelingen oder MiBlingen der Bemühung um eine Forro· des Le­bens, bei der zwanglose Identitat der Individuen mit zwangloser Reziprozitat zwischen den Individuen zu einer erfahrbaren Rea" litat wird. Deshalb konnen wir nur negatorisch verfahren: Wir konnen nicht die Vollendung des Sinns intendieren, sondem nur die Eliminierung des Unsinns, wir konnen den Gedanken einer vollkommen zwanglosen Beziehung zwischen den Individuen odet den einer vollkommenen Rationalitat nicht denken, aber wir konnen tatsachlich erfahrene Zwange und Blockierungen zu behe­ben und Irrationalitaten zu beseitigen versuchen. Dabei leitet uns die Idee des guten- ais eines zugleich vernünftigen und gelungenen - Lebens; aber diese Idee bedeutet nicht einen idealen Grenzwert, dem wir uns unendlich annahern konnten, etwa in dem Sinne, in dem wir uns bei der Verfertigung von Zeichnungen oder materiel­len Gegenstanden der Idee einer Gerade oder eines Kreises unend­lich annahern konnen. Vielmehr gewinnt die Idee des guten Le-

.1.10

bens immer in dem MaBe den Sinn eines kritischen MaBstabs, in dem uns vermeidbare Irrationalitaten, vermeidbare Blockierungen und vermeidbare Leiden im Lebenszusammenhang von Indivi­duen und Gesellschaften bewuBt werden.

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SBD I FFLCH I USP Seção: BC Tombo: 276545 Aquisição: Doação I FAPLIVROS V

PROC. 05103931·91 C&N LOGISTICS ·--

N.F. FILOUP I Preço 13,13 Data 24/1/2007

N amenregister

Adorno 89, 93, 94, 95, 96, 177 Alexy ro6 Anscombe 31 Apel8, 9· IO, 12, 13, 42, 44> 50, 5 I,

6r,76;77,8I,82,83,84,85,86, 87,88,89,90,91,92,93·95·96, 97, 98, 99> IOO, !OI, !02, 103, I05, 107, ro8, 112, II 3, II4, 123, r66, 167, I72

Arendt 137, 172, 189, 190 Aristoteles r6, 36, 37, 195 Aul21

Benjamin 93, 177, 178, 189 Bernstein 1 oo Bohler 51, 82

Douglas 156 Durkheim 147, I 50, I p, I 53, I 59

Ebbinghaus 21 Engels 193, 194

Fahrenbach 208 Foot 81, I 57 Frankena 22, 164 Fr~ud 184, r86, I87, r88; 192, 195

Gadamer 87 Gerlach 22 Gert 20, p, 41, 120

Habermas 8, 9, ro, 12, 13, 14, 17, 42,44> 50, 51, 52, 53· 54· 55· 56, 57, 59, 61, 62, 66, 67, 68, 69,70, 72, 73• 74, 76, 77, 78, 81, 82, 83, 84, 88, 91, 97, !OI, !02, 103, 104, 105, ro6, 107, ro8, u4, !22, 123, 128, 134, 135· I36, 137· 138, 143· 144· 145> 146, I47• 149, 150, 151, rp, 153,

I 54, I 59, r6o, r66, 167, 169, 171, 172, 178, r8o, r8r, 182, 190, 195· 197· !98, 199· 200, 201, 202, 208, 209, 2!6, 2!8

Hare 14, 17, 32, 33, 34, 35, 36, 37> 40, 64, 66

Hart II9 Hegel II, 54, 123, 135, 140, I43•

I76, I90, I9I, I92, I95· I96, I97· I99· 20I, 202

Heinrich I43 Henrich 200 Hobbes I22 Horkheimer I77, I78 Horton I56

Kadelbach 51, 82 Kambartel 42, I72 Kani~schneider 5 I Kant 8, 9, IO, II, I2, I7, I8, 20, 21,

22,23,25,26,27,28,30,31,32, 34>36>37·38,39·40,41,42,43> 44> 45> 46, 47· 48, 49· 50, 53· 54> 59, 6o, 61, 62, 63, 65, 66, 67, 68, 85, 86, 90, 95, 96, !OI, 106, I 13, II4, u8, 121, 122, .123, 124, 127, 129, 133· 135· 137· !38, 139, qo, 141, 142, 143, 145, 146, 151, 172, !96, 197

Kohlberg 15 8 Kuhlmann 51, 108, 109 Kuhn 75

Leach I 56 Lenin 193, 194 Lorenzen 42 Luhmann 190, 209 Lukács 185

Maclntyre 31,141, 153 Marx 175, 176, 177, 178, 179, r88,

223

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189, 191, 192, 193· 194· 195> 196, 197· 199

McCarthy 59, 6o, 62 Merleau-Ponty 202

Peirce 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 94, 96

Piaget 18o, 184, 188, 192, 195

Rawls 41 Royce 87

Schopenhauer Jl> 141 Schwemmer 42 Seel 165, 169 Sellars 84, 166, I 67, Silber 44, 45, 46, 47, 48, 49,

50

Singer 14, 15, 17, 18, 21, 41 Sloterdijk 7

Taylor 190 Trotzki 202 Tugendhat u8, 139, 203, 205

von Weizsacker 84 von Wright 20, 41 VoBkamp 51

Weber 177 Wellmer 95, 165 Werner p, 83 Wilson 153, 156 Winch 75 Wíttgenstein 74, 199, 212 Wolf 31, u8

I I I

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