Welche Eltern braucht das Pflegekind? Prof. Dr. Christine Köckeritz Hochschule Esslingen Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege
Welche Eltern braucht das Pflegekind?
Prof. Dr. Christine KöckeritzHochschule Esslingen
Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege
Übersicht
1. Riskante Lebensbedingungen von Pflegekindern und ihre seelische Gesundheit
2. Vorstellungen von den Bezugspersonen und Selbsterleben
3. Trennung von den Herkunftseltern und Beziehungsaufnahme zu Pflegeeltern
4. Voraussetzungen von Pflegeeltern
Hintergründe für die Unterbringung von Kindern in einer Pflegefamilie (Statistisches Bundesamt, Jugendhilfestatistik aus 2012)
Unversorgtheit des jungen Menschen 3898 13%
Unzureichende Förderung/Betreuung/Vers. i. d. Familie
4860
16,30%
Gefährdung des Kindeswohls 5383 18%
Eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern
6109
20,40%
Belastungen des j. Menschen durch Problemlagen der Eltern
3649
12,20%
Belastungen des j. Menschen durch familiäre Konflikte
1626
5,40%
Auffälligkeiten im sozialen Verhalten d. j. Menschen
911
3%
Entwicklungsauffälligkeiten/seelische Probleme d. j. Menschen
1125
3,80%
Schulische/berufliche Probleme des j. Menschen
427
1,40%
Übernahme von einem anderen Jugendamt
1900
6,40%
Insgesamt 29888
1. Riskante Lebensbedingungen
Belastende Erfahrungen in der Herkunftsfamilie
• Gefährdungserfahrungen nach Befragung von Fachkräften (Unterschiedliche Studien, vgl. Kindler et al. Handbuch Pflegekinderhilfe, S. 171): 42% bis 64% der Pflegekinder, 12% Mehrfachbelastungen
• Gefährdungserfahrungen nach Befragung von Pflegeeltern in der Schweiz (Perez, Di Gallo, Schmeck und Schmidt, 2011): 69% haben ein interpersonelles Trauma erlebt
• Ergebnisse der DJI-Studie zur Häufigkeit von Beziehungsabbrüchen:– 31% der Pflegekinder hatten zwei oder mehr Fremdunterbringungen– 42% der Pflegekinder hatten zwei oder mehr Trennungserfahrungen– 0,27 Umplatzierungen im Durchschnitt pro Lebensjahr
1. Riskante Lebensbedingungen
Häufigkeit klinisch relevanter Belastungsfolgen
• Ulmer Pflegekinderstudie, Oswald, Goldbeck, 2009:– 19 von 20 Pflegekinder haben multiple Traumata– In der klinischen Vergleichsgruppe haben 9 Kinder, die bei mindestens einem leiblichen
Elternteil leben, einmalige, umschriebene Traumata
• Arnold (2010):– 91% der befragten Pflegekinder berichten von mindestens einer traumatischen
Erfahrung– 25% zeigen Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung
• DJI-Studie, Kindler et al. Handbuch Pflegekinderhilfe (2011):– 43% klinisch bedeutsame Verhaltensauffälligkeiten (CBCL)– 12,5% posttraumatische Belastungsstörung– 67% mindestens ein Bildungsrisiko (Sonderschule oder Klassenwiederholung oder
berichtet Lernschwierigkeiten)– 81% mindestens ein Teilhaberisiko (weniger als 4 Freunde oder seltene
Freizeitaktivitäten mit Freunden oder keine Mitgliedschaft in Vereinen)
Auswirkungen auf die seelische Gesundheit
Posttraumatische Belastungsstörungen (ICD-10 F43.1)
in Abhängigkeit vom Ereignis, seiner Häufigkeit, seines Kontextes und der erreichbaren Unterstützung:– Wiedererleben: Alpträume, Flashbacks– Vermeidung: Weglaufen, Schulverweigerung, Dissoziation– Übererregbarkeit: Unruhe, Konzentrationsstörungen,
Schlafstörungen– Neue Ängste und Aggressionen, psychosomatische
Störungen
Vgl. Roser, R. (2010)
Auswirkungen auf die seelische Gesundheit
Traumaentwicklungsstörung
Ereignisse: Vielfältige oder wiederkehrende interpersonelle Traumatisierung
Fehlsteuerung von Aufmerksamkeit und Verhalten
Gefühlsmäßigeund physiologische Fehlsteuerung
Schwierigkeiten der Selbststeuerung und der Beziehungsgestaltung
Traumaentwicklungsstörung
(v. der Kolk, B. (2009), zit. in: Roser (2010)
Auswirkungen auf die seelische Gesundheit
Fehlsteuerung von Aufmerksamkeit und VerhaltenFehlsteuerung von Aufmerksamkeit und VerhaltenÜbermäßige Beschäftigung mit Bedrohung oder Unfähigkeit, Gefahr zu Übermäßige Beschäftigung mit Bedrohung oder Unfähigkeit, Gefahr zu erkennenerkennen
Eingeschränkter SelbstschutzEingeschränkter SelbstschutzUnangemessene Methoden der SelbstberuhigungUnangemessene Methoden der SelbstberuhigungSelbstverletzungSelbstverletzungUnfähigkeit zu zielbezogenem VerhaltenUnfähigkeit zu zielbezogenem Verhalten
Gefühlsmäßige und physiologische FehlsteuerungGefühlsmäßige und physiologische FehlsteuerungUnfähigkeit, extreme Gefühlszustände selbstständig zu verändernUnfähigkeit, extreme Gefühlszustände selbstständig zu verändernSchwierigkeiten bei der Regulierung von Körperfunktionen und Schwierigkeiten bei der Regulierung von Körperfunktionen und Wahrnehmungen (Schlaf, Essen, Überempfindlichkeit)Wahrnehmungen (Schlaf, Essen, Überempfindlichkeit)Verringerte Bewusstheit (Dissoziation)Verringerte Bewusstheit (Dissoziation)
Schwierigkeiten der Selbststeuerung und der BeziehungsgestaltungSchwierigkeiten der Selbststeuerung und der Beziehungsgestaltung Negatives Selbstbild,Negatives Selbstbild,
Kein angemessen reziprokes VerhaltenKein angemessen reziprokes VerhaltenReaktive AggressionReaktive AggressionUnfähigkeit zur EmpathieUnfähigkeit zur Empathie
Folgen für selbstbezogenes und soziales Verhalten im Alltag des Pflegekindes(vgl. Roser, a.a.O.)
Auswirkungen auf die seelische Gesundheit
Beziehungen zu Bezugspersonen im Misshandlungs- und Vernachlässigungszusammenhang: Beobachtungen
• Anhänglichkeit und Überanpassung an elterliche Bedürfnisse• Unrealistische Idealisierung der Eltern• Übernahme der Elternrolle (Parentifizierung): Schutz und
Versorgung der Eltern und ggf. der Geschwister
Vorstellungen von Bezugspersonen und Selbsterleben
Wie setzen sich Kinder mit Misshandlungs/Vernachlässigungserfahrung auseinander?
Identifikation mit dem Aggressor (S. Ferenczi, 1932/1984), d.h.:– aggressive Handlungen des Täters werden zu Selbstanteilen, Täter
kann als gutes Objekt erhalten bleiben: Mein Papa will nur, dass ich nicht böse bin
– Beeinträchtigung des Selbstbildes• Ich bin ein böses Kind• Wenn ich lieb wäre, würde ich nicht gehauen
– Illusion von Kontrolle, Abwehr von Ohnmacht
Vorstellungen von Bezugspersonen und Selbsterleben
Wie setzen sich Kinder mit ihren Misshandlungs/Vernachlässigungserfahrung auseinander?
Idealisierung der Eltern (Objektbeziehungstheorie, z.B. Kernberg, 2000)
– negative Anteile der Bezugsperson werden abgespalten, verleugnet, oft projiziert, positive Anteile der Bezugspersonen werden isoliert und überhöht
– Instabiles und unrealistisches Selbstbild zwischen Größenphantasie und Selbsthass
– hilft die Kränkung zu vermeiden, die darin liegt, dass man ungeeignete Eltern hat
Vorstellungen von Bezugspersonen und Selbsterleben
Unsichere Bindungen
• Angstbindung/Wutbindung (Bowlby, 1976): „der Kern des Zustands (ist) die Befürchtung …, dass Bindungsfiguren unzugänglich und/oder verständnislos sind. Er respektiert den natürlichen Wunsch einer Person nach enger Beziehung zu einer Bindungsfigur und anerkennt die Tatsache, dass sie sich vor einer Beendigung der Beziehung fürchtet.“ Hintergründe: – reale Trennungserfahrungen– Kind wurde mit Trennung bedroht wurde, um es zu disziplinieren – Suizidversuche von Elternpersonen wurden angedroht oder real erlebt – zugleich als Versuch zu sehen, die Bindungsperson zu einem anderen
Verhalten zu bringen
Vorstellungen von Bezugspersonen und Selbsterleben
Bindungsdesorganisation (vgl. Zulauf-Logoz, 2004)
• Hintergrund: – widersprüchliches, bedrohliches oder abweisendes Verhalten der
Bezugsperson gegenüber dem Kind (Drogenmissbrauch? Misshandlung und Vernachlässigung? Psychische Erkrankung?)
• Folgen beim Kind: – Kein organisiertes Verhalten, um Nähe zu suchen und Stress
abzubauen– Beeinträchtigung des Explorationsverhaltens, eingeschränkte
Lernfähigkeit– Erwerb problematischer Muster der Beziehungsgestaltung:
angstgetöntes, zwanghaftes Kontrollverhalten in der mittleren Kindheit
• Psychopatholgischer Risikofaktor für langfristige Verhaltensanpassung
Vorstellungen von Bezugspersonen und Selbsterleben
Erleben der Wegnahme aus der Herkunftsfamilie durch Kinder
• ANGST:
– Vor den Ereignissen, die die Trennung notwendig machen: z.B. Hospitalisierung, – Inhaftierung der Eltern, nicht Wissen, nicht Verstehen
– Um andere: Geschwister, Eltern
– Vor dem, was kommt: Ort der Unterbringung, Personen, geltende Regeln
• SCHULD:
– Trennung als Folge eigenen Versagens
– Trennung als Strafe
– Trennung als Realisierung eines heimlichen Wunsches (sich weggewünscht haben)
• TRAUER:
– Verlust von Vertrautem (Haustier, Spielzeug, Rituale)
• WUT:
– Trennung als (früher schon angedrohter?)aggressiver Akt der Bezugsperson
– Trennung als Betrug (Bruch eines Versprechens: z.B. Scheitern von Hilfen)
– Trennung als Kränkung : Blamage (z.B. aus dem Unterricht abgeholt werden)
Trennung von den Herkunftseltern
Beziehungsaufnahme in der Pflegefamilie aus entwicklungspsychologischer Sicht: Bindungsentwicklung
• Kinder in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres gehen schon nach wenigen Monaten sichere Bindungen zu fürsorglichen Pflegeeltern ein. Dabei spielt die Bindungshaltung der Pflegemutter eine wesentliche Rolle (Stovall, Ch., K., M. Dozier (2000)
• Ältere Kinder – beschrieben Pflegepersonen unrealistisch positiv und betonen die Unterschiede zur
Herkunftsfamilie, – während andere unrealistische Ähnlichkeiten sahen.– Ihre tatsächlichen Verhaltensweisen passten aber nicht zum Beziehungsbild.– Im Laufe der nächsten 2 Jahre differenzierte sich das Beziehungsbild, wobei negative
Anteile nicht völlig verschwanden
(Milan, St. E., E.E. Pinderhughes (2000), zusammenfassend: Kindler et al. (2011)
Beziehungsaufnahme zu den Pflegeeltern
Kinder mit zwei Familien?
• In der DJI-Studie wurden die Bindungspersonen und die Zugehörigkeitsgefühle von Pflegekindern erfragt (Kindler et al.(2011)
• Aus der Sicht der Kinder:– Zugehörigkeit zur Pflegefamilie wird höher bewertet als zur
Herkunftsfamilie– Kinder mit hoher Zugehörigkeit zu beiden Familien (20%) und zur
Pflegefamilie (24%) sind weniger psychisch belastet als Kinder mit geringer Zugehörigkeit zu beiden Familien oder mit hoher Zugehörigkeit zur Herkunftsfamilie
• Aus der Sicht der Fachkräfte:– Für etwa die Hälfte der Kinder: eine Person aus der Herkunftsfamilie– Für etwa ¼ der Kinder: Zugehörigkeit zu beiden Familien
Beziehungsaufnahme zu den Pflegeeltern
Beziehungsaufnahme in der Pflegefamilie aus psychoanalytischer Sicht: Übertragung
• Anpassung an die vorgefundenen Bedingungen• Übertragung belastender Beziehungserfahrungen
– z.B. projektive Identifikation
• Reinszenierung schlimm-vertrauter Interaktionen– z.B. provozierendes Verhalten, sexualisiertes Verhalten
• Regression als Beginn der Integration in die Pflegefamilie (Nienstedt, Westermann, 2011)
Beziehungsaufnahme zu den Pflegeeltern
Beziehungsaufnahme in der Pflegefamilie aus klinischer Sicht: Anpassungsprobleme
Befragung von Pflegeeltern in der Schweiz: Pflegekinder mit
interpersoneller Traumatisierung – zeigen signifikant mehr problematische (v.a.
internalisierende) Auffälligkeiten und– signifikant mehr gehemmtes Bindungsverhalten– Eskalation und Grenzverletzung: „Beziehungstest“ oder
traumabedingte Regulationsproblematik?
(Perez, Di Gallo, Schmeck u. Schmidt, 2011)
Beziehungsaufnahme zu den Pflegeeltern
Was müssen (alle) Pflegeeltern können?
• Bedeutung von Bindung und Trennung verstehen: – fürsorgliches, unterstützendes Bindungsangebot entwickeln– Bedeutung von Trennung und Neuorientierung verstehen– Hilfreiche Kontinuität ermöglichen – Auseinandersetzung des Pflegekindes mit seiner Herkunft und Geschichte zulassen
können
• Alltag mit dem Pflegekind gestalten können:– Verstehen und Ertragen von ausagierendem und provozierendem Verhalten
(Containment: schreckliche Gefühle aufnehmen und verwandeln können – vgl. Wilfried Bion)
– Geeignete erzieherische Strategien kennen und unter Stress anwenden können– Besondere Bedürfnisse des Pflegekindes ( z.B. aus Behinderungen und
chronischen Erkrankungen) im Alltag berücksichtigen können
Voraussetzungen von Pflegeeltern
Welche Voraussetzungen brauchen (alle) Pflegeeltern? (vgl. Helming, Eschelbach, Spangler et al. (2011): Handbuch Pflegekinderhilfe)
Hohe Erziehungsfähigkeit:–Sicher-autonome Bindungsrepräsentationen zu den eigenen Eltern:
• Fürsorglichkeit• Einfühlungsvermögen• Reflexionsvermögen bzgl. des eigenen und des kindlichen Erlebens
–Emotionale Stabilität, Frustrationstoleranz, Humor–Konkrete, nachvollziehbare Vorstellungen von der Gestaltung des Alltags mit dem Kind
Kooperationsbereitschaft und Bereitschaft, Hilfe anzunehmen
Günstige persönliche Rahmenbedingungen:–Keine Stressbelastung aus schwierigen Lebenskonstellationen (wie Unfälle, schweren Erkrankungen, Verlusten)–Soziale Unterstützung
Voraussetzungen von Pflegeeltern
Die richtigen Pflegeeltern für dieses Kind: soziale Passung
– Sprache/Religion/Kultur: • Soweit wie möglich: Sicherung von Kontinuität bei Herkunftssprache,
religiösem Bekenntnis, kulturellem Kontext• Im Zweifel sollten Aspekte der personalen Eignung der Pflegeeltern den
Vorrang haben.
– Milieu:• Nicht zu verstehen als Vergleichbarkeit der Risikokonstellationen
(„Drogenmilieu“, „Gewaltmilieu“) – entwicklungsgefährdende Umgebungsbedingungen sind zu verändern
• Milieunähe sollte bedeuten: Akzeptanz und Verständigungsbereitschaft auf der Elternebene
Voraussetzungen von Pflegeeltern
Die richtigen Pflegeeltern für dieses Kind: Motive
• Adoptivkind:– Ist ein “Kind auf Zeit” die richtige Lösung für diese Eltern?– Ist ein “Kind auf Zeit” richtig für dieses Kind?
• Verwandtes Kind:– Entspricht die Erziehungsfähigkeit den Anforderungen?– Welche Rolle spielen Schuldgefühle und
Wiedergutmachungsfantasien?– Sind mögliche innerfamiliäre Konflikte bewältigbar?
• Wiedergutmachung:– Wird das Kind dankbar sein?
Voraussetzungen von Pflegeeltern
Professionelle Unterstützung
Auswahl durch Gespräche und Beobachtung (vgl. Helming, et al. a.a.O.)
• Konkrete Erfahrungen und vorstellungen zur Gestaltung des Alltags mit dem Kind erfagen
• Auf Art der Darstellung achten: Nachvollziehbar? Konkret? Stimmig? Widersprüchlich?
• Orientierungshilfen durch Ankerbeispiele
• Rückkopplung durch andere Fachkräfte
Unterstützung durch Rahmen-bedingungen und individuelle Hilfen
– Kindorientierte Rahmenbedingungen der Pflegekinderhilfe: Permanency Planning
– Konkret zugängliche Unterstützung, um diesen Pflegeeltern mit diesem Kind zu helfen:
• Erkennen von besonderen Bedürfnissen und Entwicklung angemessener Strategien
• Reflexion und Weiterentwicklung von Motiven der Pflegeeltern
Voraussetzungen von Pflegeeltern