Universität Bielefeld Fakultät für Pädagogik Konstruktivistische Erkenntnistheorie als Legitimation für den Einsatz von multimedialen computerbasierten Lernum- gebungen in der beruflichen Bildung Diplomarbeit vorgelegt von Markus Walber Bielefeld, Juni 2000
156
Embed
Walber2000-Konstruktivistische Erkenntnistheorie ... · Universität Bielefeld Fakultät für Pädagogik Konstruktivistische Erkenntnistheorie als Legitimation für den Einsatz von
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
Transcript
Universität Bielefeld
Fakultät für Pädagogik
Konstruktivistische Erkenntnistheorie
als Legitimation für den Einsatz von
multimedialen computerbasierten Lernum-
gebungen in der beruflichen Bildung
Diplomarbeit
vorgelegt von
Markus Walber
Bielefeld, Juni 2000
Universität Bielefeld
Fakultät für Pädagogik
Konstruktivistische Erkenntnistheorie
als Legitimation für den Einsatz von
multimedialen computerbasierten Lernum-
gebungen in der beruflichen Bildung
Diplomarbeit
zur Erlangung des Grades eines Diplom-Pädagogen
an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld
vorgelegt von: Markus Walber,
geb. am 08.08.71 in Simmern Immatrikulationsnummer: 1155011
Erster Gutachter: Prof. Dr. Wolfgang Wittwer
Zweite Gutachterin: Dr. Renate Möller
BIELEFELD, JUNI 2000
DIE VORLIEGENDE ARBEIT MÖCHTE ICH MEINEN ELTERN WIDMEN, DIE
MICH WÄHREND MEINES GANZEN STUDIUMS IMMER UNTERSTÜTZT UND
GEFÖRDERT HABEN.
DARÜBER HINAUS BEDANKE ICH MICH BEI ALL DEN LIEBEN MENSCHEN,
DIE MICH WÄHREND DER ENTSTEHUNG DIESER ARBEIT ERTRAGEN MUSS-
ABBILDUNG 9: WISSENSERWERB ODER WISSENSVERMITTLUNG 80
ABBILDUNG 10: ALTERSVERTEILUNG DER BEFRAGTEN 94
ABBILDUNG 11: WIRKUNGEN VON ERFAHRUNGEN MIT
COMPUTERLERNEN 97
ABBILDUNG 12: ART DES EINSATZES DER LERNSOFTWARE ZU HAUSE 98
ABBILDUNG 13: BEURTEILUNG DES LERNENS MIT DER SOFTWARE 99
ABBILDUNG 14: KOMPLEXITÄT DER LERNSOFTWARE 101
ABBILDUNG 15: VORSCHLAG FÜR EINEN ANWENDUNGSKONTEXT
EINER MULTIMEDIALEN COMPUTERBASIERTEN
LERNUMGEBUNG 109
Tabellen
TABELLE 1: FRAGENKATALOG ZUR ÜBERPRÜFUNG VON
LERNSITUATIONEN 64
TABELLE 2: POTENZIALE VON APPLIKATIONSTYPEN 82
TABELLE 3: LERNINHALTSMATRIX 95
v
(Escher, Andere Welt II)
„Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände rich-ten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegen-stand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres An-schauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vor-stellen.“ (Kant 1787, XVII)
EINLEITUNG
1
EINLEITUNG
Auf den ersten Blick mag es schwierig erscheinen, einen Zusammenhang
zwischen „Multimedia“ und „Konstruktivismus“ zu erkennen, stammen beide
Begriffe doch aus völlig unterschiedlichen Entwicklungskontexten. „Multime-
dia“ als technologische Entwicklung stellt ein informationstechnisches Kon-
zept dar, bei dem mit Hilfe von technischen Geräten und Hilfsmitteln eine
Verbindung von unterschiedlichen Informationsarten, wie z.B. Text, Bild und
Ton, hergestellt werden soll.1 Die Grundlinien des „Konstruktivismus“ ent-
stammen einer langen philosophischen erkenntnistheoretischen Diskussion
und werden momentan auf die unterschiedlichsten Gegenstandsbereiche an-
gewendet.2 Eine offensichtliche Gemeinsamkeit beider Begriffe liegt aller-
dings darin, dass3 sich beide Begriffe im Kontext von Lern- und Informations-
zusammenhängen zunehmender Beliebtheit erfreuen.
In den letzten Jahren ist die Popularität des Konstruktivismus rasant anges-
tiegen, was sich laut Schmidt in vielzähligen Artikeln zum Thema Konstrukti-
vismus sowohl in Fachzeitschriften aus unterschiedlichen Wissensgebieten als
auch in Tageszeitungen ausdrückt.4 Vor diesem Hintergrund kann man sa-
gen, dass der Konstruktivismus zu einer neuen Modephilosophie avanciert.
Seit Anfang der 90er Jahre hat sich im erziehungswissenschaftlichen Kontext
eine breite Diskussion über die konstruktivistischen Konsequenzen für päda-
gogische Prozesse etabliert. Als wichtige Vertreter im Hinblick auf die An-
wendung konstruktivistischer Erkenntnisse auf die Bereiche Erwachsenenbil-
dung und berufliche Bildung sind u.a. Siebert, Arnold und Mandl zu nennen.
Ein Indikator für die allgemein wachsende Bedeutung von „Multimedia“ lässt
sich an den ständig steigenden Verkaufszahlen von multimedialen Anwen-
dungen festmachen. In allen möglichen Formen werden multimediale Appli-
kationen vertrieben und so haben sich in den Jahren von 1989 bis 1993 die
1 Vgl. Euler/ Twardy 1995, S. 356. 2 Vgl. Gumin/ Meier 1998. 3 In der vorliegenden Arbeit wird die neue Rechtschreibung nach Duden verwendet. 4 Vgl. Schmidt 1998, S. 11.
EINLEITUNG
2
Umsätze, die allein mit elektronischen Publikationen auf CD-Rom, wie z.B.
Nachschlagewerke, Lernprogramme oder Bücher, erzielt werden konnten,
verneunfacht.5 Glaubt man den Prophezeiungen einschlägiger Computerma-
gazine, so ist Multimedia nicht nur als eine neue Technologie mit wachsender
ökonomischer Bedeutung, sondern darüber hinaus als ein neues Lernmedium
mit starken didaktischen Potenzialen für Informations- und Lernprozesse zu
sehen. Unter diesem Gesichtspunkt wurden in den vergangenen Jahren unter
scher Konstruktivismus, konstruktivistische Systemtheorie und den kognitivis-
tischen Konstruktivismus. 20
16 Vgl. Bardmann 1994, S. 45. 17 Vgl. Gerstenmaier/ Mandl 1995, S. 868. 18 Vgl. Schmidt 1987, S. 35. 19 Bardmann 1994, S. 66. 20 Vgl. Knorr-Cetina 1989.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
10
Grundlage für die vorliegende Arbeit ist der kognitivistische Konstruktivismus,
der von Ernst von Glasersfeld auch als „der radikale Konstruktivismus“ be-
zeichnet wird und der mit dem konventionellen Denken in radikalerer Weise
bricht als zum Beispiel der Sozialkonstruktivismus. Er eignet sich in besonde-
rer Weise als Basis für didaktische Theorien, weil er explizit den Vorgang der
Aneignung von Wissen durch Subjekte und die Wirkungen und Resultate von
Erkenntnis in den Blick nimmt.
Der radikale Konstruktivismus wird von seinen Hauptvertretern als erkenn-
tnistheoretischer Ansatz verstanden, der traditionelle Erkenntnistheorien in
Frage stellt und so laut Schmidt neue Argumente für die Überwindung von
alten Denktraditionen liefert.21 Das Hauptinteresse der radikalen Konstrukti-
visten besteht nicht mehr in der Suche nach einer absoluten ontologischen
Wahrheit, sondern in der Schaffung einer Theorie der Erkenntnis und des
Wissenserwerbs. Das Verhältnis von Wissen und ontologischer Wirklichkeit
wird neu definiert. Wurde in traditionellen Erkenntnistheorien, wie zum Bei-
spiel dem kritischen Rationalismus nach Popper, diesem Verhältnis noch eine
Korrespondenz, Übereinstimmung oder Gleichförmigkeit unterstellt22, so ver-
stehen radikale Konstruktivisten die Beziehung zwischen der ontologischen
Wirklichkeit und der Welt der fassbaren Erlebnisse als kompatibel oder via-
bel.23 Im Gegensatz zu traditionellen Erkenntnistheorien, die noch immer die
Frage nach der objektiven Wirklichkeit stellen, beschäftigt sich der Konstruk-
tivismus mit dem Erkenntnisvorgang und dessen Resultaten und Wirkungen.
Wahrnehmung und Bewusstsein werden dabei nicht auf elementare Objekte
oder Prozesse fixiert.24
V. Glasersfeld begründet das Postulat der Nicht-Erkennbarkeit einer objekti-
ven Wahrheit vor dem Hintergrund der Philosophie- bzw. Ideengeschichte. Er
macht darauf aufmerksam, dass bereits die „Pyrrhons Schule“25 die Auffas-
21 Vgl. Schmidt 1996, S. 11 ff. 22 Vgl. Albert 1992, S. 177 ff. 23 Vgl. v. Glasersfeld 1998a, S. 18 f. 24 Vgl. Schmidt 1987, S. 13 f. 25 Pyrrhon von Elis war ein griechischer Philosoph und lebte von 360 bis 270 v. Chr. in
Athen. Um 300 begründete er die Schule der Pyrrhon, die auch als Schule der älteren Skepsis bezeichnet wird. Ausgehend von der Annahme, dass praktische Urteile und Wer-
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
11
sung vertrat, dass der Erlebende niemals erkunden kann, ob sein Erlebtes
mit einer von ihm unabhängigen Welt übereinstimmt oder nicht, weil dazu
ein Vergleich zwischen Erlebnis und Wirklichkeit vollzogen werden müsste. In
Folge dessen wäre eine Gegenüberstellung von bereits Erlebtem und noch
nicht Erlebtem unumgänglich. Genau dies ist laut Glasersfeld unmöglich,
denn der einzige Zugang zu noch nicht Erlebtem führt eben durch das Erle-
ben selbst.26 Von Glasersfeld und Richards kommen zu dem Ergebnis, dass
alle Versuche von Philosophen, aufzuzeigen, dass sich aus subjektivem Erle-
ben sicheres Wissen über eine postulierte objektive Wahrheit ableiten lässt,
fehlgeschlagen seien27.
Am Beispiel von Descartes, dessen Ziel darin bestand, den Skeptizismus28 zu
widerlegen, wird gezeigt, dass dieser mit seinem berühmten Satz „cogito er-
go sum – ich denke also bin ich“, lediglich ausdrückt, dass für den Erleben-
den nur fraglos sicher ist, dass er erlebt.29 Er sagt nichts über das Verhältnis
zwischen Erlebtem und einer ontologischen Wirklichkeit aus. Die Antwort
Descartes auf die Frage nach der Wahrheit des Erlebten gibt v. Glasersfeld
folgendermaßen wider:
„Gott könne nicht so böswillig gewesen sein, den Menschen trügerische Sinne
einzubauen.“30
Folgt man von Glasersfeld, so trägt Descartes gegen seine eigentliche Ab-
sicht zur Stärkung der Position des Skeptizismus bei. 31 Folglich bleibt die
Frage, ob die wahrgenommene Wirklichkeit einer objektiven Wirklichkeit ent-
tungen nur auf Konventionen beruhen und nicht zu begründen seien, bestreitet Pyrrhon auch die Begründbarkeit theoretischer Aussage. Vgl. Meyers Lexikonredaktion 1995, S. 28.
26 Vgl. v. Glasersfeld 1998a, S. 9,10. 27 Vgl. v. Glasersfeld/ Richards 1996, S. 192 ff. 28 „Die philosophische Skepsis vertritt die Auffassung, daß die Wahrheit eines Urteils nicht
erkennbar sei. Dabei wird die Wahrheit - zumindest bei den Skeptikern der Antike - als Übereinstimmung des im Urteil ausgedrückten Sachverhaltes mit dem wirklichen, erkenn-tnisunabhängigen Sachverhalt verstanden, auf den sich das Urteil beziehe. Der Skeptiker geht davon aus, dass wir in unseren Urteilen den Anspruch erheben, einen Gegenstand so zu beschreiben, wie er an sich selbst und unabhängig von unseren jeweiligen Vorstellun-gen von ihm beschaffen sei.“ (Lexikon der Philosophie: Online im Internet: http://www.phillex.de/skepsis3.htm#thesen. Stand: 15.5.2000).
29 Vgl. v. Glasersfeld 1998a, S. 10. 30 Ebenda. 31 Vgl. v. Glasersfeld/ Richards 1996, S. 192 ff.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
12
spricht, unbeantwortet. Während ein solches Ergebnis die Erkenntnis- und
Wissenschaftstheorien, die einen objektiven Wahrheitsbegriff postulieren, in
Bedrängnis bringt, ist sie mit der Position des radikalen Konstruktivismus
kompatibel, denn genau die Frage nach dem Verhältnis zwischen wahrge-
nommener und objektiver Wirklichkeit ist es, die der radikale Konstruktivis-
mus aus dem Zentrum der Erkenntnistheorie verbannt und anstelle dessen
die Frage nach dem Erkenntnisvorgang und den Wirkungen von Erkenntnis
stellt.
Ein für von Glasersfeld wichtiger Vorläufer des konstruktivistischen Denkens
ist Kant, denn
„bereits Kant habe erkannt, daß unsere Erkenntnis keine Dinge an sich dar-
stelle, sondern lediglich Vorstellungen von Dingen hervorbringe, und daß diese
hervorgebrachten Vorstellungen nun nicht etwa ein Bild von etwas anderem
seien, geschweige denn von einer ontischen Welt, die erkenntnistunabhängig
existieren könne.“32
Folgt man v. Glasersfelds Interpretation, so geht es Kant bereits um die Fra-
ge, wie Erkenntnis möglich ist und nicht mehr um die Erkennbarkeit der Welt
an sich.
Objektivität ist folglich die Illusion, dass Beobachtungen von der Welt ohne
Beobachter und deren Erkenntnisapparat gemacht werden können.33 Dies
hat zur Folge, dass das traditionelle Verständnis von Wahrheit als Abbild ei-
ner objektiven Wirklichkeit unbrauchbar wird. Das konstruktivistische Ver-
ständnis von Wahrheit lässt sich ideengeschichtlich auf Vico zurückführen,
der bereits um 1700 den Satz „Verum est eum ipsum“ (etwas verstehen
heißt wissen, wie wir es gemacht haben) formulierte34. Dinge können folglich
erst als „wahr“ erkannt werden, nachdem Erklärungsmuster von wahrge-
nommenen Objekten konstruiert worden sind und sich als brauchbar erwie-
sen haben.
32 V. Glasersfeld 1987, zitiert nach Bardmann 1994, S. 67. 33 Vgl. v. Glasersfeld 1987, S. 21. 34 Vgl. v. Glasersfeld 1987, S. 23.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
13
„ ‚Wahre Ideen’ sind diejenigen, die sich bewähren, die uns helfen, unseren
Weg durch eine letztlich unerkennbare Welt zu finden, die verhindern, daß wir
uns allzu oft an den Schranken und Hindernissen der uns unzugänglichen
Wirklichkeit verletzen.“35
Eine weitere Begründung des Postulats liefert v. Foerster mit dem Prinzip der
undifferenzierten Codierung. Zur Veranschaulichung dieses Prinzips be-
schreibt v. Foerster die Ergebnisse eines Experiments der Gehirnforschung.
Hier wird eine Mikrosonde in die Nähe einer Nervenfaser gebracht, die auf
die abgegebenen Impulse der Nervenzelle reagiert. Das elektrische Signal,
das die Mikrosonde abgibt, wird verstärkt und auf einen Lautsprecher über-
tragen. Jedes Mal, wenn die Nervenzelle gereizt wird, überträgt der Lauts-
precher ein „Klick“. Bei einer dauerhaften Reizung hört man eine Folge von
„Klicks“. Die Geschwindigkeit der Abfolge ist abhängig von der Stärke des
Reizes36.
Abbildung 2: Periodische Entladungen einer Tastsinnzelle bei
unterschiedlichen Reizzuständen.
(Entnommen aus: v. Foerster 1996, S. 139.)
35 Bardmann 1994 S. 67. 36 Siehe Abbildung 2.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
14
V. Foerster zieht daraus die Schlussfolgerung, dass das Vokabular der Ner-
vensprache „Klick“ ist. Dabei ist die Funktion von unterschiedlichen Nerven-
zellen, z. B. der Retina des Auges oder der Membran des Ohres, gleich.37
Dies bedeutet, dass alle Reize, die auf eine Nervenzelle einwirken, in einen
zellinternen Code transformiert und als „Klickfolge“ codiert an das Gehirn
weitergegeben werden.
„Die Signale, die dem Gehirn zugeführt werden, sagen also nicht, blau, heiß,
cis, au usw. usw., sondern »Klick, Klick, Klick« d. h. sie sprechen nur von der
Intensität einer Störung und nicht von »was«, nur von »wie viel« und »wo-
her«. [...] Die Erregungszustände einer Nervenzelle codieren nur die Intensi-
tät, aber nicht die Natur der Erregungsursache.“38
Dies hat unmittelbar zur Folge, dass das Gehirn das codierte Signal decodie-
ren muss und somit aus den Sinnesinformationen und bereits gemachten
Erfahrungen eine subjektive Wirklichkeit kognitiv konstruiert.39
Abschließend soll anhand von einigen Beispielen aufgezeigt werden, wie
leicht sich die menschlichen Wahrnehmungsorgane täuschen lassen. Abbil-
dung 3 verdeutlicht in einem Selbstexperiment das Vorhandensein eines
„blinden Flecks“. Hält man sich ein Auge zu und fixiert mit dem anderen das
Kreuz auf der linken Seite, so kann man feststellen, dass der dicke schwarze
Punkt (A) auf der rechten Seite verschwindet. Dreht man das Schaubild um
90 Grad gegen den Uhrzeigersinn und wiederholt das Experiment mit Punkt
(B), so sieht man, wie auch hier der schwarze Punkt verschwindet, die Linie
allerdings nicht unterbrochen wird.
Das Phänomen des blinden Flecks lässt sich biologisch erklären.40 Interessant
ist allerdings die Tatsache, dass man diesen blinden Fleck normalerweise
nicht bemerkt. Eigentlich müsste in allen von uns wahrgenommenen Bildern
eine Lücke sein. Dies ist aber nicht der Fall, weil das Gehirn diesen blinden
Fleck schließt, indem es ein Bild für die Lücke konstruiert. Die Differenz zwi-
37 Vgl. v. Foerster 1996, S. 137 ff. 38 v. Foerster 1996, S. 138 f. 39 Vgl. Roth 1995, S. 48 ff. 40 Ein Bereich der Netzhaut ist lichtempfindlich, weil an dieser Stelle der Sehnerv austritt. An
dieser Stelle kann die Netzhaut folglich keinen Lichtimpuls wahrnehmen. Dieser Bereich wird „Blinder Fleck“ genannt (vgl. Maturana/ Varela 1987, S. 23).
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
15
schen konstruiertem und nichtkonstruiertem Bereich ist für den Beobachter
nicht wahrnehmbar, so dass man sich letztendlich nicht sicher sein kann,
welcher Anteil des wahrgenommenen Bildes konstruiert ist und welcher
nicht.
Abbildung 3: Der ‚blinde Fleck’
(Entnommen aus: Maturana/ Varela 1987, S. 22.)
Maturana und Varela versuchen mit diesem und noch weiteren Beispielen,
auf die hier jedoch nicht näher eingegangen werden soll, deutlich zu ma-
chen, dass man nicht die wirkliche Welt erkennen kann, sondern dass jeder
nur sein eigenes visuelles Feld erlebt.
„[...]wir sehen nicht die »Farben« der Welt, sondern wir erleben unseren
chromatischen Raum.“41
41 Maturana/ Varela 1987, S. 28.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
16
Als Fazit dieses Kapitels wird festgehalten, dass die erkenntnistheoretische
Frage nach der objektiven Wahrnehmbarkeit einer ontologischen Welt letz-
tendlich nicht plausibel beantwortet werden kann. Während traditionelle Er-
kenntnistheorien, wie z.B. der Rationalismus, ihre Theorien auf der Prämisse
der Erkennbarkeit der Wahrheit aufbauen, akzeptiert der Konstruktivismus
eben die Nichtbeantwortbarkeit dieser Frage und vertritt die Auffassung,
dass das Wahrgenommene nicht mit einer ontologischen Welt überein-
stimmt, sondern lediglich kompatibel gemacht wird. Im Zentrum der kons-
truktivistischen Forschung steht folglich nicht die Frage nach der „Wahrheit
oder Falschheit“ von Erkenntnis, sondern der Erkenntnisprozess und dessen
Bedeutung für das erkennende Subjekt.
1.2.2 Viabilität statt Wahrheit
Wie vor dem Hintergrund der konstruktivistischen Epistemologie aufgezeigt
wurde, kann die Relation zwischen dem Erlebten und der Wirklichkeit nicht
mit den klassischen Kriterien der Übereinstimmung oder der Korrespondenz
beschrieben werden. Der Konstruktivismus postuliert ein grundsätzlich an-
dersartiges Verhältnis zwischen der Welt der fassbaren Erlebnisse und der
ontologischen Welt, welches von den Konstruktivisten mit dem Begriff der
Viabilität bezeichnet wird.42
Viabilität, [etymologisch abgeleitet vom lateinischen Wort via = Weg] be-
zeichnet die Gangbarkeit eines Weges oder auch das Passen im Sinne von
funktionieren.43 Arnold und Siebert z.B. wenden den Viabilitätsbegriff auf
Wissen an und kommen zu folgendem Schluss:
„... Wissen ist viabel, wenn es uns eine Orientierung erleichtert und unser
Handeln begründet und insgesamt Überleben ermöglicht [...] wenn es zu mei-
ner Umwelt »paßt« und die Erreichung meiner Ziele erleichtert. Die Frage, ob
dieses Wissen objektiv richtig ist, ist irrelevant.“ 44
42 Vgl. v. Glasersfeld 1998a, S. 18. 43 Vgl. ebenda, S. 19. 44 Arnold/ Siebert 1997, S. 103.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
17
Folglich ist Erkanntes veränderbar, nämlich genau dann, wenn es sich nicht
mehr als viabel erweist. Der Auslöser liegt in einer neuen Erkenntnis. So
können z.B. wissenschaftliche Erklärungsmodelle, die sich jahrhundertelang
als nützlich erwiesen haben, durch neue Erkenntnisse nutzlos werden. Würde
es sich hierbei um objektive Wahrheiten handeln, so wären die Erklärungs-
modelle unveränderbar, weil sie angeblich der Wahrheit entsprächen, es sei
denn, die Realität hätte sich verändert.
1.2.3 Kritik am Postulat der Nicht-Erkennbarkeit von Wahrheit
Die Kritik an der konstruktivistische Erkenntnistheorie richtet sich in erster
Linie gegen das Postulat, dass es keine vom Subjekt unabhängige Realität
gäbe. So leitet zum Beispiel Schlutz eine Differenz auf der Basis eines Buches
von Searle her, der davon ausgeht, dass die Welt vollständig aus physischen
Teilchen in Kraftfeldern besteht, von denen einige in Systemen organisiert
sind. Für ihn kann folglich die Wirklichkeit nicht in Gänze gesellschaftlich
konstruiert sein. Dennoch negiert er nicht, dass es auch konstruierte Wirk-
lichkeiten gibt. In seinem Modell differenziert er zwischen immanenten und
beobachterrelevanten Eigenschaften der Welt.45
Wie bereits in Kapitel 1.2.1 erwähnt, stand lange Zeit der Streit entlang der
Differenz im Zentrum erkenntnistheoretischer Diskurse und wurde zwischen
Realisten und Idealisten ohne abschließendes Ergebnis ausgetragen. Genau
diese Frage versucht der radikale Konstruktivismus zu umgehen. Dies macht
v. Glasersfeld deutlich, indem er zu dem Ergebnis kommt, dass diese Frage
letztlich unbeantwortbar sei. Zur Beantwortung dieser Frage wäre es unum-
gänglich, einen Vergleich zwischen bereits wahrgenommener und noch nicht
wahrgenommener Realität zu machen. Dies ist aber deshalb unmöglich, weil
der einzige Zugang zu unbekannter Realität für lebende über deren Sinne
führt, das heißt, in einer subjektiven Aneignung liegt.
45 Vgl. Schlutz, 1999, S. 44.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
18
Außerdem scheint es an dieser Stelle wichtig zu sein, darauf hinzuweisen,
dass radikale Konstruktivisten eine äußere Realität nicht leugnen, sondern
lediglich aufzeigen, dass jeglicher Zugang zu dieser Realität nur subjektiv
herstellbar ist. Für sie ist nicht die Frage entscheidend, ob es eine solche
„objektive“ Realität gibt, sondern wie dieser subjektive Aneignungsprozess
stattfindet und welche Wirkungen und Resultate daraus konstruiert werden.
Als einen weiteren Kritikpunkt am radikalen Konstruktivismus führt u.a. Groe-
ben an, dass die konstruktivistischen Erkenntnisse keineswegs neu seien und
dass sich die Ersetzung des Wahrheits- durch das Nützlichkeitskriterium be-
reits im Pragmatismus oder auch im Neomarxismus finden lässt.46 Folgt man
v. Glasersfeld, so erhebt der Konstruktivismus nicht den Anspruch, völlig
neue Erkenntnisse hervorzubringen. Er selbst liefert in seiner Interpretation
des Konstruktivismus immer wieder ideengeschichtliche Verknüpfungen des
Konstruktivismus zum Skeptizismus sowie zum Pragmatismus.47
Ausgehend von der konstruktivistischen Behauptung, dass es keinen vom
Subjekt unabhängigen Zugang zur Welt gäbe und folglich die Objektivität der
Wahrheit nicht feststellbar sei, versucht Groeben ferner, ein Argument der
Selbstwiderlegung des radikalen Konstruktivismus zu entwickeln, indem er
das Postulat der Nicht-Erkennbarkeit von Wahrheit als widersinnig bezeich-
net, und leitet daraus folgende Aussage ab:
„Wenn der radikale Konstruktivismus wahr ist, dann ist er falsch.“48
Dazu ist anzumerken, dass die Bewertungskriterien ‚wahr’ oder ‚falsch’ nicht
kompatibel zur konstruktivistischen Erkenntnistheorie sind. Konstruktivisten,
wie v. Foerster und v. Glasersfeld erheben nicht den Anspruch, mit dem
Konstruktivismus eine wahre, sondern eine viable Erkenntnistheorie zu lie-
fern.
„Natürlich kann der Konstruktivismus selbst kein Modell einer Wirklichkeit sein,
denn er unterliegt seinen eigenen Gesetzen. Der Konstruktivismus muß sich
46 Vgl. Groeben 1998, S. 153. 47 Vgl. v. Glasersfeld 1998a, S. 9 ff. 48 Groeben 1998, S. 154.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
19
einzig und allein durch die Praxis bewähren. Alles Rechthaberische verliert auf
diesen Hintergründen seinen Sinn.“49
Eine ausführliche philosophische Diskussion der oben genannten Kritikpunkte
würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, diesbezüglich soll an dieser Stelle
Da der Konstruktivismus sich als naturalistische Erkenntnistheorie versteht,
versuchen seine Hauptvertreter die Antworten auf die erkenntnistheoreti-
schen Fragen nicht vor dem Hintergrund von Philosophie, sondern auf der
Basis empirischer Wissenschaften zu geben.51 Im Mittelpunkt aller Theorien
steht die Funktionsweise des menschlichen Gehirns.52
1.3.1 Die Theorie der Autopoiesis von Maturana und Varela
Eine weit verbreitete konstruktivistische Erkenntnistheorie liefern die beiden
Neurobiologen Maturana und Varela mit ihrer seit den sechziger Jahren ent-
wickelten Theorie autopoietischer Systeme. Sie haben den Anspruch, eine
empirische Erkenntnistheorie zu liefern. Dabei wollen sie eine biologische
Aufklärung über die Grundlagen und Bedingungen des Erkenntniserwerbs
entwickeln.53 Als Grundlage ihrer Erkenntnistheorie dient Maturana und Vare-
la die neurobiologische Begründung, dass alle Lebewesen, vom Einzeller bis
zum Menschen, dadurch zu klassifizieren sind, dass sie autopoietisch organi-
siert, d.h. sich selbst erzeugende Systeme sind. Lebewesen unterscheiden
sich durch verschiedene Strukturen voneinander, sie sind aber in Bezug auf
ihre Organisation gleich.54
49 Goorhuis 1998, S. 10. 50 Vgl. Nüse u.a. 1991. 51 Vgl. Fischer 1995, S. 19 f. 52 Vgl. Schmidt 1996, S. 13. 53 Vgl. Fischer 1993, S. 10 f. 54 Vgl. Maturana/ Varela 1987, S. 55 f.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
20
Der Begriff Autopoiesis leitet sich aus den beiden griechischen Wörtern [au-
tos = selbst] und [poiein = machen] ab und wurde 1972 von Maturana ge-
schaffen.55
Autopoiesis bedeutet, dass lebende Systeme ihre eigene Organisation entwi-
ckeln und aufrechterhalten. Unter Organisation verstehen Maturana und Va-
rela
„die Relationen [...], die zwischen den Bestandteilen von etwas gegeben sein
müssen, damit es als Mitglied einer bestimmten Klasse erkannt wird.“56
So gehört z.B. ein System, dessen Organisation autopoietisch ist, zur Klasse
der lebenden Systeme. Die Aufgabe der autopoietischen Organisation führt
unweigerlich zum Tod und somit zum Ausschluss aus der Klasse der leben-
den Systeme. Anders gesagt ist das oberste Ziel lebender Systeme die kons-
tante Aufrechterhaltung ihrer Organisation, da ansonsten ihre Klassenidenti-
tät verloren geht. In diesem Sinne sind lebende Systeme organisational ge-
schlossen. Die Struktur lebender Systeme hingegen kann variieren. Struktur
meint
„die Bestandteile und Relationen, die in konkreter Weise eine bestimmte Ein-
heit konstituieren und ihre Organisation verwirklichen.“57
Sie besagt zwar nichts über die Eigenschaften eines Systems als Einheit, al-
lerdings über seine spezifische Ausformung. Die Strukturen eines Systems
können sich unter der Bedingung der Aufrechterhaltung der Organisation,
verändern, daher sind lebende Systeme strukturell offen. Anders ausgedrückt
gibt es eine relative strukturelle Plastizität.58
Maturana und Varela veranschaulichen die Theorie autopoietischer Systeme
am Beispiel einer Zelle. Jede Zelle setzt sich aus Molekülen zusammen, die so
organisiert sind, dass sie auf molekularer Ebene über den Stoffwechsel ihre
eigenen Bestandteile reproduziert und so sowohl ihre Organisationsform als
auch die Zelle als materielle Einheit aufrecht erhält. Die Zellmembran hat
55 Vgl. Kneer/ Nassehi 1997, S. 48. 56 Vgl. Maturana/ Varela 1987, S. 54. 57 Vgl. ebenda. 58 Vgl. Bardmann 1994, S. 74 ff.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
21
dabei eine besondere Aufgabe. Sie markiert die Grenze nach außen und
schafft so die Vorraussetzung, dass die Zelle als Einheit59 funktioniert und ist
darüber hinaus operationaler Teil des Zellinneren und somit an den Repro-
duktionsprozessen beteiligt. Die Membran erzeugt die Zelle und die Zelle er-
zeugt die Membran. Folglich ist der Erzeuger gleich dem Erzeugten und um-
gekehrt. Diese Zirkularität macht die Zelle zu einer operational geschlossenen
Einheit. Die Zelle ist organisational geschlossen in dem Sinn, dass sie in ei-
nem zirkulären Prozess alles fortlaufend reproduziert, was sie zu ihrer eige-
nen Aufrechterhaltung benötigt. Energetisch allerdings sind autopoietische
Systeme offen, weil sie nicht ohne eine Umwelt, aus der sie z.B. Nährstoffe
und Energie beziehen, existieren können. Folglich sind Zellen als autopoieti-
sche Systeme zwar organisational geschlossen aber strukturell offen oder
anders gesagt autonom aber nicht autark.60
Autonomie meint in diesem Zusammenhang die Eigengesetzlichkeit des au-
topoietischen Systems. So werden, wenn z.B. eine Zelle Moleküle aus ihrer
Umwelt in ihre Prozesse mit einbezieht, die zellinternen Folgen nicht von den
Eigenschaften des aufgenommenen Moleküls bestimmt, sondern durch die
Art und Weise, in der das Molekül von der Zelle integriert wird.61
Die strukturelle Offenheit lebender Systeme ist die Grundvoraussetzung für
eine Interaktion eines autopoietischen Systems mit seiner Umgebung. Diese
Umgebung ist der Bereich, in dem das System existiert und als Einheit ope-
riert. Sie wird von Maturana und Varela auch als Medium bezeichnet62.
Das Medium ist durch den möglichen Wahrnehmungs- oder Sensibilitätsbe-
reich des Systems und folglich durch dessen Organisation und dessen orga-
nisationskohärente Struktur bestimmt.63 Zum Medium können sowohl auto-
als auch allopoietische, das heißt nicht lebende Systeme gehören. Jede Ver-
59 Nach Maturana ist eine Einheit eine begriffliche, dynamische oder statische Entität, die
durch Abgrenzung bestimmt bzw. definiert wird. Hiermit soll ein komplexes Ganzes be-schrieben werden, dass zwar aus Bestandteilen bestehen kann, aber trotzdem das Charak-teristikum einer Ganzheit aufweist (vgl. Fischer 1993, S. 18).
60 Vgl. Kneer 1997, S. 312 f.; siehe Abbildung 4. 61 Vgl. Maturana/ Varela 1987, S. 60. 62 Vgl. Maturana 1996, S. 100. 63 Vgl. Bardmann 1994, S. 76 f.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
22
änderung im Medium kann eine Perturbation64 oder Turbulenz darstellen, auf
die das autopoietische System mit unterschiedlich starken Strukturmodifika-
Die Geschichte der strukturellen Modifikationen eines autopoietischen Sys-
tems bezeichnen Maturana und Varela als dessen Ontogenese, dabei können
entweder Interaktionen mit der Umwelt oder innere Dynamiken der Einheit
Auslöser für Strukturveränderungen sein. Die Perturbationen bzw. Störungen
können zwar Strukturveränderungen einleiten, diese aber nicht determinieren
oder instruieren. Die einzige Bedingung für Interaktionen des autopoietischen
Systems mit seinem Medium ist, dass deren Resultat ein funktionierender
Organismus ist.65
64 Der Begriff der Perturbation wird in Kapitel 2.1.3 näher erläutert. 65 Vgl. Schmidt 1997, S. 25 f.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
23
Interagieren zwei oder mehrere autopoietische Einheiten in einer rekursiven,
stabilen Art und Weise und resultiert daraus eine Geschichte wechselseitiger
Strukturveränderungen, so sprechen Maturana und Varela von einer struktu-
rellen Koppelung der Einheiten.66
Durch solche strukturellen Koppelungen können neue autopoietische Syste-
me entstehen. Dies verdeutlicht Maturana am Beispiel der Honigbiene. Eine
Biene ist eine autopoietische Interaktionseinheit zweiter Ordnung, die sich
aus vielen einzelnen autopoietischen Einheiten (Zellen) erster Ordnung zu-
sammensetzt, die so im Dienst der übergeordneten Einheit Biene stehen. Die
Biene wiederum interagiert mit einem ihr übergeordneten Bienenstaat, wel-
cher folglich ein System dritter Ordnung darstellt.67
Im Folgenden werden noch einmal die wichtigsten Charakteristika autopoieti-
scher Systeme zusammengefasst:
• Autopoiesis bezeichnet die Art der Organisation, die in lebenden Orga-
nismen angetroffen wird.
• Autopoietische Systeme sind organisational geschlossen. Sie sind auto-
nome Einheiten, indem sie ihre eigenen Gesetzlichkeiten selbst spezifizie-
ren und so ihre Klassenidentität bestimmen.
• Autopoietische Systeme sind operational geschlossen. Die Operationen
hängen von dem jeweiligen Zustand des Systems ab und erzeugen neue
Zustände des Systems, das heißt, sie erzeugen alle Komponenten, die sie
zur Fortsetzung ihrer Operationen benötigen, selbst.
• Autopoietische Systeme sind strukturell offen und können so mit ihrer
Umwelt interagieren (strukturelle Koppelung).
Welche Bedeutung hat nun die oben beschriebene Theorie der Autopoiesis
für menschliche Kognition? Für Maturana ist jedes lebende System gleichzei-
tig auch ein kognitives System und Leben als Prozess ist ein Prozess der
66 Vgl. Bardmann 1994, S. 83 ff. 67 Vgl. Maturana 1985, S. 37.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
24
Kognition.68 Das bedeutet, dass nicht das Nervensystem die Grundvorausset-
zung für Kognition darstellt, es erweitert lediglich den kognitiven oder struk-
turell offenen Bereich des Systems, erzeugt aber selbst keine Kognition.69
Das Nervensystem ermöglicht es lebenden Systemen, durch Selbstbeobach-
tung ein Selbstbewusstsein zu erzeugen. Das Nervensystem ist ebenfalls eine
in sich geschlossene Einheit, die mit der geschlossenen Einheit des Organis-
mus interagiert. Varela bezeichnet das Nervensystem als ein biologisches
System, für das organisationelle Geschlossenheit explizit nachgewiesen wor-
den sei.70 Diese Annahme wird von Maturana bestätigt und weiter ausge-
führt.
„Ein Nervensystem ist ein System, das als ein Netzwerk interagierender Neu-
ronen organisiert ist, in dem jeder Zustand relativer neuronaler Aktivität zu ei-
nem Zustand relativer Neuronalität führt. [...] Das Nervensystem operiert als
ein geschlossenes System. Als solches erzeugt es nur Zustände der selben
Art.“71
Folglich gelten die oben beschriebenen Eigenschaften autopoietischer Syste-
me laut Maturana und Varela ebenfalls für das menschliche Nervensystem.
Weil das Nervensystem ein Bestandteil eines lebenden Systems ist, dienen
die neuronalen Aktivitäten, die es erzeugt, der Autopoiese des lebenden Sys-
tems. Es ist folglich dem Ziel der Autopoiesis untergeordnet. Wäre dies nicht
der Fall, so wäre die Existenz des lebenden Systems bedroht. Es ist anzu-
merken, dass unterschiedlich organisierte lebende Systeme auch unter-
schiedliche Nervensysteme haben.72 Zum Beispiel ist die Farbwahrnehmung
von Bienen anders als die vom Menschen, weil es für das „autopoietische
System Biene“ erforderlich ist, bestimmte Farben wahrzunehmen, um seine
Autopoiesis aufrechtzuerhalten. Kognition findet also ausschließlich vor dem
Hintergrund der Nützlichkeit für die Aufrechterhaltung eines autopoietischen
Systems statt.
68 Vgl. Maturana 1985, S. 39. 69 Vgl. Bardmann 1994, S. 79. 70 Vgl. Varela 1996, S. 125. 71 Maturana 1997, S. 98. 72 Vgl. ebenda, S. 99.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
25
„Wenn alles, was in einem lebenden System stattfindet, durch dessen Struktur
spezifiziert ist, und wenn ein lebendes System sich nur in Zuständen der Au-
topoiese befinden kann, weil es sonst zerfiele (und aufhörte, ein lebendes Sys-
tem zu sein), dann ist das Phänomen der Kognition, dass dem Beobachter als
erfolgreiches Verhalten in einem Medium erscheint, in Wirklichkeit die Realisie-
rung der Autopoiese des lebenden Systems in diesem Medium.“73
Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Erkenntnistheorie ist Erkennen
folglich immer eine aktive Handlung des autopoietischen Systems im Sinne
seiner eigenen Autopoiesis und nicht etwa die passive Akzeptanz eines Input
an ontologischer Wirklichkeit.
„Erkennen ist effektive Handlung, das heißt, operationale Effektivität im Exis-
tenzbereich des Lebewesens.“74
Eine effektive oder wirksame Handlung ist eine Handlung, die es einem Le-
bewesen erlaubt, seine Existenz in einer bestimmten Umgebung fortzuset-
zen.75
1.3.2 Grundzüge aus der genetischen Epistemologie von Piaget
Häufig wird darüber diskutiert, ob Piaget ein Konstruktivist ist oder nicht. Er
selbst betitelt seine Erkenntnistheorie zwar als genetische Epistemologie,
bezeichnet sie aber auch des öfteren als konstruktivistisch, was z.B. in fol-
gendem Zitat deutlich wird:
„Fünfzig Jahre von Erfahrung haben uns gelehrt, daß Kenntnis, Wissen, Ver-
stehen nicht lediglich aus einem Registrieren von Beobachtungen erwächst,
ohne daß nicht gleichzeitig eine strukturierende Aktivität des Subjekts stattfin-
det. Eine Erkenntnistheorie, die mit der genetischen Psychologie überein-
stimmt, [...] kann nur auf einem Konstruktivismus basieren, mit einer sich
stets erneuernden Ausweitung neuer Operationen und Strukturen.“76
73 Ebenda, S. 100 f. 74 Maturana/ Varela 1987, S. 35. 75 Vgl. ebenda, S. 36. 76 Piaget 1979, S. 53. Zitiert nach v. Foerster 1998, S. 69.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
26
Diese Aussage wird u.a. von Seiler gestützt, der bei der Studie der Werke
Piagets zu dem Ergebnis kommt, dass an vielen Stellen konstruktivistische
Grundgedanken zu finden sind.77 So schreibt Piaget z.B. des Öfteren, dass
neue kognitive Strukturen nicht von außen übernommen, sondern vom er-
kennenden Subjekt selbst konstruiert werden. Nach Piagets Auffassung ist
die Entwicklung von Vorstellungen, Begriffen und logischen Operationen ein
konstruktiver Prozess, der auf der Eigendynamik von bereits entwickelten
kognitiven Strukturen beruht. Obwohl Erkenntnisse sich auf Wahrnehmung
begründen, stellen sie für ihn kein einfaches Abbild der Wirklichkeit dar.78
Unter Wahrnehmung versteht Piaget die Organisation aktueller sensorischer
Gegebenheiten79. Er begründet seine Behauptungen damit, dass für ihn
Wahrnehmung immer einen Anschluss an bereits vorhandene Strukturen auf
der Seite des Erkennenden impliziert. Folglich stellen Strukturen für Piaget
die Instrumente des Handelns und Erkennens dar. 80 Auch für v. Glasersfeld
steht außer Frage, dass Piaget ein Pionier der konstruktivistisch ausgerichte-
ten Kognitionsforschung ist.81
Piaget widmet sein Leben der biologischen Erklärung des Entstehens von
Wissen. Laut v. Glasersfeld liegt die Absicht Piagets darin, ein kohärentes
Modell der menschlichen Kognition und ihrer Entwicklung zu erarbeiten.82 Mit
den Worten Piagets:
„Die Suche nach den Mechanismen der biologischen Anpassung und die Ana-
lyse jener höheren Form der Anpassung, die wir wissenschaftliches Denken
nennen, dessen epistemologischen Interpretation stets mein Hauptziel war.“83
Durch dieses Zitat wird deutlich, dass es Piaget nicht genügt, Erkenntnis im
Sinne der evolutionären Erkenntnistheorie84 als eine Form der biologischen
Anpassung zu beschreiben, in der sich subjektive Erkenntnisstrukturen durch
77 Vgl. Seiler 1994, S. 43 f. 78 Vgl. Kesselring 1999, S. 63 f. 79 Piaget 1974, S. 2. 80 Vgl. ebenda., S. 4. 81 Vgl. v. Glasersfeld 1998b, S. 100 82 Vgl. ebenda., S. 100 f. 83 Piaget 1981, zitiert nach v. Glasersfeld 1998b, S. 102. 84 Evolutionäre Erkenntnistheorien behaupten, dass unser Erkenntnisapparat ausschließlich
ein Ergebnis der Evolution sei. Vgl. Vollmer 1994, S. 102 f.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
27
Anpassung an die reale Welt herausbilden, sondern dass sein Forschungs-
interesse sich darüber hinaus auf die Prozesse, die der Erkenntnis zu Grunde
liegen, richtet. Der biologische Begriff der Anpassung85 ist für Piaget nicht
hinreichend, um die menschliche Erkenntnisfähigkeit zu erklären. Im Gegen-
satz zu Maturana und Varela unterscheidet er explizit zwischen der Anpas-
sung physiologischer Organismen und Kognition. Kognition bezeichnet er als
eine höhere Form der Anpassung und meint damit mentale Mechanismen.
Kognitive Systeme sind für ihn im Gegensatz zu physiologischen Systemen in
der Lage, mögliche Perturbationen bereits im Voraus zu antizipieren und folg-
lich durch bestimmte Interventionen zu verhindern.
Wie bereits oben erwähnt, knüpfen für Piaget Wahrnehmungen von Objekten
oder Ereignissen an bereits bestehende Handlungsschemata des erkennen-
den Subjekts an.86 Dies bedeutet, dass jede neue Wahrnehmung kognitive
Strukturen des Subjekts voraussetzt, auf die sie zurückzuführen ist bzw. auf
deren Basis sie konstruiert wird. Die Wurzeln der Strukturen liegen für Piaget
in den biologischen Fähigkeiten des erkennenden Organismus, die dem Über-
leben in einer Umwelt dienen.87
Ein Handlungsschema besteht für Piaget aus sensomotorischen Handlungs-
und Wahrnehmungsstrukturen, die er im Kontext von Erkenntnis auch kogni-
tive Strukturen nennt. Beispiele für diese Strukturen sind u.a. Teile des Ver-
haltensrepertoires eines Organismus.
Der Auslöser für kognitive Veränderungen liegt für Piaget, wie auch für Matu-
rana und Varela in Perturbationen, Stimuli oder Reizen, die auf das erken-
nende System einwirken. Von Kybernetikern wird ein solches System als ein
Regelungssystem bezeichnet, das mit negativen Rückkoppelungen arbeitet.88
Das Ziel des erkennenden Systems besteht laut Piaget immer darin, diese
negativen Rückkoppelungen oder auch Perturbationen zu eliminieren, um so
wieder ein kognitives Gleichgewicht zu erzeugen. Ein kohärentes Handeln
85 Anpassung im evolutionstheoretischen Sinn meint den fortlaufenden Prozess der zwischen
Lebewesen und deren Umwelt stattfinden muss, deren Art zu erhalten (vgl. Kull 1977, S. 146).
86 Vgl. Piaget 1967, S. 14 f. 87 Vgl. Seiler 1994, S. 56. 88 Vgl. v. Glasersfeld 1998, S. 119.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
28
des erkennenden Subjekts ist abhängig vom Erfolg bei der Erzeugung jenes
kognitiven Gleichgewichts.89 Diesen internen Regulationsprozess bezeichnet
Piaget als Äquilibration.90
Die Äquilibration besteht aus einer Vielfalt zusammenwirkender Prozesse,
deren Ergebnis in der Konstruktion neuer bzw. in der Erweiterung bereits
vorhandener Strukturen besteht.91 Erkenntnisstrukturen sind demgemäß dy-
namisch und operativ. Bei jedem Erkenntnisvorgang wird der potenzielle Er-
kenntnisgehalt der Strukturen aktualisiert und auf die Situation angewen-
det.92
Im Folgenden soll auf die beiden wesentlichen Prozesse der Äquilibration,
nämlich die Assimilation und die Akkommodation, näher eingegangen wer-
den.
Wie bereits vorher beschrieben, liegt der Auslöser für kognitive Entwicklun-
gen in einer Wahrnehmung. Vorraussetzung für eine Assimilation ist, dass die
Wahrnehmung so anschlussfähig an bereits bestehende kognitive Strukturen
ist, dass sie keine Perturbation auslöst. Allgemein kann der Prozess der As-
similation folgendermaßen verstanden werden:
Eine Assimilation eines wahrgenommenen Elements B an einen erkennenden
Organismus hat dann stattgefunden, wenn dieser Organismus, obwohl er B
in seinen Kreislauf integriert hat, seine Organisationsstruktur konstant hält.93
V. Glasersfeld spricht von einer Fehlinterpretation des Assimilationsbegriffs,
wenn behauptet wird, dass die Funktion der Assimilation darin liegt, ver-
schiedene Objekte der Umwelt in den Organismus hineinzubringen. Er be-
hauptet vielmehr, dass kognitive Assimilation dadurch gekennzeichnet ist,
dass ein kognitiv aktiver Organismus eine Erfahrung in eine bereits vorhan-
dene konzeptuelle Struktur einpasst.94 Dies bedeutet, dass sich bei einem
kognitiven Assimilationsprozess nicht das erkennende Subjekt an die Umwelt
adaptiert, indem es Objekte der Umwelt eins zu eins abbildet, sondern dass
89 Vgl. Kesselring 1999, S. 79. 90 Vgl. Piaget 1996, S. 97. 91 Vgl. Kesselring 1999, S. 77 ff. 92 Vgl. Seiler 1994, S. 62 f. 93 Vgl. Piaget 1974, S. 175. 94 Vgl. v. Glasersfeld 1994, S. 27 f.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
29
das Wahrgenommene in einem Assimilationsprozess solange modifiziert wird,
bis es in die Begriffsstrukturen des Subjekts hineinpasst. Diese Interpretation
des Assimilationsbegriffs durch v. Glasersfeld wird durch folgendes Zitat von
Piaget gestützt:
„[...] kein Verhalten stellt einen absoluten Anfang dar, selbst dann nicht, wenn
es für das Individuum völlig neu ist. Es gründet immer auf vorhandene Hand-
lungsschemata und bedeutet daher die Assimilation neuer Elemente durch be-
reits konstruierte Strukturen (seien sie angeboren, wie die Reflexe, oder zuvor
erworben)“.95
Hieraus lässt sich folgern, dass ein Organismus nur das wahrnimmt, was er
in die jeweils bereits bestehenden Strukturen einpassen kann. Das heißt,
dass die Assimilation Perturbationen immer auf die bereits vorhandene sen-
98 Vgl. v. Glasersfeld/ Richards 1996, S. 195. 99 Siehe Abbildung 5.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
31
WahrgenommeneSituation (W)
Erwartetes Resultat (E)
Perturbation (P) Handlung (H)
Unerwartetes Resultat (U)
Kognitive Stabilität (K)
(In Anlehnung an: Von Glasersfeld 1998b, S. 115-117.)
Ist das erkennende Subjekt allerdings nicht in der Lage, das Ergebnis der
Handlung (H) an sein erwartetes Resultat zu assimilieren, so führt dies un-
mittelbar zu einer weiteren Perturbation (P), die einen neuen Zyklus auslöst.
Eine Perturbation kann sich beim erkennenden Subjekt zum Beispiel in Form
von Enttäuschung, Unzufriedenheit, Verwunderung, Verwirrtheit oder Über-
raschung äußern. Bei dem neu eingeleiteten Erkenntniszyklus erfolgt die
Wahrnehmung der neuen Ausgangssituation differenzierter, indem sie in
sensorische Elemente zerlegt wird, die bei der Assimilation des ersten Zyklus
vernachlässigt wurden. Wenn die Perturbation negativer Art war, so versucht
das kognitive System neu erkannte sensorische Elemente in sein Erken-
nungsmuster zu integrieren, um in Zukunft in dieser Situation ein richtiges
Ergebnis zu assoziieren. Wenn allerdings die Perturbation positiver oder nütz-
licher Art war, so kann der Organismus daraus ein neues Erkennungsmuster
bilden, welches das neue sensorische Element einschließt und daraus ein
neues Handlungsschema formt.100 Wenn es auch bei diesem Handlungszyk-
lus erneut zu einer Differenz zwischen erwartetem und tatsächlichem Ergeb-
100 Vgl. v. Glasersfeld 1998b, S. 116 ff.; vgl. v. Glasersfeld 1994, S. 30 ff.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
32
nis kommt, resultiert daraus eine neue Perturbation und der Zyklus beginnt
von Neuem. Dieser zirkuläre Prozess wird so lange durchlaufen, bis ein kog-
nitiv stabiler Zustand erreicht ist. Einen solchen stabilen Zustand bezeichnet
v. Foerster auch als Eigenwert.101 Dieser Prozess der Erzeugung eines kogni-
tiven Gleichgewichts, den Piaget Äquilibration nennt, hat Erkenntnis zur Fol-
ge.102
1.4 Zusammenfassung der Ergebnisse konstruktivisti-
scher Erkenntnistheorien
Die Theorie der Autopoiesis liefert eine Definition für lebende Systeme und
erklärt dessen Funktionsweise. Nach dieser Theorie sind Systemveränderun-
gen oder auch Anpassungen an die Umwelt grundsätzlich möglich. Vorraus-
setzung hierfür ist die strukturelle Offenheit. Die Darstellung der Prozesse,
welche bei kognitiven Veränderungen in einem System ablaufen, beschreibt
Piaget in seiner genetischen Epistemologie mit den zentralen Begriffen der
Äquilibration, Assimilation und der Akkommodation.
Im Folgenden sollen noch einmal die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels
festgehalten werden:
(1) Der Wahrheitsbegriff wird in konstruktivistischen Erkenntnistheorien
durch den Begriff der Viabilität ersetzt.
(2) Wissenschaftsfortschritte können aus konstruktivistischer Sichtweise
zwar zur Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse beitra-
gen, haben aber keine asymptotische Annäherung an eine objektive
Wahrheit zur Folge.
(3) Der menschliche Erkenntnisapparat ist ein autopoietisches System.
Dies beinhaltet, dass er selbstreferentiell, operational und organisatio-
nal geschlossen, aber strukturell offen ist. Dies hat zur Folge, dass das
101 Vgl. v. Foerster 1998, S. 154. 102 Vgl. Piaget 1999, S. 77 f.
KONSTRUKTIVISTISCHE ERKENNTNISTHEORIE
33
Gehirn keinen direkten physischen Kontakt zur Außenwelt hat, aber
dennoch über das Nervensystem mit ihr strukturell gekoppelt ist.
(4) Die strukturelle Koppelung ermöglicht somit Interaktionen zwischen
dem Subjekt und der Umwelt. Dabei ist festzuhalten, dass Reize aus
der Umwelt lediglich Strukturveränderungen auslösen, sie aber nicht
determinieren.
(5) Das Gehirn konstruiert eine subjektiv verfärbte Außenwelt und bildet
diese nicht eins zu eins ab.
(6) Erkennen ist ein aktiver Prozess des Subjekts und damit untrennbar
mit Handeln verbunden.
(7) Neue Konstrukte werden immer auf der Basis bereits vorhandener
kognitiver Schemata (Erfahrungen) gebildet und sind folglich mit der
Lebensgeschichte des erkennenden Subjekts verwoben.
(8) Die Entstehung von Erkenntnis wird nicht als linearer, sondern als zir-
kulärer Prozess verstanden.
(9) Voraussetzung für strukturelle Veränderungen sind Perturbationen, die
sich aus Differenzen bereits gemachter Erfahrungen und neuen Wahr-
nehmungen ergeben.
(10) Perturbationen werden von kognitiven Systemen durch Assimilationen
oder Akkommodationen ausgeglichen. Diese Prozesse werden solange
wiederholt, bis ein kognitiv stabiler Zustand hergestellt wird.
(11) Anpassung ist ein aktiver Vorgang des lebenden Subjekts. Sie wird als
ontogenetische Evolution verstanden, die durch Selbstorganisation des
Subjekts stattfindet.
Aus diesen Ergebnissen konstruktivistischer Erkenntnistheorie sollen im fol-
genden Kapitel Konsequenzen für eine Didaktik der Erwachsenenbildung ab-
geleitet werden.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
34
2. Kapitel
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN VOR DEM HINTERGRUND
KONSTRUKTIVISTISCHER ERKENNTNISSE
2.1 Allgemeine didaktische Konsequenzen
2.1.1 Didaktik als Theorie des Lernens
Der Begriff Didaktik leitet sich aus dem griechischen Wort [didaskein = leh-
ren, unterrichten, etc.] ab. Die Spannbreite an Übersetzungsmöglichkeiten
und Ableitungen ist so vielfältig, dass sich bis heute kein einheitliches Ver-
ständnis von Didaktik entwickelt hat.103 Was die Qualität des Begriffsver-
ständnisses angeht, so lassen sich engere und weitere Definitionen unter-
scheiden. In einem engeren Sinne kann Didaktik als Anwendung psychologi-
scher Lehr- und Lerntheorien, im weiteren Sinne als die Wissenschaft vom
Lehren und Lernen umschrieben werden.104 Eine allgemeine Definition liefert
u.a. Peterßen:
„Allgemeine Didaktik bezeichnet jene wissenschaftliche Disziplin, deren Ge-
genstand das Lehren und Lernen schlechthin ist, die aber als integrierende
Teildisziplin der Erziehungswissenschaft das umfassende gesamte Erziehungs-
geschehen perspektivisch im Blick behält; ..., sie integriert die maßgeblichen
Ergebnisse aller in Frage kommenden Wissenschaften unter dem Ge-
sichtspunkt ihres Beitrages für die Lösung von Lehr- und Lernproblemen“.105
In diesem Sinne kann Didaktik als Mischung aus einer verstehenden Sozial-
und Kulturwissenschaft und einer Handlungswissenschaft verstanden wer-
den. Als Sozial- und Kulturwissenschaft, weil sie das gesamte umfassende
103 Vgl. Wulf 1984, S. 117. 104 Vgl. Kron 1994, S. 43 ff. 105 Peterßen 1983, S. 46.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
35
Erziehungsgeschehen berücksichtigt und als Handlungswissenschaft, weil das
Erkenntnisinteresse auf die didaktische Handlungspraxis gerichtet ist.
Obwohl dies eine weite Definition von Didaktik ist, beschränken sich daraus
abgeleitete didaktische Theorien in der Regel auf den Bereich Schule. Dies
wird immer wieder deutlich, wenn von Didaktik als Reflexion von Theorie und
Praxis des Unterrichts (gemeint ist Schulunterricht) gesprochen wird. Mit die-
ser Interpretation hat allerdings schon eine erhebliche Einschränkung des
Begriffes stattgefunden.106
Diese Einschränkung geht über die Einengung der Zielgruppe hinaus, denn
mit Schulunterricht werden in der Regel bestimmte Lehr-/Lernformen antizi-
piert. Beim Unterrichtslernen geht es in den meisten Fällen um planmäßig
geleitetes oder bewirktes Lernen.107 Hinter diesem Verständnis verbirgt sich
die Annahme, dass mit Hilfe von didaktischen Erkenntnissen die Lehre so zu
gestalten sei, dass sie einen planmäßigen zielgerichteten und strukturierten
Lernprozess zur Folge hat. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass
daraus eine Auffassung resultiert, die Didaktik auf eine Wissenschaft vom
Lehren reduziert.108 Ein solches Verständnis von Didaktik baut auf der er-
kenntnistheoretischen Prämisse auf, dass der Mensch in der Lage sei, seine
äußere Umwelt so zu erkennen, wie sie tatsächlich ist. Laut Varela basiert sie
auf einem kognitiven Repräsentationsmodell.109 In einem solchen Modell eig-
net sich der Lerner die „objektive Wahrheit“ an, indem er die Welt abbildet,
widerspiegelt und verinnerlicht. Es wird davon ausgegangen, dass dieser
Prozess der Aneignung von Wissen von einem Lehrer direkt gesteuert wer-
den kann. Der Hauptunterschied zwischen Lehrer und den Lernenden besteht
in einem unterschiedlichen Potenzial an „Realitätswissen“.110
Arnold bezeichnet einen solchen didaktischen Ansatz auch als Erzeugungsdi-
daktik, weil versucht wird, durch einen Input Wissen beim Lernenden zu er-
106 Vgl. Heursen 1995 S. 207. 107 Vgl. Glöckel 1990, S. 317. 108 Vgl. Heursen 1995, S. 207. 109 Vgl. Varela 1990, S. 88 ff. 110 Vgl. Siebert 1997b, S. 16.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
36
zeugen.111 Ein solches Verständnis von Didaktik entspricht in keiner Weise
den Erkenntnissen aus der konstruktivistischen Erkenntnistheorie.
Wie in Kapitel 1 dargestellt, erfolgt aus konstruktivistischer Perspektive die
Aneignung von Wissen gerade nicht durch eine exakte Abbildung der äuße-
ren Realität im Sinne einer objektiven Wirklichkeit, sondern jeder Lernende
erzeugt seine eigene Wirklichkeit. Die Zielüberprüfung erfolgt nicht nach den
Kategorien „wahr“ oder „falsch“, sondern über den Viabilitätsgrad des Erlern-
ten für das erkennende Subjekt.
Vor dem Hintergrund einer solchen erkenntnistheoretischen Prämisse gibt es
kein kausales Input-Output-Verhältnis zwischen Lehre und Lernen. Folglich
darf nicht die Lehre, sondern es muss das Lernen zum zentralen Punkt einer
didaktischen Theorie werden, was eine andere Definition von Didaktik erfor-
dert.
Im Kontext dieser Arbeit wird Didaktik als Theorie der Begünstigung des Ler-
nens definiert. Mit didaktischem Handeln ist das Handeln in ganz allgemeinen
Lernsituationen gemeint, wie sie sich sowohl in organisierten Bildungssitua-
tionen als auch in informellen Kontexten unseres alltäglichen Lebens finden
lassen. Dieses Verständnis von Didaktik teilt auch Siebert, der das Handeln in
Situationen, wie z.B. die Beantwortung der Fragen eines Kindes durch die
Mutter oder die Demonstration eines Staubsaugers durch einen Verkäufer,
bereits als didaktisches Handeln bezeichnet.112 Sein Verständnis von Didaktik
soll folgendes Zitat zum Ausdruck bringen:
„Didaktik ist prinzipiell die Vermittlung zwischen der Sachlogik des Inhalts und
der Psychologik des/der Lernenden. Zur Sachlogik gehört eine Kenntnis der
Strukturen und Zusammenhänge der Thematik, zur Psychologik die Berück-
sichtigung der Lern- und Motivationsstrukturen der Adressat/innen.“113
Wenn das Lernen zum Zentrum einer konstruktivistisch-didaktischen Theorie
wird, so ist es notwendig, die Erkenntnisse, die eine konstruktivistische Er-
111 Vgl. Arnold 1996a, S. VI. 112 Vgl. Siebert 1997b, S. 1. 113 Siebert 1997b, S. 2.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
37
kenntnistheorie über das Lernen liefert, zu berücksichtigen und auf deren
Basis ein konstruktivistisches Verständnis des Lernbegriffs zu skizzieren.
2.1.2 Lernen als selbstorganisierte Strukturveränderung
Wie bereits in Kapitel 1.3.1 beschrieben, ist für Maturana und Varela der
mögliche Interaktionsbereich eines autopoietischen Organismus durch seine
Strukturen determiniert. Autopoietische Systeme sind u.a. dadurch gekenn-
zeichnet, dass sie strukturell offen sind. Dies bedeutet, dass ihre Strukturen
sich durch Interaktion mit der Umwelt oder auch ihrem Medium unter der
Voraussetzung, dass die autopoietische Organisation unverändert bleibt, ver-
ändern können.114
Strukturen, die innerhalb einer Spezies unabhängig von der Ontogenese der
Einzelorganismen sind, bezeichnen Maturana und Varela als genetisch de-
terminiert. Sie ermöglichen dem Organismus ein instinktives Handeln. Als
Beispiel hierfür wird die Fähigkeit des Saugens genannt, die bei Säuglingen
bereits direkt nach der Geburt vorhanden und die unabhängig von dem Ort
ist, an dem der Säugling zur Welt kommt.115
Entstehen allerdings Strukturen im Kontext von Interaktionen, so sprechen
Maturana und Varela von erlerntem Verhalten.116 Dabei weisen sie ausdrück-
lich darauf hin, dass Lernen nicht als Verinnerlichung der Umwelt verstanden
werden darf. Lernen sorgt im Kontext einer strukturellen Koppelung lediglich
für eine verträgliche Koexistenz zwischen dem autopoietischen Organismus
und dessen Umwelt.117 Folglich stellt Lernen eine kognitive Bearbeitung einer
Differenz zwischen Organismus und Umwelt dar.118
Piagets Verständnis von Lernen lässt sich mit den beiden in seiner geneti-
schen Epistemologie zentralen Begriffen der Assimilation bzw. der Akkommo-
dation erklären. Eine Assimilation kann als anpassendes, eine Akkommodati-
114 Vgl. Maturana/ Varela 1987, S. 85 ff. 115 Ebenda. 116 Ebenda, S. 187, 188. 117 Ebenda, S. 188, 189. 118 Vgl. Siebert 1999, S. 17.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
38
on als veränderndes Lernen beschrieben werden.119 Anpassendes Lernen
kommt dann zu Stande, wenn das erkennende Subjekt Erfahrungen in be-
reits bestehende Strukturen integriert, indem es sie assimiliert und dabei se-
lektiv reduziert. Dies geschieht ständig in jeder wahrgenommenen Situation.
Zu veränderndem Lernen kommt es nur dann, wenn ein Handlungsschema,
das auf eine Situation angewendet wird, nicht zu dem erwarteten Ergebnis
führt, damit eine Perturbation auslöst und den Akkommodationszyklus solan-
ge wiederholt, bis wieder eine kognitive Stabilität erreicht ist.120 Auf diese
Weise konstruiert das Individuum, entsprechend seiner subjektiven Sichtwei-
se der Wirklichkeit, auf der Basis bereits vorhandener kognitiver Strukturen
neue Handlungsschemata. Ein solcher Lernprozess, besser vielleicht Kons-
truktionsprozess, setzt folglich eine Handlung des Subjekts voraus und wird
somit zu einem aktiven Vorgang, dessen Auslöser in einer Perturbation liegt.
Für Piaget fungiert in diesem Konstruktionsprozess das lernende Individuum
allein als Konstruktionsinstanz, indem es sich so aktiv an seine äußere Um-
welt anpasst. Das Resultat dieses Konstruktionsprozesses bezeichnet Piaget
als Erkenntnis.121 Der Lerneffekt äußert sich in einer kognitiven Strukturver-
änderung. Die Art der Erkenntnis ist abhängig von der Sozialisation, der
Lerngeschichte, den Lebensverhältnissen, sprich den biographischen Erfah-
rungen des erkennenden Subjekts. Dies führt zu dem Ergebnis, dass eine
bestimmte Lehrmethode oder ein bestimmter Lehrinhalt zu den unterschied-
lichsten subjektiven Lernergebnissen führen kann. In diesem Sinne ist Lernen
folglich immer ein selbstgesteuerter Prozess.122 Abbildung 6 soll das kons-
truktivistische Lernverständnis auf Basis der zentralen Begriffe Piagets visua-
lisieren und zusammenfassen.
119 Vgl. Siebert 1999, S. 22. 120 Vgl. Kapitel 1.3.3. 121 Vgl. Vollmers 1997, S. 80 f. 122 Vgl. Arnold/ Siebert 1997, S. 88 ff.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
39
Abbildung 6: Konstruktivistisches Lernmodell
KognitiveStabilität
Wahrnehmung
HandlungUnerwartetes
Ergebnis
ErwartetesErgebnis
Perturbation
Akkommodation(Strukturveränderung)
Assimilation(Strukturerweiterung)
(Eigene Darstellung)
Vor diesem Hintergrund müssen Definitionen von Lernen, die dem Verhältnis
zwischen Lehren und Lernen eine direkte Kausalität unterstellen oder direkte
Instruktionen postulieren, in Frage gestellt werden. Reinmann-Rothmeier und
Mandl fassen die Merkmale für Lernprozesse aus konstruktivistischer Pers-
pektive folgendermaßen zusammen:
„• Lernen ist nur über die aktive Beteiligung des Lernenden möglich. Dazu
gehört, daß der Lernende zum Lernen motiviert ist und daß er an dem,
was er tut und wie er es tut, Interesse hat oder entwickelt.
• Beim jedem Lernen übernimmt der Lernende Steuerungs- und Kont-
rollprozesse. Wenn auch das Ausmaß eigener Steuerung und Kontrolle
je nach Lernsituation variiert, so ist doch kein Lernen ohne jegliche
Selbststeuerung denkbar.
• Lernen ist ein Konstruktionsprozeß.
• Lernen ist in jedem Fall konstruktiv: Ohne den individuellen Erfah-
rungs- und Wissenshintergrund und eigene Interpretationen finden im
Prinzip keine kognitiven Prozesse statt.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
40
• Lernen erfolgt stets in spezifischen Kontexten, so dass jeder Lernpro-
zeß auch als situativ gelten kann.
• Lernen ist schließlich immer auch ein sozialer Prozeß: Zum einen sind
der Lernende und all seine Aktivitäten stets soziokulturellen Einflüssen
ausgesetzt, zum anderen ist jedes Lernen ein interaktives Gesche-
hen.“123
Wie Lernprozesse ausgelöst bzw. angeregt werden können, soll im folgenden
Kapitel genauer beschrieben werden.
2.1.3 Perturbationen als Voraussetzung für kognitive Veränderun-
gen
Wie bereits vorher erläutert, äußert sich Lernen in einem konstruktivistischen
Sinne stets in einer Strukturveränderung. Wie diese Strukturveränderungen
entstehen, wurde im vorigen Abschnitt beschrieben. Als Ergebnis lässt sich
festhalten, dass jeder Strukturveränderung eine Perturbation voraus geht,
dass heißt Perturbationen veranlassen das erkennende System, seine Erfah-
rungswirklichkeit zu rekonstruieren.
Perturbationen sind subjektiv wahrgenommene Störungen oder Irritationen,
die von Zuständen des Umfelds eines Systems ausgelöst werden und zu Zu-
standsveränderungen in der Struktur des Systems führen, diese aber nicht
determinieren.124 Die daraus resultierende pädagogische Konsequenz in Be-
zug auf Lernen formuliert Siebert wie folgt.
„Perturbation ist ein pädagogisch brauchbarer Begriff: Menschen können
durch pädagogische Maßnahmen nicht belehrt, aufgeklärt oder instruiert wer-
den, Bildungsangebote können aber ein Auslöser von Perturbationen, das
123 Reinmann-Rothmeier/ Mandl 1996, S. 41. 124 Vgl. Maturana/ Varela 1987, S. 27, 106.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
41
heißt von Irritationen und Anregungen sein. In diesem Fall wird Perturbation
zu einem Lernmotiv.“125
Von zentralem pädagogischem Interesse ist nun die Frage, wie sich Perturba-
tionen auslösen lassen. Für v. Glasersfeld liegt der Auslöser einer Perturbati-
on in einer Differenz zwischen einem in einer Situation erwarteten Ereignis
und dem tatsächlich eintretenden Ereignis.126 Folglich kann die Erzeugung
von Differenzen zwischen Lerner und Umwelt Perturbationen zur Folge ha-
ben. Für Piaget liegt eine der häufigsten Quellen für solche Differenzen und
damit für Perturbationen in Interaktionen, insbesondere in sprachlichen
Interaktionen. 127
Auch Treml kommt zu dem Ergebnis, dass der Ausgangspunkt für Verände-
rungsprozesse lebender Systeme in der Differenz zwischen System und Um-
welt liegt. Er bezeichnet diese Differenz als Information, welche auf der Basis
eines selbstorganisierten Selektionsprozesses ausgewählt und verarbeitet
werden.128
Eine Differenz wird folglich durch Informationen, die nicht an bereits beste-
hende kognitive Strukturen des erkennenden Subjekts assimiliert werden
können, also als ‚neu’ erscheinen, ausgelöst. Dementsprechend liegt in sol-
chen aufgezeigten Differenzen stets ein Lernpotenzial verborgen, das von
den Lernenden entdeckt werden kann. Der folgende Abschnitt soll sich mit
der Frage beschäftigen, welche Bedingungen die Umwandlung von Informa-
tionen in Wissen begünstigen.
2.1.4 Information als Gegenstand und Wissen als Ergebnis von
Lernprozessen
Aus konstruktivistischer Perspektive ist zwischen Information und Wissen
eindeutig zu unterscheiden. Der Begriff der Information wird abgeleitet aus
125 Siebert 1999, S. 124. 126 Vgl. v. Glasersfeld 1998b, S. 117. 127 Vgl. v. Glasersfeld 1994, S. 33. 128 Vgl. Treml 1987, S. 30 f.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
42
dem lateinischen Wort „informare“, was soviel besagt wie einformen, bilden
durch Unterweisung, etwas eine Form geben, etc.129 Hieraus wird deutlich,
dass es sich bei Informationen immer um von einem Sender ausgestrahlte
Inhalte handelt. Wenn jemand informiert wird, dann erhält er z.B. eine Mit-
teilung, eine Auskunft oder einen Hinweis von einer anderen Person. Aus der
Perspektive des erkennenden Subjekts kann eine Information nur dann als
Differenz wahrgenommen werden, wenn sie sich von bereits vorhandenem
Wissen unterscheidet. Als Folge einer solchen Differenzerfahrung können
Informationen Auslöser für Perturbationen sein und folglich Lernprozesse in
Gang setzen.
Wissen ist das Ergebnis von Lernprozessen. Es entsteht im Gegensatz zu In-
formationen aus einer Leistung des Subjekts. Wissen lässt sich auch als kog-
nitive Operation oder als Kompetenz des Subjekts definieren.130
Nach v. Glaserfeld wird Wissen nicht passiv aufgenommen, sondern vom
denkenden Subjekt selbst aufgebaut.131 Wissen wird aus konstruktivistischer
Perspektive nicht im Sinne eines „Wissen was“, sondern von „Wissen wie“
verstanden, dass heißt, es geht um „können“ nicht um „kennen“.132 Unter
einem solchen funktionalen Gesichtspunkt gewinnt das Subjekt durch Wissen
eine relative Kontrolle über seine Erlebniswelt. Aus diesem Verständnis von
Wissen folgt, dass Wissen immer durch Lernende selbst konstruiert wird, in-
dem wahrnehmungsbedingte Erfahrungen in Abhängigkeit von Vorwissen
interpretiert werden.133
Trotz der deutlichen Differenz im konstruktivistischen Verständnis zwischen
Information und Wissen sind sie nicht völlig voneinander zu entkoppeln. Ihre
Beziehung wird vor allem dadurch bestimmt, dass ein erkennendes Subjekt
aus Informationen Wissen generieren kann.
129 Vgl. Treml 1987, S. 30. 130 Vgl. Siebert 1999, S. 112. 131 Vgl. v. Glasersfeld 1997, S. 96. 132 Vgl. v. Glasersfeld 1998a, S. 13 f. 133 Vgl. Mandl 1995, S. 874 f.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
43
Nach Arnold und Siebert werden Informationen dann in Wissen generiert,
wenn sie die folgenden Bedingungen erfüllen: Informationen müssen für das
Subjekt
„a) relevant, d.h. bedeutsam oder sinnvoll,
b) viabel, d. h. praktisch, hilfreich, oder nützlich,
c) neu, d. h. nicht redundant,
d) anschlussfähig, d. h. in ein vorhandenes kognitives System integrier-
bar“134
sein.
Wissen muss sich in der Interaktion mit der Außenwelt ständig bewähren
und sich gegebenenfalls verändern. Daraus folgt, dass Wissen kein statisches
Potenzial darstellt, sondern dynamisch veränderbar ist. Es ist keine messbare
Stoffmenge, sondern stellt einen lebensdienlichen Zugang zur Umwelt dar.135
Eine solche prozessuale dynamische Vorstellung von Wissen schützt davor,
Wissen als Gegensatz zum Lernen zu verstehen, weil solches Wissen dem
Wissenden nur temporär oder situationsgebunden eine Überlegenheit gege-
nüber den Lernenden verschafft.
2.2 Spezifische didaktische Konsequenzen für die beruf-
liche Bildung
2.2.1 Konstruktivistische Impulse für die berufliche Bildung
Die Begriffe „berufliche Bildung“ und „Berufsbildung“ werden in der Literatur
synonym verwendet. Im Sinne des Berufsbildungsgesetzes aus dem Jahre
1969 fallen unter den Begriff „Berufsbildung“ die Berufsausbildung, die beruf-
liche Fortbildung und die berufliche Umschulung.136 Der 1970 vom Deutschen
Bildungsrat geschaffene Begriff der „Weiterbildung“ überschreibt im gesam-
134 Arnold/ Siebert 1997, S. 113. 135 Vgl. Siebert 1999, S. 113. 136 Vgl. §1 (1) Berufsbildungsgesetz 1969.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
44
ten Bildungssystem den quartären, nachschulischen Bereich und subsumiert
die beruflich orientierten Fortbildungen und Umschulungen, die Erweiterun-
gen der Grundbildung und die politische Bildung.137 Damit ist unter der be-
ruflichen Bildung die berufliche Aus- und Weiterbildung zu verstehen. Mit den
Worten Arnolds meint dies, dass der Begriff Berufsbildung sowohl für die Bil-
dung zu einem Beruf als auch für die Bildung in einem Beruf steht.138
Ziel der beruflichen Ausbildung ist eine breit angelegte berufliche Grundbil-
dung im Hinblick auf einen spezifischen Berufsbereich.139 Durch Weiterbil-
dung dagegen werden die erworbenen Fertigkeiten vertieft, erweitert oder
sogar im Hinblick auf sich verändernde Anforderungen erneuert. Aus- und
Weiterbildung lassen sich allerdings nicht nur anhand der inhaltlichen Funk-
tionen, sondern auch durch differente Organisationsformen unterscheiden.
So findet Ausbildung in staatlich geregelten Bildungseinrichtungen bzw. Aus-
bildungsgängen, Weiterbildung hingegen vornehmlich in nichtstaatlich gere-
gelten Bildungsmaßnahmen statt.140
Bereits 1990 weist Wittwer darauf hin, dass der beruflichen Bildung eine
Neuorientierung bevorstünde, deren Auswirkung sich in einer reduzierten
Vermittlung von speziellen Kenntnissen und Fertigkeiten im Hinblick auf die
später auszuübenden Erwerbstätigkeiten ausdrückt.141 Ein fachspezifisches
Lernen für das gesamte Berufsleben erscheint allein unter dem Aspekt der
sich ständig verändernden Technologien unmöglich. Daher ist es nötig, dass
sich die Arbeitskräfte kontinuierlich und zwar lebenslang in Bezug auf die
Anforderungen des beruflichen Kontextes weiterbilden. Infolge dessen ist mit
einer Zunahme der Bedeutung der Weiterbildung innerhalb der beruflichen
Bildung zu rechnen.142 Daraus lässt sich die These formulieren, dass sich,
weil die Bildungsanforderungen des Arbeitsplatzes an die Mitarbeiter sowie
das Angebot an beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen sehr unterschiedlich
sind, die Berufskarrieren zunehmend individualisieren und folglich die Adres-
137 Vgl. Wittwer 1982, S. 9; vgl. Deutscher Bildungsrat 1970, S. 197. 138 Vgl. Arnold 1994, S. 1 f. 139 Vgl. §1 (2) Berufsbildungsgesetz 1969. 140 Vgl. Wittwer 1992, S. 27 ff. 141 Vgl. Wittwer 1990, S. 79. 142 Vgl. Wittwer 1992, S. 26 ff.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
45
saten von beruflicher Weiterbildung heterogener werden. Dies hat zur Folge,
dass bei der Gestaltung von Lernprozessen auch in der beruflichen Bildung
zunehmend die Berufsbiographie der Lernenden mit berücksichtigt werden
muss. Diese Forderung ist durch die konstruktivistische Erkenntnistheorie zu
stützen, weil Lernen nur vor dem Hintergrund von Erfahrungen von Subjek-
ten denkbar ist.143
Auch Arnold stellt Veränderungen in der beruflichen Bildung fest und beob-
achtet unter diesem Aspekt in der Berufspädagogik144 zunehmende Einflüsse
von evolutionären Erkenntnistheorien, wie sie u.a. der radikale Konstrukti-
vismus darstellt. Er beschreibt einen Paradigmenwechsel, weg von einer me-
chanistischen hin zu einer evolutionären Berufspädagogik. Als die zentralen
Merkmale eines evolutionären berufspädagogischen Paradigmas nennt er
1. ein integratives Verständnis des Verhältnisses von Bildung und Qualifi-
kation,
2. die (wachsende) „fachliche“ Bedeutung des außerfachlichen Lernens
in der Berufsbildung und
3. einen didaktischen Realismus der Selbstorganisation.145
In Punkt (1) kommt zum Ausdruck, dass das Ziel beruflicher Bildungsprozes-
se nicht mehr ausschließlich in der Vermittlung von Qualifikation im Sinne
einer Anpassung an Anforderungen gesellschaftlicher Arbeit gesehen werden
kann, sondern dass Bildung als Entwicklung eines konstitutiven Persönlich-
keitsideals zukünftig integrativer Bestandteil von beruflicher Bildung sein
muss.
„Ausgangspunkt und Ziel der betrieblichen Bildung ist [...] nicht die bloße Qua-
lifizierung des Erwerbstätigen als Träger einer ganz bestimmten betrieblichen
Funktion, sondern die Entwicklung des einzelnen hinsichtlich seiner ganz be-
sonderen Möglichkeiten, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Erfahrungen.“146
143 Vgl. Kapitel 2.1.2 144 Für Arnold bezeichnet der Begriff Berufspädagogik die wissenschaftliche Disziplin, die die
berufliche Bildung zum Forschungsgegenstand hat. (Vgl. Arnold 1994, S. 15.) 145 Vgl. Arnold 1996a S. 93. 146 Wittwer 1992, S. 70.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
46
Logisch anknüpfen lässt sich die in Punkt (2) angeführte „fachliche“ Bedeu-
tungszunahme des außerfachlichen Lernens. Als Begründung führt Arnold
sich verändernde Arbeitsprozesse an, die über die fachspezifischen Qualifika-
tionen hinaus weitere Anforderungen an die Mitarbeiter stellen. Diese neuen
Anforderungen liegen im außerfachlichen Bereich und werden mit Begriffen
wie Eigenaktivität, Selbstständigkeit und Kreativität beschrieben.147 Wittwer
weist allerdings darauf hin, dass auch in Zukunft nicht völlig auf beruflich-
fachliche Qualifikationen verzichtet werden kann, dass diese aber zunehmend
durch überberufliche Qualifikationen ergänzt werden müssen.148
Ein für die vorliegende Arbeit zentraler Aspekt liegt in dem in Punkt (3) an-
gedeuteten, sich wandelnden didaktischen Selbstverständnis der Berufspä-
dagogik. Diese Art der Veränderung soll durch folgendes Zitat verdeutlicht
werden:
„Teil dieses - notwendigen - Paradigmenwechsels ist dabei eine Überwindung
der didaktischen Illusion der Machbarkeit durch eine realistische(re) Didaktik
der Selbstorganisation“149
Dies drückt eine Umorientierung von einer instruktions- und planungsorien-
tierten Didaktik hin zu einem am Subjekt orientierten didaktischen Realismus
aus, der es den Lernenden ermöglicht, eine aktive Rolle im Lernprozess zu
übernehmen und mit der Vorstellung bricht, man könne durch die „richtige
Lehre“ beliebige Lerneffekte erzeugen. Diese Umorientierung entspricht in
hohem Maße einem Verständnis von Didaktik als Theorie des Lernens, wie es
in Kapitel 2.1.1 aus der konstruktivistischen Erkenntnistheorie abgeleitet
wurde. In Bezug auf die Gestaltung von Lernprozessen lässt sich hieraus in
logischer Konsequenz eine stärkere Berücksichtigung von subjektiven Le-
benswirklichkeiten der Lernadressaten fordern.
Im Zuge dieses veränderten Verständnises von Didaktik werden in der beruf-
lichen Bildung zunehmend neue didaktische Ansätze entwickelt, in deren Mit-
147 Vgl. Arnold 1994, S. 151 f. 148 Vgl. Wittwer 1992, S. 51. 149 Arnold 1994, S. 148.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
47
telpunkt Begriffe wie Personen-, Situations- und Handlungsorientierung ste-
hen.150
Welche besonderen Einflüsse ein konstruktivistisches didaktisches Verständ-
nis in Bezug auf die Adressaten von beruflicher Bildung hat, soll im nachste-
henden Kapitel erläutert werden.
2.2.2 Erwachsenenspezifisches Lernen
Hinsichtlich der Adressaten wird im Handbuch der Berufsbildung formal zwi-
schen Jugendlichen und Erwachsenen unterschieden, wobei die Jugendlichen
der beruflichen Erstausbildung, die Erwachsenen hingegen der Weiterbildung
zugeordnet werden.151 Es lässt sich beobachten, dass sich das Durchschnitts-
alter der Jugendlichen, die sich in beruflicher Erstausbildung befinden, zwi-
schen 1970 und 1990 kontinuierlich erhöht hat. Das Alter der Auszubildenden
lag 1990 durchschnittlich bei über 19 Jahren, 1970 hingegen waren es noch
16,6 Jahre.152 Wählt man das Lebensalter als Kriterium für die Differenzie-
rung von Jugendlichen und Erwachsenen, so kann man im Hinblick auf die
oben beschriebene Altersentwicklung der Auszubildenden anstelle von Ju-
gendlichen auch von jungen Erwachsenen sprechen. Wenn im Folgenden von
Erwachsenen als Adressaten von beruflicher Bildung gesprochen wird, so
sind damit sowohl die Teilnehmer der beruflichen Weiterbildung als auch die
Auszubildenden gemeint.
Vorrausgehend wurde vom Lernen immer in einem allgemeinen Sinne ge-
sprochen, das heißt, dass bisher nicht zwischen dem Lernen Erwachsener
und dem Lernen von Kindern differenziert wurde. Vor dem Hintergrund, dass
die Adressaten beruflicher Bildung in der Regel Erwachsene sind, soll an die-
ser Stelle der konstruktivistische Lernbegriff speziell auf diese Zielgruppe an-
gewendet werden. Aus konstruktivistischer Perspektive basieren Lernprozes-
se immer auf bereits vorhandenen kognitiven Strukturen oder Konstrukten
150 Vgl. Kösel/ Dürr 1995, S. 262. 151 Vgl. Arnold/ Lipsmeier 1995, S. 67,75. 152 Vgl. Berufsbildungsbericht 1999, S. 63; vgl. Wittwer 1997, S. 380.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
48
des Lernenden. Diese Konstrukte sind biographisch determiniert, das heißt,
sie haben sich im Laufe des Lebens entwickelt und sich bereits in gelebten
Situationen bewährt. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Kindern und
Erwachsenen liegt aufgrund des unterschiedlichen Lebensalters und den dar-
aus resultierenden biographischen Erlebnissen in einer differenten Qualität
und Quantität der kognitiven Konstrukte. Dies bedeutet, dass ein konstrukti-
vistischer Lernansatz für das Lernen von Erwachsenen eine besonders hohe
Relevanz hat, weil beim Lernen als selbstreferentiellem Prozess immer auf
frühere Lernerfahrungen zurückgegriffen wird. Ob schließlich biographisch
entstandene Erklärungsmuster korrigiert oder bestärkt werden, liegt dabei in
der Entscheidung des Lernenden selbst. Daraus zieht Siebert den Schluss,
dass der Konstruktivismus die Biographizität für Erwachsene als Adressaten
von Bildungsprozessen bestätigt, und leitet daher eine verstärkte Relevanz
konstruktivistischer Erkenntnisse in Bezug auf das Lernen von Erwachsenen
ab.153
Dieses Argument stützt die starke Determination des Lernens durch das Sub-
jekt und damit die konstruktivistische These, dass Lehren nicht zwangsläufig
zu Lernen führt und dass die Lehre in einem positiven Sinne lediglich eine
Einflussgröße für Lernen darstellen kann. Der eigentliche Lernprozess hinge-
gen liegt in einem selbstgesteuerten, aktiven Handlungsprozess des lernen-
den Subjekts. Folglich muss der Lernende gerade in Kontexten der berufli-
chen Bildung zum zentralen Punkt bei der Gestaltung von Lernprozessen
werden. Folgendes Zitat aus den Ergebnissen der „Ontario Studie“154 soll die-
se Forderung bestärken:
„Da jeder Lerner ein einmaliges Modell der Wirklichkeit in die Lernsituation
einbringt, bringt er auch einmalige Bedürfnisse und Ziele ein. Das Bildungssys-
tem muß deshalb bereit sein, diese individuellen Bedürfnisse und Ziele zu ak-
zeptieren, zu respektieren und sich ihnen anzupassen.“155
153 Vgl. Siebert 1997b, S. 27. 154 Die Ontario Studie wurde 1980 im Auftrag des kanadischen Bildungsministeriums durch-
geführt und hatte zum Ziel, eine Spezifik für das Lernen von Erwachsenen zu erarbeiten. (Vgl. Klimsa 1993, S. 255)
155 Brundage/ Mac Keracher 1990, S. 7, zitiert nach: Klimsa 1993, S. 256.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
49
Die Planung von Lernprozessen in der beruflichen Bildung kann daher aus
konstruktivistischer Sichtweise nur unter der Berücksichtigung der spezifi-
schen Erfahrungen der lernenden Individuen erfolgreich sein. Anders gesagt
muss sich die berufliche Bildung verstärkt am lernenden Subjekt orientieren.
2.2.3 Subjekt- und Teilnehmerorientierung
Eine wie oben erläuterte Bedingtheit des Lernens durch die biographischen
Erfahrungen der Lernenden hat zur Folge, dass die Teilnehmerstruktur in
Weiterbildungsveranstaltungen unter diesem Gesichtspunkt nur heterogen
sein kann und dass folglich auch die Lerninhalte für die einzelnen Teilnehmer
völlig unterschiedliche subjektive Bedeutungen haben können. Daher be-
kommt das Lernen Erwachsener erst im Kontext ihrer Biographien seinen
Sinn und seine subjektive Bedeutung.156 Lernen geschieht folglich immer im
Kontext einer Reinterpretation von bereits Bekanntem, mit anderen Worten,
es folgt der Logik einer „biographischen Synthetisierung“.157
Holzkamp kommt sogar zu dem Ergebnis, dass überhaupt nur vor dem Hin-
tergrund eines „subjektiven Handlungsgrundes“ gelernt werden kann.158
Da von der subjektiven Bedeutsamkeit des Lerninhalts die Lernmotivation
und folglich der Lernerfolg abhängt, muss die berufliche Bildung dieser Tat-
sache durch eine verstärkte Subjekt- beziehungsweise Teilnehmerorientie-
rung Rechnung tragen.
Zu einer Teilnehmerorientierung in der Erwachsenenbildung gehören nach
Arnold folgende Bedeutungselemente:159
• Partizipationsmöglichkeit der Teilnehmer.
• Berücksichtigung der subjektiven und sozialbiographischen Bedin-
gungen der Lernenden, um einen stärkeren Identitätsbezug zu er-
möglichen.
156 Vgl. Arnold 1996a, S. 179. 157 Vgl. Stubenrauch/ Ziehe 1982, S. 191. 158 Vgl. Holzkamp 1995, S. 25 f. 159 Vgl. Arnold 1996a, S. 163 f.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
50
• Die Kompetenzen und die Autonomie der Lernenden muss ernst ge-
nommen werden.
• Eine einseitige Hierarchie zwischen dem Dozenten und den Teilneh-
mer muss möglichst aufgehoben werden.
• Als ein wesentlicher Aspekt der Erwachsenenbildung ist die Selbst-
steuerung zu berücksichtigen.
• Die Lernenden übernehmen in den Lernsituationen eine aktive Rolle.
Die oben genannten Bedeutungselemente entsprechen den Forderungen ei-
ner konstruktivistischen Erkenntnistheorie, indem sie Räume schaffen, die
den Lernenden eine Möglichkeit der aktiven Auseinandersetzung mit Lernin-
halten bieten. Dies hat zur Folge, dass man sich von der klassischen Sozial-
form der Belehrung, die mittels der Dominanz der Darstellung der eigenen
Inhalte ein Gefühl der Überlegenheit des Lehrenden konstruiert und folglich
die Teilnehmer nicht ernst nimmt, verabschieden muss.160
Die Illusion der Beherrschbarkeit des Subjekts durch didaktische Planung
muss daher aufgegeben werden. Im Gegensatz zu technokratischen didakti-
schen Konzepten, die unterstellen, man könne Unsicherheiten, die sich aus
gesteigerten Komplexitäten ergeben, durch präzisere Planung minimieren,
fordert eine konstruktivistische Didaktik eine gesteigerte Anpassungsfähigkeit
der Lernumgebung während des Lernprozesses, um so den Lernenden im-
mer wieder von neuem Lernen zu ermöglichen.161 Arnold kommt zu dem
Schluss, dass ein wesentlicher Baustein für eine solche Ermöglichungsdidak-
tik in der Offenheit und dem Facettenreichtum von Lernarrangements
liegt.162
An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Subjektorientie-
rung aus konstruktivistischer Perspektive nicht zur Folge haben darf, dass
eine Didaktik der beruflichen Bildung ausschließlich das Ziel verfolgt, die Be-
160 Vgl. Arnold 1997, S. 17. 161 Vgl. Arnold 1997, S. 16. 162 Vgl. ebenda, S. 17.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
51
dürfnisse der Lernenden zu befriedigen, weil dies ja immer nur eine Stabili-
sierung bereits bestehender Strukturen zur Folge hätte.163 Daher muss ein
weiteres Ziel bei der Gestaltung von Lernprozessen in der beruflichen Bildung
darin bestehen, permanent Perturbationen bei den Lernenden zu provozie-
ren, um damit immer neue Lernpotenziale zu eröffnen. Aus den erzeugten
Differenzen sollen Reflexionspotenziale resultieren, die für die Lernenden die
„Erwachsenenbildung ist eine Gelegenheit, in relativer Distanz zu den Zwän-
gen und Handlungsnotwendigkeiten des Alltags seine Wirklichkeitskonstrukti-
on zu überdenken, mit anderen zu vergleichen, durch neues Wissen anzurei-
chern, neue Sichtweisen kennenzulernen.“164
Vor dem Hintergrund der Subjektorientierung ergibt sich in Bezug auf das
Lernen von Erwachsenen die zwingende Notwendigkeit, in Lernumgebungen
Bedingungen für die Selbstorganisation der Lernenden zu schaffen und somit
Prozesse der selbständigen Wissensgenerierung zu ermöglichen. Das Gelin-
gen von solchen subjektiven Lernprozessen lässt sich durch das Arrangieren
von Lernumwelten nicht erzwingen, aber fördern oder zumindest begünsti-
gen.165 Ein solches Verständnis von lernfähigen, aber nicht belehrbaren Teil-
nehmern an Bildungsangeboten der beruflichen Bildung impliziert neue An-
forderungen für das pädagogische Personal. Hierauf soll im folgenden Ab-
schnitt näher eingegangen werden.
2.2.4 Lehrende als Gestalter von Lernumgebungen
Auf der Basis eines traditionellen Verständnisses von Lehre lässt sich ein
klassisches Bild „des Lehrers“ skizzieren. In diesem Sinne werden Lehrer
oder Dozenten als reine Wissensexperten verstanden. Für Arnold ist die gän-
gige traditionelle Lehrpraxis Ausdruck einer „objektivistischen Illusion“ und er
163 Vgl. Siebert 1997b, S. 53 f. 164 Arnold/ Siebert 1997, S. 119. 165 Vgl. Arnold 1996a, S. 192.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
52
leitet daraus eine undemokratische Struktur des Lehrer-Lerner-Verhältnisses
ab.166 Dieses Verhältnis ist gekennzeichnet durch eine Experten-Laien-
Beziehung, die impliziert, dass ein Gefälle an „objektivem“ Wissen zwischen
dem Lehrenden und dem Lernenden besteht. Solche normativen Höherwer-
tigkeits- und Überlegenheitsansprüche beschreibt Siebert als grundsätzlich
suspekt.167
Ein solches Verständnis impliziert eine technokratische Vorstellung von der
planmäßigen Erzeugbarkeit von Bildungseffekten und folglich von Mündig-
keit.168 Diese Hoffnung, die auf eine direkte Erzeugbarkeit eines gewünsch-
ten Effekts bei einem erkennenden Subjekt abzielt, ist aus konstruktivisti-
scher Perspektive unbegründet, weil Lernen, wie bereits in Kapitel 2.1.2 be-
schrieben, nicht aus der bloßen Übernahme von Neuem besteht, sondern
strukturdeterminiert ist.
Vor dem Hintergrund des Konstruktivismus ist das Verhältnis zwischen Leh-
renden und Lernenden durch ein Wechselspiel zwischen allen handelnden
Akteuren gekennzeichnet. Sowohl die Dozenten als auch die Teilnehmer sind
autopoietische Systeme, die in einer Lehr-/Lern-Situation koexistieren, im
günstigen Fall strukturell gekoppelt sind und sich somit gegenseitig pertur-
bieren. Arnold und Siebert verwenden zur Beschreibung dieses Verhältnisses
den Begriff der Koevolution und meinen damit die wechselseitig bedingte
Entwicklung zweier Systeme.169 In diesem Verständnis ist der Dozent ein Teil
der Lernumgebung des Lernenden und umgekehrt. Folglich können durch
gegenseitige Perturbationen bei beiden Akteuren Lernpotenziale und daraus
neues Wissen entstehen.
Was die daraus resultierenden Anforderungen an Dozenten als Wissensver-
mittler in der beruflichen Bildung angeht, so kommt Arnold zu dem Schluss,
dass die Beherrschung eines „reinen“ Wissens nur noch die Basisqualifikation
darstellt.170 Der Lehrende muss erkennen,
166 Vgl. Arnold 1996b, S. 721 f. 167 Vgl. Siebert 1998, S. 116 f. 168 Vgl. Arnold 1999, S. 18. 169 Vgl. Arnold/ Siebert 1997, S. 92 f. 170 Vgl. Arnold 1997, S. 15.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
53
a) dass es das „reine“, „wahre“ Wissen nicht gibt, denn auch Experten-
wissen ist konstruiertes, vorläufiges und unfertiges Wissen
b) und dass die Wahrscheinlichkeit des Gelingens einer direkten Vermitt-
lung von Wissen gering ist.
Unter diesen Voraussetzungen muss der Lehrende sein „Expertenwissen“
ständig kritisch hinterfragen und darf nicht davon ausgehen, dass sein Wis-
sen das einzig Richtige ist. Der Lehrende wird vom Wissensvermittler zum
Lernförderer oder anders formuliert vom Steuermann zum Perturbator. Im
Sinne Piagets könnte man die Rolle des Lehrers als die eines Gärtners be-
schreiben, der seine Pflanzen gießt und ihnen ermöglicht, sich zu entwi-
ckeln.171
Dies bedeutet, dass die Hauptaufgabe der Lehrenden darin besteht, Bedin-
gungen für die Selbstorganisation der Lernenden zu schaffen, um somit Pro-
zesse der selbsttätigen und selbständigen Wissenserschließung zu ermögli-
chen. Die neue Aufgabe der Lehrenden besteht demzufolge darin, Lernen zu
fördern, indem sie Lernumgebungen gestalten, die Situationen mit möglichst
hohen Lernpotenzialen beinhalten, die mit anderen Worten viable Lernange-
bote für die Lernenden darstellen.172
2.3 Zusammenfassung der didaktischen Konsequenzen
In diesem Kapitel wurden, die didaktischen Konsequenzen erarbeitet, die sich
aus den Erkenntnissen des Konstruktivismus ergeben. Zusammenfassend soll
festgehalten werden:
(1) Aus konstruktivistischer Perspektive muss sich das grundlegende Ver-
ständnis von einer Didaktik als der Theorie des Lehrens zu einer Auf-
fassung von Didaktik als Theorie des Lernens wandeln. Damit wird die
Ermöglichung von Lernen zum zentralen didaktischen Aspekt.
171 Kesselring 1999, S. 180. 172 Vgl. Sloane 1999, S. 62.
DIDAKTISCHE KONSEQUENZEN
54
(2) Dabei ist zwischen anpassendem und veränderndem Lernen zu unter-
scheiden. Bei anpassenden Lernprozessen werden Informationen so
stark in ihrer Komplexität reduziert, bis sie in bereits vorhandene kog-
nitive Schemata integriert werden können. Beim verändernden Lernen
dagegen werden neue kognitive Strukturen konstruiert.
(3) Perturbationen entstehen aus wahrgenommenen Informationen, die
vom Lernenden nicht in bereits bestehende kognitive Strukturen inte-
griert werden können und somit eine Differenz erzeugen. Sie sind
Voraussetzung für verändernde Lernprozesse und folglich für die Ge-
nerierung neuen Wissens.
(4) Wissen wird aus Informationen generiert, wenn es dem Lernenden re-
levant, viabel, neu oder anschlussfähig erscheint.
(5) Auch im Bereich der beruflichen Bildung spielt der Konstruktivismus
als evolutionäre Erkenntnistheorie eine zunehmend wichtigere Rolle.
(6) Dies drückt sich u.a. darin aus, dass sich das didaktische Verständnis
von einer Illusion der Machbarkeit hin zu einem Realismus der Selbst-
organisation verändert.
(7) Dies hat zur Folge, dass sich neuere didaktische Konzepte der berufli-
chen Bildung zunehmend am lernenden Subjekt orientieren.
(8) In Bezug auf die Adressaten beruflicher Bildung bleibt festzuhalten,
dass mit zunehmendem Lebensalter und den damit verbundenen biog-
raphischen Erfahrungen die Konsequenzen konstruktivistischer Er-
kenntnisse von zunehmender Bedeutung sind.
(9) Die Rolle der Lehrenden in der beruflichen Bildung verändert sich, so
dass Lehrende keine reinen Wissensvermittler mehr darstellen, son-
dern zu Lernförderern werden, deren einzige Möglichkeit, Lernprozes-
se anzuregen, darin besteht, Lernumgebungen zu gestalten.
Mit der Gestaltung von Lernumgebungen als Möglichkeit der Initiierung von
Lernprozessen befasst sich das nachfolgende Kapitel.
LERNUMGEBUNGEN
55
3. Kapitel
LERNUMGEBUNGEN ALS MÖGLICHKEIT ZUR INITIIE-
RUNG VON LERNPROZESSEN
3.1 Grundlegende Aspekte von Lernumgebungen
3.1.1 Lernumgebungen und Lernsituationen
Der Begriff der „Lernumgebungen“ beschreibt die Umwelt oder die äußeren
Bedingungen eines lernenden Systems. Zu einer Lernumgebung zählen u.a.
Lernmaterialien, Lernaufgaben, Personen, Medien und Räume.173 Lernumge-
bungen können unterschiedliche konkrete Situationen enthalten, die Auslöser
für Lernprozesse darstellen, sofern sie bei den Lernenden Perturbationen
erzeugen.
Das Lernen in konkreten Situationen hat eine lange pädagogische Tradition.
Bereits Dewey (1859-1952), ein Vorläufer der Konstruktivisten, kommt zu der
Erkenntnis, dass sich Lernprozesse nicht vom soziokulturellen und histori-
schen Kontext des Lernenden trennen lassen. Er kommt zu der Schlussfolge-
rung, dass handlungs- und erfahrungsorientierte Lernmethoden von beson-
ders hoher Wichtigkeit sind.174 Auch die Reformpädagogen erkennen bereits
zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass Lernen nur dann erfolgreich sein kann,
wenn Lernende mit authentischen Situationen konfrontiert werden, in denen
sie selbsttätig sein können. Nachdem diese frühen konstruktivistischen Ideen
viele Jahre kaum beachtet werden, erhält selbständiges Handeln und Erfah-
ren in der Lernsituation in den 60er Jahren mit Konzepten, wie z.B. dem
„entdeckenden Lernen“, in der didaktischen Diskussion wieder zunehmend
173 Vgl. Maul/ Strittmatter 1997, S. 51 f. 174 Vgl. Reinmann-Rothmeier/ Mandl 1996, S. 42.
LERNUMGEBUNGEN
56
größere Relevanz. Bruner u. a. vertritt die These, dass man direkte Interak-
tionen mit realen Situationen in Lernkontexte implementieren müsse, um den
Lernenden die Möglichkeit zu geben, sich selbständig und explorativ neues
Wissen zu erschließen.175
Bis heute hat sich die Bedeutung von Lernen in konkreten Problemsituatio-
nen kontinuierlich erhöht. Innerhalb der beruflichen Bildung entwickelt Witt-
wer bereits Anfang der 80er Jahre ein situationsorientiertes Lehr-Lern-
Konzept, dass speziell auf die pädagogische Ausbildung von betrieblichen
Ausbildern abzielt.176 Im Kontext beruflicher Bildung werden zunehmend si-
tuationsorientierte didaktische Ansätze, wie zum Beispiel das Lernen am Ar-
beitsplatz, erprobt und umgesetzt.177 Wittwer spricht in diesem Zusammen-
hang von einer Integration von Ausbildungs- und Arbeitsprozess mit dem Ziel
einer arbeitsplatzbezogenen Ausbildung, wobei der Arbeitsplatz als Lernplatz
erschlossen wird, bzw. Methoden zum Einsatz kommen, die konkrete Arbeits-
situationen simulieren.178
3.1.2 Situated Cognition
Situated Cognition bezeichnet einen Ansatz, der versucht, Anwendungsas-
pekte von Wissen kontextualistisch in Lernprozesse zu integrieren. Anders
formuliert soll der Wissenserwerb so in situative Kontexte eingepasst werden,
dass den Lernenden die Relevanz des Lerngegenstands deutlich wird.179 Die
theoretischen Grundlagen des Ansatzes fußen auf konstruktivistischen Er-
kenntnissen. Als Grundprämisse gilt dementsprechend, dass Wissen immer
durch das aktiv handelnde und somit erkennende Subjekt infolge von sozia-
len Interaktionen mit seiner Umwelt konstruiert wird. Lernen findet folglich
immer in Kontexten und dementsprechend situiert statt.180 Nach Reinmann-
Rothmeier und Mandl sind als wichtige Vertreter der Situated Cognition Be-
wegung Lave, Rogoff, Grenno und Resnik zu nennen. Trotz den unterschied-
lichen Betrachtungsperspektiven und spezifischen Verschiedenheiten der
Konzepte kommen alle zu dem Schluss, dass Lernen immer in sozialen Kon-
texten stattfindet.181 Da diese Kontexte oder Situationen stets individuelle
und situationsspezifische Konstruktionsvorgänge der Lernenden bedingen,
sind genaue Lernergebnisse nur schwer voraussagbar. Dennoch bestätigen
Experimente, dass Lernsituationen, in denen Probleme und Aufgabenstellun-
gen in konkrete Handlungskontexte oder Verwendungssituationen eingebet-
tet sind, von den Lernenden besser bewältigt werden als abstrakt formulierte
Lernaufforderungen.182 Das zentrale didaktische Ziel, dass mit dem Arrange-
ment von Lernumgebungen verbunden wird, besteht darin, die Lernenden
dazu anzuregen, sich kognitiv mit einem Lerngegenstand auseinander zu set-
zen.
Ein weiteres Hauptziel dieses Situationsansatzes liegt darin, durch Verknüp-
fungen von theoretischen Problemen und praxisrelevanten Situationen den
späteren Wissenstransfer zu begünstigen.183
Aus einem solchen konstruktivistisch didaktischen Ansatz lassen sich folgen-
de didaktische Anforderungen an Lernumgebungen ableiten:184
• Lernumgebungen sollen Lernbedürfnisse provozieren und motivie-
ren.
• Lernumgebungen sollen Lernprozesse erleichtern.
• Lernumgebungen sollen den Lernenden ständige Feedbacks über
deren Lernerfolge liefern.
• Lernumgebungen sollen Prozesse einleiten, die zur Entwicklung von
Kooperationsfähigkeit beitragen.
• Die Lernenden sollen mit authentischen, kontextsensitiven Lernauf-
gaben konfrontiert werden. 181 Vgl. ebenda. 182 Vgl. Siebert 1999, S. 97. 183 Vgl. ebenda, S. 98. 184 Vgl. Friedrich/ Eigler/ Mandl/ Schnotz/ Schnott/ Seel 1997, S. 90 f.
LERNUMGEBUNGEN
58
• Lernumgebungen sollen die Identifikation, die Definition sowie das
Lösen von Problemen ermöglichen und begünstigen.
• Nicht die Reproduktion, sondern die Konstruktion von Wissen durch
die Lernenden soll im Vordergrund stehen.
• Lernumgebungen sollen unterschiedliche Perspektiven auf den Lern-
gegenstand implizieren.
• Lernumgebungen müssen grundsätzlich ein größtmögliches Maß an
Freiheitsgraden in Bezug auf Problemlösungsstrategien erlauben.
Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen theoretischen Anforderungen
an Lernsituationen wurden seit Ende der 80er Jahre im Kontext der Situated
Cognition Bewegung unterschiedliche Konzepte zu deren Umsetzung entwi-
ckelt.185
Anchored Instruction
Anchored Instruction bezeichnet einen Ansatz, der versucht, die oben ge-
nannten Funktionen von Lernumgebungen zu erfüllen, indem er konkrete
Problemsituationen in Geschichten narrativ verankert. Es werden mit anderen
Worten spezifische Lernanlässe in realistische, komplexe Handlungskontexte
eingebettet. Dadurch soll in Bezug auf den Lerngegenstand eine höhere
Sinnhaftigkeit für die Lernenden geschaffen, ein Praxisbezug hergestellt so-
wie eine Anschlussfähigkeit in Bezug auf die Lernbiographie der Lernenden
ermöglicht werden.186 Ähnlich wird die Zielsetzung des Anchored Instruction
Ansatz auch von Reinmann-Rothmeier und Mandl formuliert:
„Die Geschichten sollen bei den Lernenden Interesse wecken, Vorwissen akti-
vieren, aktives Lernen fördern und auf diese Weise „träges“ Wissen vermei-
den.“ 187
185 Vgl. ebenda, S. 95. 186 Vgl. Siebert 1999, S. 98. 187 Reinmann-Rothmeier/ Mandl 1996, S. 43.
LERNUMGEBUNGEN
59
Zur Gestaltung der Geschichten ist zu sagen, dass es für eine Problemstel-
lung unterschiedliche Geschichten geben kann, um die Betrachtung des
Problems aus unterschiedlichen Perspektiven zu ermöglichen. Außerdem sol-
len verschiedene Wissensbereiche miteinander verknüpft werden.188
Cognitive Flexibility
Auch der Cognitive Flexibility Ansatz geht davon aus, dass ein erfolgreiches
Lernen komplexe Lernkontexte voraussetzt. Hier wird besonders betont, dass
bei Szenarien eine zu starke Reduktion der Komplexität zu vermeiden sei.
Vielmehr liegt die Zielsetzung darin, den Lernenden eine Lernumgebung als
reale Komplexität aufzuzeigen, die auch gewisse Unregelmäßigkeiten produ-
ziert.189 Solche Unregelmäßigkeiten können z.B. unerwartete simulierte
Ereignisse sein, die den Lernenden eine hohe kognitive Flexibilität abverlan-
gen. Eine weitere Möglichkeit zur Verbesserung der kognitiven Flexibilität
kann darin liegen, dass die Lernenden ihr Wissen in unterschiedlichen Situa-
tionen erproben und so in die Lage versetzt werden, ihr Wissen aus unter-
schiedlichen Perspektiven zu bewerten.190 Lernen findet folglich multidimen-
sional statt. Die Aufgabe der Lernenden besteht darin, Erkenntnisse selbst zu
systematisieren und sich ihre eigene „kognitive Landkarte“ zu konstruieren.
Ein auf diese Weise selbstgesteuerter explorativer Lernprozess soll die Ler-
nenden zu flexiblen Problemlösern machen und sie dadurch in die Lage ver-
setzen, ihr generiertes Wissen auch später in analogen Anwendungssituatio-
nen nutzen zu können.191
Cognitive Apprenticeship
Der Cognitive Apprenticeship Ansatz versucht anwendungsorientierte Ver-
mittlungsprinzipien aus der traditionellen Handwerkslehre auf modernes kog-
nitives Lernen anzuwenden. Nach diesem Ansatz werden Lernumgebungen
188 Vgl. Reinmann-Rothmeier/ Mandl 1996, S. 43. 189 Vgl. ebenda. 190 Vgl. Siebert 1999, S. 98. 191 Vgl. Müller 1996, S. 78 f.
LERNUMGEBUNGEN
60
so arrangiert, dass Lehrende und Lernende gemeinsam an realitätsnahen
Aufgaben arbeiten und Lernen im Kontext einer „guided participation“ statt-
findet.192 Auf diese Art und Weise sollen die Lernenden sowohl über authen-
tische Aktivitäten als auch durch soziale Interaktionen in eine Expertenkultur
eingeführt werden.193
Ziel ist es, den Lernenden anwendungsrelevantes, strategisches Handlungs-
wissen zu vermitteln. Mit strategischem Wissen ist ein implizites, heuristi-
sches Wissen gemeint. Erst ein solches strategisches Wissen ermöglicht die
Anwendung von Sachwissen in unterschiedlichen Verwendungszusammen-
hängen.194
Ein Lernprozess im Sinne des Cognitive Apprenticeship Ansatzes beginnt mit
einer globalen, allgemeinen Problemstellung, um den Lernenden den Hand-
lungskontext zu verdeutlichen. Im Laufe des Lernprozesses werden die Auf-
gaben kontinuierlich ausdifferenziert. Außerdem sollen die Lernumgebungen
variiert werden, um den Lernenden, ähnlich wie beim Cognitive Flexibility
Ansatz, die Möglichkeit zu bieten, bereits während der Wissensanwendung
eine hohe Handlungsflexibilität zu erwerben und somit den Wissenstransfer
in spätere Anwendungskontexte zu erleichtern.195
Die Aufgabe des Lehrenden besteht darin, den Lernenden durch Hilfestellun-
gen und Hinweise während der Problembearbeitung zu unterstützen. Dabei
ist es wichtig, dass der Lehrende sein Handeln verbalisiert, um auf diese
Weise seine kognitiven Prozesse für die Lernenden beobachtbar zu machen.
Diese Unterstützung nimmt im Laufe des Lernprozess antagonistisch zum
Erkenntnisgewinn der Lernenden ab.196
192 Vgl. Müller 1996, S. 91. 193 Vgl. Reinmann-Rothmeier/ Mandl 1996, S. 43. 194 Vgl. Arzberger/ Brehm 1994, S. 48 f. 195 Vgl. Siebert 1999, S. 98. 196 Vgl. Reinmann-Rothmeier/ Mandl 1996, S. 43.
LERNUMGEBUNGEN
61
3.1.3 Gestaltungsprinzipien für Lernumgebungen
Aus den oben beschriebenen Ansätzen lassen sich folgende Grundprinzipien,
die aus konstruktivistischer Perspektive bei der Konzeption von Lernumge-
bungen zu berücksichtigen sind ableiten:
Authentizität der Lernumgebung
Dieses Prinzip weist darauf hin, dass eine Lernumgebung reale Situationen
mit ihrer ganzen Komplexität wiedergibt. Dies ermöglicht den Lernenden ne-
ben dem inhaltlichen Wissen auch dessen Anwendungsbedingungen kennen
zu lernen. Hinter diesem Prinzip verbirgt sich die Annahme, dass die Bearbei-
tung von authentischen Lernaufgaben und Problemen den Transfer des Wis-
sens auf spätere Praxisprobleme erleichtert.197
Situierte Anwendungskontexte
Im Unterschied zur Authentizität von Lernumgebungen geht es bei diesem
Prinzip nicht um die komplexe Realität, sondern es wird versucht, konkrete
Probleme und Aufgaben in Kontexte einzuflechten. Dies geschieht z.B. durch
eine offene Geschichte oder einem für die Zielgruppe relevanten, unvollende-
ten Handlungskontext. Ein Auswahlkriterium für die dargestellte Szenerie ist
deren Problempotenzial. Auf diese Weise soll es den Lernenden ermöglicht
werden, Lernprobleme selbständig zu identifizieren, zu definieren und Lösun-
gen zu erarbeiten.198
Multiple Kontexte
Multiple Kontexte ermöglichen eine Betrachtungsweise des Lerngegenstan-
des aus unterschiedlichen Perspektiven. Diese Unterschiedlichkeit kann z.B.
durch eine hohes Maß an Interdisziplinarität erzeugt werden. Auch verschie-
197 Vgl. ebenda. 198 Vgl. ebenda, S. 46 f.
LERNUMGEBUNGEN
62
dene soziale Sichtweisen sind sich in der Regel gut geeignet, multiple Kon-
texte zu bilden. Auf diese Weise können den Lernenden verschiedene Prob-
lemdimensionen deutlich werden, indem sie den Lerngegenstand aus unter-
schiedlichen Perspektiven betrachten. Dadurch soll sichergestellt werden,
dass das generierte Wissen nicht auf den Lernkontext fixiert bleibt, sondern
auf andere Problemsituationen adaptiert werden kann.199
Soziale Kontexte
Da Lernen immer Interaktionen voraussetzt, spielt auch in Lernsituationen
der soziale Kontext eine entscheidende Rolle. Deshalb sollen Lernumgebun-
gen die Kooperation zwischen allen am Lernprozess beteiligten Akteuren för-
dern. Soziale Interaktionen sollen dementsprechend sowohl zwischen Leh-
renden und Lernenden als auch innerhalb von Lernteams möglich sein. Ein
teamorientiertes Arrangement fördert neben sozialen und kommunikativen
Fertigkeiten auch die Perspektivenvielfalt des Lernkontextes im Hinblick auf
den zu bearbeitenden Lerngegenstand.200
Im folgenden Kapitel soll erarbeitet werden, wie Lernumgebungen vor dem
Hintergrund der oben aufgeführten Gestaltungsprinzipien arrangiert werden
können.
3.1.4 Konsequenzen für die Modellierung von Lernumgebungen
An dieser Stelle muss grundsätzlich darauf hingewiesen werden, dass es aus
konstruktivistischer Sichtweise nicht darum geht, grundsätzlich richtige und
falsche Methoden zu klassifizieren. Vielmehr hängt die Eignung einer Metho-
de immer von dem Kontext ab, in den sie integriert werden soll.201 Daraus
lässt sich ableiten, dass es keine explizite und standardisierte konstruktivisti-
sche Lernumgebung geben kann, weil unterschiedliche Szenarien in Abhän-
199 Vgl. ebenda, S. 47. 200 Vgl. ebenda, S. 48. 201 Vgl. Siebert 1999, S. 140 f.
LERNUMGEBUNGEN
63
gigkeit vom lernenden Subjekt differente Viabilitäten bedeuten können. Sie-
bert bezeichnet die Suche nach einer einzig richtigen Methode als „unkons-
truktivistisch“, weil eine daraus resultierende Methodengläubigkeit auf so-
zialtechnologischen Annahmen beruhen würde, deren Kausalität die kons-
truktivistische Erkenntnistheorie in Frage stellen muss.202 Es ist allerdings
darauf hinzuweisen, dass die konstruktivistischen Erkenntnisprinzipien unab-
hängig von der Methodenwahl Gültigkeit haben. Aus der konstruktivistischen
Erkenntnistheorie lässt sich dementsprechend nicht zwingend eine Vermitt-
lungsmethode ableiten, sie impliziert allerdings eine bestimmte pädagogische
Haltung, die Arnold auch als pädagogische Gelassenheit bezeichnet. Diese
Haltung fordert eine Abkehr von der Illusion der Beherrschbarkeit und Plan-
barkeit von komplexen Lernsystemen und Prozessen.203 Aus dieser Perspekti-
ve können auch Lernumgebungen kein direktes Wissen bei den Lernenden
erzeugen, sie sollen allerdings Lernprozesse unterstützen und anregen.
Lernsituationen und Lernumgebungen sollten sich vor dem Hintergrund die-
ser Grundhaltung durch Offenheit und Facettenreichtum auszeichnen. Laut
Arnold sind Methoden, die die Selbsterschließungskompetenzen der Lernen-
den fördern und die Lebendigkeit der Lehrinputs erhöhen, zu bevorzugen.204
Folgt man Siebert, so eignen sich zur Erreichung dieser didaktischen Forde-
rung aktivierende Methoden, wie sie aus der Reformpädagogik205 bekannt
sind in besonderer Weise, weil sie die Eigenaktivität der Lernenden in der
Regel stärker stimulieren als rezeptive Methoden.206 Exemplarisch sind hier
Projektunterricht, Planspiele und entdeckende Lernmethoden zu nennen.
202 Vgl. ebenda, S. 141. 203 Vgl. Arnold 1997, S. 16. 204 Vgl. ebenda. 205 Mit Reformpädagogik bezeichnet man die an der bürgerlichen Kulturkritik orientierten
pädagogischen Reformversuche. Die reformpädagogische Bewegung beginnt gegen Ende des 19. Jahrhunderts und erreicht im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ihren Höhe-punkt. Die Ziele lagen u.a darin, die Kluft zwischen Schulbildung und Lebenspraxis zu überwinden, Individualisierung statt erzwungener Unterordnung sowie die Selbstbe-stimmung des Schülers bei Relativierung der gesellschaftlichen curricularen Ansprüche zu fördern und eine entsprechende Ändrung der Rolle des Lehrers zu beanspruchen (vgl. Wulf 1984, S. 487 ff.).
206 Vgl. Siebert 1999, S. 141.
LERNUMGEBUNGEN
64
Die relative Offenheit des Konstruktivismus erschwert es an dieser Stelle,
eine konkretere Handlungsanleitung zur Gestaltung von Lernumgebungen zu
liefern, dennoch soll vor dem Hintergrund der in Kapitel 2.3.2 erarbeiteten
Gestaltungsprinzipien versucht werden, ein Fragenkatalog zu entwickeln, der
bei der Reflexion über die Eignung von Lernumgebungen behilflich sein kann.
Tabelle 1: Fragenkatalog zur Überprüfung von Lernsituationen
1. Wird eine Lebenssituation aus dem Alltag der Lernenden dargestellt?
2. Entspricht die Problemstellung den Erfordernissen des Alltags der Ler-
nenden?
3. Ist das Angebot an Informationen zur Problemsituation in Bezug auf die
Präsentationsformen ausreichend variabel?
4. Hat die Problemstellung eine hohe subjektive Relevanz für die Lernen-
den?
5. Ermöglicht die Lernumgebung die Betrachtung der Problemstellung aus
unterschiedlichen Perspektiven?
6. Können sich die Lernenden mit Akteuren der Problemsituationen identifi-
zieren?
7. Bietet die Lernumgebung dem Lernenden die Möglichkeit, seinen Lern-
prozess selbst zu gestalten?
8. Liefert die Lernumgebung wirkliche Entscheidungsoptionen für die Ler-
nenden?
9. Lassen sich aus der konkreten Problemstellung auch allgemeinere Er-
kenntnisse ableiten?
10. Bietet die Lernsituation Räume, um Lern- und Gruppenprozesse zu the-
matisieren und zu reflektieren?
(In Anlehnung an: Sloane 1999, S. 65 ff.)
Insgesamt ist nicht zu erkennen, dass das Ergebnis aus den bisherigen kons-
truktivistischen Diskursen in einer konsistenten Theorie zur Gestaltung von
Lernumgebungen besteht, sondern lediglich in unterschiedlichen Spielarten
und Ideen. Dennoch legt das konstruktivistische Lernverständnis bestimmte
Konsequenzen nahe. Weil Lernen nur situations- und kontextgebunden statt-
LERNUMGEBUNGEN
65
finden kann, wird die Lernumgebung zum zentralen didaktischen Gestal-
tungsfeld. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Wissen immer in Verbin-
dung mit bestimmten Situationen entsteht, und dass demzufolge die Lernsi-
tuation bedingt, in welchen Anwendungskontexten das Wissen später ange-
wendet werden kann.207
Dies stützt die Forderung, authentische Probleme in Lernumgebungen zu
implementieren. Das heißt, dass die Komplexität der Realsituation in der
Lernsituation nur soweit reduziert werden darf, dass die zentralen Merkmale
der Anwendungssituation erhalten bleiben. Eine solche Lernumgebung soll
Informationen bereitstellen, die die Lernenden als viabel im Hinblick auf die
zu lösende Problemstellung identifizieren und in einem selbstbestimmten,
selbstorganisierten Lernprozess zu Wissen generieren können.
Reale authentische Lernarrangements zu erstellen ist mit einem hohen Auf-
wand verbunden. Unter diesem Gesichtspunkt werden zunehmend die Poten-
ziale von multimedialen computerbasierten Lernumgebungen diskutiert, zu-
mal sich durch die rasante technische Entwicklung immer realistischere vir-
tuelle Umwelten erzeugen lassen. Daher scheinen sich multimediale compu-
terbasierte Lernformen in besonderer Weise zur Gestaltung von Lernumge-
bungen zu eignen.208
Was unter multimedialen computerbasierten Lernumgebungen zu verstehen
ist und welche didaktischen Erwartungen mit deren Einsatz verbunden wer-
den, soll nachfolgend geklärt werden.
207 Vgl. Bruhn/ Fischer/ Gräsel/ Mandl 1997, S. 6. 208 Vgl. Schulz 1997, S. 477.
LERNUMGEBUNGEN
66
3.2 Spezifische Aspekte von multimedialen computerba-
sierten Lernumgebungen
3.2.1 Begriffsexplikation
In den letzten Jahren ist das Wort Multimedia zu einem Modewort geworden,
das ständig in der Medienwelt in den unterschiedlichsten Kontexten verwen-
det wird. Dabei verbirgt sich hinter dem Begriff Multimedia keine außerge-
wöhnliche Neuigkeit. Vielmehr ist die gegenwärtige Aktualität von Multimedia
als etwas völlig Neuem aus didaktischer Perspektive eher unverständlich, weil
Multimedia unter Begriffen wie z.B. Audiovisuelle Medien oder Mehrmedien-
systeme im didaktischen Sprachgebrauch eine lange Tradition aufweist. So
stellen Euler und Twardy fest, dass bereits in der Ausgabe des Brockhaus
von 1967 der Begriff Multimedia als die didaktisch inszenierte Verbindung
mehrerer Medien auftaucht.209 Mit anderen Worten handelt es sich bei Mul-
timedia um eine mehrdimensionale mediale Darstellungsform. Nach diesem
Begriffsverständnis müsste bereits ein Diavortrag bei dem zusätzlich Sprache
und Musik zur Illustration verwendet werden, als eine multimediale Inszenie-
rung gelten, weil hier Bildmedium und Tonmedium gleichzeitig zum Einsatz
kommen.
Nicht zuletzt die rasante Entwicklung der Computertechnologie hat neue Po-
tenziale für den Einsatz von multimedialen Produkten geschaffen. Durch im-
mer leistungsfähigere Computersysteme ist es heute möglich, unterschiedli-
che Darstellungsformen, wie z.B. Text, Pixelbild, Grafik, Video und Ton, in
einer kompakten Maschine zusammenzufassen und somit die Handhabbarkeit
von multimedialen Arrangements deutlich zu vereinfachen.
Diese neue Technologie erweitert die Potenziale von multimedialen Applika-
tionen, die es für Lernzwecke zu erschließen und zu nutzen gilt. Unter die-
sem Aspekt vertritt Klimsa die Ansicht, dass eine Definition von Multimedia
209 Vgl. Euler/ Twardy 1995, S. 356.
LERNUMGEBUNGEN
67
als Integration von unterschiedlichen medialen Darstellungsformen nicht aus-
reicht und beschreibt Multimedia anhand folgender Aspekte von:210
• Multimedialität: Parallele Ausgabe von unterschiedlichen medialen
Darstellungsformen.
• Interaktivität: Interaktion zwischen Input und Output.
• Multitasking: Simultane Eingabe von Daten über mehrere Geräte
(Maus, Stimme, Touchscreen).
• Umsetzung einfacher Eingabesignale in komplexe Datenstrukturen.
Es lässt sich erkennen, dass die Haupterweiterungen im Verständnis von Mul-
timedia sowohl in der Ermöglichung von Interaktivitäten zwischen Anwender
und Applikation als auch in der Steigerung der Komplexität der multimedialen
Arrangements liegen.
Da diese erweiterten Eigenschaften nur in Verbindung mit neuer Computer-
technologie realisierbar sind, soll im Folgenden der traditionelle Multimedia-
begriff durch das Adjektiv computerbasiert erweitert werden. Als multimedia-
le computerbasierte Applikationen werden nachfolgend alle Anwendungen
verstanden, die auf der Basis von moderner Computertechnologie realisiert
sind. Dies bedeutet, dass der Zugriff auf unterschiedliche mediale Darstel-
lungsformen über einen Computer zentral ermöglicht und von dem Anwender
selbst gesteuert wird.211
3.2.2 Typisierung von multimedialen computerbasierten Lernum-
gebungen
Im vorherigen Abschnitt wurde der hier verwendete Multimediabegriff auf
den Bereich der multimedialen computerbasierten Applikationen reduziert.
Weil das Angebot an solchen Applikationen sehr vielfältig ist, wird nachfol-
210 Vgl. Klimsa 1997, S. 7. 211 Vgl. Friedrich/ Eigler/ Mandl/ Schnotz/ Schnott/ Seel 1997, S. 27.
LERNUMGEBUNGEN
68
gend eine Typisierung vorgenommen, die als Systematisierungs- und Unter-
scheidungshilfe dienen soll.
Aus technischer Perspektive bietet sich eine Differenzierung anhand der
idealtypischen Nutzungskonzepte offline, online und offline/online an.212
Abbildung 7: Multimediale Nutzungskonzepte
Offline-MM Online-MM
Lern- undInformationssoftware
ComputerbasierteKommunikationsnetze
Online/Offline-MM
(In Anlehnung an: Euler 2000, S. 5.)
Offline-Multimedia meint die Bearbeitung von Applikationen an einem
Computer, ohne darüber hinaus Netzzugriff auf Informationen oder Personen
an anderen Standorten zu haben.
Online-Multimedia zeichnet sich dadurch aus, dass die Anwendungen ex-
plizit auf ein Netzwerk zur Datenfernübertragung zurückgreifen und damit
z.B. Kommunikationen über große Distanzen oder Zugriffe auf dezentrale