PD Dr. Dirk Solies, Arbeitsbereich Praktische Philosophie, JGU Mainz, [email protected]1 Vorlesung „Philosophische Anthropologie“: WS 2009/10 – PD Dr. Dirk Solies Begleitendes Thesenpapier – nur für Studierende gedacht! Georg Simmel – Biographie (Quelle: http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/SimmelGeorg/index.html - gekürzt) 1858: Georg Simmel wird in Berlin als jüngstes von sieben Kindern des Fabrikanten Edward Simmel und dessen Frau Flora (geb. Bodenstein) geboren. Edward Simmel stammt aus einer jüdischen Familie und ist zum Katholizismus konvertiert. Flora Bodensteins Familie ist vom Judentum zum Protestantismus übergetreten. Georg Simmel wird evangelisch getauft. Simmels erste Promotionsschrift "Psychologisch-ethnologische Studien über die Anfänge der Musik" abgelehnt. Stattdessen mit "Darstellung und Beurteilungen von Kants verschiedenen Ansichten über das Wesen der Materie" promoviert 1885 Habilitation, Privatdozent in Berlin 1894: "Das Problem der Soziologie": Programm der Soziologie als selbständiger Wissenschaft. 1898: Der Antrag auf Erteilung eines Extraordinariats scheitert (Antisemitismus, Außenseiterposition)
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Vorlesung Philosophische Anthropologie : WS 2009/10 ... · Simmel hofft, der Krieg werde "die Anbetung des Geldes und des Geldwertes der Dinge" überwinden und die "Einheit und Ganzheit"
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Vorlesung „Philosophische Anthropologie“: WS 2009/10 – PD Dr. Dirk Solies
Begleitendes Thesenpapier – nur für Studierende gedacht!
Georg Simmel – Biographie (Quelle: http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/SimmelGeorg/index.html - gekürzt)
1858: Georg Simmel wird in Berlin als jüngstes von sieben Kindern des Fabrikanten Edward Simmel und dessen Frau Flora (geb. Bodenstein) geboren. Edward Simmel stammt aus einer jüdischen Familie und ist zum Katholizismus konvertiert. Flora Bodensteins Familie ist vom Judentum zum Protestantismus übergetreten. Georg Simmel wird evangelisch getauft. Simmels erste Promotionsschrift "Psychologisch-ethnologische Studien über die Anfänge der Musik" abgelehnt. Stattdessen mit "Darstellung und Beurteilungen von Kants verschiedenen Ansichten über das Wesen der Materie" promoviert 1885 Habilitation, Privatdozent in Berlin
1894: "Das Problem der Soziologie": Programm der Soziologie als selbständiger Wissenschaft. 1898: Der Antrag auf Erteilung eines Extraordinariats scheitert (Antisemitismus, Außenseiterposition)
1900: Der zweite Antrag auf Erteilung eines Extraordinariats angenommen. "Philosophie des Geldes". 1903 "Die Großstädte und das Geistesleben" 1908: Die Philosophische Fakultät der Heidelberger Universität will eine vakante Professur mit Simmel besetzen. Auch Max Weber setzt sich für ihn ein. Die Regierung in Karlsruhe lehnt jedoch ab, nachdem der im Alldeutschen Verband engagierte Berliner Historiker Dietrich Schäfer (1845-1929) in einem Gutachten Simmel als "Israelit durch und durch" verunglimpft und der Soziologie den Rang als Wissenschaft bestreitet. "Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung": Mikrosoziologie 1911: Die Fakultät für Staatswissenschaften der Freiburger Universität verleiht Simmel die Ehrendoktorwürde. 1914: Simmel erhält einen Lehrstuhl an der Straßburger Universität (heute: Strasbourg, Frankreich). Im I. WK nähert er sich nationalistischen Positionen an und verleiht einem weitverbreiteten Unbehagen an der Kultur Ausdruck. Simmel hofft, der Krieg werde "die Anbetung des Geldes und des Geldwertes der Dinge" überwinden und die "Einheit und Ganzheit" des Volkes festigen. 1918: 26. September: Georg Simmel stirbt in Straßburg. „Lebensanschauung“
Simmels Werk: Grobperiodisierung (1) 18791 bis 1900 Geschichts- und Moralwissenschaft:
a. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892) b. Einleitung in die Moralwissenschaft (1892-93). c. Aber: 1905 und 1907 völlig überarbeitete Neuaufl. der Geschichtsphilosophie, d. Fragen der Moralwissenschaft auch nach 1900 relevant.2
(2) 1894 – 1908 soziologischer Schwerpunkt a. Das Problem der Soziologie, GSG 5 b. Soziologie, GSG 11 c. Auch nach 1908 noch Aufsätze mit explizit mikrosoziologischer Themenstellung: Die
Soziologie der Mahlzeit und die Soziologie der Geselligkeit (beide 1910) und Über Takt; Soziologie der Geselligkeit (1912, alle GSG 12).
d. Soziologische Fragestellung der Frühzeit sukzessive durch das Projekt einer Philosophie der Kultur auf der Basis des Lebensbegriffes abgelöst.
(3) Lebensbegriff nach 1908, z. T. auch in ästhetischen Einzelanalysen a. Über den Schauspieler; Aus einer ‚Philosophie der Kunst’ (1909) und Michelangelo;
Ein Kapitel zu einer Metaphysik der Kultur (1910),
1 Bereits 1879 erscheinen erste Rezensionen von Simmel (in: GSG 1). 2 Vgl. Ü b e r G o e t h e s u n d K a n t s m o r a l i s c h e W e l t a n s c h a u u n g (1908), in: GSG 8, sowie N i e t z s c h e s M o r a l (1911), in: GSG 12.
b. Rembrandt; ein kunstphilosophischer Versuch (1916): innerer Zusammenhang von Ästhetik und Lebensphilosophie. ‚Leben’ als idealer Fluchtpunkt, in dem alle die kulturellen Gegensätze und Antinomien in ihrer Tragik vermittelt erscheinen.
c. Lebensanschauung ► Frage nach Simmel als Lebensphilosophie: Notwendigkeit, das simmelsche Werk „von hinten“ zu lesen
Das Wesen der ästhetischen Betrachtung liegt für uns darin, daß in dem Einzelnen der Typus, in dem
Zufälligen das Gesetz, in dem Aeußerlichen und Flüchtigen das Wesen und die Bedeutung der Dinge
hervortreten [...] In das Gleichgiltigste [sic], das uns in seiner isolirten Erscheinung banal oder
abstoßend ist, brauchen wir uns nur tief und liebevoll genug zu versenken, um auch Dies als Strahl
und Wort der letzten Einheit der Dinge zu empfinden, aus der ihnen Schönheit und Sinn quillt. [...]
Wenn wir diese Möglichkeit ästhetischer Vertiefung zu Ende denken, so giebt es in den
Schönheitswerten der Dinge keine Unterschiede mehr. Die Weltanschauung wird ästhetischer
Pantheismus.3
Nicht welt- und realitätsflüchtiger Ästhetizismus,4 sondern philosophische Prinzipialisierung:
Simmels ästhetische Detailanalysen5 als Lebensweltanalysen:
moderne Mensch steht im Zentrum
philosophische, genauer gesagt metaphysische Theorie der Kultur in der Krise
Simmels Anthropologie sieht den Menschen innherhalb dieser Kultur, in einem ambivalent-
kritischen Kulturverhältnis: Chance und Risiko
3 GSG 5, 198f. 4 Z. B. Hübner-Funk (1982) und Lieber (1974). Zur kritischen Diskussion dieses Ästhetizismus-Vorwurfes vgl. Solies (1998: 186-192). 5 Vgl. seine Aufsätze D e r H e n k e l ; e i n ä s t h e t i s c h e r V e r s u c h (1905, GSG 7) sowie B r ü c k e u n d T ü r (1909), GSG 12.
Es ist von einer noch gar nicht genug beachteten Bedeutung für die soziale Kultur, daß
mit der sich verfeinernden Zivilisation offenbar die eigentliche Wahrnehmungsschärfe
aller Sinne sinkt, dagegen ihre Lust- und Unlustbetonung steigt. [...] Der moderne
Mensch wird von Unzähligem chokiert, Unzähliges erscheint ihm sinnlich
unaushaltbar, was undifferenziertere, robustere, Empfindungsweisen ohne irgend
eine Reaktion dieser Art hinnehmen.20
Neurasthenie und Schockdiskurs21
Wiederaufnahme bei Benjamin in Anschl. an Baudelaire
Suche nach Schock als Signum der Moderne
20 SozSin 290 21 Damit greift er einen Begriff des amerikanischen Neurologen George Miller Beard auf. Durch Beards Aufsatz von 1869, „Neurasthenia or nervous exhaustion“, wurde der Begriff
erstmals in die Diskussion eingeführt21. Bekannt wurde dieser aber erst durch die Monographie „A practical treatise on nervous exhaustion (neurasthenia)“, die 1880
herausgegeben wurde und ab 1881 in deutscher Übersetzung vorlag.
Hieran schloß sich eine lebhafte Diskussion über Symptome und Ursachen dieses neuen Krankheitsbildes an, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Wesentlich für die
Verwendung des Begriffs bei Simmel ist hier nur, daß im Verlauf der psychiatrischen Diskussion (Binswanger, Krafft-Ebing) der Begriff Neurasthenie im Verhältnis zur Nervosität so
gefaßt wurde, daß man im folgenden unter konstitutioneller Nervosität die auf krankhafter nervöser Anlage beruhenden Krankheiten unterschied und unter Neurasthenie im
eigentlichen Sinne die „erworbenen, auf (chronischer) Erschöpfung beruhenden Formen gefaßt werden“21.
Das Aneinander-Gedrängtsein und das bunte Durcheinander des großstädtischen Verkehrs wären ohne jene psychologische Distanzierung einfach unerträglich. Daß man sich mit einer so ungeheuren Zahl von Menschen so nahe auf den Leib rückt, [...] würde den modernen, sensiblen und nervösen Menschen völlig verzweifeln lassen, wenn nicht jene Objektivierung des Verkehrscharakters eine innere Grenze und Reserve mit sich brächte.25 Objektivierung als Distanzierung: Selbstschutz des modernen Individuums Großstadterleben als „Nahfremdheit“: …
Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd - dies wenigstens nicht in dem soziologisch in Betracht kommenden Sinne des Wortes -, sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah.26
Ambivalenzen der Distanzierung „Exkurs über den Fremden“ (Soziologie)