Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität Die Auseinandersetzung von Habermas mit der Subjektivitätsphilosophie Inaugural-Dissertation Zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie vorgelegt von Dae Seong JEONG aus Seoul, Republik Korea 1. Gutachter: Prof. Dr. G. Scholtz 2. Gutachter: Prof. Dr. F. Rodi Bochum, Juni 2003
215
Embed
Von der Subjektivität zur Intersubjektivität · Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik Von der Subjektivität zur Intersubjektivität ... dadurch, "daß der Mensch
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
Transcript
Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik
Von der Subjektivität zur Intersubjektivität Die Auseinandersetzung von Habermas mit der Subjektivitätsphilosophie
Inaugural-Dissertation
Zur Erlangung des Grades eines
Doktors der Philosophie
vorgelegt von
Dae Seong JEONG
aus Seoul, Republik Korea
1. Gutachter: Prof. Dr. G. Scholtz
2. Gutachter: Prof. Dr. F. Rodi
Bochum, Juni 2003
Inhaltsverzeichnis I. Zur Aktualität der Fragestellung ……………………………………………………...4 1. Das Prinzip der Moderne und deren Probleme:
die Subjektivität und das Paradox der Rationalisierung ……………………..……….4 2. Gegenwärtige Versuche, das Problem der subjektiven Philosophie
zu überwinden ……………………………………………………………………….12 2.1. Der Übergang zur Postmoderne …………………………………………………..14 2.2. Die Erneuerung des Begriffs der transzendentalen Vernunft ……………………..23 2.3. Die Wende zur Intersubjektivitätstheorie …………………………………………30 II. Der Ausgangspunkt von Habermas: die Weiterführung des Projektes
der Aufklärung um der sittlichen Totalität willen ……..……………………………39
1. Die Bedeutung der Moderne ……………....………………………………………...42 2. Die Bedeutung der Aufklärung ……………………………………………………...48
3. Die Auseinandersetzung mit der subjektivistischen Vernunft ……………………...56 4. Die Auseinandersetzung mit den radikalen Vernunftkritikern ……………………...64 4.1. Die Kritik an der Grammatologie Derridas ……………………………………….64 4.2. Die Kritik an der Archäologie und der Genealogie Foucaults …..………………..72 III. Die Auseinandersetzung von Habermas mit Hegel und
die Ansätze der Idee der Intersubjektivität ..……………………………………….81 1. Die Anliegen des jungen Hegel: die Herstellung der Lebenstotalität ………………82 1.1. Die Kritik des jungen Hegel an der Positivität ……………………………………82 1.1.1. Die Kritik an der positiven Religion …………………………………………….82 1.1.2. Die Kritik an der positiven Moralphilosophie Kants ……………………………91 1.2. Die Kritik des jungen Hegel an der Reflexionsphilosophie ………………………96 1.3. Die Idee der Lebenstotalität beim jungen Hegel ………………………………...101 2. Die Bedeutung des jungen Hegel für die Philosophie von Habermas - Eine intersubjektivitätstheoretische Interpretation des Begriffs des Lebens ……….111 2.1. Die sozialphilosophische Bedeutung des Lebens beim jungen Hegel …………..112 2.2. Die Idee der Intersubjektivität beim jungen Hegel ………………………………117
1
IV. Die linguistische Wende von Habermas: der Übergang von der Subjektivität zur Intersubjektivität ..……………………...123
1. Die sprachphilosophische Wende im Habermasschen Denken ...………………….126 2. Die Sprachpragmatik und die Theorie des kommunikativen Handelns …………...138 2.1. Die Sprachpragmatik …………………………………………………………….138 2.2. Die sprachpragmatische Deutung des Handelns ………………………………...143 2.3. Die sprachpragmatische Deutung der Lebenswelt ………………………………151 2.4. Das Grundproblem der Modernisierung der Gesellschaft:
die Kolonialisierung der Lebenswelt ...…………………………………………...159 V. Die Rolle der Vernunft für die Gesellschaft bei Habermas ……………………….169 1. Die Idee der 'Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen' ………………...169 2. Würdigung und Kritik der Habermasschen Theorie………………………...……...184 Zusammenfassung ……………………………………………………………………191 Literaturverzeichnis …………………………………………………………………..209
2
Häufig verwendete Abkürzungen HWPh = J. Ritter / K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der
Philosophie, Basel, Stuttgart. TkH = J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M.
1987. PDM = J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne,
Frankfurt/M. 1996. ND = J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988. NU = J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1996. VE = J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des
kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1995. TW = G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, E. Moldenhauer / K.M.
Michel (Hg.), Frankfurt/M. 1986. GW = G.W.F. Hegel, Gesammelte Werke. Die Rheinisch-Westfälische
Akademie der Wissenschaften (Hg.), Hamburg. Differenzschrift = G.W.F. Hegel, Differenz des Fichte’schen und
Schelling’schen Systems der Philosophie, in: GW, Bd. 4, Jenaer Kritische Schriften, H. Buchner / O. Pöggeler (Hg.), Hamburg 1968.
Glauben und Wissen = G.W.F. Hegel, Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: GW. Bd. 4. a.a.O.
Naturrechtsschrift = G.W.F. Hegel, Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschften, in: GW, Bd. 4, a.a.O.
3
4
I. Zur Aktualität der Fragestellung
1. Das Prinzip der Moderne und deren Probleme: die Subjektivität und 'das Paradox der Rationalisierung'
Es scheint bei den heutigen sogenannten 'modischen' Philosophien zur wichtigsten
philosophischen Problematik oder zumindest zu einem der wichtigsten Teile für die
Einleitung in jene Philosophie zu gehören, die Modernität zu deuten. Denn sie befassen
sich auf die eine oder andere Weise mit der Problematik der Moderne. Genauer gesagt:
für die einen Philosophen, die sich für die Erhaltung der Moderne aussprechen, nimmt
die (erneute) Deutung der Modernität immer noch einen zentralen Platz in ihrem
Denken ein, während die anderen, welche die Überwindung der Moderne als Ziel haben,
mit einer grundsätzlichen Kritik dieser Moderne anfangen.
Die Renaissance, die Reformation, die sogenannte Wissenschafts- und
Industrierevolution, die Aufklärung und die Französische Revolution etc. sind typische
Phänomene und Zeichen der 'Moderne'. Anders als die teleologische, d. h. die
metaphysische und theologische Weltkonzeption der Antike und des Mittelalters, nach
der man das Telos des innerweltlichen Seins außerhalb der endlichen Welt sucht, ist
eine der augenfälligsten Charakteristiken dieses Zeitraumes die Idee der
Vollkommenheit der Welt bzw. der Natur, wie sie sich z. B. in der Formulierung
Spinozas zeigt: Deus sive natura.
Die Aufhebung des Begriffs des Telos der Natur bedeutet jedoch gleichzeitig die
Entzauberung der Natur. Erst in diesem Zeitraum, in dem die sogenannte
Wissenschaftsrevolution ermöglicht wurde, konnte es zu einer Beherrschung der Natur
im Kontext des "universalistischen Rationalisierungsvorgangs" kommen, in dem die
Natur quantifiziert und mathematisch berechnet werden könne. Damit wurde die Natur
zum Gegenstand der objektiven Darstellung, Forschung und Untersuchung, und der
Mensch ist als Subjekt der wissenschaftlichen Arbeit zum Vorschein gekommen. An die
Stelle des Begriffes der teleologischen 'Vollkommenheit' wurde der Begriff des
'rationalen Fortschrittes' in dem Sinne von Quantifizierung und Mathematisierung
gesetzt. Anders als die 'Antiken', die in einem außer- oder überweltlichen Sein den
letzten Zweck der Welt gefunden hatten, konnten die 'Modernen', die von der
5
Selbständigkeit der Welt sprechen, die ursprüngliche Basis der Wissenschaft niemals in
jener Transzendenz suchen.TPF
1FPT
Der Entzauberungsvorgang im Bereich der Natur ist jedoch parallel zu dem
Säkularisierungsprozeß im Bereich der Religion, der Moral sowie der Kultur verlaufen:
Die Reformation setzte an die Stelle des Glaubens an die kirchliche Tradition die
unmittelbare Beziehung des Menschen zu Gott; das Gesetz, das von Gott gekommen
war, hat der Freiheit des Willens den Weg geebnet; bei der modernen Moral geht es um
die Anerkennung der Freiheit des Individuums und die Frage nach dessen
Verpflichtung; die Form der Kunst und deren Inhalt, wie z. B. bei der Romantik,
wurden absolut verinnerlicht. Die Moderne ist also eine Zeit, die ihre Kriterien nicht
von der Außenwelt oder der Vergangenheit übernehmen kann oder darf; vielmehr muß
sie ihre Normen allein aus sich selbst heraus generieren.
Die Erhebung des Ich in der Moderne zum philosophischen Prinzip der Weltdeutung
scheint also notwendig gewesen zu sein. Es ist daher kein Zufall, daß die Moderne das
Cogito in den Vordergrund stellte, um ihre Norm selbst schaffen zu können. In dieser
Hinsicht sagt Lacan über den Begriff des modernen Ich:
"Ich denke, also bin ich (cogito ergo sum), das ist nicht nur die Formel, in der
sich, auf dem historischen Gipfel einer Reflexion auf die Bedingungen von
Wissenschaft, die Verbindung zur Transparenz des transzendentalen Subjekts
von seiner existentiellen Bejahung her konstituiert. Vielleicht bin ich nur
Objekt und Mechanismus [...], sicher aber insofern ich das denke, bin ich –
absolut. Ohne Zweifel haben die Philosophen hier wichtige Korrekturen
angebracht, namentlich daß in dem, was denkt (cogitans), ich mich immer nur
als Objekt (cogitatum) konstituiere. Bleibt, daß durch diese extreme
Läuterung des transzendentalen Subjekts meine existentielle Bindung an
seinen Entwurf unumstößlich scheint zumindest in der Form seiner Aktualität,
und daß 'cogito ergo sum' ubi cogito, ibi sum über jeden Einwand erhaben
ist."TPF
2FPT
TP
1PT Siehe zur Debatte der Antiken und Modernen H. R. Jauß, Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee
in der sogenannten 'Querelle des Anciens et des Modernes', in: H. Kuhn / F. Wiedmann (Hg.), Die
Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964, S. 51ff.
TP
2PT J. Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unterbewußtsein oder die Vernunft seit Freud, in: ders.,
Schriften II, N. Haas (Hg.), Olten, Freiburg 1975, S. 41f.
6
Das transzendentale Ich Kants, welcher die von Descartes gestellte Subjektfrage in der
Form des reinsten absoluten Selbstbewußtseins erneut behandelt, besteht in der Struktur
der Selbstbeziehung des Subjekts: Das Ich bezieht sich auf sich als Objekt zurück, um
sich wie in einem Spiegelbild, d. h. 'spekulativ', zu ergreifen.TPF
3FPT Es ist wohl bekannt, daß
Kant diesen reflexionsphilosophischen Gesichtspunkt seinen drei Kritiken zugrundelegt.
Der Geltungsanspruch auf eine Sache soll daher nun nur vor dem obersten Gericht der
Vernunft gerechtfertigt werden. Nachdem die vereinheitlichende Macht der
metaphysischen Substanz, wie z. B. des Einen bei Plotinus oder Gottes bei den
christlichen Philosophen, vergangen ist, wird jedes Vermögen der Erkenntnis, der
moralischen Praxis sowie des ästhetischen Urteils in der Moderne auf eigene
Fundamente gestellt, ohne eine inhaltliche Einheit zwischen diesen Bereichen zu
schaffen, und dadurch versichert sich die kritisierende Vernunft nicht nur ihres eigenen
subjektiven Vermögens, sondern sie übernimmt auch die Rolle eines obersten Richters
gegenüber der Kultur im ganzen.
Auch Hegel sieht "das Große unserer Zeit"TPF
4FPT in dem Prinzip der Subjektivität. Diesem
Prinzip folgen nach seiner Deutung alle Erscheinungen der Moderne wie z. B. die
Religion, die Moral, die Kunst und die Wissenschaft etc.
Neben den Philosophien des deutschen klassischen Idealismus scheinen aber auch fast
alle gegenwärtigen 'modischen' Philosophien, seien es die radikalen Vernunftkritiker
oder die Verteidiger der modernen Vernunft, damit einverstanden zu sein, daß die
Moderne vom Prinzip der Subjektivität beherrscht wird. Heidegger zum Beispiel, einer
der radikalen Subjektivitätskritiker, bestreitet nicht, daß die Subjektivität zum Prinzip
der Moderne erhoben wurde und zur absolut gewissen Grundlage aller Vorstellungen
wurde; mit dem Prinzip der Subjektivität verwandelt sich das Seiende im Ganzen in die
subjektive Welt und die Wahrheit in subjektive Gewißheit. Die Neuzeit bestimmt sich
dadurch, "daß der Mensch Maß und Mitte des Seienden wird. Der Mensch ist das allem
Seienden, d. h. neuzeitlich aller Vergegenständlichung und Vorstellbarkeit
TP
3PT Habermas nennt den Versuch, den Ursprung des Bewußtseins im Selbstbewußtsein oder in der
Subjektivität zu finden und das Selbstbewußtsein mit dem Ich gleichzusetzen, den 'Mentalismus'. Mit
dem Mentalismus meint er zunächst die Bewußtseins- bzw. Subjektsphilosophie seit Descartes. Siehe J.
Habermas, Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück, in: ders., Wahrheit und
Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999, S. 186ff.
TP
4PT G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: ders., Werke in zwanzig
Bänden, E. Moldenhauer / K. M. Michel (Hg.), Frankfurt/M. 1986 (= TW), Bd. 20, S. 329.
7
Zugrundeliegende, das subjectum."TPF
5FPT Auch für Foucault ist die Subjektivität das zentrale
Prinzip der Moderne. Er betrachtet in einer historischen Untersuchung den als das
Subjekt angesehenen Menschen bloß als eine Erfindung der modernen Zeit, "deren
junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das
baldige Ende."TPF
6FPT Der Mensch als das Subjekt ist nach ihm keine ursprüngliche Kategorie
der Philosophie, sondern nur eine Erfindung.
Die Moderne wird also als eine Zeit betrachtet, die von der Subjektivität, dem
Selbstbewußtsein, der Reflexion oder der Vernunft etc. bestimmt wird. Die Subjektivität
oder die sich auf sich selbst beziehende Vernunft, die mit der Emanzipation von
mythischer, theologischer und metaphysischer Weltbetrachtung in den Vordergrund tritt,
übernimmt die Aufgabe der Synthetisierung von allen gegebenen Objekten oder die der
Weltdeutung, und allein auf Basis dieser Vernunft wird die Freiheit des Menschen und
dessen Fortschritt garantiert. Anders gesagt, die moderne subjektive Vernunft verbreitet
den aufklärerischen Glauben, daß nur die auf der Vernunft beruhenden Urteile und
Handlungen die Triebfedern des Fortschrittes sind, mit denen man eine glückliche
Zukunft und eine emanzipierte Gesellschaft erreichen kann. Und dieser Glauben schien
durch den modernen Rationalisierungsvorgang erfüllt werden zu können, der sich in
dem sogenannten 'Projekt der Aufklärung' entwickeln sollte. Dies ergibt sich daraus,
daß die enorme Entwicklung der Technologie, die auf die 'erkenntnistheoretische
Rationalität' angewiesen ist, den Menschen von der Natur emanzipiert und ihn
gleichzeitig ökonomisch-materiell reicher gemacht hat als je zuvor.
Aber das Problem ist hier, daß parallel zu diesem beeindruckenden technischen
Fortschritt heutzutage viele sozialpathologische Erscheinungen entstanden sind, die das
Leben des Menschen selbst gefährden, wie z. B. die ökologische Krise, die Furcht vor
militärischen Zerstörungspotentialen, Kernkraftwerken, Atommüll sowie
Genmanipulation etc. Diese negativen Seiten der Modernisierung stellen sich der
ursprünglichen Idee der Aufklärung entgegen, die auf eine Gesellschaft der vom
Zustand des Unwissens befreiten, reifen Menschen abzielt. Das Projekt der Aufklärung,
das in der Emanzipation des Menschen von aller Art der Unterdrückung mit Hilfe der
Rationalität besteht, sperrte den Menschen aber letztlich erneut in ein neues
Unterdrückungssystem ein. Dieses Herrschaftssystem ist nichts anderes, wie M. Jay
TP
5PT M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, Pfullingen 1989, S. 61.
TP
6PT M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1971.
S. 462.
8
schreibt, als "eine säkularisierte Version der religiösen Überzeugung, Gott sei es, der die
Welt beherrsche."TPF
7FPT Aus dieser Sicht formuliert er das paradoxe Resultat der
Modernisierung wie folgt:
"Trotz ihres Anspruchs, die Mythen hervorbringende Verwirrung durch die
Einführung rationaler Analyse überwunden zu haben, war die Aufklärung
selbst einem neuen Mythos zum Opfer gefallen." TPF
8FPT
Das Problem der Modernität ruft heutzutage eine philosophische Reflexion gegenüber
diesen historisch-gesellschaftlichen pathologischen Erscheinungen hervor.TPF
9FPT Im Kern der
gegenwärtigen Kritik an der Modernität liegt der Begriff der Subjektivität oder der
subjektiven Vernunft. Horkheimer und Adorno drücken z. B. in ihrem gemeinsamen
Werk Dialektik der Aufklärung die große Sorge um den in der Zeit des Faschismus in
Europa, des Totalitarismus in der Sowjetunion und der Massenkultur u. a. in
Nordamerika erscheinenden Untergang der 'wahren klassischen Solidarität' aus und
bezeichnen die Aufklärung in dieser Hinsicht als 'Massenbetrug'.TPF
10FPT Ihnen zufolge steht
die Neigung der Massen zum Gehorsam in der Gegenwart in engem Zusammenhang mit
der Herrschafts- oder Unterdrückungsstruktur, die in der von der instrumentalen
I. Fetscher, Aufklärung über Aufklärung, in: A. Honneth / T. McCarthy / C. Offe / A. Wellmer (Hg.),
Zwischenbetrachtungen, Frankfurt/M. 1989, S. 668. 2. Die postmoderne Position (Odo Marquard) spricht
von der Toleranz gegenüber allen kulturellen Besonderheiten, weil die Geisteswissenschaften nichts mit
den Erkenntnisansprüchen "im Sinne der Theoriebildung, ja des argumentativ erzielten Konsenses" zu tun
haben, sondern als Beruhigungs- und Entspannungsmittel funktionieren. I. Fetscher, a.a.O., S. 669. 3. Die
Kritische und kommunikative Theorie (besonders bei Habermas): Anders als die zweite Position geht
Habermas davon aus, daß die Toleranz gegenüber der Vielheit und die Bereitschaft, den Konsens
erreichen zu wollen, voneinander unterschieden sind. Wenn diese Bereitschaft zum Konsens wirklich
ernst gemeint ist, kann sie sich nach ihm auf die Wahrheit und die Verbindlichkeit von Normen richten.
Habermas sieht die Möglichkeit des ungezwungenen Konsenses in der kommunikativen Vernunft
gegeben, d. h. die kommunikative Vernunft besteht in "der Bereitschaft, sich auf eine symmetrische
50
Geisteswissenschaften von "Erkenntnisansprüchen im Sinne der Theoriebildung, ja des
argumentativ erzielten Konsenses" zu befreien und im Namen einer 'Kultur der
Vieldeutigkeit' die "Toleranz gegenüber allen kulturellen Besonderheiten" gelten zu
lassen.
Habermas geht aber davon aus, daß die Toleranz gegenüber der Differenz niemals den
Verzicht auf die Bereitschaft des Subjekts bedeutet, einen Konsens erreichen zu wollen.
Dennoch kritisiert Habermas die Aufklärung sehr stark. Die aufgeklärte, instrumentelle
Vernunft habe zwar zur Emanzipation der Individuen von der traditionellen Autorität
beigetragen, aber sie sei vielfach zu einem 'neuen Mythos', d. h. zur
Selbstgeschlossenheit der instrumentellen Vernunft, oder zu "einer zur Totalität
aufgespreizten instrumentellen Vernunft"TPF
24FPT geworden. Die auf instrumentelle Vernunft
gestützte Macht ist grenzenlos, so daß Menschen souverän, ohne Rücksicht auf Grenzen
mit der äußeren Natur wie mit der eigenen umgehen können. Aber in dem
Aufklärungsvorgang zeigt sich, daß die Vergrößerung und die Vertiefung von
naturwissenschaftlich-technischen Erkenntnissen, durch welche die Naturbeherrschung
der Menschen erleichtert werden kann, fast nichts mit der Herstellung freier
Lebensbedingungen für Menschen zu tun haben kann.
Es ist allerdings sehr merkwürdig, daß Habermas dort erneut von der Aufklärung spricht,
wo die Idee der Aufklärung völlig gescheitert zu sein scheint. Er fordert, daß "eine
bornierte Aufklärung über sich selbst aufgeklärt werden muß".TPF
25FPT Denn die Aufklärung
ist, wie die Moderne, nichts anderes als eine Tätigkeit der Selbsterneuerung. In einem
Interview sagt er folgendes:
''Es geht um die Frage, [...] ob sich [...] das Projekt einer Befreiung aus
selbstverschuldeter Unmündigkeit schon definitiv erledigt hat.''TPF
26FPT
Dies deutet an, daß er den Geist der Aufklärung und deren Wirklichkeit voneinander
unterscheidet und jenen erneut ins Leben zurückrufen will; die Wirklichkeit der
Aufklärung scheint ins 'Meer der Kontingenzen' zu fallen, in dem das Projekt der
Aufklärung, das in der Suche nach einer vernünftigen Einheit besteht, völlig vernichtet Diskurs-Teilhabe an der auf diesem Wege erreichbaren konsensuellen Findung von Normen einzulassen".
I. Fetscher, a.a.O., S. 670.
TP
24PT NU, S. 134.
TP
25PT J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988 (=ND), S. 135.
TP
26PT NU, S. 134.
51
werden könnte. Aber es gibt gar keinen Grund, daß man den Geist der Aufklärung
aufgeben muß. Den Geist der Aufklärung findet Habermas vor allem bei Kant, der von
vielen Modernitätskritikern als die Person angesehen wird, die für ''eine bornierte
Aufklärung'' verantwortlich sei. Auch die gerade oben zitierte Aussage von Habermas
hat ihre Quelle in einer berühmten Schrift von Kant Beantwortung der Frage: Was ist
Aufklärung? von 1784.
''Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes
ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese
Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstandes,
sondern der Entschließung des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines
anderen zu bedienen. Sapere aude! Hab Mut, dich deines eigenen
Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.''TPF
27FPT
Außerdem schließt Kant in einem anderen Aufsatz von 1796 diese Aufklärung an das
'Selbstdenken' an.
''Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.
i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu
denken, ist die Aufklärung.''TPF
28FPT
Es ist hier auffällig, daß Kant die Aufklärung sowohl an den 'Mut' für die Befreiung aus
der selbstverschuldeten Unmündigkeit als auch an das 'Selbstdenken' anschließt. Dies
zeigt, daß Kant die Aufklärung nicht bloß in dem reinen Denken, d. h. in der 'res
cogitans', ansiedelt, sondern daß er auch den konkreten Menschen berücksichtigt.TPF
29FPT Die
negativen Erscheinungen in der Realität deuten nach diesem Gedanken lediglich darauf
hin, daß die Menschen noch in der Unmündigkeit geblieben sind und insofern ihre
Selbstreflexion, d. h. der Aufklärungsvorgang weitergeführt werden kann und soll. TP
27PT I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: ders., Ausgewählte kleine Schriften,
Hamburg 1969, S. 1. Hervorhebung im Original.
TP
28PT I. Kant, Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1796), in; ders., Ausgewählte kleine Schriften, a.a.O.,
S. 26. Hervorhebung im Original.
TP
29PT Diese Interpretation verdankt sich der oben behandelten Abhandlung von I. Fetscher. Siehe besonders I.
Fetscher, Aufklärung über Aufklärung, a.a.O., S. 654.
52
Habermas nimmt diesen Gedanken Kants als den Geist der Aufklärung auf, d. h. er geht
in diesem Zusammenhang davon aus, daß die Grundfrage einer sich selbst
vergewissernden Moderne unter den veränderten Bedingungen der Gegenwart
wiederholt werden soll.TPF
30FPT In dieser Hinsicht interpretiert er die Aufklärung nicht als eine
sich innerhalb der reinen Vernunft bewegende, sondern als eine den konkreten
gesellschaftlichen Zustand reflektierende Tätigkeit. Es handelt sich bei der Aufklärung
nach Habermas um die wechselseitige Beziehung zwischen der konkreten Wirklichkeit
der Menschen und der transzendentalen Fähigkeit der Vernunft. Habermas konkretisiert
diese Vorstellung in dem Ausdruck 'schwache Transzendentalität' oder 'Halb-
Transzendenz'. Diese Begriffe deuten an, daß sich die Aufgabe von Aufklärung und
vernünftigem Selbstdenken mit dem Wandel des Selbstverständnisses des Menschen,
mit der Erweiterung des Wissens 'über uns selbst' ändern können muß.
In der Frage nach der Aufklärung ist der Kern der Habermasschen Kritik an Kant, daß
dieser den Geist der Aufklärung nicht gründlich entwickelt habe. Obwohl 'der Ausgang
des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit' auf das konkrete Leben des
Menschen hinweist, endet Kant mit dem Selbstbezug der reinen Vernunft, der sich
später zur instrumentellen Vernunft im Sinne der Geschlossenheit der Vernunft und
daher deren Diktatur entwickeln wird. Zwischen intelligibler und empirischer Welt, mit
der alten metaphysischen Sprache gesagt, zwischen Form und Inhalt, liegt ein
unüberbrückbares transzendentales Gefälle. Der empirische Inhalt läßt sich durch die
vernünftige Form nicht erfassen und die intelligible Welt wird nur innerhalb des
Selbstbezugs der reinen Vernunft begriffen. "Dem transzendentalen Denken ging es um
einen festen Bestand an Formen, zu dem es erkennbare Alternativen nicht gibt."TPF
31FPT Hier
gibt es keine letzte Instanz, einer vernünftigen Einsicht eine reale Geltung zu
garantieren.
Was Habermas hier vorhat, ist folglich, diese getrennten Welten in eine Einheit zu
bringen, d. h. die reale Gültigkeit einer vernünftigen Einsicht zu rekonstruieren. Um
diese Aufgabe zu erfüllen entwickelt er die Theorie des kommunikativen Handelns, die
auf der im engen Zusammenhang mit der Analyse der Umgangssprache stehenden
kommunikativen Vernunft basiert. Die kommunikative Vernunft darf deswegen weder
eine transzendentale Vernunft sein, die, da sie sich nur auf sich bezieht, keine wirkliche
Verbindlichkeit hat, noch darf sie eine bloße Fähigkeit des Menschen sein, die keinen
TP
30PT Vgl. NU, S. 131.
TP
31PT J. Habermas, Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen, in: ND, S. 179.
53
Bezug zur Realität ermöglicht. Sie ist vielmehr so beschaffen, daß sie sich auf ihr
Anderes, d. h. auf die Realität bezieht.
Habermas sieht in dem Phänomen der Sprache eine Möglichkeit einer derartigen
Vernunft, die sich auf die gegenseitige Verständigung richtet. Der Ausgangspunkt
seiner Theorie ist die Intuition, "daß in sprachliche Kommunikation ein Telos von
gegenseitiger Verständigung eingebaut ist."TPF
32FPT Und er sagt in gleicher Hinsicht: "[...] für
alles, was innerhalb sprachlich strukturierter Lebensformen Geltung beansprucht, bilden
die Strukturen möglicher Verständigung ein Nicht-Hintergehbares."TPF
33FPT Er ist also der
Meinung, daß das Projekt der Aufklärung, das alles der vernünftigen Prüfung unterwirft,
durch die sprachliche Wende ermöglicht wird.
Habermas ist hierbei von der Sprechakttheorie beeinflußt, die davon ausgeht, daß man,
um eine Sache oder Äußerung besser zu verstehen, nicht nur die Analyse der als wahr
oder falsch zu beurteilenden Propositionen behandeln, sondern auch die
Sprechsituationen berücksichtigen muß. Der Sprachpragmatik zufolge versteht man
einen Sprechakt, wenn man weiß, was ihn akzeptabel macht. Die Akzeptabilität wird
bei der Sprachpragmatik nicht im objektivistischen Sinne aus der Perspektive eines
Beobachters definiert, sondern aus der performativen Einstellung der
Kommunikationsteilnehmer.
Habermas übernimmt von dieser Theorie vor allem die Aufteilung der Sprechakte in
einen propositionalen Inhalt und eine performative Kraft.TPF
34FPT Jener steht in der Beziehung
auf Sachverhalte und kann mit Hilfe der klassischen Wahrheitssemantik als wahr oder
falsch beurteilt werden. Aber die performative Komponente, wie sie sich in der Form
von Befehlen, Aufforderungen, Behauptungen und Versprechen etc. zeigt, ist
unmittelbar auf die Kommunikation bezogen. Sie richtet sich an einen Adressaten und
konstituiert zwischen ihm und dem Sprecher eine kommunikative Beziehung. Ein
Sprecher sagt mit einem Sprechakt nicht nur etwas über etwas aus, sondern er
verdeutlicht zugleich auf einer kommunikativen Ebene den Status oder den
kommunikativen Modus seiner Äußerung. Er verdeutlicht gegenüber einem Ko-Subjekt,
ob er beispielsweise den propositionalen Inhalt als wahr behauptet oder ihn bestreitet,
ob er vom Adressaten fordert, daß dieser den Sachverhalt verwirklicht (Befehl,
TP
32PT J. Habermas, Dialektik der Rationalisierung, in: NU, S. 173.
TP
33PT ND. 179f.
TP
34PT Die nähere Betrachtung befindet sich in dem IV. Kapitel dieser Arbeit.
54
Aufforderung) oder selbst dafür einsteht, daß der genannte Sachverhalt zustande kommt
(Versprechen).
Habermas versucht diesen kommunikativen, prinzipiell hörerbezogenen Aspekt
sprachlicher Äußerungen terminologisch mit dem Begriff eines Geltungsanspruches
(auf die Wahrheit des propositionalen Bestandteils, die Rechtmäßigkeit der gewählten
illokutionären Rolle und die Wahrhaftigkeit seiner Äußerung) auszudrücken. So
verstanden ist der Sprechakt eine Art Angebot an den Hörer, der dieses akzeptieren oder
hinsichtlich der diversen Geltungsansprüche zurückweisen kann. Die performative
Komponente hat auch etwas mit den Möglichkeiten eines Einverständnisses zwischen
dem Sprecher und dem Hörer zu tun. Mit der Äußerung verdeutlicht der Sprecher
zugleich, auf welche Weise er mit dem Hörer ein Einverständnis über etwas erzielen
möchte, das durch den propositionalen Inhalt spezifiziert wird.
In der Sprechakttheorie sieht Habermas also die Möglichkeit einer rationalen
Verbindung zwischen empirischer und vernünftiger Wirklichkeit, mit seinen Worten,
eine Möglichkeit eines 'unverkürzten Begriffs der Vernunft', d. h. der Weiterführung des
ursprünglichen Projekts der Aufklärung. Dieser Theorie zufolge begleiten einerseits alle
wirklichen Aussagen die kommunikativ-vernünftigen Anforderungen der
entsprechenden Geltungsansprüche, und andererseits bewegt sich die Kommunikation
immer um das rational motivierte Einverständnis des Sprechers und des Hörers. Mit
anderen Worten, es geht bei dem Sprechakt nicht um die Subjektivität, sondern um die
Intersubjektivität.
In diesem Sinne nennt Habermas den Begriff der kommunikativen Vernunft "einen
schwachen, aber nicht defaitistischen Begriff sprachlich verkörperter Vernunft."TPF
35FPT Und
vom traditionellen 'emphatischen Vernunftbegriff' aus betrachtet, nach dem das Subjekt
die "Arbeit der weltbildenden Synthesis" leisten muß, TPF
36FPT erscheint nach Habermas die
kommunikative Vernunft sogar als eine 'skeptische' Vernunft. Den Grund dafür, daß er
diesen 'emphatischen Vernunftbegriff' strikt ablehnt, gibt er im folgenden Zitat an:
"Eine Theorie, die uns die Erreichbarkeit eines Vernunftideals vorgaukelt,
würde hinter das von Kant erreichte Argumentationsniveau zurückfallen."TPF
37FPT
TP
35PT ND, S. 182.
TP
36PT Ebd.
TP
37PT A.a.O., S. 184.
55
Die Aufklärung hat längst in den Ideen der Emanzipation, d. h. des selbstbewußten
Lebens, der authentischen Selbstverwirklichung und der Autonomie seinen Ausdruck
gefunden. Die Theorie des kommunikativen Handelns, die er mit der sprachlichen
Wende erreicht hat, faßt Habermas mit Blick auf das Projekt der Aufklärung im
Folgenden zusammen:
''Aus der Analyse notwendiger Bedingungen von Verständigung überhaupt
läßt sich wenigstens die Idee einer unversehrten Intersubjektivität
entwickeln, die eine zwanglose Verständigung der Individuen im Umgang
miteinander ebenso ermöglichen würde wie die Identität eines sich
zwanglos mit sich selbst verständigenden Individuums. Unversehrte
Intersubjektivität ist der Vorschein von symmetrischen Verhältnissen freier
reziproker Anerkennung. Diese Idee darf aber nicht zur Totalität einer
versöhnten Lebensform ausgemalt und als Utopie in die Zukunft geworfen
werden; sie enthält nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die formale
Charakterisierung notwendiger Bedingungen für nicht antizipierbare
Formen eines nicht-verfehlten Lebens.''TPF
38FPT
TP
38PT A.a.O., S. 185f.
56
3. Die Auseinandersetzung mit der subjektivistischen Vernunft
Habermas geht, wie die meisten Aufklärungskritiker, davon aus, daß die Bewußtseins-
oder Subjektsphilosophie für die autoritären Züge einer 'bornierten Aufklärung'
verantwortlich ist. Die moderne Subjektivität, die als das sich auf sich beziehende
Subjekt bezeichnet wird, wird nur um den Preis der Objektivierung der äußeren wie der
eigenen inneren Natur gewonnen. Die Subsumtion eines Objekts unter das Subjekt ist
aber nichts anderes als ein Ausdruck eines überzogenen idealistischen Anspruches, der
in einer 'Selbstüberforderung und Hypostasierung' der Vernunft besteht. Denn die
Selbstbeziehung des Subjekts wird durch den ständigen Angriff der Objektivität gegen
das Subjekt entweder bezweifelt oder negiert. Gerade deswegen begreift Habermas die
Idee der modernen Subjektivität als eine "tiefgreifende Selbstillusionierung" der
Vernunft.TPF
39FPT
''Weil sich das Subjekt im Erkennen und Handeln, nach außen wie nach
innen, stets auf Objekte beziehen muß, macht es sich noch in den Akten, die
Selbsterkenntnis und Autonomie sichern sollen, zugleich undurchsichtig und
abhängig. Diese in die Struktur der Selbstbeziehung eingebaute Schranke
bleibt im Prozeß der Bewußtwerdung unbewußt. Daraus entspringt die
Tendenz zur Selbstverherrlichung und zur Illusionierung, d. h. zur
Verabsolutierung der jeweiligen Stufe der Reflexion und der
Emanzipation.''TPF
40FPT
Die 'tiefgreifende Selbstillusionierung' der bewußtseinsphilosophischen Vernunft besagt
also, daß diese trotz ihrer emanzipatorischen Befreiung von der substantiellen Autorität
am Ende paradoxerweise mit der Produktion einer anderen Autorität endet, die eine
'unangreifbarere Herrschaft der Rationalität' feststellt. Daraus ergibt sich, daß das
Projekt der Aufklärung durch das subjektphilosophische Paradigma nicht erreicht
werden kann trotz der Umdeutung und Erweiterung des Begriffs der Subjektivität bei
den Verteidigern der modernen Vernunft, wie z. B. bei D. Henrich, L. Ferry und M.
Frank. Aus diesem Grund bezweifelt Habermas, daß es möglich sei, vom Prinzip der
Subjektivität Maßstäbe gewinnen zu können, "die der modernen Welt entnommen sind TP
39PT PDM, S. 70.
TP
40PT Ebd.
57
und gleichzeitig zur Orientierung in ihr, das heißt aber auch zur Kritik einer mit sich
selbst zerfallenen Moderne taugen".TPF
41FPT
Von daher ergibt sich für Habermas, der das Projekt der Emanzipation durch den
vernünftigen Diskurs weiter führen will, die schwierige philosophische Aufgabe, von
der Autonomie des Subjekts zu sprechen und gleichzeitig die Tatsache des Objektes
nicht zu negieren. Diese Aufgabe bezieht sich, sozialphilosophisch gesagt, auf die Frage,
wie es möglich ist, daß wir uns zugleich als selbstbewußte und autonom handelnde
Individuen denken können und uns doch eingebunden wissen in eine Form der
Gesellschaft, die gerade diese Entwicklung erst ermöglicht. Es ist also für Habermas vor
allem notwendig, die 'Begriffszwänge der Subjektsphilosophie' zu entschärfen, denen
das Subjekt wegen ihres Schemas der Trennung von Subjekt und Objekt begegnet.
Anders gesagt, der Ausgangspunkt seiner philosophischen Aufgabe ist die
Auseinandersetzung mit der Bewußtseinsphilosophie. Es geht nun darum zu sehen,
welche Inhalte diese Philosophie hat.
Das Problem der modernen Philosophie liegt nach Habermas darin, daß sich die
moderne Subjektivität trotz ihrer ursprünglichen Begrenztheit zum Prinzip der absoluten
Einheit erhebt. Es handelt sich deswegen z. B. bei dem modernen erkennenden Subjekt
um den Versuch, im Bewußtsein seiner endlichen Kräfte unendliche Kraft zu erlangen,
wie Kant in seiner Erkenntnistheorie zeige, welche in der Umdeutung des endlichen
Erkenntnisvermögens zu transzendentalen Bedingungen einer ins Unendliche
fortschreitenden Erkenntnis bestehe.TPF
42FPT Habermas sieht eine typische Form des Begriffs
der Subjektivität in der Fichteschen Philosophie verwirklicht, deren Ausgangspunkt das
Sich-Setzen des absoluten Ich ist: Das Ich wird seiner selbst nur habhaft und setzt sich
selbst, ''indem es […] ein Nicht-Ich setzt und dieses als das vom Ich Gesetzte
schrittweise einzuholen versucht.''TPF
43FPT Habermas bezieht diesen Akt des vermittelten Sich-
Setzens auf drei verschiedene Aspekte, die von der Idee der Subjektivität bestimmt
werden: den Prozeß der Selbsterkenntnis, den Vorgang der Bewußtwerdung und den
TP
41PT A.a.O., S. 31.
TP
42PT Habermas zitiert die folgende Aussage von Dreyfus und Rabinow über die Aporie der modernen
Subjektivität: "Modernity begins with the incredible and ultimately unworkable idea of a being who is
sovereign precisely of being enslaved, a being whose very finitude allows him to take the place of God." J.
Habermas, a.a.O., S. 307.
TP
43PT A.a.O., S. 308.
58
Bildungsprozeß, also auf das Selbstbewußtsein, die Selbstbestimmung und die
Selbstverwirklichung.TPF
44FPT
Seine Kritik an der Subjektsphilosophie fokussiert sich daher auf diese drei Aspekte der
Subjektivität, die wegen des Schemas der Trennung von Subjekt und Objekt die drei
entsprechenden Gegensätze mit sich bringen. Habermas benennt die jenen Aspekten der
Subjektivität entsprechenden Gegensätze wie folgt: Der Gegensatz besteht 1) zwischen
dem Transzendentalen und Empirischen, 2) zwischen dem reflexiven Akt des
Bewußtmachens und dem reflexiv Uneinholbaren, Unvordenklichen, und 3) zwischen
dem apriorischen Perfekt eines immer schon vorausliegenden Ursprungs und dem
adventistischen Futur der noch ausstehenden Wiederkehr des Ursprungs.TPF
45FPT
1) Eine Illusion der Subjektphilosophie besteht in der Annahme, daß alle Gegenstände
objektiviert werden können. Diese Illusion resultiert daraus, daß die Subjektphilosophie,
sei es in der Erkenntnistheorie oder in der Praxis, vom Paradigma der Erkenntnis von
Gegenständen ausgeht, das als Denkmodell der Trennung von Subjekt und Objekt
bezeichnet wird. Das erkennende Subjekt objektiviert sich selbst sowie die Entitäten in
der Welt, also alles, was ihm begegnet. Das bedeutet, daß das Subjekt als "das
beherrschende Gegenüber zur Welt im ganzen"TPF
46FPT betrachtet wird in dem Sinne, daß es
dem Gegenstand die Objektivität verleiht.
Das Problem ist hierbei, daß das Subjekt auch sich selbst objektiviert. Das Subjekt ist
hier nichts anderes als eine in der Welt 'vorkommende Entität'. Anders gesagt, in dieser
objektivierenden Einstellung erscheint das erkennende Subjekt nicht nur als eine
transzendentale Kraft, die die Erfahrung ermöglicht, sondern auch als ein bloßes Objekt
in der Welt. Das Subjekt wird also als Schöpfer der Objekte einerseits und als ein
Objekt in der Welt andererseits behandelt. Daher ist es bei der Subjektphilosophie eine
der wichtigsten philosophischen Aufgaben, das Verhältnis zwischen objektiviertem oder
empirischem und transzendentalem Subjekt zu klären.
Die Kritik von Habermas an der objektivierenden Einstellung ist, daß bei dem
erkennenden Subjekt eine unversöhnbare Verdoppelung "zwischen der extramundanen
Stellung des transzendentalen und der innerweltlichen des empirischen Ich" TPF
47FPT
unvermeidbar und darüber hinaus eine Vermittlung dazwischen nicht möglich ist.
TP
44PT Ebd.
TP
45PT A.a.O., S. 307f.
TP
46PT A.a.O., S. 347.
TP
47PT Ebd.
59
Dieser Gedanke geht davon aus, daß das Subjekt niemals eine Stellung des reinen
Beobachters, d. h. eine extramundane Stellung, haben kann, insofern es in der
Lebenswelt lebt, der es sich nicht entziehen kann.
Nach Habermas ist der einzige Weg, dieses Problem zu vermeiden, der
Paradigmenwechsel von der Erkenntnis von Gegenständen zur Verständigung zwischen
sprach- und handlungsfähigen Subjekten. Das sprech-handelnde Subjekt hat die
Perspektive der Beteiligten, die dadurch entsteht, daß diese auf die Handlungen und
Äußerungen ihrer Kommunikationspartner reagieren. Hier geht es also um die
performative Einstellung von Interaktionsteilnehmern, die durch die Koordinierung
ihrer Handlungspläne die intersubjektive Verständigung über etwas in der Welt suchen.
Die Interaktionsteilnehmer können während einer konkreten Beteiligung an einem
Diskurs bestimmte transzendentale Regel rekonstruieren, die von allen Subjekten
befolgt werden sollen.
Die performative Einstellung konkretisiert sich nach Habermas vor allem in den
rekonstruktiven Wissenschaften, in denen gelungene oder verzerrte Äußerungen von
Beteiligten an Interaktionen analysiert werden und dadurch das vortheoretische
Regelwissen von Subjekten explizit wird, während die objektivierende Einstellung in
der intuitiven Analyse des Selbstbewußtseins besteht. Habermas sieht u. a. in dem
genetischen Strukturalismus von Jean Piaget ein gutes Beispiel für die rekonstruktive
Wissenschaft. Nach Habermas kann die rekonstruktive und empirische Annahme in eine
Theorie zusammengefügt werden.TPF
48FPT Bei solchen Rekonstruktionsversuchen handelt es
sich also nicht mehr um "ein Reich des Intelligiblen jenseits der Erscheinungen",
sondern um "das tatsächlich praktizierte Regelwissen, das sich in den regelrecht
generierten Äußerungen niederschlägt."TP
F
49FPT Von daher entsteht hier keine ontologische
Trennung zwischen Transzendentalem und Empirischem.
2) Eine andere Illusion der Subjektphilosophie ist, daß das erkannte Objekt vollständig,
klar und deutlich im Bewußtsein vorhanden sein könne. Der Grund dieser Illusion liegt
in dem Wunsch des erkennenden Subjekts, alles nur dunkel Erkannte in vollständig
Begriffenes zu verwandeln. Es ist allerdings fraglich, ob ein reflexiv nicht aufklärbares,
immer schon gegebenes Sein vollständig transparent ins Bewußtsein übergehen kann.
Die Psychoanalyse Freuds beschäftigt sich mit dieser Frage: Dieser vertritt nicht nur die
TP
48PT Vgl. J. Habermas, Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaften, in: ders., Moralbewußtsein und
kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, 29ff.
TP
49PT PDM, S. 348.
60
These, daß das undurchsichtige Unbewußte niemals vollständig ins klare Bewußtsein
gehoben werden kann, sondern er behauptet auch, daß das Bewußtsein sogar nur eine
'Eisbergspitze' des Unbewußten sei. Die Psychoanalyse dreht daher das traditionelle
Verhältnis zwischen dem Bewußtsein und dem Unbewußten um.
Für Habermas ist die Psychoanalyse ein gutes Beispiel, das zeigt, daß die
Subjektphilosophie nicht umhinkann, in ein Spannungsverhältnis zwischen dem
Bewußten und dem Unbewußten zu geraten:
"Hier schwankt […] das subjektphilosophische Denken hin und her
zwischen der heroischen Anstrengung, An-Sich-Seiendes reflexiv in Für-
Sich-Seiendes zu verwandeln, und der Anerkennung eines opaken
Hintergrundes, der sich der Transparenz des Selbstbewußtseins hartnäckig
entzieht."TPF
50FPT
Von daher besteht für die Subjektphilosophie ein unauflösbarer Gegensatz zwischen
'Selbsttransparenz und Opazität'. Wenn man akzeptiert, daß die Subjektphilosophie
dieses Problem nicht lösen kann, muß man, besonders wenn man die Aufklärung
verteidigen will, auf die Frage antworten, wie man 'den opaken Hintergrund' anerkennen
und gleichzeitig mit dem Licht der Vernunft erhellen kann.
Habermas geht hier wieder vom Verständigungsparadigma aus, durch das allein die
Vermittlung zwischen beiden Faktoren möglich ist. Die Verständigung zwischen den
Interaktionsteilnehmern geht innerhalb des Horizonts ihrer gemeinsamen Lebenswelt
vonstatten, der sie z. B. bei ihren Interpretationsanstrengungen konsentierte
Deutungsmuster entnehmen. Die Lebenswelt dient den Beteiligten mal als kultureller
Wissensvorrat, aus dem sie 'konsensfähige Interpretationen' gewinnen können, mal als
gesellschaftliche legitime Ordnung, in der sie eine Solidarität mit anderen erfahren
können, und mal als persönliche Kompetenz, ihre Identität behaupten zu können. So
bleibt die Lebenswelt den Teilnehmern als "ein intuitiv gewußter, unproblematischer
und unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken" TPF
51FPT und kann daher nicht
thematisiert werden. Aus der Interaktionsperspektive erscheint jedes beteiligte Subjekt
nicht mehr als der mit Hilfe zurechenbarer Handlungen Situationen bewältigende
Urheber, sondern als das Produkt der kulturellen Überlieferungen, der solidarischen
TP
50PT Ebd.
TP
51PT Ebd.
61
Gruppen sowie der persönlichen Sozialisationsprozesse.TPF
52FPT Die Lebenswelt ist für
Habermas nichts anderes als ein anderer Name für den opaken Hintergrund der
Interaktionen der sprech-handelnden Subjekte. Habermas bewahrt den Gedanken des
Unbewußten Freuds gerade in dem Begriff der Lebenswelt, in der sich die
Interaktionsteilnehmer bewegen.
Aber Habermas darf als Verteidiger des Projektes der Aufklärung bei diesem Resultat
nicht stehen bleiben, wenn er wirklich von einer Autonomie des Subjekts sprechen will.
Er lernt von der Psychoanalyse, wie die Selbstkritik die Autonomie eines Subjekts
wiederherstellen kann. Die Psychoanalyse zielt auf die Wiedergewinnung der
Selbständigkeit des Patienten ab. Dieser hebt durch die analytischen Gespräche mit dem
Arzt seine Pseudonatur unbewußt motivierter Wahrnehmungsschranken und
Handlungszwängen auf und gewinnt dadurch die Fähigkeit der Selbstkritik. Habermas
geht davon aus, daß, obwohl das Subjekt einerseits Produkt der Lebenswelt ist, es
andererseits die Reflexionsfähigkeit hat, gegebene Situation zu transzendieren. Die
Reflexion bedeutet hier daher nicht die vorsprachlich-einsame Reflexion des sich
objektivierend auf sich beziehenden Erkenntnissubjekts, sondern die Selbstbeziehung
des sprech-handelnden Subjekts, das sich im argumentativen Diskurs mit anderen auf
sich selbst bezieht. Daher richtet sich diese Reflexion immer nur gegen einzelne
Situationen, nicht gegen die Lebenswelt im Ganzen. Anders gesagt, die kommunikative
Reflexion ist eine Fähigkeit des Subjekts, bei jedem konkreten Diskurs bestimmte
Geltungen in Anspruch zu nehmen, die hier und jetzt erhoben werden und trotzdem
jeden lokalen Kontext transzendieren müssen, um das koordinationswirksame
Einverständnis der Interaktionsteilnehmer zu tragen. Dies bedeutet, daß die Beteiligten
an einer Argumentation wechselseitig Bedingungen einer idealen Sprechsituation
hinreichend erfüllen, jedoch gleichzeitig von den ausgeblendeten Motiven und
Handlungszwängen niemals vollständig abstrahieren können.
Habermas ist also der Meinung, daß innerhalb des intersubjektiven
Verständigungsparadigmas die subjektphilosophische Aporie zwischen Opazität und
Transparenz des Subjekts nicht entsteht. Anders als "hybride Theorien" der
Subjektphilosophie, "die Widersprüche gewaltsam auflösen",TPF
53FPT gibt es bei Habermas
nur eine rationale Nachkonstruktion und eine methodisch durchgeführte Selbstkritik.
Jene "verschreibt sich dem Programm des Bewußtmachens, richtet sich aber auf
TP
52PT A.a.O., S. 349.
TP
53PT A.a.O., S. 350.
62
anonyme Regelsysteme und nimmt nicht auf Totalitäten Bezug".TPF
54FPT Demgegenüber
bezieht sich diese "auf Totalitäten, jedoch in dem Bewußtsein, daß sie das Implizite,
Vorprädikative, Nichtaktuelle des lebensweltlichen Hintergrundes niemals ganz wird
aufklären können."TPF
55FPT
3) Die letzte Illusion der Subjektphilosophie, die Habermas kritisch behandelt, ist die
Idee einer causa sui in dem Sinne, daß das Subjekt in Bezug auf seine Handlungen und
in Bezug auf die Geschichte als eine ursprünglich schöpferische Kraft aufgefaßt wird.
Nach dieser Idee verursacht das Subjekt die Geschichte bewußt und absichtsvoll, d. h.
die Geschichte ist nichts anderes als ein Prozeß der Selbsterzeugung (sei es des Geistes
oder der Gattung). Aber die Machttheorie Foucaults z. B., die davon ausgeht, daß die
Geschichte von nicht-subjektiven oder nicht-vernünftigen Kräften bestimmt wird und
daher eine systematische oder einheitliche Auffassung über sie nicht möglich ist, stellt
die Rolle des Subjekts in Frage. Hier stellt sich die Frage, ob das Subjekt ein
ursprünglich schöpferischer Aktor ist oder ob es nur von fremden Kräften abhängig ist.
Habermas ist in diesem Zusammenhang der Meinung, daß die Subjektphilosophie den
Gegensatz von 'Ursprünglichkeit und Abhängigkeit' des Subjekts nicht auflösen kann.
Anders gesagt, sie schwankt hin und her "zwischen der Konzeption der Weltgeschichte
als eines Prozesses der Selbsterzeugung [des Subjekts] einerseits und andererseits der
Konzeption eines unvordenklichen Geschicks, das durch die Negativität von Entzug und
Entbindung die Macht des verlorenen Ursprungs fühlbar macht."TPF
56FPT Also ist der
Gegensatz "zwischen der Scylla des Absolutismus und der Charybdis des
Relativismus"TPF
57FPT ein unvermeidliches Schicksal der Subjektphilosophie.
Habermas versucht durch den Paradigmenwechsel zur Verständigung dieses Problem zu
lösen. Die verständigungsorientierte Geschichts- oder Gesellschaftstheorie rekonstruiert
nach ihm nicht nur die Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik, wie dies auch die
Systemtheorie mit dem Konzept des selbstgesteuerten Systems tut; sondern sie bleibt
sich darüber hinaus "ihres eigenen Entstehungszusammenhangs und ihres Standortes im
Kontext unserer Gegenwart bewußt."TPF
58FPT Habermas sieht hier also den Grundgedanken
der Geschichts- oder Gesellschaftstheorie in der gewaltlosen Einheit der Totalität und
der Besonderheit. TP
54PT Ebd.
TP
55PT Ebd.
TP
56PT A.a.O., S. 351.
TP
57PT Ebd.
TP
58PT Ebd.
63
64
4. Die Auseinandersetzung mit den radikalen Vernunftkritikern
Habermas' Bemühung, das Projekt der Aufklärung weiterzuführen, wird auch in seiner
Auseinandersetzung mit den radikalen Vernunftkritikern deutlich. Seine Kritik an
diesem Denken besteht vor allem darin, daß ihre Vernunftkritik nicht nur nicht radikal
genug sei, sondern daß ihre Kritik selbst noch dem bewußtseinsphilosophischen
Paradigma verhaftet bleibe. Sein Buch Der philosophische Diskurs der Moderne (1985)
wurde zunächst vor diesem Hintergrund geschrieben. Seine Kritik an den sogenannten
Postmodernisten ist in der folgenden Aussage zusammengefaßt:
"Jedenfalls können wir nicht a priori den Verdacht von der Hand weisen,
daß sich das postmoderne Denken eine transzendente Stellung bloß anmaßt,
während es den von Hegel zur Geltung gebrachten Voraussetzungen des
Nachdenken' sowie 'kalte Überzeugung' etc. vorkommt, zielt nicht nur auf das
Christentum, sondern stillschweigend auch auf die Vernunftreligion Kants.
Kant und der junge Hegel sind sich darin einig, daß die Fehler der christlichen Religion
in einer "unerlaubten Verallgemeinerung eines Besonderen" liegt,TPF
21FPT d. h. beim
Christentum in dem Glauben an eine Person, Christus, nicht an das Allgemeine. Aber
TP
19PT Vgl. W. Kaufmann, Kant und die Religion, in: ders., Hegel. A Reinterpretation, Garden City, New
York 1978.
TP
20PT Es herrscht in der Forschung Einigkeit darüber, daß der Berner Hegel (1793-96) auf der Linie des
strengen Kantianismus stand und der Frankfurter Hegel (1797-1800) dagegen als ein starker Kantgegner
angesehen wird. Als Beweis dafür wird angeführt, daß jener das Wesen der Religion in der Moralität sah,
während dieser von der Idee des Lebens ausging. Aus dieser Perspektive wird ein radikaler Bruch
zwischen dem Berner und dem Frankfurter Hegel behauptet. Siehe M. Bondeli, Vom Kantianismus zur
Kantkritik. Der junge Hegel in Bern und Frankfurt, in: M. Bondeli / H. Linneweber-Lammerskitten (Hg.),
Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit, München 1999, S. 31-51. Es scheint mir
allerdings viel plausibler zu sein, daß Hegel auch in seiner Berner Zeit, wie oben angedeutet, eine
umfassendere Vernunftidee im Sinn hatte als Kant. Denn es darf nicht übersehen werden, daß nicht nur
Kant, sondern auch Hölderlin, Goethe, Schiller etc. einen großen Einfluß auf den jungen Hegel ausgeübt
haben. Zu dieser Problematik siehe das I. Kapitel von W. Kaufmann, Hegel. A Reinterpretation, a.a.O.
TP
21PT R. Finelli, Mythos und Kritik der Formen, a.a.O., S. 89.
88
während Kant von der Möglichkeit spricht, durch die Trennung der moralischen Lehre
Jesu von der Person Jesu selbst bzw. durch die Entpersonalisierung des christlichen
Glaubens diese Religion in eine Moralreligion umzuwandeln, geht Hegel nicht von
dieser Möglichkeit aus. Aber noch wichtiger als dieser konkrete Unterschied zwischen
ihnen ist, daß Kant den Bereich der Religion oder Moral von dem des Staates
unterscheidet und jenen über diesen stellt, da es sich bei jenem Bereich um die
Selbstbestimmung des Subjekts handelt, die die Selbständigkeit der Vernunft bedeutet.
Im Gegensatz dazu kritisiert Hegel die Privatisierung der Religion als einen Verfall und
als positiv.
Dieser Unterschied zwischen Kant und Hegel hat nach Lukács seinen Grund in der
Verschiedenheit des Subjektbegriffs TPF
22FPT; während es bei jenem um den Begriff des
einzelnen Subjekts geht, geht es bei diesem um den des kollektiven Subjekts (z. B. Volk,
Staat, Gemeinschaft etc.). Aus diesen unterschiedlichen Vorstellungen des Subjekts läßt
sich erklären, warum Hegel kein Interesse für die Lehre vom radikal Bösen entwickelt
hat, die einen Kern der Moralphilosophie Kants ausmacht. Für Kant ist die äußere
Freiheit des Menschen nichts anderes als die "Unabhängigkeit von eines anderen
nötigender Willkür".TPF
23FPT Die innere Freiheit besteht darin, daß der Mensch, sofern er als
moralisches Wesen dem Befehl der praktischen Vernunft folgt, frei ist. Im Gegensatz
dazu bedeutet das Nachgeben des Willens gegenüber einem sinnlichen Reiz, anders
gesagt, die Unterordnung der moralischen Ordnung der Beweggründe unter den
Beweggrund der Eigenliebe und ihrer Neigungen für ihn nichts anderes als die
Ablehnung der Freiheit. Gerade in der Möglichkeit, die Ordnung der Beweggründe zu
verkehren, also in der formal-transzendentalen Bedingung der Verwirklichung jeder
unmoralischer Tatsache, liegt der Hang zum Bösen. Kant betrachtet also dieses Böse als
einen angeborenen und natürlichen Hang des Menschen, von der Befolgung des
Moralgesetzes abzusehen.
TP
22PT Lukács sagt in diesem Kontext folgendes: "Wir müssen aber darauf aufmerksam machen, daß das
Subjekt, das Hegel eigentlich meint, nicht mit dem Kantischen moralischen Subjekt identisch ist; es ist
vielmehr stets etwas Gesellschaftlich-Geschichtliches. […] Denn der Inhalt seiner Konzeption […] ist der
Zusammenfall von moralischer Autonomie des einzelnen Subjekts mit der demokratischen Kollektivität
des ganzen Volkes." G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 53. In demselben Sinne betont Günter Schulte,
daß "das Rätsel der singulären und unauffindbaren Subjektivität" bei Kant entscheidend sei. G. Schulte,
Immanuel Kant, Frankfurt/M. 1991, S. 10.
TP
23PT I. Kant, Die drei Kritiken in ihrem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk, zsgf. von R. Schmidt,
Stuttgart 1975, S. 392.
89
Dagegen vertritt Hegel, wie Rousseau, die Meinung, daß das Böse nicht im Inneren bzw.
in der Natur der Menschen wohnt, sondern vor allem von den politischen und
kulturellen Einrichtungen hervorgerufen wird, welche falsche Autoritäten und
Hierarchien erzeugen.TPF
24FPT Dieser Gedanke ergibt sich eben daraus, daß er sich nicht nur
auf den einzelnen Menschen als Subjekt, sondern vielmehr auf ein Volk als Ganzes
bezieht. Er betrachtet also das Böse nicht als anthropologisches oder psychisches
Element, sondern als gesellschaftliches und historisches Phänomen. Dies bedeutet, daß
er das Problem nicht in der Wahl zwischen dem Bösen und dem Guten, zwischen der
Willkür und der sie transzendierenden Fähigkeit der Vernunft sieht, sondern in den
geschichtlichen Ereignissen eines Volkes. Dies ist der Grund, warum Hegel den
historischen Vorgang untersucht, wie ein politisches, kulturelles System objektiviert
worden ist, bzw. wie eine positive Autorität (z. B. einer Religion) entstanden ist.TPF
25FPT
Von daher ist es nicht einfach, den jungen Hegel in der Kantischen Tradition zu
deuten.TPF
26FPT Ein Grund dafür liegt m. E. darin, daß der Ausgangspunkt des Denkens des
jungen Hegel sein Interesse an der politisch-gesellschaftlichen Reform oder an der
Revolution war und nicht ein Interesse an der reinen Philosophie. Es ist bekannt, daß
sich Hegel für die Französische Revolution sehr begeistert und zeit seines Lebens mit
TP
24PT Rousseau geht davon aus, daß das Böse im Menschen nicht dieselbe Substanz ist und deswegen nicht
denselben Wert hat, wie die 'natürliche Güte'. Es gehört nicht zum Wesen des Menschen, sondern nur zu
seinen möglichen Beziehungen in der Gesellschaft und in der Geschichte. Jean-Jacques Rousseau, Lettere
a C. de Beaumont, in: Euveres complètes, Paris 1964, IV, S. 967. Siehe zu den verschiedenen Aspekten
des Verhältnisses zwischen Rousseau und Hegel H.F. Fulda / R.-P. Horstmann (Hg.), Rousseau, die
Revolution und der junge Hegel, Stuttgart 1991.
TP
25PT Hegel behandelt dieses Thema besonders in dem Fragment Unterschied zwischen griechischer
Phantasie und christlicher positiver Religion von 1796: "Die Verdrängung der heidnischen Religion
durch die christliche ist eine von den wunderbaren Revolutionen, deren Ursachen aufzusuchen den
denkenden Geschichtsforscher beschäftigen muß. Den grossen, in die Augen fallenden Revolutionen muß
vorher eine stille, geheime Revolution in dem Geiste des Zeitalters vorausgegangen seyn, die nicht jedem
Auge sichtbar, am wenigsten für die Zeitgenossen beobachtbar und ebenso schwer mit Worten
darzustellen, als aufzufaßen ist. Die Unbekanntschaft mit diesen Revolutionen in der Geisterwelt macht
dann das Resultat anstaunen." G. W. F. Hegel, GW, Bd.1, S. 365f.
TP
26PT Nach Semplici hat der junge Hegel trotz seiner Kantischen Überzeugungen wegen seiner Erkenntnis
des radikalen Bösen schon in seiner frühen Zeit eine Rousseausche Neigung: "Mit der Zurückweisung der
Theorie des radikalen Bösen nähert sich Hegels Jesus mehr der Profession als der Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft an". S. Semplici, Das Leben Jesu und das Problem des Bösen: Kant oder
Rousseau?, in: H.F. Fulda / R.-P. Horstmann (Hg.), Rousseau, die Revolution und der junge Hegel, a.a.O.,
S. 139.
90
ihrer philosophischen Deutung beschäftigt hat.TPF
27FPT Der junge Hegel hat in dieser
Revolution den Anfang des realen Endes der christlichen dualistischen Welt einerseits
und die Möglichkeit der Verwirklichung des aufklärisch-demokratischen Ideals
andererseits gesehen. Aus diesem Grund hat er, wie gesagt, die Überwindung des
Christentums als ersten Schritt für sein wissenschaftliches Ziel angesehen. Seine Kritik
am Christentum zeichnet sich daher durch die bewußte Übereinstimmung mit allen
Lehren aus, die sich im Rahmen des Säkularisierungsprozesses mit der christlichen
Religion auseinandergesetzt haben. Dies zeigt sich darin, daß seine alternativen
Religionsbegriffe, wie z. B. 'Volksreligion'TPF
28FPT, 'Vernunft- oder Moralreligion', 'natürliche
Religion' sowie 'schöne Religion', trotz ihrer verschiedenen philosophischen Kontexte
für ihn jeweils nur als andere Namen für die subjektive Religion fungieren, die im
Gegensatz zur objektiven oder positiven Religion steht.TPF
29FPT Hegel nimmt also zu dieser
Zeit die bereits weit fortgeschrittene ausdifferenzierte Entwicklung der Säkularisierung
TP
27PT Die Äußerungen der Hegelforscher über das Verhältnis des jungen Hegel zur Französischen Revolution
sind folgende: Lukács geht davon aus, daß die "tiefste Quelle" seiner Ablehnung der positiven Religion in
"seiner Begeisterung für die Revolution" liege, Hegels Gedanken sich "auf der Grundlage der
Entwicklungen der Französischen Revolution" entwickelt hätten und er "sein ganzes Leben lang
unerschütterlich an dem Gedanken der historischen Notwendigkeit dieser Revolution" festgehalten habe.
G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., S. 44f. Nach Ritter ist Hegels Philosophie "bis in ihre innersten
Antriebe hinein Philosophie der Revolution". J. Ritter, Hegel und die Französische Revolution, in: ders.,
Metaphysik und Politik, Frankfurt/M. 1977, S. 209. Habermas zufolge hat Hegel "die Revolution zum
Prinzip seiner Philosophie" erhoben. J. Habermas, Hegels Kritik der Französischen Revolution, in: ders.,
Theorie und Praxis, Frankfurt/M. 1971, S. 128. Pöggeler sieht Hegels "System als die entscheidende
Antwort auf die Revolution" an. J. Pöggeler, philosophie und revolution beim jungen hegel, in:
Enciclopedia 72, Arti Grafice Marchesi-Roma 1971, S. 229.
TP
28PT Herder versucht den starren Gegensatz zwischen natürlicher und positiver Religion zu überwinden. Die
wahre reformierte Religion müsse sowohl eine natürliche Religion als auch eine Völkerreligion und eine
Religion der Erfahrung sein. Siehe W. Jaeschke, Religion, in: HWPh, Bd. 8, Sp. 673ff.
TP
29PT Der Begriff der 'Volksreligion' stammt insbesondere aus der Herderschen, der der 'Vernunftreligion' aus
der Kantischen, der der 'natürlichen Religion' aus der Rousseauschen und der der 'schönen Religion' aus
der Schillerschen Religionsphilosophie. Dies ist der Grund, warum es nicht einfach ist, zu entscheiden, in
welcher philosophischen Tradition Hegel steht. Während man ihn häufig in die rationalistische Tradition
eingeordnet, deutet ihn z. B. N. Hartmann vor dem Hintergrund einer irrationalistischen Tradition: "Man
könnte hier mit vollem Recht von einer tiefen Irrationalität der Hegelschen Begriffe sprechen. […], so
könnte man mit größerem Recht vom Irrationalismus sprechen als von seinem Rationalismus." N.
Hartmann, Die Philosophie des Deutschen Idealismus, Berlin, New York 1974, S. 255. R. Kroner geht
noch viel weiter, wenn er schreibt: "Hegel ist ohne Zweifel der größte Irrationalist, den die Geschichte der
Philosophie kennt." R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, Tübingen 1977, S. 271.
91
der Religion nicht ausreichend zur Kenntnis, wohingegen Kant der Säkularisierung der
Religion eine entgültig rationalistische Form (Vernunftreligion) gegeben hat.
In seiner weiteren philosophischen Entwicklung wird jedoch seine Position
differenzierter. Es ist daher kein Zufall, daß er zunächst auch die Kantische
Moralphilosophie überwinden wollte. In seiner Frankfurter Zeit setzt er sich nicht nur
mit dem Christentum, sondern auch zum ersten Mal ausdrücklich mit der Kantischen
Philosophie auseinander.
1.1.2. Die Kritik an der positiven Moralphilosophie Kants
In seiner Frankfurter Schrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1798/1800)
zielt Hegel auf eine grundsätzliche Kritik an dem Christentum, da es dessen Schicksal
sei, keine wahre Einheit des Lebens erreichen zu können. Außerdem setzt er sich an
vielen Stellen dieser Schrift bewußt mit der Kantischen Ethik auseinander und kommt
zu dem Schluß, daß diese sogar dem Christentum unterlegen sei. Die Kantische Ethik
war zu seiner Zeit einer der wichtigsten philosophischen Diskurse, und sie ist nach
Hegel die Aufhebung des Christentums. Hegel versucht in dieser Schrift den Geist
dieser Ethik und deren Wesen zu erfassen.
Hegel hält das Judentum für eine Urform der Positivität insofern, als es die moralische
Autonomie des Subjekts vollständig vernichte und sich nur um die Kategorie der
Legalität bewege, die in der "Befolgung des Buchstabens des Gesezes"TPF
30FPT besteht. Kant
ersetzt diese Kategorie durch den Begriff der Moralität, um die Selbstbestimmung des
Subjekts wiederherstellen zu können. Hegel fragt sich aber, ob die Kantische Moralität
eine Beendigung der Legalität sein kann. Diese Kritik geht von dem Gedanken aus, daß
die Kantische Ethik bloß ein Spiegel ihrer Zeit sei, die sich durch den atomistischen
Individualismus auszeichne, der für Hegel ein Symbol der entzweiten Gesellschaft ist.
Mit anderen Worten bestätigt auch die Kantische Moralphilosophie diese Entzweiung
und erhebt sie sogar zum Prinzip der Philosophie.
Mit welchen Punkten der Kantischen Ethik setzt sich Hegel auseinander? Kant
entwickelt den kategorischen Imperativ, das höchste Moralgesetz, indem er das
Urteilskriterium für die moralische Rechtfertigung in der Vereinbarkeit der
Handlungsmaximen der einzelnen Menschen findet. Er konstruiert also in der rein
geistigen Sphäre des kategorischen Imperativs "ein Idealbild der modernen
TP
30PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 284.
92
Gesellschaft",TPF
31FPT in dem die bedingungslose Hingabe an die geistige, nicht mehr der
Welt der Phänomene angehörende Pflicht konfliktfrei und harmonisch funktioniert. Alle
Gegensätze und Widersprüche in der modernen Gesellschaft reduzieren sich nun auf
den Gegensatz des sinnlichen und des moralischen Menschen, des 'homo phaenomenon'
und 'homo noumenon'. Wenn das Leben des Menschen vollkommen den Forderungen
des Sittengesetzes entsprechen würde, würde es in der Gesellschaft keinerlei Konflikte
oder Widersprüche geben. Die philosophische Konzeption dieser moralischen Sphäre
wird nur dadurch möglich, daß alle moralischen Probleme der modernen Gesellschaft in
formale Forderungen der praktischen Vernunft umgewandelt werden. Dieser Gedanke
setzt die Allgemeinheit der Moral voraus, die für Kant das Hinausgehen des Sollens
oder des Befehls der praktischen Vernunft über das individuelle und zufällige
Bewußtsein bedeutet.
Aber nach Hegel drücke die Kantische Ethik nichts anderes aus als eine gewaltsame
Herrschaft einer leeren und abstrakten Allgemeinheit gegenüber der alltäglichen
Erfahrung des Individuums, weil jene Allgemeinheit, die nur innerhalb des Bereichs des
von der Wirklichkeit abstrahierten Denkens möglich ist, sich auch in der Realität
durchsetzen wolle. Das Thema der Kollisionen der Pflichten zeigt dieses Problem sehr
deutlich. Kant spricht von einer harmonischen Welt, in der der Widerstreit der Pflichten
nicht entsteht:
"Ein Widerstreit der Pflichten [...] würde das Verhältnis derselben sein,
durch welches eine derselben die andere [ganz oder zum Teil] aufhöbe. - Da
aber Pflicht und Verbindlichkeit überhaupt Begriffe sind, welche die
objektive praktische Notwendigkeit gewisser Handlungen ausdrücken und
zwei einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich notwendig sein
können, sondern, wenn nach einer derselben zu handeln es Pflicht ist, so ist
nach der entgegengesetzten zu handeln nicht allein keine Pflicht, sondern
sogar pflichtwidrig: so ist eine Kollision von Pflichten und
Verbindlichkeiten gar nicht denkbar."TPF
32FPT
TP
31PT Siehe zur 'ethischen Gesellschaft' Kants I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
Vernunft, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1990, S. 101ff.
TP
32PT I. Kant: Metaphysik der Sitten, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1959, S. 27. Ähnlich äußert sich auch
Fichte zu dieser Frage. Er betrachtet das Problem konkreter als Kant, indem er nicht mehr von einer
Kollision der Pflichten überhaupt, sondern von der Kollision zwischen den Verpflichtungen der
Menschen sich selbst und anderen gegenüber spricht. Es ist aber ersichtlich, daß dies nur eine etwas
93
Hegel hält die Kantische Moralphilosophie, die nur innerhalb des rein geistigen
Gebietes gilt und daher nicht auf den realen Widerstreit der Pflichten antworten kann,
für eine formalistische Morallehre. Er steht dagegen in der Denktradition, die die
Unumgänglichkeit der gesellschaftlichen Konflikte anerkennt und sogar diese als
Beweggründe des Lebens ansieht. Er betrachtet die formalistische Morallehre Kants als
eine Degradierung der realen Notwendigkeit zu einer Zufälligkeit.TPF
33FPT Hegel geht also
davon aus, daß die wirklichen Forderungen der Moral einander widerstreiten können
und daher der Widerspruch in der Gesellschaft oder der Widerstreit zwischen Menschen
als substantiell anerkannt werden muß.
Den Moralisten, der nicht nur die lebendige Wirklichkeit nicht erklären kann, sondern
sie versteinert, nennt Hegel den spekulativen Moralist, dessen Eigenschaften er wie
folgt beschreibt:
"Der spekulative Moralist […] macht eine philosophische Beschreibung der
Tugend, - seine Beschreibung muß deduziert, es muß [in] ihr kein
Widerspruch sein; eine Beschreibung einer Sache ist immer die vorgestellte
andere Formulierung desselben Problems ist, und Fichte gelangt dabei sachlich zu genau demselben
Resultat wie Kant: "Es ist kein Widerstreit zwischen der Freiheit vernünftiger Wesen überhaupt: d. h. es
widerspricht sich nicht, daß mehrere in derselben Sinneswelt frei seien. [...] Ein Widerstreit nicht
zwischen dem Freisein überhaupt, sondern zwischen bestimmten freien Handlungen vernünftiger Wesen
entsteht nur dadurch, daß einer seine Freiheit rechts- und pflichtwidrig, zur Unterdrückung der Freiheit
eines anderen gebrauche." J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der
Wissenschaftslehre (1798), Hamburg 1963, §24, S. 297.
TP
33PT Aus diesem Grund ist die Auffassung von Lukács über die Positionsdifferenz zwischen Kant und Hegel
m. E. völlig richtig: "Der Gegensatz zwischen Kant und Hegel besteht [...] darin, daß Kant die
gesellschaftlichen Inhalte der Moral ununtersucht läßt, sie ohne historische Kritik hinnimmt und aus den
formalen Kriterien des Pflichtbegriffs, aus der Übereinstimmung des Inhalts des Imperativs mit sich
selbst die moralischen Forderungen abzuleiten versucht, während für Hegel jede einzelne moralische
Forderung nur einen Teil, nur ein Moment eines lebendigen, sich in ständiger Bewegung befindlichen
gesellschaftlichen Ganzen bildet. Für Kant stehen also die einzelnen Gebote der Moral isoliert
nebeneinander, als angeblich zwingende logische Folgen eines einheitlichen überhistorischen und
übergesellschaftlichen Vernunftprinzips; für Hegel sind sie Momente eines dialektischen Prozesses, die in
diesem Prozeß miteinander in Widerspruch geraten, durch das lebendige Wechselspiel dieser
Widersprüche einander gegenseitig aufheben, im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung absterben
oder in veränderter Form und mit verändertem Inhalt wieder auftauchen." G. Lukács, Der junge Hegel,
a.a.O., S. 207f.
94
Sache; hält er diese Vorstellung, den Begriff, an das Lebendige, so sagt er,
das Lebendige soll so sein, - zwischen dem Begriff und der Modifikation
eines Lebendigen soll kein Widerspruch sein als der allein, daß jener ein
Gedachtes, dieses ein Seiendes ist. Eine Tugend in der Spekulation allein ist,
und ist notwendig, d. h. ihr Begriff und das Gegenteil kann nicht sein, es ist
keine Veränderung, kein Erwerb, kein Entstehen, kein Vergehen in ihr als
Begriff; aber dieser Begriff mit dem Lebendigen zusammengehalten soll
sein - die Tugend als Modifikation des Lebendigen ist entweder, oder ist
auch nicht, kann entstehen und vergehen. Der spekulative Moralist kann
sich also wohl hinreißen lassen, in eine warme Betrachtung des
Tugendhaften und des Lasterhaften zu verfallen; aber seine Sache ist
eigentlich nur, mit dem Lebendigen den Krieg [zu] führen, gegen dasselbe
zu polemisieren, oder nur ganz kalt seine Begriffe zu kalkulieren."TPF
34FPT
Das Problem ist, daß der Moralist, wie Kant, jedes gesellschaftliche Verhältnis auf das
Paradigma von Pflichterfüllung oder –verletzung bzw. das gesellschaftliche Leben des
Menschen auf den Kampf des vernunftmäßig Moralischen gegen das bloß Sinnliche
bezieht und daher den Reichtum des Lebens und dessen Vielfältigkeit nicht begreifen
kann.
"Ein Mann, der den Menschen in seiner Ganzheit wiederherstellen wollte,
konnte einen solchen Weg unmöglich einschlagen, der der Zerrissenheit des
Menschen nur einen hartsinnigen Dünkel zugesellt. Im Geiste der Gesetze
handeln konnte ihm nicht heißen, aus Achtung für die Pflicht mit
Widerspruch der Neigungen handeln."TPF
35FPT
Die Moralität Kants, die von der Entgegensetzung zwischen Pflicht und Neigung, dem
Geistigen und dem Sinnlichen oder dem Sollen und dem Sein ausgeht, führt letztlich zur
Herrschaft des ersten über das zweite, d. h. zur "Unterjochung des Einzelnen unter das
Allgemeine" bzw. zum "Sieg des Allgemeinen über sein entgegengesetztes
Einzelnes."TPF
36FPT Bei der Kantischen Ethik ist der Mensch bloß "Sklave gegen einen
TP
34PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 337. Hervorhebung im Original.
TP
35PT A.a.O., S. 324.
TP
36PT G. W. F. Hegel, Grundkonzept zum Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 299.
95
Tyrannen, und zugleich Tyrann gegen Sklaven."TPF
37FPT Insofern sie "die Form des
Gesetzes"TPF
38FPT in sich enthält oder sich von der Herrschaftsstruktur nicht befreit, kann sie
die Positivität nicht überwinden, weil die Gesetze, seien es bürgerliche oder moralische,
"natürliche Beziehungen des Menschen in der Form von Geboten ausdrücken." TPF
39FPT Hegel
widerspricht daher der Kantischen Ethik entschieden:
"Durch diesen Gang ist aber die Positivität nur zum Teil weggenommen [denn
das Pflichtgebot ist eine Allgemeinheit, die dem Besonderen entgegengesetzt
bleibt, und dieses ist das Unterdrückte, wenn sie herrscht. (von Hegel
gestrichen)]; und zwischen dem tungusischen Schamanen […] und dem seinem
Pflichtgebot Gehorchenden ist nicht der Unterschied, daß jene sich zu Knechten
machten, dieser frei wäre; sondern daß jener den Herrn außer sich, dieser aber
den Herrn in sich trägt, zugleich aber sein eigener Knecht ist; für das Besondere,
Triebe, Neigungen, pathologische Liebe, Sinnlichkeit, oder wie man es nennt,
ist das Allgemeine notwendig und ewig ein Fremdes, ein Objektives; es bleibt
eine unzerstörbare Positivität übrig, die vollends dadurch empörend wird, daß
der Inhalt, den das allgemeine Pflichtgebot erhält, eine bestimmte Pflicht, den
Widerspruch eingeschränkt und allgemein zugleich zu sein enthält und um der
Form der Allgemeinheit willen für ihre Einseitigkeit die härtesten Prätentionen
macht. Wehe den menschlichen Beziehungen, die nicht gerade im Begriff der
Pflicht sich finden, der, sowie er nicht bloß der leere Gedanke der
Allgemeinheit ist, sondern in einer Handlung sich darstellen soll, alle anderen
Beziehungen ausschließt oder beherrscht."TPF
40FPT
Die Grenze der Kantischen Ethik liegt also darin, daß diese nicht den lebendigen
Menschen berücksichtigt, sondern die Moral für den lebendigen Menschen zu etwas
Totem macht, indem sie das wirkliche Leben aus der Ethik ausschließt und es durch
lebensfremde Gebote unterjocht, und daß sie den Menschen infolgedessen nur als einen
"Geizigen" behandelt, "der sich immer Mittel zusammenscharrt und bewahrt, ohne je zu
genießen." TPF
41FPT
TP
37PT A.a.O., S. 302.
TP
38PT A.a.O., S. 338.
TP
39PT A.a.O., S. 321.
TP
40PT A.a.O., S. 323.
TP
41PT A.a.O., S. 307f.
96
In der Frankfurter Zeit steht die Auseinandersetzung Hegels mit der Kantischen Ethik,
die in seiner Berner Zeit keine zentrale Rolle gespielt hat, im Vordergrund. Diese auf
die Ethik beschränkte Kritik erweitert sich allerdings in der Jenenser Zeit zu einer
Polemik gegen die Kantische Philosophie überhaupt. Diese Polemik kommt in der
Kritik der sogenannten Reflexionsphilosophie zum Ausdruck, die eigentlich in einer
Zeitkritik besteht.
1.2. Die Kritik des jungen Hegel an der Reflexionsphilosophie
Die Jenaer Schriften Hegels werden in der Gegenwart besonders stark rezipiert, weil sie
systematischer sind als seine früheren Werke und konkreter als seine späteren Werke, so
daß man durch diese Schriften sowohl den historischen Entwicklungsprozeß seiner
Gedanken als auch die Darstellungen des späten Hegels besser verstehen kann.
Besonders wichtig sind Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der
Philosophie (1801), Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der
Subjektivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Kantische, Jacobische und
Fichtesche Philosophie (1802), System der Sittlichkeit (1802/3), Ueber die
wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen
Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschaften (1803) und
Jenenser Systementwürfe I, II (1803/4, 1805/6). In den ersten beiden Schriften, auf die
ich mich hier beschränken werde, übt Hegel eine umfangreiche und systematische
Kritik an der sogenannten Reflexionsphilosophie.
Hegel geht davon aus, daß der Mensch erst mit der Moderne als das aus sich heraus
denkende und handelnde Subjekt auf der Bühne der Geschichte erscheint, d. h. daß
seiner Ansicht nach die Subjektivität in der Moderne zum Prinzip nicht nur der
Philosophie, sondern auch der gesamten Lebenswelt wurde. Die Selbstbeziehung in der
Erkenntnis (Reflexion) und die Selbstbestimmung in dem Handeln (Freiheit) gehören zu
den wesentlichen Bestimmungen der Subjektivität.
Er sieht aber die Grenze der modernen Philosophie in deren erkenntnistheoretischem
Schema. Im Prozeß der Säkularisierung das Erkenntnisvermögen des Menschen zu
untersuchen scheint unentbehrlich zu sein. Die Erkenntnis setzt einerseits die Trennung
von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt voraus. Andererseits ist sie ein
Vermögen, das Objekt ins Subjekt aufzunehmen und dadurch zu bearbeiten und zu
97
'versubjektivieren', d. h. das erkennende Subjekt kehrt in der Reflexion auf ein Objekt
zugleich wieder zu sich zurück. Also handelt es sich beim Erkennen um die absolute
Trennung zwischen Subjekt und Objekt einerseits und um die absolute Abhängigkeit
des Objektes vom Subjekt andererseits. Das erkennende Subjekt ist zwar endlich, da es
außer sich das Objekt hat, aber es verabsolutiert sich selbst in dem Sinne, daß es das
Objekt bearbeitet und subjektiviert. Gerade in dieser erkenntnistheoretischen Wende
besteht das Hauptmerkmal der modernen Philosophie.
Allerdings ist es problematisch, die Erkenntnistheorie zur Philosophie überhaupt zu
erweitern. Der Jenenser Hegel kritisiert diese Erweiterung unter dem Namen der
'Reflexionsphilosophie'. Der Kern seiner Kritik an dieser Philosophie besteht darin, daß
diese, wie die Erkenntnistheorie, nur im 'Vorhof der Philosophie' bleibe, weil sie dem
leeren S-O-Schema verhaftet sei. Von daher ließen sich in ihr die Selbstbeweglichkeit
und die unendliche Geistigkeit des Objektes niemals begreifen.
'Reflexion' ist ein Terminus aus der Optik und meint eigentlich 'zurückbeugen'. Er
wurde später im philosophischen sowie umgangssprachlichen Bereich mit der Metapher
des Sich-Spiegelns, d. h. mit der Selbsterkenntnis und mit dem Selbstbewußtsein,
verbunden.TPF
42FPT Bei der modernen Philosophie, die die Subjektivität als Prinzip hat, geht es
bei der Reflexion um die Struktur der Selbstbeziehung des erkennenden Subjekts, das
sich auf sich als Objekt 'zurückbeugt', um sich wie in einem Spiegelbild zu begreifen.
Das erkennende Subjekt zeichnet sich durch die Selbstverabsolutierung des endlichen
Subjekts aus und kann daher von Natur aus die geistige Unendlichkeit des Gegenstandes
nicht begreifen; vielmehr sieht es im Gegenstand nur eine endliche Dinglichkeit. Dies
bedeutet bei Hegel folgendes:
"Es ist gerade durch ihre Flucht vor dem Endlichen, und das Festseyn der
Subjectivität, wodurch ihr das Schöne zu Dingen überhaupt, der Hayn zu
Hölzern, die Bilder zu Dingen, welche Augen haben und nicht sehen, Ohren, und
nicht hören und, wenn die Ideale nicht in der völlig verständigen Realität
genommen werden können als Klötze und Steine, zu Erdichtungen werden, und
jede Beziehung auf sie als wesenloses Spiel oder als Abhängigkeit von Objecten
und als Aberglauben erscheint."TPF
43FPT
TP
42PT L. Zahn, Reflexion, in: HWPh, Bd. 8, Sp. 396ff.
TP
43PT G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der
Vollständigkeit ihrer Formen, als Katische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in: GW, Bd. 4,
98
Die Reflexionsphilosophie, die ihre Geltung nur im Rahmen der Erkenntnistheorie
haben könnte, besteht daher im 'endlichen Erkennen von Endlichkeiten'. Hegel hält sie
daher für einen "Idealismus des Endlichen",TPF
44FPT der niemals eine lebendige, d. h. geistige
und unendliche Einheit zwischen Subjekt und Objekt bzw. Endlichem und Unendlichem
hervorbringen könne.
Er hält vor allem den subjektiven Idealismus von Kant und Fichte für ein typisches
Muster dieser Philosophie. Subjektiver Idealismus wird, wie auch in der Logik, als eine
Vorstellung definiert, "als ob im Gegenstand nichts sey, was nicht in ihn hineingelegt
werde", so daß man "in der Analyse die Thätigkeit des Erkennens allein für einseitiges
Setzen nimmt, jenseits dessen das Ding-an-sich verborgen bleibt."TPF
45FPT Die Objektivität
der Dinge wird bei Kant nur durch die Kategorien des Verstandes sowie die
Anschauung der Sinnlichkeit, d. h. durch das endliche Subjekt, garantiert. Diese
Vorstellung setzt eine epistemologische Gewißheit voraus, daß das Subjekt der einzige
Schöpfer der phänomenalen Welt ist und diese Welt durch das transzendentale Ich
konstruiert wird; die Erkenntnis wird hier durch die Anwendung der transzendental
bestimmten Schemata auf die Gegenstände erzeugt; die objektive Welt ist nichts
anderes als ein Produkt des Monologs des transzendentalen Subjekts, d. h. ein von der
Selbstbeziehung des Subjekts Hervorgebrachtes. Von daher ist das Objekt für das
Subjekt bloß "ein subjektives Subjektobjekt".TPF
46FPT Die Objekt-Erkenntnis ist letztlich
nichts anderes als die Selbsterkenntnis des Subjekts.
Auch Fichte überwindet nach Hegel den Kantischen Idealismus nicht, weil auch bei ihm
die Einheit der Welt nur innerhalb des reinen Bewußtseins konstituiert wird. Dies drückt
sich nach Hegel bei Fichte so aus, "daß die höchste Synthese, die das System aufzeigt,
ein Sollen ist."TPF
47FPT Das Ich "producirt in dem unendlichen Progreß des verlängerten
Daseyns endlos Theile von sich, aber nicht sich selbst in der Ewigkeit des sich selbst
Jenaer Kritische Schriften, H. Buchner / O. Pöggeler (Hg.), Hamburg 1968, (=Glauben und Wissen) S.
317.
TP
44PT A.a.O., S. 322.
TP
45PT G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, Die subjektive Logik, in: GW, Bd. 12, F. Hoggemann / W.
Jaeschke (Hg.), Hamburg 1981, S. 203.
TP
46PT G. W. F. Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: GW, Bd.
4, a.a.O., (=Differenzschrift), S. 6f.
TP
47PT A.a.O., S. 45.
99
Anschauens als Subjekt-Objekt."TPF
48FPT Das Nicht-Ich bzw. die Natur hängt vollständig von
der Setzung des Ich ab. Das Setzen eines Objekts verwandelt sich aber "in ein - der
freyen Thätigkeit absolut entgegensetztes – sich selbst beschränken."TPF
49FPT Die Natur, die
vom absoluten Ich gesetzt wird, ist bei Fichte nichts anderes als etwas Totes, das keine
eigenen Beweggründe besitzt.
Diese erkenntnistheoretische Struktur liegt auch seiner praktischen Philosophie
zugrunde. Bei der praktisch-philosophischen Antwort auf die Frage nach dem
Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft z. B. erscheint die Gesellschaft nur als ein
Gegenstand, der keine eigenen Beweggründe hat und sogar die Freiheit des Menschen
verhindert, welche ein zentrales Thema seiner Philosophie ist. Für Fichte, der mit dem
Begriff der absoluten Ich-Identität eine 'Philosophie der Freiheit' entwirft, ist die
Freiheit des Menschen außerhalb der Gesellschaft, d. h. nur innerhalb des Willens des
Menschen möglich. Derartige Gesellschaftskonzeptionen, die – wie Fichte – einen
solchen atomistischen Ausgangspunkt haben, kritisiert Hegel wie folgt:TPF
50FPT
"Wenn die Gemeinschaft der Vernunftwesen wesentlich ein Beschränken
der wahren Freyheit wäre, so würde sie an und für sich die höchste
Tyrannei seyn."TPF
51FPT
Bei dem subjektiven Idealismus, dessen Ausgangspunkt das endliche Einzelne als
Subjekt ist, scheint der Kampf zwischen dem die Freiheit suchenden Ich und der sie
beschränkenden Gesellschaft daher unvermeidbar zu sein. Ein solcher Konflikt
zwischen Individuum und Gesellschaft ist nach Hegel eine notwendige Folge, wenn die
moderne Subjektivität zum Prinzip der Philosophie erhoben wird, weil diese "isolierte
Reflexion"TPF
52FPT ein Prinzip der Entzweiung darstellt.
Hegel geht allerdings davon aus, daß die Erhebung der isolierten Reflexion oder der
Subjektivität zum Prinzip der Philosophie Ausdruck einer entzweiten Zeit ist. Er hält die
Subjektivität also nicht nur für das Prinzip des subjektiven Idealismus, sondern auch für
TP
48PT A.a.O., S. 48.
TP
49PT Ebd.
TP
50PT Darin, daß Hegel eine kollektive Gesellschaftskonzeption hat, während Hobbes und Fichte eine
atomistische haben, sieht Honneth einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Positionen. Vgl. A.
Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., besonders das 1. Kapitel.
TP
51PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 55.
TP
52PT A.a.O., S. 16.
100
das der Zeit selbst. Das ist der Grund, warum er sowohl Kant und Fichte als auch Jacobi
als Reflexionsphilosophen angesehen hat.TPF
53FPT Im Gegensatz zu Kant geht Jacobi in der
Erkenntnistheorie weder von einer Priorität der Vernunft oder der Reflexion noch von
einer vernünftigen Begreifbarkeit des Seins aus. Er trennt das Objekt und auch das
Absolute vom Denken oder dem Subjekt und setzt das Absolute jenseits der Reflexion.
Hegel bezeichnet eine solche Trennung als ein zentrales Merkmal der
Reflexionsphilosophie. Also kann eine Versöhnung beider Faktoren auch bei Jacobi
nicht stattfinden. Während es bei Kant und Fichte um eine "nur endliches denkende
Vernunft"TPF
54FPT geht, geht es bei Jacobi um eine Vernunft, die "das Ewige nicht denken
kann".TPF
55FPT Beide sind Ausdruck derselben Denktradition. Also spiegeln die Philosophien
sowohl von Kant und Fichte als auch von Jacobi trotz der Unterschiede im Detail die
damalige Reflexionskultur wider, die den absoluten Gegensatz vom Endlichen und
Unendlichen voraussetzt:
"Es ist also in diesen Philosophieen nichts zu sehen, als die Erhebung der
Reflexions-Cultur zu einem System; eine Cultur des gemeinen
Menschenverstandes, der sich bis zum Denken eines Allgemeinen erhebt, den
unendlichen Begriff aber, weil er gemeiner Verstand bleibt, für absolutes Denken
nimmt und sein sonstiges Anschauen des Ewigen und den unendlichen Begriff
schlechthin auseinander läßt."TPF
56FPT
Die Reflexionskultur ist also bei Hegel nichts anderes als eine Kultur einer entzweiten
Zeit, und die Reflexionsphilosophie ist eine Philosophie, die diese Entzweiung
theoretisch rechtfertigt. Bei dieser Philosophie findet eine wahre Vereinigung des
Gegensatzes niemals statt, weil "das wahrhaft Absolute ein absolutes Jenseits im
Glauben oder im Gefühl und nichts für die erkennende Vernunft" ist.TPF
57FPT Die Kritik an der
Reflexionsphilosophie richtet sich deswegen auch gegen den damaligen Zeitgeist,
TP
53PT Siehe zum Verhältnis des jungen Hegel zu Jacobi H.-J. Gawoll, Glauben und Positivität. Hegels frühes
Verhältnis zu Jacobi, in: M. Bondeli / H. Linneweber-Lammerskitten (Hg.), Hegels Denkentwicklung in
der Berner und Frankfurter Zeit, a.a.O., S. 87-104.
TP
54PT G. W. F. Hegel, Glauben und Wissen, S. 322.
TP
55PT Ebd.
TP
56PT A.a.O., S. 322f.
TP
57PT A.a.O., S. 383.
101
welcher den nicht spekulativen, d. h. der wahren Vereinigung des Gegensatzes
unfähigen Verstand 'bis zum Denken eines Allgemeinen' erhebt.
Indem die Reflexionsphilosophie den Verstand verabsolutiert, erhält die
Mannigfaltigkeit einer in sich zerfallenen Welt "einen objectiven Zusammenhang und
Halt, Substantialität, Vielheit und sogar Wirklichkeit und Möglichkeit", - "eine
objective Bestimmtheit, welche der Mensch hin-sieht und hinauswirft."TPF
58FPT
In der Reflexionskultur, deren Wesen in der Verabsolutierung und Verselbständigung
der zerstörerischen Kraft der Reflexion liegt, sieht Hegel daher eine Verwandlung der
Emanzipation, die das Ziel der Moderne war, in Unfreiheit. Aus diesem Grund nennt
Hegel die reflexionsphilosophische Vereinigung eine 'falsche Identität':
"Eine falsche Identität ist das Kausal-Verhältniß zwischen dem Absoluten
und seiner Erscheinung, denn diesem Verhältniß liegt die absolute
Entgegensetzung zum Grunde. […] die Vereinigung ist gewaltsam, das
eine bekommt das andre unter sich; das eine herrscht, das andre wird
bottmäßig; Die Einheit ist in einer nur relativen Identität erzwungen, die
Identität, die eine absolute seyn soll, ist eine unvollständige."TPF
59FPT
1.3. Die Idee der Lebenstotalität beim jungen Hegel
Für Hegel ist es die einzige Aufgabe der Philosophie, das Absolute zu begreifen. Er geht
davon aus, daß diese Aufgabe durch die moderne Vernunft, den Verstand oder die
isolierte Reflexion nicht erfüllt werden kann, da sie auf dem Geist der Trennung
basieren. Das Absolute darf für ihn nicht jenseits des Endlichen vorhanden sein, weil es
in dem Fall von dem Endlichen begrenzt würde und insofern ein Beschränktes wäre.
Aber es ist gleichzeitig nach der Definition kein Endliches. Es muß daher als das
betrachtet werden, was die Endlichkeit und Unendlichkeit in sich umfaßt.TPF
60FPT Das
Absolute darf allerdings dabei nicht als Substanz oder als Objekt begriffen werden, weil
es sich in diesem Fall in eine Schranke der Bedingtheit setzt. Vielmehr muß es als
TP
58PT A.a.O., S. 330.
TP
59PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 32.
TP
60PT Hegel entwickelt diesen Gedanken in der Logik unter dem Thema von negativer Unendlichkeit und
affirmativer bzw. wahrer Unendlichkeit.
102
Subjekt begriffen werden wie bei Schelling: "Indem ich es als Objekt festhalten will,
tritt es in die Schranken der Bedingtheit zurück. Was Objekt für mich ist, kann nur
erscheinen; sobald es mehr als Erscheinung für mich ist, ist meine Freiheit vernichtet.
[…] Soll ich das Unbedingte realisieren, so muß es aufhören, Objekt für mich zu sein.
Ich muß das Letzte, das allem Existierenden zugrunde liegt, das absolute Sein, das in
jedem Dasein sich offenbart, als identisch mit mir selbst, mit dem Letzten,
Unveränderlichen in mir denken."TPF
61FPT So ist das Absolute identisch mit dem Ich, das
nichts anderes als das sich bewegende Subjekt ist, d. h. sich als Endliches erscheinen
läßt und von daher wieder zu sich zurückkommt. In diesem Punkt stimmt Hegel mit der
Philosophie der Subjektivität überein.
Der junge Hegel findet die jenem Absoluten entsprechende Vorstellung im Begriff des
Lebens. Das Leben gehörte zu seiner Zeit z. B. bei Jacobi, bei Fichte und auch bei
Schelling zu einem der wichtigsten philosophischen Begriffe; bei Jacobi und auch bei
Fichte wird das Leben als Prinzip des Bewußtseins aufgenommen; Schelling versteht
das Leben als die organische Tätigkeit des Lebendigen bzw. der Natur überhaupt. Auch
Hegel geht von einem lebendigen Organismus aus und erweitert den Begriff des Lebens,
so daß er alles Sein im allgemeinen und die Geschichte der menschlichen Gesellschaft
im besonderen umfaßt. Ein Lebewesen besteht als ein Organismus aus verschiedenen
Gliedern. Jedes Glied existiert zwar unabhängig von den anderen Gliedern, aber es trägt
im allgemeinen zum Leben jenes Lebewesens bei. Also besteht das Leben bei Hegel aus
verschiedenen Individuen und besonderen Teilen, deren Sein nur darin liegt, Glieder des
Ganzen zu sein. Ein Lebewesen ist daher nichts anderes als eine unendliche Bewegung,
in der es sich zum Endlichen entwickelt, darin wieder zu sich zurückkehrt und dadurch
bei sich bleibt. Die Bestimmungen des jungen Hegel über das Leben, die aus
widersprüchlich aussehenden Termini zusammengesetzt werden, wie z. B. "der
Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen"TPF
62FPT, "die Vereinigung von Körper
und Geist"TPF
63FPT, "ein unendlich Endliches, ein unbeschränkt Beschränktes"TPF
64FPT sowie "die
Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung"TPF
65FPT etc. spiegeln gerade diesen
Gedanken wider. Hegel wollte, von diesem Charakter des Lebens ausgehend, die
Entwicklung aller Vorgänge des menschlichen Lebens deuten. Er versteht das TP
61PT F. W. J. Schelling, Werke, M. Schröter (Hg.), Jena 1926, Bd. 1, S. 108.
TP
62PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in : TW, Bd. 1, S. 378.
TP
63PT A.a.O., S. 414.
TP
64PT A.a.O., S. 420.
TP
65PT A.a.O., S. 422.
103
menschliche Leben als das, was in den gesellschaftlichen sowie geschichtlichen
Bereichen sich zum Gegenstand macht oder sich entzweit und danach wieder vereinigt.
Das Absolute zu begreifen – das ist seine einzige philosophische Aufgabe – ist daher,
"das Seyn in das Nichtseyn – als Werden, die Entzweyung in das Absolute – als seine
Erscheinung, – das Endliche in das Unendliche – als Leben zu setzen." TPF
66FPT Entzweiung,
welche als Erscheinung des Absoluten verstanden wird, ruft "das Bedürfniß der
Philosophie" TPF
67FPT hervor. In dieser Hinsicht kann und muß der Begriff des Lebens, wie
Kroner sagt, als "das geschichtliche Leben"TPF
68FPT verstanden werden.
Das Begreifen des Lebens verdankt sich nach Hegel der spekulativen Fähigkeit des
Menschen, d. h. der wahren Reflexion bzw. der vereinigenden Vernunft, nicht der
modernen subjektiven Vernunft bzw. der isolierten Reflexion. Die wahre Reflexion
sieht in der wirklichen Entzweiung eine Erscheinung des Absoluten und bezieht sich
daher direkt auf das Absolute. Wenn die erkennende Vernunft dabei eine Fähigkeit wäre,
die stets vollständig von dem Absoluten unterschieden wäre, würden das erkennende
Subjekt und das erkannte Objekt sich unvermittelt gegenüber stehen. Daher dürfen sich
die begreifende Vernunft und das begriffene Absolute nicht voneinander unterscheiden:
"[…] die Reflexion hat als Vernunft Beziehung auf das Absolute, und sie ist
nur Vernunft durch diese Beziehung; die Reflexion vernichtet insofern sich
selbst und alles Seyn und Beschränkte, indem sie es aufs Absolute bezieht;
zugleich aber eben durch seine Beziehung auf das Absolute hat das
Beschränkte ein Bestehen." TPF
69FPT
Aus diesem Grund identifiziert der junge Hegel das Leben mit dem Geist bzw. der
Vernunft: "Das unendliche Leben kann man einen Geist nennen […], denn Geist ist die
lebendige Einheit des Mannigfaltigen […]."TPF
70FPT Also sind für Hegel das Leben und der
Geist nur verschiedene Worte für das Absolute: jenes akzentuiert die objektive Seite des
TP
66PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 16.
TP
67PT A.a.O., S. 14.
TP
68PT R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, a.a.O., S. 145.
TP
69PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 16f.
TP
70PT G. W. F. Hegel, Systemfragment von 1800, in: TW, Bd. 1, S. 421.
104
Absoluten und dieses im Gegenteil dessen subjektive Seite. Von daher ist es
gerechtfetigt, das Absolute Hegels mit dem "Leben des Geistes"TPF
71FPT zu identifizieren.
Die Kritik des jungen Hegel an der Positivität und der Reflexionsphilosophie läßt sich
nun vom Standpunkt des Lebens deuten. Die Positivität, die einer der wichtigsten
kritischen Begriffe des Berner und Frankfurter Hegels ist, bedeutet die Aufhebung der
Subjektivität bzw. der moralischen Autonomie des Subjekts. In dem positiven System
bewegt man sich im Bereich der Legalität und dabei ist eine gesetzliche
Herrschaftsstruktur übermächtig. Außerdem kann auch die Moralität Kants die
Positivität nicht aufheben, weil sie auf der Herrschaft des Sollens gegenüber dem Sein
basiert. Diese Positivität, sei es aus der Legalität oder aus der Moralität, bedeutet vom
Standpunkt des Lebens her nichts anderes als eine Zementierung der Trennung des
Lebens.
In der Frankfurter Zeit wurde das Leben zu einem Hauptgegenstand der Hegelschen
Philosophie. Zu dieser Zeit hat er das Problem der fehlenden Einheit des Lebens
besonders im Zusammenhang mit dem Begriff des 'Schicksals' betrachtet. Hegel sieht z.
B. das Judentum als eine Urform der Positivität an, weil der Geist des Judentums die
Einheit des Lebens zerstört und diese Trennung festschreibt. Hegel versteht die
Trennung des Lebens als die 'Zerreißung des Zusammenlebens' unter den Menschen. In
dieser Hinsicht betrachtet er den Akt Abrahams, der das Schicksal der Juden bestimmte:
"Der erste Akt, durch den Abraham zum Stammvater einer Nation wird, ist
eine Trennung, welche die Bande des Zusammenlebens und der Liebe
zerreißt, das Ganze der Beziehungen, in denen er mit Menschen und Natur
TP
71PT R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 2, a.a.O., S. 145. Allerdings erkennt Hegel nach und nach, daß
'Geist' und 'Leben' kategorisch unterschieden sind. Denn er verwendet immer häufiger statt des
Lebensbegriffs den Begriff des Geistes als Hauptgegenstand seiner Philosophie. Dies bedeutet den
Übergang von seiner frühen romanistischen, lebensphilosophischen Ausrichtung zu einem objektiven
Idealismus. Aber Dilthey hält nach Rodi den Lebensbegriff des jungen Hegel bis zuletzt als eine für seine
Philosophie konstitutive Kategorie fest, um "den Strukturzusammenhang zwischen Selbst und Milieu"
bezeichnen zu können. Anders gesagt, 'Leben' und 'Geist' sind weder austauschbare Begriffe noch
aufeinander reduzierbar: "Dieser Lebensbegriff wird durch den des objektiven Geistes nicht ersetzt,
sondern vielmehr ergänzt, indem die Geschichtlichkeit des Lebenszusammenhanges durch die Teilhabe
des subjektiven Lebens an den Strukturen des überindividuellen 'Mediums von Gemeinsamkeiten' (=
objektiver Geist) dargetan wird." F. Rodi, 'Der Rhythmus des Lebens selbst'. Hegel und Hölderlin in der
Sicht des späten Dilthey, in: ders., Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20.
Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1990, S. 57.
105
bisher gelebt hatte; diese schönen Beziehungen seiner Jugend (Jos. 24, 3)
stieß er von sich."TPF
72FPT
Die jüdische Geschichte sei nichts anderes als ein Vorgang, in welchem der erste Akt
Abrahams auf den ganzen Bereich des Lebens erweitert wurde. Alles, was als die
Eigenschaften des Judentums bezeichnet werden, z. B. die Trennung von Gott und dem
Menschen, den Juden und den anderen Völkern sowie dem Geist und der Natur etc., die
gesetzliche Beziehung zwischen beiden Elementen und die Herrschaftsstruktur, ist nach
Hegel das bloße Resultat des 'Geistes der Trennung' Abrahams. Solch eine tragische
Entwicklung nennt Hegel das 'Schicksal'. Dieser Begriff bezeichnet also eine tragische
Notwendigkeit der Geschichte, welche bei der Zerstörung des Zusammenlebens entsteht,
gegenüber der der Einzelne machtlos ist, und welcher er sich unterwerfen muß.TPF
73FPT Erst
unter dem Gesichtspunkt des Schicksals wird das zerrissene Leben selbst als ein Leben
angesehen, während es in der Hinsicht des Gesetzes nichts anderes als ein 'Nicht-Leben'
ist.TPF
74FPT Hierin liegt der Unterschied zwischen dem Leben und dem Gesetz.
Dieser Gedanke spiegelt wider, daß allein das Leben das sich rein auf sich selbst
beziehende einzige Subjekt ist, das heißt, daß das Leben sogar bei einem starren
positiven System nicht auf die gesetzlichen Beziehungen reduziert werden kann und das
Leben somit über das positive Gesetz hinausgeht. Dies gilt nicht nur für die positive
Religion, welche das Leben nur in legalen Beziehungen betrachtet, sondern auch für die
Kantische Ethik, welche das Leben nach dem Moralgesetz beurteilt. Das Gesetz sollte
nach Hegel als eine 'lebendige Modifikation der Menschennatur' vom Menschen
bestimmt werden und nicht umgekehrt den Menschen bestimmen, das Gesetz sollte zum
Menschen und nicht der Mensch zum Gesetz gehören.TPF
75FPT Dies ist der Grund, warum das
Gesetz von Natur aus notwendig ein positives Element enthält:
"Da sie [s.c. die Gesetze] natürliche Beziehungen des Menschen in der Form
von Geboten ausdrücken, so besteht die Verirrung in Ansehung derselben
darin, wenn sie entweder ganz oder zum Teil objektiv werden. Da Gesetze
Vereinigungen Entgegengesetzter in einem Begriff sind, der sie also als
TP
72PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Judentums, in: TW, Bd. 1, S. 277.
TP
73PT Vgl. Steven B. Smith, Hegels Critique of Liberalism, Chicago 1991, S. 50.
TP
74PT Vgl. Hegel, Der Geist der Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 400.
TP
75PT A.a.O., S. 318.
106
Entgegengesetzte läßt, der Begriff aber selbst in der Entgegensetzung gegen
Wirkliches besteht, so drückt er ein Sollen aus." TPF
76FPT
Das Leben, das in der Form des Gesetzes erscheint, sei es bürgerliches oder moralisches
Gesetz, wird dadurch versteinert. Jenes, das von "einer fremden Macht" stammt,
schränkt "die Entgegensetzung Lebendiger gegen Lebendige" ein, während dieses, das
von einer inneren Macht stammt, "die Entgegensetzung einer Seite, einer Kraft eines
Lebendigen gegen andere Seiten, andere Kräfte eben desselben Lebendigen"
einschränkt.TPF
77FPT Weil sie beide aber trotz dieses Unterschiedes auf der Trennung des
Sollens und des Wirklichen und der daraus entstehenden Herrschaftsstruktur basieren,
enthalten sie von Anfang an den Keim der Positivität in sich.
Hegel erhellt den Unterschied des reinen Lebens vom gesetzlichen Leben vor allem
durch die Analyse der Art und Weise, wie das Phänomen des Verbrechens behandelt
wird. Indem das Gesetz den Verbrecher für die Verletzung des Lebens eines anderen
straft, füllt es sein 'Fehlendes' und seine 'Lücke', welche durch das Verbrechen
entstanden ist.TPF
78FPT Hier erscheinen das Gesetz als Allgemeines und der Verbrecher als
Besonderes, das sich jenem unterwerfen muß. Hegel sagt über die Notwendigkeit der
dem Verbrecher gegebenen Strafe folgendes:
"Die Strafe ist Wirkung eines übertretenen Gesetzes, von dem der Mensch
sich losgesagt hat, aber von welchem er noch abhängt und welchem, weder
der Strafe noch seiner Tat, er nicht entfliehen kann. Denn da [der] Charakter
des Gesetzes Allgemeinheit ist, so hat der Verbrecher zwar die Materie des
Gesetzes zerbrochen, aber die Form, die Allgemeinheit bleibt, und das
Gesetz, über das er Meister geworden zu sein [glaubte], bleibt, erscheint
aber seinem Inhalt nach entgegengesetzt, es hat die Gestalt der dem vorigen
Gesetz widersprechenden Tat; der Inhalt der Tat hat jetzt die Gestalt der
Allgemeinheit und ist Gesetz; diese Verkehrtheit desselben, daß es das
Gegenteil dessen wird, was es vorher war, ist die Strafe - indem sich der
Mensch vom Gesetz losgemacht hat, bleibt er ihm noch untertan; und da das
TP
76PT A.a.O., S. 321.
TP
77PT A.a.O., S. 321f. Hervorhebung im Original.
TP
78PT A.a.O., S. 340.
107
Gesetz als Allgemeines bleibt, so bleibt auch die Tat, denn sie ist das
Besondere."TPF
79FPT
Das Problem ist aber hier nach Hegel, daß die Notwendigkeit des Gesetzes nicht dessen
Anwendungsnotwendigkeit, also nicht eine wirkliche Notwendigkeit, sondern nur eine
begriffliche ist. Das Gesetz setzt die Trennung zwischen dem Begriff und dem
Wirklichen sowie dem Sollen und dem Sein voraus, die niemals aufhebbar ist und daher
keine wahre Einheitskonzeption hervorbringen kann:
"Die Notwendigkeit des Verdienens der Strafe steht fest, aber die Übung der
Gerechtigkeit ist nichts Notwendiges, weil sie als Modifikation eines
Lebendigen auch vergehen, eine andere Modifikation eintreten kann; und so
wird Gerechtigkeit etwas Zufälliges."TPF
80FPT
Der Geist des Gesetzes will zwar das Leben bis in die letzten Teile hinein gesetzlich
bestimmen, um solche Zufälligkeit zu vermeiden, aber das Netz des trockenen Gesetzes
kann die sittliche Totalität des Lebens nicht umfassen. Die Kritik Hegels an Fichte geht
von diesem Hintergrund aus. Fichte, der in seiner Ethik alles zu reglementieren und alle
Regeln aus dem Wesen der Philosophie a priori zu deduzieren versucht, bestimmt sogar,
wie durch Vorschriften die Fälschung von Wechseln und Geld vermieden werden könne,
mit welchem Paß die Menschen versehen sein müssen, wie dieser Paß ausgestellt sein
müsse usw. TPF
81FPT Hegel wertet diese Art und Weise von Fichte, das Handeln sorgsam durch
ein Gesetzbuch zu bestimmen, als einen "Preißcourant"TPF
82FPT ab.
Als einen Gegenbegriff der Strafe, deren Notwendigkeit nur in der Ebene des Rechts
gilt, hat Hegel einen anderen Begriff, nämlich den des Schicksals, mit dem die wirkliche
Notwendigkeit der Strafe erklärt werden kann. Die Strafe als Schicksal ist eine Qual, die
der Verbrecher oder der Schuldner in den realen Lebensvorgängen erleidet. Hegel sieht
das Leben, wie erwähnt, als 'Zusammenleben' an. Er versteht daher die Verletzung des
Lebens oder das Verbrechen als Zerstörung des Zusammenlebens oder der sittlichen TP
79PT A.a.O., S. 341f.
TP
80PT Ebd.
TP
81PT Siehe Hegels Anmerkung 1 in der Differenzschrift, S. 56f.
TP
82PT G. W. F. Hegel, Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der
praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschften, in: GW, Bd. 4, a.a.O.,
(=Naturrechtschrift), S. 449.
108
Prinzipien. Wer das Leben eines anderen vernichtet, verletzt nicht nur das Andere,
sondern auch sich selbst, weil er durch sein Verbrechen das Zusammenleben zerstört, in
dem sein Leben besteht. Daher scheint es unentbehrlich zu sein, daß der Verbrecher
wegen seines Tuns einen Schmerz empfindet: "Vernichtung des Lebens ist nicht ein
Nicht-Sein desselben, sondern seine Trennung, und die Vernichtung besteht darin, daß
es zum Feinde umgeschaffen worden ist."TPF
83FPT Dieser Schmerz ist also Strafe als Schicksal,
d. h. die Strafe, die das Leben sich selbst auferlegt.
Weil dieses Schicksals allerdings ein Schmerz des Lebens selbst ist, der mit dessen
Trennung anfängt oder dadurch entsteht, daß das Leben seine Zerstörung als Trennung
erkennt, ist hierin zugleich eine Möglichkeit für die Wiedervereinigung des Lebens
gegeben. Dieser Gedanke wird in der Jenaer Zeit wie folgt formuliert: "Entzweiung ist
der Quell des Bedürfnisses der Philosophie". TPF
84FPT Z. B. kann die Askese der das
Abschneiden von dem ursprünglichen Leben erkennenden Wallfahrer in dieser Hinsicht
verstanden werden als ein Selbstheilungsprozeß des Lebens, um das zerstörte Leben
wiederherzustellen.TPF
85FPT
Es wird hier klar, daß Hegel eine 'versöhnende Vernunft' entwirft, die sich von der
modernen Vernunft, vom Verstand, unterscheidet, welcher sich nur mit der äußeren
Kausalität der Objekte befaßt und daher keine wahre lebendige Vereinigung des
Gegensatzes zustandebringen kann. Er nennt diese Aufgabe die "Versöhnung des
Schicksals".TPF
86FPT Die 'versöhnende Vernunft' setzt eine Fähigkeit des Subjekts voraus, das
Andere als eine unentbehrliche Bedingung für seine Existenz zu erkennen. Hegel sieht
im Begriff der 'Liebe', die er für die "Blüte des Lebens"TPF
87FPT hält, eine Vorstellung dieser
Vernunft, die sich später zur dialektischen Vernunft bzw. zum Begriff des Geistes
entwickelt. Er sagt in einem Berner Fragment über das Wesen der Liebe:
"die [s.c. Liebe hat] etwas analoges mit der Vernunft insofern - als die
Liebe in anderen Menschen sich selbst findet, oder vielmehr sich selbst
TP
83PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in : TW, Bd. 1, S. 342.
TP
84PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 12. Hervorhebung im Original.
TP
85PT Vgl. G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 345. Hegel hat hier die griechische
Tragödie im Sinn. Der Grund, daß der Protagonist der Tragödie sein Schicksal annimmt, welches "das
Bewußtsein des Bösen, den Schmerz verlängert und vervielfältigt" (ebd.), liegt in seiner Erkenntnis, daß
allein dieser Weg seinen Verlust ersetzen kann. Dies wird in seiner Jenaer Zeit noch deutlicher.
TP
86PT A.a.O., S. 341.
TP
87PT A.a.O., S. 308.
109
vergessend - sich ausser seiner Existenz heraussetzt, gleichsam in andern
lebt, empfindet und thätig ist – so wie die Vernunft als Princip
allgemeingeltender Geseze sich selbst wieder in jedem vernünftigen Wesen
erkennt, als Mitbürgerin einer intelligiblien Welt."TPF
88FPT
Und in der berühmten Schrift Liebe schreibt er wie folgt:
"Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur unter Lebendigen statt,
die an Macht sich gleich und also durchaus füreinander Lebendige, von
keiner Seite gegeneinander Tote sind; sie schließt alle Entgegensetzungen
aus. […]. In der Liebe ist dies Ganze [s.c. die Mannigfaltigkeit des Lebens]
nicht als in der Summe vieler Besonderer, Getrennter enthalten; in ihr findet
sich das Leben selbst, als eine Verdoppelung seiner selbst, und Einigkeit
desselben; das Leben hat, von der unentwickelten Einigkeit aus, durch die
Bildung den Kreis zu einer vollendeten Einigkeit durchlaufen; der
unentwickelten Einigkeit stand die Möglichkeit der Trennung und die Welt
gegenüber; in der Entwicklung produzierte die Reflexion immer mehr
Entgegengesetztes, das im befriedigten Triebe vereinigt wurde, bis sie das
Ganze des Menschen selbst ihm entgegensetzte, bis die Liebe die Reflexion
in völliger Objektlosigkeit aufhebt, dem Entgegensetzten allen Charakter
eines Fremden raubt und das Leben sich selbst ohne weiteren Mangel findet.
In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes,
[sondern] als Einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige."TPF
89FPT
Die Liebe, d. h. das Sich-im-Anderen-Finden drückt eine Bewegung des Subjekts aus,
in der dieses mittels des Anderen zu sich selbst zurückkehrt. In der Liebe ist die
Existenz des Anderen ein notwendiger Teil der Identität des Subjekts. In der Annahme,
daß die Selbstbeziehung des Subjekts nur durch seine Beziehung auf den Anderen
möglich ist, unterscheidet sich Hegel deutlich von der Reflexionsphilosophie, welche
von der Selbstbeziehung des reinen isolierten Subjekts ausgeht.
Es ist zwar in der Forschung noch umstritten, ob der junge Hegel die Liebe als ein Ideal
für die vereinigende Vernunft angesehen hat, da sich neben vielen positiven auch
TP
88PT G. W. F. Hegel, GW, Bd. 1, S. 101.
TP
89PT G. W. F. Hegel, Entwürfe über Religion und Liebe, in: TW, Bd. 1, S. 245f.
110
zahlreiche negative Äußerungen über die Liebe bei Hegel finden, wie z. B. die These
zeigt, daß die Liebe als Gefühl das Problem der Unmittelbarkeit nicht überwinden
könne. Daß er in seinem späteren philosophischen System die Liebe als Einheitsprinzip
der Familie noch unter die verschiedenen sittlichen Gemeinschaften stellt, ist ein
Resultat der Systematisierung seines früheren Denkens. Aber man kann beim jungen
Hegel in dem Begriff der Liebe eine erste Ausprägung der Idee einer vereinigenden
Vernunft erkennen: die Notwendigkeit des Anderen für die Existenz oder für die
Identität des Subjekts wird ausdrücklich anerkannt. Habermas sieht in dieser
Konzeption den ersten philosophischen Versuch, eine Versöhnung der mit sich selbst
zerfallenen Moderne zu leisten, die auch Habermas als seine philosophische Aufgabe
ansieht. In dem folgenden Kapitel soll daher die Auseinandersetzung von Habermas mit
dem jungen Hegel untersucht werden.
111
2. Die Bedeutung des jungen Hegel für die Philosophie von
Habermas
- Eine intersubjektivitätstheoretische Interpretation des Begriffs des Lebens
Es wurde bereits erwähnt, daß Habermas die negativen Begleiterscheinungen der
Moderne als Ausdruck einer Selbstentzweiung der Moderne betrachtet und daß sein
wissenschaftliches Ziel daher "die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen
Moderne"TPF
90FPT ist. Er macht allerdings den sogenannten 'Mentalismus', der mit der
erkenntnistheoretischen Wende Descartes' in die Philosophie eingeführt wurde, für
diese pathologischen Momente der Gegenwart verantwortlich. Der Mentalismus, der die
Objektivität der Welt durch die vorstellende Tätigkeit des erkennenden Subjekts
gewährleistet sieht, hat drei Grundannahmen.TPF
91FPT Erstens: es gibt einen privilegierten
Zugang des erkennenden Subjekts durch Introspektion zu den eigenen, deutlichen und
unveränderlichen Vorstellungen, die als unmittelbar evidente Erlebnisse gegeben sind.
Zweitens: es ist möglich, durch die Überprüfung der subjektiven Vorstellungen in der
Erfahrung zu einem Wissen über die Objekte zu gelangen. Drittens: die
epistemologischen Aussagen über die Wahrheit werden auf subjektive Evidenz oder
Gewißheit zurückgeführt. Diese drei Grundannahmen beruhen wiederum auf drei
Dualismen: auf der Trennung zwischen Innen und Außen, zwischen der privaten und
der öffentlichen Sphäre sowie zwischen dem unmittelbar Gewissen und mittelbar
Gegebenen. Jede dieser Trennungen wirft die Frage auf, wie sich diese beiden Bereiche
jeweils zueinander verhalten.
Habermas ordnet die wichtigsten philosophischen Strömungen nach Descartes, wie z. B.
den Empirismus und den Rationalismus sowie den Realismus und den Idealismus,
allesamt dem Mentalismus zu; die ersten beiden suchen u. a. nach dem Ursprung des
Wissens und antworten darauf a posteriori bzw. a priori, während sich die letzten beiden
auch für eine kausale Erklärung des Wissens interessieren und die Entstehung der
Erkenntnis mit dem Schema der Rezeptivität bzw. der Spontaneität des menschlichen
Geistes erklären.
TP
90PT NU, S. 202.
TP
91PT Siehe J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück, in: ders.,
Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999, S. 190.
112
Er interpretiert die Philosophien von Peirce, Dilthey, Cassirer, Heidegger und
Wittgenstein in diesem Zusammenhang als eine Befreiung der Philosophie vom
Mentalismus und hält diesen Detranszendentalisierungsvorgang für die "interessanteste
Denkbewegung" TPF
92FPTder Gegenwart. Detranszendentalisierung ist für ihn eine
philosophische Bewegung, die durch die Einordnung des transzendentalen Subjekts in
den sozialen Raum und in die historische Zeit den "Purismus der Vernunft"TPF
93FPT
überwinden will, der von der Selbstbeziehung der Vernunft ausgeht und daher das
Andere der Vernunft nicht in den Blick bekommt. Er sieht insbesondere Hegel
deswegen als den ersten Philosoph der Detranszendentalisierung an, weil dieser sich mit
der auf der Selbstbeziehung der Vernunft, d. h. auf der Reinheit der Vernunft
beruhenden Reflexionsphilosophie auseinandersetzt und dadurch ein neues, weniger
abstraktes Vernunftkonzept entwickelt, das aber dennoch die Dualismen der
Reflexionsphilosophie versöhnen kann. Diese Vernunft sei als eine Vernunft konzipiert,
die die Rationalität der Welt nicht negiere und gleichzeitig ihr Anderes anerkennen
könne. Dieses Vernunftkonzept findet vor allem im Begriff des Lebens seinen Ausdruck,
der besonders in Hegels Frankfurter Zeit von großer Bedeutung ist.
2.1. Die sozialphilosophische Bedeutung des Lebens beim jungen Hegel
Hegel faßt in seiner Zeit die Geburt eines neuen Zeitalters ins Auge, das über die
frühere autoritäre, d. h. positive Welt hinaus "einen qualitativen Sprung"TPF
94FPT wagt. Die
folgende berühmte Passage spiegelt diesen Gedanken wider:
"Es ist […] nicht schwer, zu sehen, daß unsre Zeit eine Zeit der Geburt und
des Uebergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen
Welt seines Daseyns und Vorstellens gebrochen, und steht im Begriffe, es in
die Vergangenheit hinab zuversenken, und in der Arbeit seiner
Umgestaltung." TPF
95FPT
TP
92PT A.a.O., S. 186.
TP
93PT Ebd.
TP
94PT G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: GW, Bd. 9, W. Bonsiepen / R. Heede (Hg.),
Hamburg 1980, S. 14.
TP
95PT Ebd.
113
Das wichtigste Merkmal der neuen Zeit besteht für ihn darin, daß der Begriff der
Subjektivität in den Vordergrund der Philosophie tritt – die Subjektivität, die die
Reflexion im epistemologischen (wie in der Philosophie Kants) und die Freiheit im
praktischen Sinne (wie in der Französischen Revolution) als Ziel hat. Die Moderne
besteht für ihn also in der Struktur der Selbstbeziehung des Subjekts, während sich die
vergangene Zeit durch die Abhängigkeit des Subjekts von irgendeiner Autorität, z. B.
von Gott auszeichnet. In der Rechtsphilosophie heißt es: "Das Prinzip der neueren Welt
überhaupt ist Freiheit der Subjektivität, daß alle wesentlichen Seiten, die in der geistigen
Totalität vorhanden sind, zu ihrem Recht kommend, sich entwickeln."TPF
96FPT Aus diesem
Gedanken Hegels leitet Habermas vier Kennzeichnen der modernen Subjektivität ab: a)
Individualismus, b) Recht der Kritik, c) Autonomie des Handelns, d) schließlich die
idealistische Philosophie selbst.TPF
97FPT
Aber wir haben schon in seiner Auseinandersetzung mit der positiven Religion sowie
mit der Reflexionsphilosophie gesehen, daß Hegel seine Zeit gleichzeitig als eine Zeit
der Trennung betrachtet, die überwunden werden muß. Den Grund sieht er darin, daß
die moderne Subjektivität höchstens eine 'Metaphysik des Endlichen' erreichen kann,
die von dem erkenntnistheoretischen S-O Schema und von einer Herrschaft des
Subjekts ausgeht. Nach Hegel ist die Zeit dieser Herrschaft des Subjekts nichts anderes
als 'eine Zeit der Not':
"In der Not wird entweder der Mensch zum Objekt gemacht und unterdrückt,
oder muß er Natur zu einem Objekt machen und unterdrücken." TPF
98FPT
Um die Trennung der Zeit zu überwinden, konzipiert Hegel eine versöhnende Kraft im
Begriff des Lebens und der Liebe. Er sieht das Leben als einziges Absolutes an, das
nichts anderes als eine ewige Bewegung ist, sich zum Endlichen zu vergegenständlichen
und dadurch zu sich zurückzukehren. Und die Liebe wird als ein Modell der
versöhnenden Vernunft vorgeschlagen, das die Charakteristik dieses Lebens gut
verdeutlichen kann. In der Liebe findet sich das Subjekt im Anderen, d. h. es kehrt
mittels des Anderen zu sich selbst zurück. Die Liebe bedeutet daher die Notwendigkeit
TP
96PT G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: TW, Bd. 7, S. 439.
TP
97PT PDM, S. 27.
TP
98PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Christentums, in: TW, Bd. 1, S. 318.
114
des Anderen für die Existenz und die Identität eines Subjekts bzw. die der Anerkennung
zwischen den Subjekten. Wir haben schon gesehen, daß Hegel in diesem
Zusammenhang sagt: "In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als
Getrenntes, [sondern] als Einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige."TPF
99FPT
Dies ist der Grund, warum Hegel die Trennung Abrahams von seiner ursprünglichen
Gemeinschaft und von dem 'Band der Liebe' als die Wurzel der Positivität des
Judentums angesehen hat.TPF
100FPT In dem positiven System verhält sich ein Entzweites oder
Endliches wie ein Ganzes, wie in der Kantischen Moralphilosophie, in der das endliche,
abstrahierte Subjekt verabsolutiert wird. Aus diesem Grund ist die Positivität, wie
erwähnt, als eine Zementierung des getrennten Lebens zu bestimmen.TPF
101FPT
Der Gedanke Hegels, daß das Subjekt nur im gesellschaftlichen Leben seine wahre
Existenz hat, unterscheidet sich vor allem von der traditionellen Gesellschaftstheorie, u.
a. von dem sogenannten atomistischen Gesellschaftsverständnis.TPF
102FPT 'Atomistisch'
bedeutet hier, daß die voneinander isolierten Subjekte die Grundlage der
Gesellschaftstheorie bilden. Nach Hegel wird in einer solchen Gesellschaftstheorie die
Gemeinschaft unter den Menschen bloß als eine von einem Anderen und Fremden
nachträglich hinzugefügte Organisation angesehen. Hegel betrachtet die formalistische
Philosophie von Fichte und die empirische Naturrechtslehre von Hobbes als Beispiele
einer solchen atomistischen Gesellschaftstheorie. Fichtes Gesellschaftstheorie ist
deswegen formalistisch, weil sie von den transzendentalen Begriffen der praktischen
Vernunft ausgeht, während die Naturrechtslehre von Hobbes insofern empirisch ist, als
sie von anthropologischen Bestimmungen der menschlichen Natur ausgeht, um eine
vernünftige Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu entwerfen.
Trotz dieser äußerlichen Unterschiede stimmen beide Theorien inhaltlich darin überein,
daß sie ''das Seyn des Einzelnen als das Erste und Höchste'' voraussetzen.TPF
103FPT Bei der
atomistischen Sozialphilosophie ist die Gesellschaft mit Blick auf die Freiheit ein
TP
99PT G. W. F. Hegel, Entwürfe über Religion und Liebe, in: TW, Bd. 1, S. 246.
TP
100PT G. W. F. Hegel, Der Geist des Judentums, in: TW, Bd. 1, S. 277.
TP
101PT Vgl. den Abschnitt 1.3, Kapitel III dieser Abhandlung.
TP
102PT In Bezug auf diese Problematik siehe die folgenden Untersuchungen: A. Honneth, Kampf um
Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1994, L. Siep, Praktische
Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 1992, A. Wildt, Autonomie und Anerkennung. Hegels
Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1982 und E. Düsing, Intersubjektivität und
Selbstbewußtsein, Köln 1986.
TP
103PT G. W. F. Hegel, Naturrechtsschrift, S. 431.
115
notwendiges Übel, weil sie die Freiheit des Einzelnen einschränkt, um den Anderen bzw.
das Ganze zu schützen. Sie ist daher im strengen Sinne ein System, das die Freiheit
einschränkt. Ein konkretes Beispiel dieses Gedankens findet sich bei Hegel in seiner
Auseinandersetzung mit der Aufforderungstheorie bei Fichte und mit der Lehre vom
Gesellschaftsvertrag bei Hobbes.
In seiner Aufforderungstheorie wollte Fichte zeigen, daß das individuelle
Selbstbewußtsein und die Existenz des Anderen gleichursprünglich sind, oder, daß das
Du für die Bildung und vollkommene Selbstwerdung des Ich prinzipiell notwendig ist
und der Sinn der realen und anerkannten Existenz des Du im Bewußtsein des Ich
konstituiert wird. Fichte sagt in diesem Zusammenhang:
''Im wechselseitigen Auffordern zu freiem Handeln und in der simultanen
Begrenzung der eigenen Handlungssphäre zugunsten des Anderen bildet
sich zwischen Subjekten das gemeinsame Bewußtsein heraus, das im
Rechtsverhältnis dann zu objektiver Geltung gelangt.''TPF
104FPT
Für Fichte scheint es notwendig zu sein, daß sich das personale Verhältnis zwischen
Subjekten zu einem Rechtsverhältnis entwickelt, in dem das Recht ein Allgemeines ist,
das zu einer Bedingung der Freiheit des Menschen wird. Diese Überlegungen von
Fichte führen daher bezüglich der Problematik der Freiheit zu dem folgenden
Widerspruch: Einerseits gilt die Freiheit als das höchste Ziel, andererseits muß die
Freiheit zugleich in der Gemeinschaft mit anderen um dieser Gemeinschaft willen
eingeschränkt werden. Das führt dazu, daß die Freiheit in der Gemeinschaft mit anderen
also zumindest partiell aufgegeben werden muß; obwohl die Freiheit ihrem Wesen nach
eigentlich alle Schranken überwinden sollte, kann sie nur eingeschränkt verwirklicht
werden.TPF
105FPT
Dasselbe Problem ergibt sich auch bei der Lehre vom Gesellschaftsvertrag bei Hobbes,
die Hegel unter dem Begriff des empirischen Naturrechts untersucht.TPF
106FPT Hobbes hat das
TP
104PT J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke,
I.H. Fichte (Hg.), Bd. 3: Zur Rechts- und Sittenlehre, Berlin 1971, S. 1ff., hier: § 3 u. § 4.
TP
105PT Vgl. E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein a.a.O., S. 297.
TP
106PT Um die Souveränität des Staates mit Blick auf die Vertragslehre zu begründen, nimmt Hobbes die
anthropologische Annahme von N. Machiavelli auf, daß die einzelnen Subjekte in einem permanenten
Zustand feindseliger Konkurrenz gegeneinander kämpfen. Im Vergleich zur Theorie Machiavellis, die
bloß auf einigen anthropologischen Annahmen basiert, ist aber die Theorie Hobbes insofern
116
menschliche Wesen als eine Art sich selbst bewegenden Automaten verstanden, das sich
vorsorglich um sein zukünftiges Wohlergehen bemüht;TPF
107FPT dieses antizipierende
Verhalten entwickelt sich bei der Begegnung mit dem Anderen zur Form der
präventiven Machtsteigerung, die letztlich zu einem Krieg aller gegen alle führt; um
diesen Krieg zu beenden, braucht man eine politische Verfassung. Es ist daher die erste
Aufgabe der politischen Praxis, den stets drohenden Konflikt immer wieder neu zu
verhindern. Die Gesellschaft ist für Hobbes also nur dann möglich, wenn die Freiheit
der Einzelnen eingeschränkt wird.
Die Kritik des jungen Hegel an diesen beiden Theorien fokussiert sich darauf, daß die
Gesellschaft oder Gemeinschaft bei ihnen nachträglich eingeführt wird, um bestimmte
Konflikte zu vermeiden; in dieser Position wird die Gesellschaft oder die Gemeinschaft
nur als eine die menschliche Freiheit beschränkende Institution angesehen. Die
Gemeinschaft ist also bei der atomistischen Theorie nichts anderes als ''die höchste
Tirannei''.TPF
108FPT Um die Gemeinschaft nicht nur als eine die Freiheit der Individuen
einschränkende Organisationsform zu verstehen, muß man in der Gesellschaftstheorie
einen ganz anderen Ausgangspunkt wählen, d. h. das Schema der Gegenüberstellung
zwischen dem Menschen und der Gemeinschaft bzw. den Anderen muß aufgehoben
werden, um die Gemeinschaft oder die Anderen nicht als Beschränkung der Freiheit der
Menschen verstehen zu müssen. Hegel geht, wie in seinem Begriff des Lebens als
Zusammenleben angedeutet, von der Denktradition aus, die das Wesen des
menschlichen Lebens auf die Gemeinschaft bezieht. Dies ist der Grund, warum er
bezüglich der Bestimmung des Menschen die Philosophie des Aristoteles ins Auge faßt,
in der die Gemeinschaftlichkeit als ein entscheidendes Wesen des Menschen bestimmt
wird. Er zitiert eine berühmte Passage von Aristoteles als Ausgangspunkt seiner
Überlegungen:
''das Volk ist eher der Natur nach, als der einzelne; denn wenn der einzelne
abgesondert nichts selbstständiges ist, so muß er gleich allen Theilen in
Einer Einheit mit dem Ganzen seyn; wer aber nicht gemeinschaftlich seyn fortschrittlicher, als er mit Hilfe der erfolgreichen naturwissenschaftlichen Forschung Galileis und der
philosophischen Erkenntnislehre Descartes' jenen anthropologischen Annahmen ein wissenschaftliches
Fundament gibt. Vgl. A. Honneth, Kampf um Anerkennung, a.a.O., S. 16ff.
TP
107PT Vgl. Th. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates,
Neuwied 1966, S. 75.
TP
108PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 55.
117
kann, oder aus Selbstständigkeit nichts bedarf, ist kein Theil des Volks, und
darum entweder Thier oder Gott.''TPF
109FPT
Dieses Zitat zeigt, daß der Ausgangspunkt einer neuen philosophischen Soziologie nicht
die Handlungen der isolierten Subjekte, sondern die sittlichen Verhältnisse sein muß, in
denen Subjekte gemeinschaftlich leben. Hegel setzt also die Sozialität des Menschen als
natürliche Basis der Gesellschaft voraus. In diesem Sinne muß die Freiheit nicht als Idee
des isolierten, für sich seienden Individuums, sondern als ein Allgemeines verstanden
werden.
''die Gemeinschaft der Person mit andern muß daher wesentlich nicht als
eine Beschränkung der wahren Freyheit des Individuums sondern als eine
Erweiterung derselben angesehen werden. Die höchste Gemeinschaft ist die
höchste Freyheit.''TPF
110FPT
2.2. Die Idee der Intersubjektivität beim jungen Hegel
Aus diesem Grund läßt sich erklären, warum der junge Hegel das Leben von vornherein
als Zusammenleben versteht, warum er nicht den Mechanismus der Entstehung der
sittlichen Gemeinschaft, sondern die Art und Weise untersucht, wie die sittliche
Totalität, d. h. das Leben, von sich getrennt und wieder vereinigt wird, und warum er
sich nicht für den Kampf um die Selbsterhaltung zwischen Subjekten, der in dem
vorgesellschaftlichen Zustand stattfinden soll, sondern für die Konflikte innerhalb einer
Gesellschaft wie z. B. Verbrechen oder Kampf um Anerkennung interessiert.
Vor diesem Hintergrund analysiert Hegel den Begriff des Lebens, dessen Merkmale
sich besonders in der Analyse des Verbrechens und des daraus resultierenden Schicksals
zeigen, in der Habermas bereits 'Spuren einer kommunikativen Vernunft' erkennt. Das
Verbrechen und das Schicksal stehen also in einer engen Verbindung mit dem Begriff
des Lebens als Zusammenleben. Habermas deutet daher den Begriff des Lebens bei
Hegel als eine Form einer sittlichen Totalität, die ''einen gesellschaftlichen Zustand
TP
109PT G. W. F. Hegel, Naturrechtsschrift, S. 467f. Hegel zitiert diesen Satz aus Aristoteles, Politik I. 2. Er
sieht Aristoteles folgend den Menschen als ein soziales Wesen an.
TP
110PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 54.
118
bedeutet, in dem alle Glieder zu ihrem Recht kommen und ihre Bedürfnisse befriedigen,
ohne die Interessen anderer zu verletzen.''TPF
111FPT D. h. er interpretiert das Leben als eine
Gesellschaft, in der sich die Subjekte intersubjektiv verhalten können. Er sieht also in
der Vorstellung des Lebens bei Hegel ein Modell für eine zwangfreie Intersubjektivität.
Von dieser Position aus betrachtet, bedeutet das Verbrechen nicht nur die Verletzung
eines Anderen; vielmehr zerstört der Verbrecher auch sich selbst, weil er mit dem
Verbrechen zugleich die sittliche Totalität zerstört, die sein Wesen ausmacht. Aus der
Erfahrung der Negativität des Lebens kann daher eine Sehnsucht nach der
Wiedervereinigung des entzweiten Lebens entstehen. Daß die entzweite Gemeinschaft
erst dann versöhnt werden kann, wenn der Verbrecher im zerstörten Anderen die
Entzweiung seines eigenen Wesens erkennt, ist der Kern der sogenannten Dialektik des
Schicksals.
Habermas deutet diese Dialektik des Schicksals dahingehend, daß die Zerstörung des
Lebens nichts anderes als die Störung der intersubjektiven Anerkennungsverhältnisse ist
und daß in ihr die Subjekt-Objekt-Trennung als Spiegel dieser Störung zum Vorschein
kommt.
''Die Dynamik des Schicksals resultiert […] aus der Störung der
Symmetriebedingungen und der reziproken Anerkennungsverhältnisse eines
intersubjektiv konstituierten Lebenszusammenhangs, von dem sich der eine
Teil isoliert und damit auch alle anderen Teile von sich und ihrem
gemeinsamen Leben entfremdet. Dieser Akt des Losreißens von einer
intersubjektiv geteilten Lebenswelt erzeugt erst eine Subjekt-Objekt-
Beziehung. Diese wird als ein fremdes Element, jedenfalls erst nachträglich
in Verhältnisse eingeführt, die von Haus aus der Struktur einer
Verständigung zwischen Subjekten - und nicht der Logik der
Vergegenständlichung durch ein Subjekt gehorchen.''TPF
112FPT
Also stellt Habermas sich eine symetrische intersubjektive Gemeinschaft vor, in der die
Herrschaftsstruktur in der Praxis keinen Platz einnehmen kann, die der S-O-Trennung
im epistemologischen Bereich entspricht. Diese Vorstellung zeigt, daß nach Habermas
für die Philosophie des jungen Hegel die Idee der Intersubjektivität zentral ist.
TP
111PT PDM, S. 40.
TP
112PT Ebd.
119
Ein Problem besteht allerdings nach Habermas darin, daß diese fruchtbare Idee vom
jungen Hegel in seinem System keinen geeigneten Platz einnimmt. Sie wurde in seiner
Berner und Frankfurter Zeit mit der Idee der Volksreligion verbunden, die jedoch keine
Wurzeln in der Moderne hat, sondern von dem Vorbild der griechischen Polis und der
urchristlichen Gemeinschaft abgeleitet ist. Wir haben schon gesehen, daß es nach
Habermas für die Selbstbezüglichkeit der Moderne wesentlich ist, daß sie ihre
Geltungskriterien niemals von irgendeiner anderen Zeit übernimmt. Dies ist der Grund,
warum er die Moderne auf den Begriff der Mode bezogen hat, der nicht in äußeren bzw.
klassischen Vorschriften, sondern im Augenblick eine ewige Schönheit sucht.TPF
113FPT Wenn
Hegel die Moderne als eine qualitativ ganz neue Zeit bzw. als eine Zeit der Geburt
versteht, so hat er damit nach Habermas die Selbstbezüglichkeit der Moderne erkannt;
aber dadurch, daß er die Idee der idealen Gemeinschaft nach dem Vorbild einer
vergangenen Zeit entwirft, habe er die Leistung der Moderne verkannt, die ''ihr
Selbstbewußtsein durch eine Reflexion errungen [hatte], die den systematischen
Rückgriff auf solche exemplarischen Vergangenheiten verwehrte''. TPF
114FPT In diesem Sinn
schreibt Habermas folgendes:
''Kurzum – eine noch so kraftvoll interpretierte Sittlichkeit von Polis und
Urchristentum kann nicht mehr den Maßstab abgeben, den sich eine mit sich
entzweite Moderne zu eigen machen könnte.''TPF
115FPT
Die Kritik des jungen Hegel an der Subjektphilosophie führt also nach Habermas
paradoxerweise zugleich dazu, daß die Idee der Moderne als einer Zeit der Geburt nicht
ernst genommen wird.
Diese ambivalente Stellung des jungen Hegel zur Moderne verschwindet mit der
Entwicklung seines philosophischen Systems. Seine Philosophie gewinnt dadurch an
Kohärenz, daß er z. B. in seiner Jenaer Zeit auf den Begriff de Lebens verzichtet und
statt dessen seinem System die Entwicklung des Begriffs des Absoluten zugrunde
legt.TPF
116FPT Aber in diesem System mußte er die fruchtbare Idee der Intersubjektivität
TP
113PT Siehe zu dieser Problematik den 1. Abschnitt des II. Kapitels dieser Arbeit.
TP
114PT PDM, S. 42.
TP
115PT A.a.O., S. 43.
TP
116PT Habermas ist der Meinung, daß sich diese Positionsänderung Hegels seinem Studium der politischen
Ökonomie verdankt. PDM, S. 43. Dies zeigt, daß er eine These von Lukács über den jungen Hegel
aufnimmt. Vgl. G. Lukács, Der junge Hegel, a.a.O., 225ff. und 398ff.
120
aufgeben, die mit dem Begriff des Lebens gegeben ist, weil im Begriff des Absoluten
nur eine bloße Erweiterung der Idee der modernen Subjektivität gesehen wird, die in der
Selbstbeziehung des Subjekts besteht.
Wir haben schon gesehen, daß Hegel die Reflexionsphilosophie darin kritisiert, daß sich
in ihr das Subjekt trotz seiner Endlichkeit und Bedingtheit zum Absoluten erhebt.
Dieses Absolute setzt also den Gegensatz zwischen dem Bedingten und dem
Unbedingten voraus. Es scheint daher bei diesem Schema unausweichlich zu sein, daß
das Subjekt sein Objekt negiert. Das Subjekt als Absolutes bei Hegel geht dagegen von
der Idee der reinen, absoluten Selbstbeziehung aus, in der sowohl die Differenz als auch
die Einheit zwischen Endlichem und Unendlichem problemlos koexistieren.
Aber Habermas sieht in dieser Vorstellung des Absoluten bei Hegel nur eine
Erweiterung der Selbstbeziehung der abstrakten Reflexion bzw. der Subjektivität. Das
Hegelsche Absolute, das in dem ''Prozeß der Beziehung des Endlichen und Unendlichen
aufeinander'' bestehe, sei folglich nichts anderes als eine ''verzehrende Tätigkeit des
Zusichkommens selbst''. TPF
117FPT Von daher ließe sich das Problem der Subjektphilosophie
durch diese Konzeption nicht lösen; Hegel setze ''die Mittel der Subjektphilosophie zum
Zweck einer Überwindung der subjektzentrierten Vernunft''TPF
118FPT ein.
Habermas' Kritik an Hegel besteht also darin, daß der junge Hegel seinen Begriff des
Absoluten nur dadurch gewinnt, daß er den Blickpunkt vom Individuum zur
Gesellschaft wendet, ohne dabei das Paradigma der Subjektivität zu überwinden. Statt
zur Reziprozität zwischen Subjekten überzugehen, löst Hegel das Problem der
Reflexionsphilosophie in einer Hierarchie zwischen dem Individuum und dem Ganzen
oder dem Einzelnen und der Gesellschaft auf, die sich durch die Priorität der
Gesellschaft oder des Staates vor dem Individuum auszeichnet. Dieser Gedanke
bestimmt seine Sozialphilosophie seit der Jenaer Zeit. Es ist daher eine notwendige
Folge, daß Hegel in der Rechtsphilosophie den Staat als 'höheres Subjekt' gegenüber der
individuellen Freiheit bevorzugt. Daher stimmt Habermas vollständig der Ansicht von
D. Henrich zu, wenn dieser über den starken Institutionalismus der Hegelschen
Staatsphilosophie sagt: ''Der einzelne Wille, den Hegel den subjektiven nennt, ist in die
TP
117PT PDM, S. 46.
TP
118PT Ebd.
121
Ordnung der Institutionen ganz eingebunden und überhaupt nur insofern gerechtfertigt,
als diese selbst es sind.''TPF
119FPT
Der frühe Ansatz des jungen Hegel, der zu einer Konzeption der Staatsphilosophie hätte
führen können, in der die Einzelnen in der Allgemeinheit eines ungezwungenen
Konsenses auch gegenüber den Institutionen des Staates eine zentrale Rolle spielen,
scheiterte am Ende an dem starken Institutionalismus des späten Hegel, der von der Idee
der sich auf sich beziehenden absoluten Subjektivität ausgeht. Habermas ist in diesem
Zusammenhang der Meinung, daß eine bescheidene Form der Vernunft notwendig ist,
um Ansatz des frühen Hegel, d. h. die Idee einer wahrhaften Intersubjektivität der
ungezwungenen Willensbildung in einer Gemeinschaft zu verwirklichen. Dies ist der
Grund, warum er die die linguistische Wende in der Philosophie begrüßt.
Zusammengefaßt: Das Fazit der Auseinandersetzung mit Hegel ist für Habermas, daß
Hegel zwar eine fruchtbare Vernunftidee hatte, aber sie in seinem späteren System nicht
weiter verfolgt hat. Habermas, der die Ursache für die gegenwärtigen pathologischen
Probleme in der Idee der narzißtisch in sich gekehrten, d. h. hochmütigen Vernunft sieht,
ist vollkommen einverstanden mit Hegels Zeitdiagnose. Er versucht die von Hegel
aufgegebene bescheidene Vernunft zu verwirklichen, um einen Ausweg aus den
gegenwärtigen pathologischen Erscheinungen der Moderne zu finden. Er sieht eine
Möglichkeit für diesen Ausweg in der linguistischen Wende der Philosophie.TPF
120FPT
TP
119PT D. Henrich, Einleitung, in: G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts: die Vorlesung von 1819/20 in
einer Nachschrift, D. Henrich (Hg.), Frankfurt/M. 1983, S. 31.
TP
120PT Neben der Frankfurter Zeit Hegels versucht Habermas auch in den Jenaer Fragmenten des jungen
Hegel Ansätze einer Theorie der Intersubjektivität zu finden. Er weist darauf hin, daß Hegel in seiner
Jenaer Zeit die Sprache, die Arbeit (bzw. das Werkzeug) und die Familie (bzw. die Liebe) dem
subjektiven Geist untergeordnet hat; dies eröffnet eine Möglichkeit, den Geist als eine Form der
Verbindung von Subjekt und Objekt zu deuten, wobei erst durch den Bezug auf die Objekte das
Selbstbewußtsein konstituiert wird. Dieser Gedanke unterscheidet sich stark von dem Begriff des
Selbstbewußtseins der Reflexionsphilosophie, den Habermas eine 'narzißtische', transzendentale
Subjektivität nennt, weil er auf dem "reinen, sich auf sich selbst beziehenden Bewußtsein der
ursprünglichen Apperzeption" basiert. (J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195).
Im Gegensatz dazu wird der Geist bei Hegel als eine Einheit zwischen Subjekt und Objekt konzipiert: "Es
muß eigentlich weder von einem solchen Subjekte noch Objekte die Rede sein, sondern vom Geiste."
(Jenaer Systementwürfe I, in: GW, Bd. 6, Hamburg 1986, S. 205). Habermas schreibt dazu: "Anstelle der
fruchtlosen Kontroversen der Erkenntnistheorie will Hegel die Diskussion auf jene 'Medien' lenken, die
die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt bereits vor jeder aktuellen Begegnung strukturieren. Beide
Seiten, Subjekt und Objekt, sind Relata, die nur mit und in ihren Beziehungen zueinander existieren. [...]
Gleichwohl gebraucht Hegel den Terminus 'Geist' für die Medien von Sprache, Arbeit und Interaktion
122
[...]." (J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195f.). Wenn das Subjekt in der Welt
als ein in den Weltzusammenhang eingelassenes Element vorhanden ist, dann kann es keine
philosophische Aufgabe des Subjekts sein, eine Kluft zwischen sich und einem von ihm separierten
Anderen zu überbrücken.
123
VI. Die linguistische Wende von Habermas: der Übergang
von der Subjektivität zur Intersubjektivität
Die bisherige Betrachtung hat ergeben, daß Habermas in der Auseinandersetzung des
jungen Hegel mit der positiven Religion und der Reflexionsphilosophie ein Vorbild für
die Vernunftkritik der gegenwärtigen philosophischen Diskurse sieht; Hegels
Ausgangspunkt ist, daß die sogenannte Reflexionsphilosophie wegen ihres
epistemologischen Schemas der Trennung von S-O, das zur autoritären, 'positiven'
Einheit führt, die wahre Vernünftigkeit der Welt nicht adäquat in den Blick bekommt;
Hegel führt, um die Probleme der positiven Systeme und der Reflexionsphilosophie zu
vermeiden, die spekulative oder dialektische Vernunft ein, die das Schema von S-O
wieder auf das Subjekt bezieht, so daß die Beziehung als S-<S-O> schematisiert werden
kann. Die Reflexionsphilosophie ist nach ihm nur eine Philosophie der Aufklärung, die
"die Gemeinheit des Verstandes, und seine eitle Erhebung über die Vernunft
aus[drückt]". TPF
1FPT
Die Vernunftkritiken der gegenwärtigen philosophischen Diskurse wiederholen Hegels
Auseinandersetzung mit der Reflexionsphilosophie in dem Punkt, daß sie damit
einverstanden sind, daß sich die moderne Vernunft um das Denkschema von S-O
bewege und dieses Schema für die moderne Herrschaftsstruktur verantwortlich sei. Die
Unterschiede zwischen ihnen ergeben sich jedoch daraus, daß die einen aufgrund dieser
Diagnose die Vernunft insgesamt kritisieren, während die anderen die Vernunft zu
erneuern versuchen. Präziser formuliert: die radikalen Vernunftkritiker verstehen die
Vernunft überhaupt als eine Macht, die alles, was ihr begegnet, bloß als ein Objekt
unterwirft und nur eine autoritäre oder asymmetrische Einheit herstellt. Dieses Problem
läßt sich daher nach ihnen nur durch die Einführung des Anderen der Vernunft lösen; im
Gegensatz dazu ist Habermas, der an der Rolle der Vernunft festhält, der Ansicht, daß
die Vernunft, mit der sich die radikalen Vernunftkritiker auseinandersetzen, nur eine
verkürzte Form der Vernunft ist, nämlich die instrumentelle Vernunft.
Es gibt daher für Habermas keinen Grund, daß man die Vernunft überhaupt aufgeben
müsse. Vielmehr versucht er mit der Konzeption einer erweiterten Vernunft das
Problem der Moderne zu lösen. Er sieht sogar im Begriff des Anderen nur ein
TP
1PT G. W. F. Hegel, Kritisches Journal der Philosophie, in: GW, Bd. 4, S. 125.
124
"Spiegelbild der gewalthabenden"TPF
2FPT Vernunft. Das Andere der Vernunft sei im Kern
"eine spontane, seinsgründende, stiftende, zugleich vitale und undurchsichtige
Gewalt",TPF
3FPT also als eine unversöhnliche Macht. Aus dieser Sicht ist das Andere der
Vernunft selbstwidersprüchlich, weil die radikalen Vernunftkritiker über etwas
diskutieren, über das eigentlich nicht vernünftig diskutiert werden kann. Eine
Diskussion im Sinne eines Austausches der verständlichen bzw. rationalen Argumente
über das Andere der Vernunft ist nämlich letztlich gar nicht möglich:
"Konsequenterweise müßte ihre eigene Untersuchung im Anderen der
Vernunft einen der Vernunft schlechthin heterogenen Posten beziehen. Aber
was zählen noch Konsequenzen an einem Ort, welcher der vernünftigen
Rede a priori unzugänglich ist?"TPF
4FPT
Habermas betrachtet die Entstehung des Anderen der Vernunft in Zusammenhang mit
dem Normalitätsproblem der intersubjektiven kommunikativen Gesellschaft. Er geht
davon aus, daß die Rolle des Anderen um so größer wird, je unvernünftiger eine
Gesellschaft ist, d. h. je weiter eine Gesellschaft von der 'Normalität' entfernt ist. Aus
dieser Perspektive ist das Andere der Vernunft nur eine entfremdete innere und äußere
Natur. So erklärt sich, daß Habermas zustimmend H. und G. Böhme zitiert: "Das
Andere der Vernunft, das ist die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das
Begehren, die Gefühle." TPF
5FPT
Habermas ergänzt allerdings diese Äußerung dahingehend, daß das Andere nicht
vernunftlos, sondern eine Erscheinungsform 'verkehrter Vernunft' ist, während hingegen
Böhme behaupte, daß das Andere alles das sei, was sich die Vernunft nicht aneignen
könne. TPF
6FPT Daß die Problematik des Anderen eines der zentralen Themen der Moderne war,
TP
2PT PDM, S. 360.
TP
3PT A.a.O., S. 356.
TP
4PT A.a.O., S. 353.
TP
5PT H. Böhme / G. Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt/M. 1983, S. 13 und J. Habermas, PDM, S.
357.
TP
6PT Dieser Gedanke zeigt, daß Habermas den Begriff der versöhnenden Vernunft des jungen Hegel
übernimmt. Er unterscheidet Hegel von den radikalen Vernunftkritikern, die der Vernunft keine
Versöhnung mit der Welt zutrauen: Hegel hat nach ihm "die Grenzziehungen der subjektzentrierten
Vernunft nicht als Ausgrenzungen, sondern als Entzweiungen interpretiert, und der Philosophie den
Zugang zu einer die subjektive Vernunft und deren Anderes in sich begreifenden Totalität zugemutet."
PDM, S. 354.
125
die von den Kritikern als Zeit der Subjektivität oder der Vernunft begriffen wird,
benutzt Habermas als einen weiteren Beleg für seine These. So entwickelte z. B. die
Romantik innerhalb einer neuen Form der Subjektivität das Konzept des Anderen und
wollte damit über die Grenze der aufklärischen bzw. instrumentellen Vernunft
hinausgehen. Im Anschluß an die oben zitierte Aussage sagt Habermas:
"Nun also sind es unmittelbar die vitalen Kräfte einer abgespaltenen und
unterdrückten subjektiven Natur; sind es jene in der Romantik wieder
entdeckten Phänomene des Traumes, der Phantasie, des Wahns, der
orgiastischen Erregung, der Ekstase; sind es die ästhetischen, leibzentrierten
Erfahrungen einer dezentrierten Subjektivität, die als Statthalter für das
Andere der Vernunft fungieren."TPF
7FPT
Dieser Äußerung liegt sein zentraler Gedanke zugrunde, daß selbst eine radikale
Vernunftkritik als ein letzter, sich selbst überbietender Akt der Vernunft, als ein Akt der
Selbstreflexion betrachtet werden muß. Habermas sieht also seine philosophische
Aufgabe darin, die verkehrte, eingeschränkte Vorstellung der 'Vernunft' zu berichtigen.
Er entwirft dafür "eine ausgreifendere, eine komprehensive Vernunft", TPF
8FPT anstatt auf das
Andere der Vernunft zurückzugreifen. Er präzisiert diesen Gedanken einer
komprehensiven Vernunft mit Hilfe der von Peirce bis Austin und Searle entwickelten
Sprachpragmatik. Vor der Betrachtung dieser Sprachtheorie soll im folgenden die
Bedeutung der sprachphilosophischen Wende für das Denken von Habermas behandelt
werden.
TP
7PT PDM, S. 357f.
TP
8PT A.a.O., S. 352.
126
1. Die sprachphilosophische Wende im Habermasschen Denken
Eine der entscheidenden Bemühungen Habermas', um "die mit sich zerfallene Moderne
zu versöhnen" TPF
9FPT, d. h. das Projekt der Aufklärung weiterzuführen, zeigt sich in seinem
Versuch, den Historischen Materialismus sprachphilosophisch zu rekonstruieren. Er
gibt hier dem Begriff der 'Rekonstruktion' eine bestimmte Bedeutung; während die
'Restauration' als "die Rückkehr zu einem Ausgangszustand" und die 'Renaissance' als
"die Erneuerung einer Tradition" verstanden werden, bedeutet die 'Rekonstruktion', "daß
man eine Theorie auseinandernimmt und in neuer Form wieder zusammensetzt, um das
Ziel, das sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen."TPF
10FPT Die neue Form hat für Habermas
etwas mit der gegenwärtigen Sprachphilosophie zu tun. Er betrachtet es also als eine
wichtige Aufgabe, mit Hilfe der gegenwärtigen Sprachphilosophie den von K. Marx
stammenden Historischen Materialismus zu rekonstruieren. In diesem Abschnitt soll
daher untersucht werden, was Habermas unter dem Historischen Materialismus versteht
und warum dieser umformuliert werden muß, um sein ursprüngliches Projekt zu erfüllen.
Bei seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus steht Habermas besonders unter
dem Einfluß von K. Korsch und G. Lukács, die sich beide mit dem von Engels
kommunikativen Alltagspraxis entsteht also nach ihm dort, wo die Systemrationalität, d.
h. die Bürokratisierung bzw. die Form ökonomischer und administrativer Rationalität in
Handlungsbereiche eindringt, "die sich der Umstellung auf die Medien Geld und Macht
widersetzen, weil sie auf kulturelle Überlieferung, soziale Integration und Erziehung
spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung
angewiesen bleiben." TPF
104FPT
Aus der Sicht dieser Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt besteht der
Vorgang der Modernisierung bzw. der Rationalisierung auf der Ebene der
Gesellschaftstheorie darin, daß sich die einzelnen Systeme von der Lebenswelt
abkoppeln und ihrer eigenen Logik folgen.TPF
105FPT Die Rationalisierung innerhalb eines
Systems meint dann die Entwicklung von detaillierten Subsystemen, die zu einer
Steigerung der Komplexität des Gesamtsystems führt.TPF
106FPT Aber in den Systemen, die von
den 'entsprachlichten Kommunikationsmedien', wie z. B. Geld und Macht, gesteuert
werden, wird das Rationalitätspotential sprachlicher Verständigung nur in dem Maße
aktualisiert, in dem es für Nutzenmaximierung notwendig ist. Die sprachliche
Konsensbildung, auf die sich die sprachliche Kommunikation eigentlich richten sollte,
wird also hierbei weitgehend ignoriert. Es geht innerhalb dieser Systeme lediglich darum,
für einen gegebenen Zweck die effektivsten Mittel auszuwählen, und nicht um die
Richtigkeit der Zielsetzung oder um die normative Bewertung der Mittel.TPF
107FPT Das Resultat
der Rationalisierung ist, daß die Zweckrationalität, die sich von allen normativen
Kontexten loslöst, in der Moderne die verschiedenen Systeme mehr und mehr dominiert
und die Wertrationalität verdrängt. Je komplexer die einzelnen Systeme werden, umso
mehr tritt die Zweckrationalität in den Vordergrund. Habermas nennt diesen Vorgang
eine Technisierung der Lebenswelt:
TP
102PT TkH 2, S. 433.
TP
103PT Ebd.
TP
104PT A.a.O., S. 488.
TP
105PT A.a.O., S. 230.
TP
106PT A.a.O., S. 246-256.
TP
107PT A.a.O., S. 271f.
166
"Die Umstellung des Handelns auf Steuerungsmedien erscheint deshalb
aus der Lebensweltperspektive sowohl als eine Entlastung von
Kommunikationsaufwand und –risiko, wie auch als eine Konditionierung
von Entscheidungen in erweiterten Kontingenzspielräumen, in diesem
Sinne als eine Technisierung der Lebenswelt."TPF
108FPT
Ein gesunder Gesellschaftszustand ist bei Habermas durch ein Gleichgewicht zwischen
der von der kommunikativen Rationalität gesteuerten Lebenswelt und dem von der
instrumentellen Rationalität gesteuerten System gekennzeichnet. Eine massive
Verdrängung der Kommunikationsstruktur der Lebenswelt durch die Zweckrationalität
des Systems, d. h. die Überhandnahme der Zweckrationalität in der Gesellschaft bedeutet
daher eine Zerstörung des Gleichgewichtes der gesellschaftlichen Rationalisierung.TPF
109FPT
Habermas nennt das Phänomen dieser 'systemisch induzierten Lebensweltpathologie' "die
Kolonialisierung der Lebenswelt".TPF
110FPT
Die These der 'Kolonialisierung der Lebenswelt' kann als die Habermassche Antwort auf
das Problem der Paradoxie der Rationalisierung angesehen werden. Er versucht mit
dieser Formulierung den Rückgang der Wertrationalität aus einer erweiterten
gesellschaftstheoretischen Perspektive erneut zu analysieren. Der Kerngedanke dieser
These ist also, daß mit der Entwicklung des Kapitalismus und des modernen
Verwaltungssystems die Zweckrationalität im ganzen Gebiet der Lebenswelt mehr und
mehr an Bedeutung gewinnt und damit schließlich die verständigungsorientierte
Wertrationalität beinahe vollständig verdrängt.
Die These der 'Kolonialisierung der Lebenswelt', die als wichtigstes Element der
Habermasschen Zeitdiagnose gelten kann, kann zwar sicherlich erklären, wie sich die
Logik des Systems auch auf das Gebiet der symbolischen Reproduktion ausweitert, also
wie die Lebenswelt vom System abhängig wird. Aber in dieser These bleibt noch
ungeklärt, welche Rolle die kommunikative Rationalität, die die normative Basis für die
Gesellschaftskritik ist, innerhalb des Systems spielen kann, und ob die auf Konsens
ausgerichteten kooperativen Deutungsprozesse der Subjekte innerhalb des Systems eine
Rolle spielen können, obwohl dort eigentlich die sich jeder Wertrationalität entziehende
Zweckrationalität vorherrscht, wenn es um die Wahl des wirksamen Mittels zum Zweck
TP
108PT A.a.O., S. 273.
TP
109PT A.a.O., S. 293.
TP
110PT Ebd.
167
bzw. um die effektive Organisation der Arbeit geht. Das System ist bei Habermas aber
der Ort, in dem die instrumentelle Verengerung der Rationalität ausnahmsweise erlaubt
wird; die sozialen Konflikte finden für ihn nur innerhalb der Lebenswelt und im besten
Fall an den "Nahtstellen zwischen System und Lebenswelt"TPF
111FPT statt, und das System
selbst ist von solchen Konflikten frei. Deshalb ignoriert Habermas in seiner Theorie die
Möglichkeit, daß die kommunikative Rationalität auch in formal zweckrational
organisierten Systemen stark gemacht werden kann, wie es z. B. bei den autonomen
Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geschieht, durch die der
ökonomische Bereich demokratisiert wird.
Daher muß man sagen, daß die Theorie des kommunikativen Handelns weder diesen
sozialpathologischen Erscheinungen vorbeugen noch die Konflikte innerhalb des
Systems lösen kann und im besten Fall nur dazu in der Lage ist, die Entstehung der
Kolonialisierung der Lebenswelt zu erklären. Die eigentliche Absicht von Habermas, die
gegenwärtigen negativen Begleiterscheinungen der Moderne als Ausdruck der
instrumentellen Verengung der Rationalität zu kritisieren und zu überwinden, wird also
nicht vollständig erreicht.
Die Ursache dafür, daß er sein Ziel nicht erreicht, liegt m. E. schon in seinem
Verständnis der Rationalität, das in zwei Punkten kritisiert werden kann. Erstens:
Habermas' Rationalitätstheorie besteht darin, einerseits den jeweiligen Sinn der
theoretischen, der moralischen und der expressiven Rationalität zu verdeutlichen und
andererseits ihre wechselseitigen Beziehungen unter dem Namen der kommunikativen
Rationalität zu analysieren. In Wirklichkeit erörtert er zwar jede der drei Rationalitäten
ausführlich 'getrennt', aber er behandelt die 'unverkürzte' kommunikative Rationalität
selbst, also einen jene drei Rationalitäten umfassenden Rationalitätsbegriff, nicht
ausreichend. Er steht also noch vor der Aufgabe, den 'inneren Zusammenhang' der drei
voneinander getrennten Rationalitäten sowie den Charakter der umfassenden
kommunikativen Rationalität zu verdeutlichen, weil er die wechselseitigen Beziehungen
zwischen den verschieden Rationalitäten nur an den 'Nahtstellen' zwischen ihnen erörtert,
aber nicht in ihren 'inneren Zusammenhang'.
Zweitens: Habermas versucht die Einheit der getrennten Rationalitäten in einer Idee der
'argumentativen Begründung' zu finden. Aber diese 'prozedurale Rationalität' als
Argumentation ist eher theorieorientiert und nicht praktisch oder ästhetisch ausgerichtet.
Somit entsteht der Eindruck, daß er die Rationalitätsform der theoretischen
TP
111PT A.a.O., S. 581.
168
Argumentation auch auf andere Diskurse unzulässigerweise anwendet und damit die
Unterschiede der verschiedenen Formen der Rationalitäten verwischt. Von daher kann
man die Frage stellen, ob nicht eine solche Identifizierung verschiedener
Rationalitätsformen unter dem Namen der einen kommunikativen Vernunft dazu führt,
daß man das Verfahren der argumentativen Begründung überbewertet. Stellt nicht auch
dieser Versuch von Habermas eine Verdrängung verschiedener Rationalitätsformen
durch eine bestimmte Form dar, so daß bei ihm die ästhetische und die praktische
Vernunft reduziert werden auf die Form argumentativer Begründung? Wenn man die
drei getrennten Bereiche der kommunikativen Vernunft auf diese Art in eine theoretische
Einheitsform bringt, ergibt sich daher das Problem, wie man die Unterschiede zwischen
der theoretischen, der praktischen und der ästhetischen Vernunft erklärt.
V. Die Rolle der Vernunft für die Gesellschaft bei Habermas
1. Die Idee der 'Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen'
Die kommunikative Vernunft wurde, wie erwähnt, entworfen, um den Begriff der
subjektivistischen sowie der relativistischen Vernunft zu überwinden und um
gleichzeitig das Projekt der Aufklärung gegenüber den relativistischen bzw.
skeptizistischen Positionen der Gegenwart zu verteidigen. Die Aufklärung ist nach
Habermas ein Projekt der "Emanzipation der Menschen aus selbstverschuldeter
Unmündigkeit und erniedrigenden Lebensumständen."1 Dies bedeutet bei ihm vor allem
die Wende von der mythischen und ontologischen zur vernünftigen Weltauffassung und,
sozialphilosophisch gesagt, eine Herstellung von "Formen des vernünftigen
Zusammenlebens",2 die der junge Hegel unter dem Begriff der sittlichen Totalität
analysiert hat. Also interpretiert Habermas die Idee der sittlichen Totalität des jungen
Hegel als die "reziproken Anerkennungsverhältnisse eines intersubjektiv konstituierten
Lebenszusammenhangs."3 Daher ist das vernünftige Zusammenleben bei Habermas
eine gesellschaftliche Form, in der "wirklich Autonomie und Abhängigkeit in ein
befriedetes Verhalten treten."4 Die Dialektik des Verbrechens, die Hegel in seiner
Frankfurter Zeit behandelt, verdeutlicht diese Idee der sittlichen Totalität; das
Verbrechen besteht darin, den Anderen nicht als eine Person des Zusammenlebens,
sondern als ein Objekt, das vernichtet werden kann, zu betrachten; dabei wird der
Andere wie ein objektives Ding in der Welt behandelt. Das Verhältnis von S-O, das
dem Verbrechen zugrunde liegt, bedeutet daher eine Störung des Gleichgewichts der
sittlichen Totalität. Die Dialektik des Verbrechens beim jungen Hegel besteht also in
der Wiederherstellung der Erkenntnis, daß die Zerstörung des Lebens des Anderen
gleichzeitig die des eigenen Lebens ist.5
Habermas bezweifelt aber, ob die Polis und die frühchristliche Gemeinschaft, die Hegel
mit dem Begriff der 'versöhnenden Vernunft' in Verbindung bringt und als wirkliche 1 J. Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt/M. 1990, S. 202. 2 NU, S. 202. 3 PDM, S. 40. 4 J. Habermas, Die nachholende Revolution, a.a.O., S. 202. 5 Siehe dazu 1.3. vom 1. Abschnitt des II. Kapitels in dieser Arbeit.
169
Vorbilder für die sittliche Gemeinschaft betrachtet, wirklich Ideale für eine neue
Gesellschaftsform sein können, in der die Autonomie des Subjekts und dessen
Abhängigkeit von der Allgemeinheit im Gleichgewicht sind. Denn in diesen
historischen Vorbildern wird die Problematik der Emanzipation des Individuums nicht
ausreichend berücksichtigt, die erst mit der Moderne zum Vorschein gekommen ist.
Aus dieser Sicht ist die versöhnende Vernunft des jungen Hegel nur eine totalisierende
Vernunft, die von Habermas nur als eine weitere Variante der subjektivistischen
Vernunft angesehen wird.
Habermas führt daher eine 'bescheidene', also die kommunikative Vernunft ein, um das
ursprüngliche Ideal des jungen Hegel realisieren zu können. Also entwirft die
kommunikative Vernunft eine Gemeinschaft, die intersubjektiv im Gleichgewicht ist,
und in der die Einzelnen ihre Individualität nicht verlieren und gleichzeitig ihre
Abhängigkeit von der Gemeinschaft anerkennen.
Die Theorie von Habermas bezieht sich dabei wieder auf die alte philosophische Frage
nach dem Verhältnis von Identität und Differenz, von Einheit und Vielheit sowie von
Selbst und Anderem. Vor diesem Hintergrund versucht Habermas in der Tat die
Differenz, das Nicht-Vernünftige, das Andere, das Individuum, die Vielheit etc., die
heutzutage positiv bewertete Kategorien sind, nicht zu vernachlässigen und gleichzeitig
das Ideal der Aufklärung der Vernunftorientierung beizubehalten. Dies unterscheidet
ihn sehr von den Dekonstruktivisten, die nach dem Ende der metaphysischen
Einheitslehre nun von der Ursprünglichkeit der Differenz, des Anderen und des
Individuums ausgehen. Habermas vertritt demgegenüber die Auffassung, daß sie mit
der Abwertung des Einen sowie mit der Aufwertung der Differenz und des Anderen den
dialektischen Zusammenhang zwischen beiden verdunkeln:6
"Das Lob des Vielen, der Differenz und des Anderen mag heute auf
Akzeptanz rechnen können; aber eine Stimmungslage ersetzt noch keine
Argumente."7
Habermas führt also die gegenwärtige philosophische Diskussion auf die traditionelle
philosophische Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit zurück. Seine
6 ND, S. 180. 7 A.a.O., S. 172.
170
Antwort auf diese Frage wird deutlich, wenn man sie mit der metaphysischen und der
bewußtseinsphilosophischen Position vergleicht.
Die Metaphysik, die bis zur bewußtseinsphilosophischen Wende die europäische
Philosophie überhaupt beherrscht, läßt sich laut Habermas als All-Einheitslehre
bezeichnen, deren Anliegen in der Reduktion des Vielen auf das Eine besteht. Die
Metaphysik, deren Ursprung in dem Parmenideschen Hen-Panta liegt, geht also
durchaus von einem deduktiven Erklärungsansatz aus, bei dem die Vielheit aus einem
Prinzip abgeleitet wird. Insofern löst die Metaphysik des Einen die Pluralität der
ursprünglichen mythischen Kräfte ab. Aus der Sicht der Metaphysik bewegt sich die
Erkenntnis des Mythos nur um die Oberfläche und den Schein und erfaßt nicht das
Wesen der Dinge. Das metaphysische Eine gilt dagegen sowohl als Erstes, mit dem der
Ursprung des Vielen erklärt werden kann, als auch als Begriff des Begriffes, mit dem
der Seinsgrund des Vielen ausgedrückt werden soll. Insofern sie den Ursprung des
Vielen und dessen Seinsgrund analysiert und das Viele und das Akzidentielle aus der
Perspektive des Wesens und der Substanz behandelt, d. h. soweit sie von einem "Zwang
zur Disambiguierung" des Mythos ausging, hatte die Metaphysik, so Habermas, "einen
emanzipatorischen Sinn".8
Habermas weist aber gleichzeitig darauf hin, daß die in der Reduktion der Vielheit und
der Besonderheit auf eine Einheit bestehende metaphysische Denkfigur nur "eine
gewaltige Abstraktion"9 ist und unlösbare philosophische Probleme mit sich bringt: das
Problem des Verhältnisses von Identität und Differenz (1), das Problem des
unaussprechlichen Individuellen (2) und das Unbehagen am affirmativen Denken (3).
1) Habermas stellt eine grundlegende kritische Frage an die Metaphysik, die die Wende
zur Bewußtseinsphilosophie möglich machte: die Frage danach, wie das metaphysische
Eine gleichzeitig als alles umfassendes Ganzes betrachtet werden kann, anders
formuliert, wie die Identität von Identität und Differenz gedachtet werden kann. Diese
erkenntnistheoretische Fragestellung bezieht sich vor allem auf Plotins Definition des
Einen. Nach Habermas wird das Eine Plotins wie folgt definiert: "Das Eine ist Alles und
noch nicht einmal Eins (von Allem)".10 Dies bedeutet, daß das Eine zwar als Ursprung
und Grund jedes individuellen Seienden Alles ist, aber es nichts von Allem gleicht.
Bereits Plotin war sich bewußt, daß das Eine nur in dieser widersprüchlichen Weise
8 A.a.O., S. 158. 9 A.a.O., S. 156. 10 A.a.O., S. 159.
171
bestimmt werden kann, weil jede andere Bestimmung das Eine wie ein Ding in der Welt
vergegenständliche, d. h. es zu einem Endlichen mache. Er hat der menschlichen
Erkenntnisfähigkeit, also dem Nous, diese widersprüchliche Bestimmung des Einen
zugeschrieben. Er will damit ausdrücken, daß sich das Eine, obwohl es seinerseits
niemals widersprüchlich ist, mit der Vernunft nur widersprüchlich bestimmt werden
kann.
2) Eine andere Eigenschaft der Metaphysik ist, daß sie das Besondere bzw. Individuelle,
die Materie, das Zufällige etc. nur relativ zum Allgemeinen, zur Idee sowie zum
Notwendigen betrachtet. Bei der Metaphysik wird dieser Gedanke durch die Begriffe
'Gattung' und 'spezifische Differenz' ausgedrückt. Es gibt hier daher keinen Platz für
Individuelles, das nicht unter das Allgemeine subsumiert wird. Selbst Johannes Duns
Scotus z. B., der dieses Problem erkannt hat und daher mit dem Begriff Haecceitas
(dem Individuellen) das Individuelle an sich behandeln wollte, hat letztendlich, nach
Habermas, nichts anderes getan, als das "Essentielle bis in die Einzelheit hinein"11 zu
verlängern.
3) Eine weitere Eigenschaft der Metaphysik sieht Habermas in ihrem 'Unbehagen am
affirmativen Denken', das sich der Materie verdankt; die Materie liegt in Zeit und Raum
und besteht daher aus den konkreten gegenständlichen Bestimmungen. Insofern jede
Bestimmung immer die Negation anderer Bestimmungen voraussetzt, ist die Materie
ein begrenzt Endliches. Wenn man die allgemeinen Ideen als das wahre Sein auffaßt, ist
diese Materie nur ein Nicht-Seiendes. Daher wird die traditionelle metaphysische Frage:
'Warum ist denn überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?' nur dann gestellt,
wenn man von dem Vorrang der allgemeinen Ideen vor der Materie bzw. der Einheit
vor der Vielheit ausgeht. Die affirmative Kraft der Negation, die der Materie eigen ist,
konnte daher als ein zum Intelligiblen gegenläufiges Prinzip gedacht werden. Habermas
sieht hierin den Grund, warum die Welt der Materie bzw. der Geschichte innerhalb der
Metaphysik nicht zur Welt des wahren Seins gehört und warum bei der alten
Metaphysik die Neigung zu einer Kritik an der Vernunft überhand genommen hat und
damit die Tradition der negativen Theologie einen festen Platz gewonnen hat.12
11 A.a.O., S. 160. 12 Aus diesem Grund behauptet Habermas, daß die radikale Vernunftkritik von Nietzsche, Heidegger und
Derrida, die die These von der Unvollkommenheit der Vernunft radikalisieren, nur ihre Zugehörigkeit zur
europäischen orthodoxen Metaphysik zeige. Vgl. ND. S. 159f.
172
Die oben genannten Probleme der Metaphysik waren sicherlich mitverantwortlich für
die bewußtseinsphilosophische Wende der Philosophie. Die Bewußtseinsphilosophie
geht von der Frage aus, ob die Einheit des Vielen ein objektives, dem menschlichen
Geiste vorgeordnetes Ganzes sein kann oder ob diese Einheit nicht vielmehr ein
Ergebnis einer idealisierenden Synthesis der Vernunft ist und ob nicht die
widersprüchliche Bestimmung des metaphysischen Einen nur aus einer
Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens resultiert. Besonders die Kantische Philosophie gilt als ein Musterbeispiel dieses
bewußtseinsphilosophischen Paradigmas; die theoretische Vernunft konstituiert eine
objektive Welt, indem sie mit Hilfe der Anschauungsformen und den Kategorien des
Verstandes den Erscheinungen eine begriffliche, kategoriale Ordnung gibt. Die
Erkenntnis der Erscheinungen in eine Einheit zu bringen ist allerdings eine Leistung der
transzendentalen Apperzeption, die bei Kant das formale 'ich denke' bedeutet: das 'ich
denke' muß alle meine Vorstellungen begleiten können, um in der Mannigfaltigkeit der
Vorstellungen die Einheit eines Selbstbewußtseins bewahren zu können. Während der
Begriff des Verstandes etwas mit den Erscheinungen (also mit etwas in der objektiven
Welt) zu tun hat, steht die Apperzeption in Zusammenhang mit dem Inbegriff der
Erscheinungen, also mit einer Idee. Gerade in diesem Punkt ist der Inbegriff der
Erscheinungen eine 'kosmologische Idee' und somit eine regulative Idee.
Die Erkenntnis und ihre Einheit, die vom kategorischen, begrifflichen sowie
gesetzgebenden Verstand und vom 'denkenden Ich' geleitet werden, sind gerade
deswegen durchgängig gesetzmäßig strukturiert. Die Abhängigkeit des Seienden im
ganzen von dem Verstand sowie dem denkenden Ich bedeutet also eine Herabsetzung
des Kosmos zum Gegenstandsbereich nomologischer Naturwissenschaften. Nun ist die
Welt der Erkenntnis kein "absolutes Ganzes nach Prinzipien der Zwecke"13 mehr.
Dieser Gedanke Kants löst die kosmologieorientierte All-Einheitslehre der von der
teleologischen Weltauffassung ausgehden Metaphysik in dem Sinne auf, daß er von der
Natur bzw. der physischen Welt die Zweckmäßigkeit abtrennt. Der Kosmos wird nun
nicht mehr teleologisch, sondern mechanistisch aufgefaßt.
Die Kantische Erkenntnistheorie läßt sich als eine Antwort auf die
bewußtseinsphilosophische Frage danach lesen, wie die Identität des Einen und des
Vielen zu denken sei. Das Problem ist hierbei aber, daß es bei dieser Antwort keinen
Platz für 'einen sinnvollen Zusammenhang' des Lebens gibt. Für die Zweckmäßigkeit,
13 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, W. Weischedel (Hg.), Frankfurt/M. 1994, S. 404.
173
die der physischen Welt fehlt, reserviert Kant einen anderen Bereich: das 'Reiche der
Zwecke', das als das Ganze eines 'ethisch-bürgerlichen' Gemeinwesens etwas mit der
Problematik des Sollens bzw. der Moralität zu tun hat.
Diese Kantische Philosophie ruft aber eine neue Frage hervor: In welchem Verhältnis
stehen praktische und reine Vernunft, Kausalität der Freiheit und Kausalität der Natur,
Moralität und Legalität und intelligible Welt und Sinnenwelt. Diese Frage kann wieder
als eine Variante der alten metaphysischen Frage angesehen werden, wie sich Eines und
Vieles sowie Unendliches und Endliches zueinander verhalten. Durch diese Frage wird
deutlich, daß Kants Versuch, durch die erkenntnistheoretische Wende des Denkens die
metaphysische Aporie zu lösen, am Ende zu einem Dualismus der Welten führt.
Hegel wird als letzter Philosoph angesehen, der aus der Perspektive der
bewußtseinsphilosophischen Philosophie diesen Dualismus überwinden wollte. Er
reformuliert das alte metaphysische Thema der All-Einheit, noch radikaler als Kant,
bewußtseinsphilosophisch, indem er die Selbstbeziehung der Vernunft bzw. des Geistes
zum Absoluten erhebt. Dies unterscheidet sich vor allem vom Denken Plotins, der die
wahre Erkenntnis außerhalb des Bereiches der Vernunft sucht, weil diese die
widersprüchlichen Bestimmungen des Einen mit sich bringe, das eigentlich gar nicht
widersprüchlich sei; die wahre 'Erkenntnis' ist daher ein Zustand von Ekstase,14 in dem
die Seele die Grenzen ihres Bewußtseins überschreitet und sich mit dem Einen vereinigt.
Während sich das Subjekt und das Objekt im Denken des Einen noch voneinander
unterscheiden, gibt es bei der Ekstase keine Differenz zwischen ihnen. Somit beurteilt
Plotin das Erkenntnisvermögen des Subjekts negativ.
Im Gegensatz dazu wertet Hegel das Erkenntnisvermögen auf; er interpretiert in seinen
Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie die Ekstase als 'reines Denken'.15
Wenn das Denken die Differenz zwischen Vielheit und Einheit bzw. Endlichem und
Unendlichem voraussetzt, dann scheint es notwendig zu sein, daß die
Bewußtseinsphilosophie, die das Denken zum Absoluten erhebt, diese Voraussetzung
als eine der wichtigsten Merkmale des Absoluten betrachtet. Dies ist der Grund, warum
Hegel das Absolute "nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt"16 auffaßte. 14 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, in: TW, Bd. 19, S. 440. 15 In diesem Kontext schreibt er folgendes: "Plotin spricht allerdings davon, daß das wahrhaft Seiende nur
gewußt werde durch die Ekstase. […]. Und Ekstase ist ja nicht bloß Entzückung der Empfindung und
Phantasie, sondern vielmehr ein Heraustreten aus dem Inhalt des sinnlichen Bewußtseins. Es ist reines
Denken, das bei sich selbst ist, sich zum Gegenstand hat." G. W. F. Hegel, a.a.O., S. 442f. 16 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: GW, Bd.9, S. 18.
174
Das sich auf sich beziehende absolute Subjekt wird als eine Sinnenwelt und moralische
Welt bzw. Form und Inhalt vermittelnde Bewegung aufgefaßt, die sich in der
Geschichte entwickelt. Daher ist die Geschichte die Selbstentwicklung des absoluten
Subjekts bzw. des Geistes. Mit der Bestimmung des Einen als absoluten Subjekts, d. h.
mit der Verbindung der metaphysischen Position mit dem Begriff der selbsttätigen
Subjektivität eröffnet Hegel daher einen neuen Weg, die Geschichte, die bei der
traditionellen Metaphysik als eine Welt der Akzidenz außerhalb der philosophischen
Kategorien lag, als Medium zu verstehen, durch das das Eine und das Viele sowie das
Unendliche und das Endliche vermittelt werden können.
Die Erhebung des Denkens zum Absoluten bedeutet also einerseits die Vereinigung der
nomologischen und der intelligiblen Welt und andererseits die Vollendung des
Übergangs von der alten kosmologischen zur bewußtseinsphilosophischen
Weltauffassung. Die Geschichte ist also eine konkrete Gestalt, in der nicht nur die
beiden Kantischen Welten vermittelt sind, sondern in der auch die Vernunft mit den
Akzidenzien und der Ungewißheit dialektisch versöhnt wird.
Die Geschichtsphilosophie Hegels geht also davon aus, daß die Geschichte nichts
anderes ist als die Selbstentwicklung der Vernunft bzw. des absoluten Geistes. Sie ist
daher eine Geschichtsmetaphysik, die auf eine absolute Freiheitsphilosophie abzielt.
Diese Geschichtsmetaphysik hat aber eine massive Kritik des sogenannten Historismus
bzw. Kontextualismus hervorgerufen, 17 der sich mit der Einzigartigkeit und 17 Der Begriff des Historismus oder Historizismus findet sich, wie G. Scholtz formuliert, in so vielen
verschiedenen konkreten Verwendungen, daß er "universelle geschichtliche Betrachtung" (i),
"Geschichtsmetaphysik" (ii), "Romantizismus und Traditionalismus" (iii), "historischen Positivismus und
Objektivismus" (iv) und "historischen Relativismus" (v) bedeuten kann (G. Scholtz, Das
Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: ders., Zwischen
Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, Frankfurt/M. 1991, S., 132). Bezüglich der Stellung
zur Geschichte lassen sich diese fünf Positionen in drei Formen zusammenfassen: 1) Entweder geht man
davon aus, daß die ganze Geschichte vernünftig und durch göttliche Vorsehung bestimmt ist (bei i und ii),
oder 2) man sieht nur die Vergangenheit vorbildlich an (bei iii). 3) Für die Positionen iv und v wird
schließlich die Vernünftigkeit der Geschichte problematisch (A.a.O., S. 133). In dem Sinne der ersten
beiden Bedeutungen gehört auch die Hegelsche Geschichtsauffassung als Geschichtsmetaphysik zum
Historismus. Aber die Teilnehmer an der Historismusdebatte scheinen heutzutage den Begriff des
Historismus in dem Sinne des 'historischen Relativismus' zu benutzen, weil der Historismus, der die
Einmaligkeit der historischen, kulturellen und empirischen Tatbestände betont, dem Universalismus der
Vernunft kritisch gegenübersteht. Natürlich kann man auf diese Form des Historismus verschieden
reagieren; während die Historismusverteidiger den Relativismus als willkommene Basis für das
pluralistische Leben ansehen (E. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, München
175
Besonderheit der historischen, kulturellen und empirischen Tatbestände beschäftigt.
Denn eine genaue Betrachtung der historischen und kulturellen Besonderheiten zeige,
daß die Geschichte keineswegs einer übergeordneten Logik folge, anders gesagt, die
Hegelsche Konzeption der Geschichte erweise sich letztendlich als ein Resultat des
metaphysischen Denkens, das die Akzidenzien, die Ungewißheit und das Individuelle
unter ein bestimmtes Gesetz subsumiert und eine All-Einheitslehre schafft. Das
Besondere hat also seine Existenzberechtigung innerhalb der Hegelschen
Geschichtsphilosophie, wie innerhalb des metaphysischen Denkens überhaupt, immer
nur in Beziehung auf das Ganze. Die folgende Kritik von Habermas an der Hegelschen
Geschichtsauffassung steht in diesem Kontext:
"Eine Geschichte, die den Bildungsprozeß der Natur und des Geistes in
sich aufnimmt und den logischen Formen der Selbstexplikation dieses
Geistes gehorchen muß, sublimiert sich zum Gegenteil von Geschichte.
[…] eine Geschichte mit festgestellter Vergangenheit, vorentschiedener
Zukunft und verurteilter Gegenwart ist keine Geschichte mehr."18
Der Kern der Habermasschen Kritik an der Hegelschen Geschichtsauffassung liegt also
darin, daß auch sie noch von den Kategorien der traditionellen Metaphysik geprägt ist,
die Habermas als All-Einheitslehre bezeichnet.
Der Kontextualismus von Lyotard und Roty geht davon aus, daß dieses metaphysische
Erbe im subjekt-geschichtsphilosophischen Einheitsdenken für die Krisen der
Gegenwart verantwortlich ist. Im Gegensatz zu dem einheitlichen metaphysischen
Weltbild betont der Kontextualismus den Pluralismus der Lebensformen, indem er die
1965, S. 148. Hervorhebung von mir), ist der Historismus nach seinen Gegnern bloß ein Relativismus,
"der sich in analoge skeptische Schwierigkeiten verwickelt" (E. Husserl, Historizismus und
Weltanschauungsphilosophie, in: F. Rodi / H.-U. Lessing (Hg.), Materialen zur Philosophie Wilhelm
Diltheys, Frankfurt/M. 1984, S. 103. Hervorhebung von mir), und "dessen 'Überwindung' immer noch auf
der Tagesordnung steht" (H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt/M. 1983, S.
52). Eine ausführliche Behandlung der Historismusdebatte würde sicherlich den Rahmen dieser Arbeit
sprengen. Zu diesem Thema siehe besonders G. Scholtz, Historismus, Historizismus, in: HWPh, Bd. 3, Sp.
1141ff. und ders., Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, a.a.O., S.
132ff. 18 ND, S. 169.
176
Momente des Nicht-Identischen, des Heterogenen und des Akzidentellen hervorhebt.19
Er ist also eine Reaktion auf die Hegelsche Geschichtsphilosophie.
Habermas deutet diese kontextualistische Einsicht als einen weiteren Schritt in der
Emanzipation der Menschheit – nämlich eine Emanzipation von der All-Einheitslehre
der Seinsmetaphysik und der geschichtsphilosophischen Weltauffassung. Dies bedeutet,
daß auch er die Wende zum 'nachmetaphysischen Denken' für historisch notwendig hält.
Diese These ist der Anlaß seiner Auseinandersetzung mit D. Henrich. Henrich spricht
noch von der Metaphysik, weil sie ursprünglich als Titel für die aristotelischen Bücher,
die in der Bibliotheksordnung nach der Physik kamen, alles das bezeichnet, was auch
heute noch als der Bereich, der über die bloße 'Physik' hinausgeht, von der Philosophie
thematisiert wird.20
Seine Kritik an Henrich bedeutet aber freilich nicht, daß Habermas mit dem
Kontextualismus vollständig einverstanden wäre. Er versucht vielmehr durch die
Einführung einer neuen Form der Vernunft, die von der Einheit der Vernunft
ausgehende metaphysische und die kontextualistische Position miteinander zu
verbinden, die davon ausgeht, daß die Entstehung und die Tätigkeit der Vernunft
durchaus akzidentiell sind: diese neue Form der Vernunft ist die kommunikative
Vernunft. Er legt dabei, wie das Wort 'Kommunikation' andeutet, Wert auf den
Verfahrensbegriff des 'Diskurses', der hier nichts anderes meint als eine
argumentgeleitete Kommunikation. Bei dem 'Diskurs' handelt es sich also um das
Verfahren, unter bestimmten Bedingungen die Wahrheit einer bestimmten Aussage bzw.
die Richtigkeit einer Handlung herauszufinden.
Der Ausgangspunkt der kommunikativen Vernunft ist daher, daß man allein durch das
Abwägen von Gründen und Gegengründen die Erkenntnis der Wahrheit von Aussagen
und der Richtigkeit einer Handlung erreichen kann. Aus diesem Grund sind die 19 Der kontextualistische Versuch, die versöhnende Fähigkeit der Vernunft grundsätzlich zu bestreiten
und sich durch eine radikale Kritik der metaphysischen Tradition der Philosophie entziehen zu wollen,
bleibt aber nach Habermas immer noch innerhalb des negativ-metaphysischen Denkschemas befangen,
das behauptet, daß die Trennung von S-O nur bei dem Denken entstehe und daß das metaphysische Eine
außerhalb des Denkens liege: Der Kontextualismus "gestattet sich gegenüber einem Einheitsdenken […]
mindestens sympathisierende Zurückhaltung. Denn der radikale Kontextualismus lebt ja selbst von einer
negativen Metaphysik, die eben dasselbe ruhelos umkreist, was der metaphysische Idealismus mit dem
Unbedingten immer schon gemeint und freilich immer schon verfehlt hatte." ND, S. 154. 20 Siehe D. Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne? Thesen gegen Jürgen Habermas, in: ders.,
Konzepte, Frankfurt/M. 1987, S. 11ff. Darauf antwortet Habermas in seinem Artikel Rückkehr zur
Metaphysik, in: ND, besonders S. 18ff.
177
informativen theoretischen und praktischen Wahrheiten für Habermas durchaus
diskursive, nicht intuitive Wahrheiten.21
Wenn Vernunft als Fähigkeit verstanden wird, Gründe in Ansehung der Frage zu geben,
ob diese oder jene Aussage wahr bzw. diese oder jene Handlung richtig ist, kann sich
die Wahrheit, sei es die Wahrheit von Aussagen oder die Richtigkeit einer Handlung,
nicht in dem Privatbesitz einer einzelnen Person befinde. Dies ist der Grund, warum
Habermas die Vernunft mit der Öffentlichkeit verbindet. Was nach Habermas
vernünftig ist, so K. Günther und L. Wingert, "zeigt sich im befreiten und befreienden
öffentlichen Austausch von Argumenten über Erfahrenes und Gedachtes."22
Die Theorie der kommunikativen Vernunft steht also zwischen einem Objektivismus
und einem Relativismus; wenn die kommunikative Funktion des Sprechens als
Ausgangspunkt der Philosophie genommen wird, so kann der Objektivismus nicht
erklären, inwiefern die scheinbar objektiven Tatsachen in Wirklichkeit von der Sprache
und den Kontext der Sprechhandlungen abhängen, und der Relativismus gerät in die
Aporie, daß auch noch die Gültigkeit des Relativismus selbst von der allgemeinen
Geltung der Verständlichkeit abhängt, die dem Phänomen des Sprechens eigen ist. Die
beiden Positionen verabsolutieren also "einen der beiden Aspekte des sprachlichen
Vernunftmediums, sei es dessen Allgemeinheit oder dessen Besonderheit" 23 und
geraten insofern in Aporien.
Der Verfahrensbegriff der kommunikativen Vernunft, der zwischen beiden Positionen
steht, sieht einerseits alle historischen Tatsache und sogar die Entstehung der Vernunft
selbst als kontingent an und erkennt andererseits die Eigenschaft des Mediums
sprachlicher Verständigung an, die Grenzen angeblich inkommensurabler Welten zu
transzendieren. Deshalb erscheint dieser Vernunftbegriff aus der Sicht der Objektivisten
als 'zu schwach', aber aus der Sicht der Relativisten als 'zu stark'.24 Aber aus der Sicht
der kommunikativen Vernunft zeigen sich der metaphysische Vorrang der Einheit vor
der Vielheit sowie der kontextualistischer Vorrang der Vielheit vor der Einheit als zwei
Seiten derselben Medalle: "Die Einheit der Vernunft [bleibt] allein in der Vielheit ihrer
21 Klaus Günther / Lutz Wingert, Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit,
Frankfurt/M. 2001, S. 7. 22 Ebd. 23 ND, S. 175. 24 A.a.O., S. 154.
178
Stimmen vernehmbar – als die prinzipielle Möglichkeit eines wie immer okkasionellen,
jedoch verständlichen Übergangs von einer Sprache in die andere."25
Die kommunikative Vernunft geht von einer bestimmten Sprachauffassung aus: von der
kommunikativ verstandenen Sprachpragmatik. Nach Habermas besteht zwischen der
Allgemeinheit und der Besonderheit die folgende Verbindung:
"In die Pragmatik eines jeden Sprachgebrauchs ist die Unterstellung einer
gemeinsamen objektiven Welt eingebaut. Und die Dialogrollen jeder
Gesprächssituation erzwingen eine Symmetrie der Teilnehmerperspektiven.
Sie eröffnen zugleich die Möglichkeit der Perspektivenübernahme zwischen
Ego und Alter sowie die Austauschbarkeit von Teilnehmer- und
Beobachterperspektiven. Diese allgemeinen pragmatischen Voraussetzungen
kommunikativen Handelns legen keineswegs den objektivistischen
Fehlschluß nahe, wir könnten den extramundanen Standpunkt eines
entweltlichten Subjekts einnehmen und uns einer kontextfreien, im Singular
auftretenden Idealsprache bedienen, um infallible und erschöpfende, also
definitive Aussagen zu machen, die die Wirkungsgeschichte stillstellen
würden – Kommentars weder fähig wären noch bedürften. Das ist nicht die
Alternative zum behutsamen, ethnozentrisch geständigen Kontextualismus.
An die Möglichkeit sprachlicher Verständigung können wir einen Begriff
situierter Vernunft ablesen, die ihre Stimme in zugleich kontextabhängigen
und transzendierenden Geltungsansprüchen erhebt."26
Diese Passage zeigt, daß die kommunikative Vernunft in dem Sinne 'immanent' ist, daß
sie außerhalb konkreter Sprachspiele und Institutionen nicht existiert, und zugleich als
eine regulative Idee diese Kontexte transzendiert.
Zwischen dem metaphysischen Denken, das von einem "festen Bestand an Formen"
ausgeht, "zu dem es erkennbare Alternativen nicht gibt", und dem Kontextualismus, der
"alles in den Strudel der Kontingenzerfahrung" bringt,27 entwirft die sprachtheoretische
Wende der Philosophie ein Konzept einer "schwachen, aber nicht defaistischen"28
25 A.a.O., S. 155. 26 A.a.O., S. 178f. 27 A.a.O., S. 179. 28 A.a.O., S. 182.
179
Einheit, in dem die Vielheit miteinbezogen ist. Der Geltungsanspruch der
Verständlichkeit, die dem jeweiligen Sprachspiel innewohnt, macht diese Einheit
möglich. Die Strukturen möglicher sprachlicher Verständigung bilden nach Habermas
für alle kommunikativ Handelnde "ein Nicht-Hintergehbares."29 Von daher eröffnet
sich ein Weg, an dem Rationalismus der Aufklärung festzuhalten, indem die
Verständlichkeit in die Kategorie der Rationalität eingeführt wird.
Vier Geltungsansprüche, die die Umgangsprache begleiten, d. h. objektive Wahrheit,
normative Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und intersubjektive Verständlichkeit,
fungieren als transzendentale bzw. regulative Ideen, die eine Handlung als rational
auszeichnen. Anders gesagt, das rationale Moment eines Handelns liegt in den ihm
innewohnenden transzendentalen Geltungsansprüchen. Habermas nennt den Zustand, in
dem die regulativen Geltungsansprüche alle erfüllt werden und dadurch eine gewaltlose
Kommunikation ermöglichen, 'ideale Sprechsituation'. Er versteht diesen Begriff als
eine Art Maßstab oder als eine regulative Idee, nicht aber als ein zu realisierendes
Projekt.
Wegen des transzendentalen Moments der Geltungsansprüche sowie der Idee der nicht
zu realisierenden 'idealen Sprechsituation' fokussiert sich die Kritik an Habermas häufig
auf die Frage, ob er damit nicht wieder zur Kantischen Zwei-Welten Lehre zurückkehrt.
Die Habermassche Einteilung der Geltungsansprüche, die in einer Analyse der
Umgangsprache herausgearbeitet werden, erinnert an die Kantische Deduktion der
Kategorien mit Hilfe einer Analyse der Vernunft. Einer der Hauptkritikpunkte, der seit
Hegel gegen Kant geltend gemacht wird, ist, daß es keine überzeugende Verbindung
zwischen dem Noumenon bzw. der intelligiblen Welt und dem Phaenomenon bzw. der
Erscheinungswelt gibt. Man kann sich daher fragen, ob sich nicht die das Handeln a
priori regulierenden Geltungen bei Habermas auf die Kantische intelligible Welt
beziehen. Wenn diese Kritik richtig ist, führt sie dazu, daß seine ursprüngliche Absicht,
die innerweltliche sittliche Totalität rational zu deuten, und sein Geltungsbegriff
miteinander in einer Spannung stehen. Habermas ist sich dieses Kritikpunkts bewußt:
"Ernster ist das Bedenken, ob nicht mit dem Begriff des kommunikativen
Handelns und der transzendierenden Kraft universalistischer
Geltungsansprüche ein Idealismus hergestellt wird, der mit den
29 A.a.O., S. 179f.
180
materialistischen Einsichten des Historischen Materialismus unverträglich
ist."30
Um dieses Problem zu vermeiden, muß er daher deutlich machen, daß der Bereich der
kommunikativ eingeteilten Geltungen nicht mit dem Bereich der Kantischen
Transzendentalität identisch ist. Während die Moral-Lehre Kants von dem "Purismus
der Vernunft"31 ausgeht, setzt der Bereich der kommunikativen Geltungen immer
wirkliche Zeiten und Räume voraus. Genauer gesagt, die Theorie des kommunikativen
Handelns lehnt nicht nur den empirischen Perspektivismus, sondern auch die
Metaphysik der Vernunft oder 'den Purismus der Vernunft' ab, der davon ausgeht, daß
die Sprache erst nachträglich zu der Vernunft hinzu kommt. Das Wesen der
Geltungsansprüche besteht bei jeder Kommunikation darin, daß sie jeden lokalen
Kontext transzendieren und gleichzeitig jeweils nur in bestimmten Kontexten erhoben
werden. Das kommunikative Handeln ist also einerseits innerweltlich, weil es in der
konkreten Welt ausgeführt wird, und andererseits transzendental, weil es die über diese
Welt hinausgehende Normativität voraussetzt. Von daher spricht Habermas davon, daß
die in dem kommunikativen Handeln erhobene Geltung 'eine abgeschwächte oder
begrenzte Transzendentalität' ist.
Gerade in diesem Zusammenhang müssen die beiden oben genannten Punkte verstanden
werden, daß die Geltungsansprüche als transzendentale Ideen fungieren, die die
Rationalität einer Handlung bestimmen, und daß die ideale Sprechsituation nicht ein
real zu verwirklichendes Projekt, sondern eine regulative Idee ist. Habermas betont in
einer Abhandlung den Unterschied zwischen seiner Diskurstheorie und der Kantischen
Morallehre wie folgt:
"Erstens gibt die Diskursethik die Zwei-Rechte-Lehre auf. […] Eine
gleichsam transzendentale Nötigung, unter der sich verständigungsorientiert
eingestellte Subjekte an Geltungsansprüchen orientieren, macht sich nur in
dem Zwang bemerkbar, unter idealisierenden Voraussetzungen zu sprechen
und zu handeln. Der Hiatus zwischen Intelligiblem und Empirischem wird
zu einer Spannung abgemildert, die sich in der faktischen Kraft
kontrafaktischer Unterstellungen innerhalb der kommunikativen
30 PDM, S. 374. 31 J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 186.
181
Alltagspraxis selber bemerkbar macht. Zweitens überwindet die
Diskursethik den bloß innerlichen, monologischen Ansatz Kants, der damit
rechnet, daß jeder Einzelne in foro interno ('im einsamen Seelenleben', wie
Husserl sagte) die Prüfung seiner Handlungsmaximen vornimmt. […]
Einzig die Universalien des Sprachgebrauchs bilden eine den Individuen
vorgängig gemeinsame Struktur. Drittens erhebt die Diskursethik den
Anspruch, jenes Begründungsproblem, dem Kant letztlich durch den
Hinweis auf ein Faktum der Vernunft – auf die Erfahrung des Genötigtseins
durch Sollen – ausweicht, mit der Ableitung von 'U' [sc. dem
Universalisierungsgrundsatz] aus allgemeinen Argumentations-
voraussetzungen gelöst zu haben."32
Von daher braucht die kommunikative Vernunft, die in der auf die Verständigung
zielenden Alltagspraxis verwirklicht ist, nicht wie Kant von zwei unversöhnlichen
Welten auszugehen. Denn die kommunikativ Handelnden setzen beim Handeln immer
die über die Zufälligkeit des jetzigen Handelns hinausgehenden allgemeinen rationalen
Geltungsansprüche voraus und sind aber gleichzeitig mit der kontextabhängigen
Faktizität verbunden. Folglich wird die unversöhnliche Trennung zwischen den zwei
Welten Kants zu einer innerlebensweltlichen Spannung zwischen Geltung und Faktizität
abgemildert.33 Habermas formuliert diesen Gedanke wie folgt:
"Die für Propositionen und Normen beanspruchte Geltung transzendiert
Räume und Zeiten, aber der Anspruch wird jeweils hier und jetzt, in
bestimmten Kontexten erhoben und mit faktischen Handlungsfolgen
akzeptiert oder zurückgewiesen."34
Ferner denkt Habermas, daß die traditionelle Einheitsidee nichts anderes als 'ein
transzendentaler Schein' ist, der durch die Hypostasierung der alltagspraktisch
vorausgesetzten Lebenswelt zur spekulativen Idee des Einen und Allen entstanden ist:
"Mythische, religiöse und eben auch metaphysische Weltbilder haben sich der
32 J. Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders.,
Erläuterung zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991, S. 20f. 33 Vgl. ND, S. 182. 34 ND, S. 179 und PDM, S. 375.
182
vergegenständlichenden Projektion der nur intuitiv gewußten Einheit der Lebenswelt
auf die Ebene expliziten Wissens verdankt." 35 Wie schon erwähnt, bleibt die
Lebenswelt den Beteiligten als "ein intuitiv gewußter, unproblematischer und
unzerlegbarer holistischer Hintergrund im Rücken."36 Sie bildet den "Horizont an
intersubjektiv geteilten Hintergrundannahmen, in die jeder Kommunikationsprozeß
vorgängig eingebettet ist."37 Die Lebenswelt läßt sich daher nie vollständig begreifen
oder thematisieren. Die kommunikativ Handelnden müssen daher die Arbeit der
weltbildenden Synthesis übernehmen, weil die Lebenswelt "eine implizit und
vorreflexiv mitlaufende Totalität [bildet], die im Augenblick ihrer Thematisierung
zerfällt – Totalität bleibt sie nur im Modus des abgeschatteten, präsupponierten
Hintergrundwissens."38
Aus diesem Grund erkennt auch Habermas, daß seine Bemühung, das Rationalitätsideal
der Aufklärung fortzuführen, nur in abgemilderter Form verwirklicht werden kann. Dies
ist der Grund, warum er den Begriff der "transitorischen Einheit" entwickelt hat, "die
sich in der porösen und gebrochenen Intersubjektivität eines sprachlich vermittelten
Konsenses herstellt" 39 und damit die Pluralisierung der Lebensformen sowie die
Individualisierung der Lebensstile ermöglicht. Er formuliert diese Einheit als 'Einheit
der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen'. Von diesem Hintergrund charakterisiert er
das Wesen der kommunikativen Vernunft wie folgt:
"Die kommunikative Vernunft ist gewiß eine schwankende Schale – aber sie
ertrinkt nicht im Meer der Kontingenzen, auch wenn das Erzittern auf hoher
See der einzige Modus ist, in der sie Kontingenzen 'bewältigt'."40
35 ND, S. 183 36 PDM, S. 348. 37 Vgl. A. Honneth, Kritik der Macht, a.a.O., S. 318. 38 ND, S. 182f. 39 A.a.O., S. 180. 40 A.a.O., S. 184f.
183
2. Würdigung und Kritik der Habermasschen Theorie Das 'kommunikative Handeln' und die 'Lebenswelt' als 'komplementärer' Begriff für
jenes Handeln sind die beiden Hauptbegriffe der Theorie des kommunikativen Handelns.
Der Gedanke der dialektischen Wechselwirkung zwischen beiden Faktoren kann als die
Habermassche Antwort auf die klassische sozialphilosophische Frage nach dem
Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft gelten; während die traditionelle
Sozialphilosophie eine reduktionistische Tendenz hat, indem sie entweder der
Gesellschaft oder dem Individuum die Priorität gibt, versucht Habermas die Autonomie
des einzelnen Subjekts und gleichzeitig dessen Abhängigkeit von der Lebenswelt, die
Kontinuität der Geschichte und deren Diskontinuität sowie die Kritik an der Kultur und
die Aufnahme der kulturellen Überlieferungen etc. in einer Theorie zu vereinigen. Im
Bezug auf den philosophischen Diskurs der Moderne läßt sich daher die Position von
Habermas wie folgt zusammenfassen: Erstens: die Theorie des kommunikativen
Handelns übernimmt die Zeitdiagnose der frühen kritischen Theorie, die behauptet, daß
die moderne wissenschaftliche Vernunft eine instrumentell verkürzte Vernunft ist, die
auf die wertneutrale Objektdarstellung abzielt. Die frühen Vertreter der kritischen
Theorie sehen den Ursprung dieser Vernunft in der modernen Subjektphilosophie, die
vom erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Schema ausgeht. Die positivistische
Tendenz der modernen Wissenschaft, die durch ihre objektivistische Methode
gekennzeichnet ist, spiegelt die allmähliche Machterweiterung der instrumentellen
Vernunft wider. Das Problem ist, daß diese Vernunft zwar zu dem Fortschritt der
modernen Wissenschaft beigetragen hat, aber nicht auf ihre eigene
erkenntnistheoretische Stellung reflektiert und kein Interesse an einer Selbstkritik oder
an einer Verbesserung des Subjekts hat.
Habermas bestätigt mit der Theorie des kommunikativen Handelns die Zeitdiagnose der
frühen kritischen Theorie, die den Verlust der kritischen Funktion der Vernunft als die
Ursache der pathologischen Erscheinungen der Moderne betrachtet. Darüber hinaus
bewahrt er mit seiner Theorie die moderne rationalistische Tradition, indem er nicht der
Rationalität selbst, sondern der instrumentell verkürzten Rationalität die Verantwortung
für die pathologischen Erscheinungen zuschreibt. Das subjektphilosophische Schema
verabsolutiert die instrumentelle Vernunft, und daher führen die Modernitätskritiker,
wie z. B. die Postmodernisten, den Grund der modernen pathologischen Erscheinungen
auf die Verabsolutierung der Vernunft, also auf 'ein Zuviel an Vernunft' zurück.
184
Habermas ist aber der Meinung, daß sowohl die Subjektphilosophie als auch der
Postmodernismus darin übereinstimmen, daß sie die instrumentelle Vernunft als
Vernunft überhaupt ansehen. Die Theorie der kommunikativen Vernunft zeigt dagegen
in der modernen Wissenschaft überhaupt die Form einer verkürzten Vernunft auf, und
somit herrscht "nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Vernunft".41
Zweitens: diese Habermassche Antwort zeigt einen neuen Weg zu einer normativen
Basis für die Gesellschaftskritik, die der kritischen Gesellschaftstheorie fehlt; diese
Theorie, die davon ausgeht, daß die Vernunft infolge der Subjektsphilosophie ihre
kritische Funktion verliert und nur noch die instrumentelle Vernunft übrig bleibt, ist
trotzdem, so Habermas, insofern keinen Schritt über das subjektphilosophische
Denkschema hinaus gegangen, als ihre Kritik immer noch vom Ideal der Autonomie
und Freiheit geleitet ist. Nach Habermas ist dieses Ideal ein zentraler Bestandteil des
subjektphilosophischen Denkens. Der Kernpunkt der Habermasschen Kritik an der
kritischen Gesellschaftstheorie ist also, daß diese keine normative Basis hat, die die
Gültigkeit ihrer eigenen Kritik an der instrumentellen Vernunft garantieren kann.42
Die kommunikative Vernunft verabsolutiert sich selbst dagegen nicht. Daher nennt
Habermas sie eine 'bescheidene Vernunft'. Gerade weil sie eine Verständigung über
etwas in der Welt intendiert, erkennt sie die Differenz zwischen Meinungen und
Argumenten an und versucht deshalb diese Differenz durch den Prozeß der
argumentativen Auseinandersetzung, also durch eine prozeduale Rationalität,
aufzulösen. Jede reale Kommunikation enthält schon das Moment der Rationalität in
sich in dem Sinne, daß sie – wenn man der sprachpragmatischen These folgt, daß jeder
Sprechakt immer semi-transzendentale Geltungsansprüche erhebt – eine ideale
Sprechsituation voraussetzt, von der aus Fälschung, Täuschung und (oder) Mißbrauch
der Macht kritisiert werden könnten. Hierdurch kann nach Habermas die kritische
Funktion der Vernunft wiederhergestellt werden, die in der kritischen
Gesellschaftstheorie verloren gegangen ist, und die Gesellschaftskritik kann einen neuen
normativen Maßstab gewinnen, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten.
Die Theorie des kommunikativen Handelns hat allerdings trotz dieser Bemühungen
noch die folgenden Schwierigkeiten. Die Verknüpfung von kommunikativem Handeln
und Lebenswelt bei Habermas kann, wie erwähnt, sozialwissenschaftlich als ein
41 PDM, S. 361. 42 NU, S. 145, PDM, S. 95ff. Vgl. Anne Créau, Kommunikative Vernunft als 'entmystifiziertes Schicksal',
Frankfurt/M. 1991, S. 139f.
185
wechselseitiger Bedingungszusammenhang verstanden werden. Das Problem ist aber,
daß es nicht so einfach ist, sich den genauen Inhalt dieser Verknüpfung vorzustellen.
Die Lebenswelt wird als 'Ressource' und 'Horizont' des kommunikativen Handelns
angesehen. Der kommunikativ Handelnde wird dagegen als Subjekt verstanden, das die
Fähigkeit hat, rational zu handeln und durch die ungezwungene Kommunikation mit
den Anderen einen Konsens zu erreichen. Damit die Rationalität aber mit dem Begriff
der Kritik verbunden werden kann, ist für die Rationalität m. E. das Transzendieren der
gegebenen vorbewußten Bedingungen unentbehrlich. Man kann sich daher mit Recht
fragen, ob der kommunikativ Handelnde, der der apriorischen Struktur der Lebenswelt
verhaftet ist, wirklich einen ungezwungenen Konsens erreichen kann, und weiter, ob die
'ideale Sprechsituation' als theoretischer Begriff bei Habermas wirklich seine
Berechtigung hat, wenn das Subjekt stets von der Lebenswelt abhängig ist. Die 'ideale
Sprechsituation' kann daher bloß als eine Abstraktion gedeutet werden, die keine
Entsprechung in der Wirklichkeit hat.
Aus diesem Grund wird Habermas von entgegengesetzten Positionen gleichzeitig
kritisiert. Der Kern dieser Kritik an Habermas ist also, daß die Problematik der Totalität
bzw. des Ganzen bei dem Begriff des kommunikativen Handelns einerseits und die der
Individualität bzw. der Reflexionsfähigkeit des Subjekts bei dem der Lebenswelt
andererseits nicht ausreichend berücksichtigt werden können.
1) Kritik am kommunikativen Handeln:
Es wurde bereits erwähnt, daß Habermas für seine neue Rationalitätstheorie die
Sprachphilosophie auswertet, die es erlaubt, den Begriff der Rationalität mit den
Begriffen 'Einverständnis', 'Verständigung' sowie vor allem 'ungezwungener
Kooperation' zu verbinden. Also spielt das Sprachparadigma bei der Habermasschen
Rationalitätstheorie eine entscheidende Rolle. Die 'Zwanglosigkeit' nimmt einen
zentralen Platz in seiner Rationalitätstheorie ein. Die Vorstellung der 'Zwanglosigkeit'
zeigt, daß Habermas in der philosophischen Tradition steht, die das Wesen der
Demokratie in dem Konzept der freiwilligen Kooperation sieht, d. h. die vertritt, daß die
Menschen dann dem Ideal der Rationalität entsprechen, wenn ihre Verträge als
freiwillig geschlossene Abmachungen aufgefaßt werden können.
Dies spiegelt einen modernen rationalistischen Optimismus wider, der von der
Selbständigkeit des einzelnen Subjekts und auch von der Möglichkeit einer
grundsätzlichen Kritik an der Kultur ausgeht. In der Tat deutet er selbst auf eine
Möglichkeit der Kritik an dem gesamten kulturellen Bereich hin: "Die kulturelle
186
Überlieferung muß ein reflexives Verhältnis zu sich selbst gestatten; sie muß ihrer
Dogmatik soweit entkleidet sein, daß die durch Tradition gespeisten Interpretationen
grundsätzlich in Frage gestellt und einer kritischen Revision unterzogen werden
dürfen."43
Es fragt sich aber, ob diese grundsätzliche Kritik an der Kultur möglich sein kann, wenn
die Interaktionsbeteiligten nicht vollständig frei von äußeren materiellen sowie von
internalisierten Zwängen sind, welche außerhalb der Reichweite ihres Bewußtseins
liegen und dennoch ihr Verhalten beeinflussen oder sogar verursachen können. Diese
skeptische Frage bringt die weiteren Fragen mit sich, ob sich die Interaktionsbeteiligten
des Sinns ihrer Aussagen und ihres Tuns vollständig bewußt sein können, ob sie ihre
Sprache und ihr Weltbild überhaupt einer rationalen Überprüfung unterwerfen können
und ob die sprachlich strukturierten Weltbilder einfach als von Menschen konstituierte
Interpretationen betrachtet werden können, die vollständig der Kritik offen sind. Diese
Fragestellungen haben wiederum etwas mit einer anderen, für die Habermassche
Rationalitätstheorie entscheidenden Frage zu tun, ob ungezwungenes, bewußtes,
rationales Einverständnis überhaupt möglich ist, wenn die an der Kommunikation
Beteiligten unvermeidlich von der vorbewußten Tiefenstruktur der Symbole und der
Zeichenbedeutungen geprägt sind.
In seiner Rationalitätstheorie, die von der Vorstellung der Zwanglosigkeit der idealen
Sprechsituation ausgeht, scheint Habermas – entgegen seiner Absicht – die
Abhängigkeit der Menschen von den unbewußt wirkenden Strukturen der Lebenswelt
zu unterschätzen. Um seiner These gerecht zu werden, daß die Rationalität oder die
Freiheit des Menschen nicht in der vollständigen Befreiung von solchen Strukturen liegt,
sondern nur in dem Maße verwirklicht werden kann, in dem Kooperation innerhalb der
Strukturen der Lebenswelt zustande kommt, müßte Habermas statt der Vorstellung der
Zwanglosigkeit und der Idee der idealen Sprechsituation die empirischen Tatsachen
stärker in seiner Theorie berücksichtigen. Die Erfahrung lehrt, daß die Ansichten einer
Gesellschaft über die Gegenstände in der Welt und über die Normen des Handelns in
der Regel unkritisch und unhinterfragt von den einzelnen Subjekten übernommen
werden. Dies zeigt sich beispielsweise darin, daß selbst die modernen, rationalen
Weltdeutungen häufig arationale Momente enthalten und daher nach J. Alexander auch
43 TkH 1, S. 109.
187
in der Moderne das Mystische noch eine Rolle spielt.44 Das Problem ist, daß es nicht
einfach ist zu beurteilen, ob diese Weltdeutungen irrational sind. Aus diesem Grund ist
Alexander der Ansicht, daß die Rationalitätstheorie von Habermas, da sie das sprech-
handelnde Subjekt zu stark akzentuiert, die vorbewußten Strukturen des Kulturcodes
unterschätzt und insofern in den Verdacht gerät, daß sie "in antagonistischer Beziehung
zur Kultur"45 steht. Diese Kritik weist also darauf hin, daß die Habermassche Theorie
ebenfalls dem Ideal der modernen Subjektphilosophie verhaftet ist, die zwar von der
Idee der absoluten Kritikmöglichkeit bzw. der absoluten Autonomie des
transzendentalen Subjekts ausgeht, aber mit der Paradoxie der Rationalität endet.
2) Kritik an der Lebenswelt:
Der Begriff der Lebenswelt führt zu einer ganz anderen Kritik. Während der Begriff des
kommunikativen Handelns bei Habermas an die typische moderne Auffassung von der
Autonomie des Subjekts anknüpft, erhellt am Begriff der Lebenswelt, daß Habermas die
Leistungen der Moderne unterschätzt. Er versucht mit Hilfe des Begriffs der Lebenswelt,
einerseits die Idee der Totalität der Gesellschaft zu rekonstruieren und andererseits die
Beziehungen der einzelnen Handlungen zur Lebenswelt darzustellen. Er betrachtet also
das Verhältnis zwischen der Totalität der Lebenswelt und der Autonomie des Handelns.
Dies ist die Habermassche Version der alten klassischen Frage nach dem Verhältnis von
Einem und Vielem. Es ist aber fraglich, ob die Lebenswelt – als nicht thematisierbare
Totalität oder als transzendentaler Ort, auf den sich die Interaktionsteilnehmer
gemeinsam beziehen sollen, – ein wissenschaftlicher oder philosophischer Begriff sein
kann. Eine der wichtigen Kritikpunkte Luhmanns an Habermas fokussiert sich gerade
auf dieses Problem:
"Ein unbestreitbar schöner, sich gut anfühlender Begriff: konkret und robust,
nah und fern zugleich, reich an empirischem Gehalt und doch mit den
Eigenschaften der äußersten Sphäre ausgestattet: se ipsa et omnia continens.
Gleichwohl steckt in diesem Begriff eine eigentümliche Ambibalenz, die
Aussagen über Lebenswelt unscharf werden lassen. Als Begriff läßt dieser
Weltbegriff sich von anderen Weltbegriffen […] und erst recht von allen
Sachbegriffen absetzen. Der Sachverhalt, den er bezeichnet, verträgt jedoch
44 Vgl. J. Alexander, Habermas' neue Kritische Theorie: Anspruch und Probleme, in: Kommunikatives
Handeln, A. Honneth / H. Joas (Hg.), Frankfurt/M. 1986, S. 103. 45 Ebd.
188
keine Exklusion.46 Auch die Wissenschaft findet in der Lebenswelt statt.
Alles, was ist, ist in der Lebenswelt aufweisbar. Die Lebenswelt ist die Welt.
[…] Wir haben also einen Begriff, der die Begriffe, die er ausschließt, in
den Sachverhalt einschließt, den er bezeichnet. Daß mit dieser paradoxen
Struktur jedes Problem, auch das der Intersubjektivität, erfaßt werden kann,
ist leicht zu sehen. Aber was hilft die Umsetzung eines Problems in eine
Paradoxie?"47
Auch D. Henrich, der eine ganz andere philosophische Position als Luhmann einnimmt,
sieht den Schwachpunkt der Habermasschen Theorie in diesem Begriff. Der Begriff der
Lebenswelt relativiert bei Habermas, wie schon erwähnt, den Begriff der Reflexion, der
als der Ausgangspunkt der modernen Philosophie gelten kann. Dies bedeutet umgekehrt,
daß dieser Begriff dafür Raum lassen könnte, die unmittelbare Totalität oder die
metaphysische Einheit wieder zu beleben, der sich die Reflexion einst mühevoll
entzogen hat. 'Reflexion' ist nach ihm ein Grundterminus im Denken der Moderne, der
nichts anderes meint als "das Bewußtsein von den Unterschieden zwischen den
Verständigungsarten, welche sich in der Spontaneität des bewußten Lebens ausgebildet
haben", und "eine Distanznahme zu den primären Tendenzen der Verstehensarten und
Selbstbeschreibungen insgesamt."48 Die Reflexion ist also nach Henrich ein Resultat
der anstrengenden Bemühungen des menschlichen Denkens, sich der Unmittelbarkeit
des Seins zu entziehen. Aber mit der Einführung des Lebensweltbegriffs bringe
Habermas nur "eine längst verlorene Unmittelbarkeit"49 in Umlauf und könne dadurch
den Begriff der Reflexion und dessen Vorzüge nicht angemessen würdigen. Einer
überzeugenden Analyse der Reflexion, so D. Henrich, "weicht aber eine Theoriesprache
wie die von Habermas aus, die, wie immer unfreiwillig, für Unmittelbarkeit optiert,
46 Dies bedeutet nach Luhmann, daß die Lebenswelt nur durch interne Distinktion charakterisiert werden
kann. N. Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte
soziologischer Theoriebildung, in: Archivio di Filosofia, Marco M. Olivetti (Hg.), Cedam 1986,
Anmerkung, S. 49. 47 Ebd. Hervorhebung im Original. 48 D. Henrich, Was ist Metaphysik – was Moderne? – Zwölf Thesen gegen J. Habermas; in: ders.,
Konzepte, Frankfurt/M. 1987, S. 18f. 49 Ebd.
189
indem sie die Ressourcen der Lebenswelt ohne weiteres als zuletzt verläßlich geltend
machen will."50
50 A.a.O., S.19.
190
191
Zusammenfassung
Die Fragestellung Die Philosophie bemüht sich heutzutage darum, das Wesen der Moderne zu verstehen.
Die verschiedenen Deutungen der Moderne stehen dabei in einem engen
Zusammenhang mit der Art und Weise, wie man viele sozialpathologische
Erscheinungen behandelt, die die Entwicklung der Technik mit sich bringt und die das
Leben des Menschen selbst gefährden. Die Teilnehmer an dem Diskurs der Moderne
gehen in der Regel davon aus, daß die Moderne, um sich von der mythischen,
metaphysischen Denkweise und der autoritären Kultur der Vergangenheit zu befreien,
in einer erkenntnistheoretischen Wende des Denkens die Problematik der Subjektivität
in den Vordergrund gestellt hat. Im Verlaufe der Zeit sei die Moderne, der es um die
Freiheit des Menschen ging, aber "einem neuen Mythos zum Opfer" TPF
1FPT gefallen.
Diese Zeitdiagnose hat drei verschiedene philosophische Antworten hervorgerufen: 1)
die postmoderne Position, die das Projekt der vernünftigen, rationalen Emanzipation der
Moderne als Mißerfolg bestimmt und damit in die Richtung eines Irrationalismus oder
Antirationalismus geht, 2) die subjektphilosophische Position, die davon aus geht, daß
die sozialpathologischen Erscheinungen der Moderne aus einer inkonsequenten
Anwendung der modernen Vernunftidee resultieren und daher nicht daran zweifelt, daß
innerhalb der Philosophie die Vernunft der oberste Richter sei; sie vertritt also einen
starken rationalistischen Optimismus und geht davon aus, daß das Paradox der
Aufklärung durch die Entwicklung der auf der modernen Rationalität basierenden
Wissenschaft und Technik aufgehoben werden sollte; 3) die intersubjektivitäts-
philosophische Position, die die sozialpathologischen Erscheinungen der Moderne zwar
als Resultat der monologischen, vom Subjekt-Objekt-Schema ausgehenden
subjektivistischen Vernunft anerkennt, aber gleichzeitig die Wiederherstellung der
emanzipatorischen Funktion der Vernunft zu erreichen versucht, indem sie von einem
intersubjektiven, dialogischen Vernunftkonzept ausgeht. Anders gesagt, diese Position
kritisiert zwar die Moderne in dem Punkt, daß sie die monologische, subjektivistische
Vernunft ablehnt, aber sie nimmt durch die Erweiterung des Bereiches der Vernunft die
rationalistische Tradition der Moderne über. Dadurch gewinnt sie eine Möglichkeit,
innerhalb der rationalistischen Tradition der Moderne das Projekt der Moderne weiter
TP
1PT M. Jay, Dialektische Phantasie, a.a.O., S. 305.
192
zu entwickeln, während die ersten beiden Positionen dem Schema von Vernunft/Nicht-
Vernunft verhaftet sind und daher entweder in einen Rationalismus oder in einen Ir-
bzw. Antirationalismus fallen.
Also zeichnet sich die erste Position durch eine Radikalisierung der dezentrierenden
Tendenzen, die zweite durch die entschlossene Beibehaltung des klassischen
Autonomieideals und die dritte durch eine Rekonstruktion der Vernunft durch die Idee
der Intersubjektivität aus.TPF
2FPT
Der Ausgangspunkt des Habermasschen Denkens Habermas beurteilt den Paradigmenwechsel von der Subjektivität zur Intersubjektivität
als "die eigentliche philosophische Leistung unserer Epoche."TPF
3FPT Nach ihm sind die erste
und die zweite Position insofern einseitig, als sie die subjektivistische bzw.
instrumentelle Vernunft als einzige Form der Vernunft betrachten; die Differenz
zwischen ihnen liegt nur darin, daß die erste Position diese Vernunftkonzeption
abschaffen will, während die zweite an ihr festhalten möchte. Nach Habermas
überwindet die Subjektivitätsphilosophie nicht den monologischen, verdinglichenden
Charakter der Vorstellung eines einsamen, abgeschlossenen Subjektes, das sich die Welt
unterwirft, während die postmoderne Position insofern problematisch, ja
selbstwidersprüchlich ist, als sie ihre eigenen ir- oder antirationalistische Ansichten
selbst noch mit rationalen, d. h. vernünftigen Argumenten rechtfertigt.
Aus dieser Sicht betrachtet Habermas die gegenwärtigen sozialpathologischen
Erscheinungen weder als einen direkten Beweis für den Mißerfolg des Projektes der
Moderne noch als einen Grund für den Übergang zur Postmoderne, noch sieht er diese
Probleme als Resultat einer inkonsequenten Anwendung der modernen Vernunftidee an;
vielmehr versteht er sie als Ausdruck der "mit sich selber zerfallenen Moderne".TPF
4FPT Dies
bedeutet, daß das Projekt der Moderne mit dem Rationalisierungsprozeß zwar verzogen
wurde, aber innerhalb der Moderne weitergeführt werden kann und muß. Er strebt also
eine Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne an. Diese Versöhnung
bedeutet für ihn vor allem, Formen des vernünftigen Zusammenlebens zu finden, ohne
die in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen erscheinenden Differenzierungen
TP
2PT Vgl. A. Honneth, Dezentrierte Autonomie, a.a.O., S. 238f.
TP
3 PTNU, S. 134TP
.
TP
4PT A.a.O., S. 202.
193
preiszugeben.TPF
5FPT Vor diesem Hintergrund kann er 'die mit sich zerfallene Moderne' nicht
als Scheitern der Moderne bzw. der Aufklärung, sondern als 'ein unvollendetes Projekt'
ansehen:TPF
6FPT "Die Hoffnung auf Emanzipation der Menschen aus selbstverschuldeter
Unmündigkeit und erniedrigenden Lebensumständen hat ihre Kraft nicht verloren."TPF
7FPT
Hegel und Habermas Habermas sieht in der Philosophie des jungen Hegel den ersten Versuch, die Moderne
nicht als gescheitert, sondern als in sich gespalten zu betrachten. Anders gesagt, Hegel
ist der erste Philosoph, der das Problem der 'Entzweiung' der Moderne analysiert. Das
ist der Grund, warum Hegel in seiner früheren Zeit den Begriff einer versöhnenden
Vernunft entwickelt hat und nicht, wie die Postmoderne, den Begriff der Nicht-Vernunft
zur zentralen Kategorie erhebt. "Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der
Philosophie", TPF
8FPT deren Aufgabe es ist, die Trennung in eine Einheit zu bringen.
In seiner Kritik an den positiven Systemen, wie z. B. an der christlichen Religion und an
der Reflexionsphilosophie, zeigt er, daß die moderne Subjektivität nichts anderes als
eine verengte, einseitige isolierte Reflexion ist.TPF
9FPT Diese Reflexion erlaubt, so Hegel, zwar
eine Emanzipation von der religiösen, mythtischen und metaphysischen Weltsicht, aber
sie führt zu einer dualistischen Entzweiung des Lebens und macht eine lebendige
Einheit von 'privatem und öffentlichem Leben', von 'Sein und Sollen' und von 'Glauben
und Wissen' etc. unmöglich. Der Hauptkritikpunkt von Hegel an der modernen
subjektivistischen Vernunft besteht also darin, daß diese Vernunft zwar eine
Emanzipation von der christlichen Weltanschauung ermöglicht hat, aber daß sie wegen
ihrer strikten Selbstbeziehung keine Einheit mit dem Anderen, wie z. B. mit dem
Glauben, herstellen konnte.
Hegel geht von dieser kritischen Überlegung zum Entwurf einer 'versöhnenden
Vernunft' über, durch die das getrennte Leben wieder vereinigt werden kann. Dieser
TP
5PT Vgl. Ebd.
TP
6PT Habermas hielt bei dem Empfang des 'Adorno-Preises' der Stadt Frankfurt 1980 einen Vortrag, dessen
Titel: "Die Moderne – ein unvollendetes Projekt" lautet. Dieser Titel deutet sehr gut die Zielsetzung von
Habermas an. Dieser Artikel befindet sich in: J. Habermas, Kleine Politische Schriften, Frankfurt/M. 1981.
TP
7PT J. Habermas, Die nachholende Revolution, a.a.O., S. 203.
TP
8PT G. W. F. Hegel, Differenzschrift, S. 12. Hervorhebung im Original.
TP
9PT Vgl. A.a.O., S. 16. Der Jenaer Hegel schlägt statt dieser isolierten Reflexion eine philosophische
Reflexion, d. h. die Vernunft bzw. Spekulation als einen philosophischen Begriff für eine wahre
Vereinigung vor.
194
Übergang geht von der Überlegung aus, daß die isolierte Reflexion, d. h. die
subjekphilosophische Vernunft die Aufgabe der Vereinigung des Lebens nicht erfüllen
kann; sie behandelt das Andere in dem erkenntnistheorischen Denkschema von Subjekt
und Objekt und enthält daher praktisch schon einen Keim der Herrschaftsstruktur in sich.
Hegel konkretisiert dagegen in seiner Frankfurter Zeit die Idee der 'versöhnenden
Vernunft' mit Hilfe der Begriffe der Liebe und des Lebens. Liebe bedeutet bei Hegel,
das Andere als notwendige Bedingung für die eigene Existenz anzusehen, also das
Selbst im Anderen zu finden, und Leben bedeutet für ihn, Manigfaltiges und
Einheitliches, Endliches und Unendliches als eine Einheit zu verstehen, ebenso wie ein
Organismus viele Glieder in sich vereint. Hegel bezeichnet vor diesem Hintergrund das
Leben als "die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung."TPF
10FPT
Es wird also deutlich, daß Hegel das Leben als ein 'Zusammenleben' bzw. als ein
gesellschaftliches Leben versteht. Die positiven Institutionen und die
Reflexionsphilosophie dienen für Hegel nur dem, die Trennung des einzelnen Lebens
vom Zusammenleben zu rechtfertigen, wie anhand der Geschichte Abrahams deutlich
wird, dessen Zerreißung der "Bande des Zusammenlebens und der Liebe"TPF
11FPT ihn zum
Stammvater einer Nation machte, die dem Geist der Trennung verhaftet war. Die
'versöhnende Vernunft' bezweckt also die Wiederherstellung einer sittlichen
Gemeinschaft.
Habermas findet in dem Begriff der 'versöhnenden Vernunft' des jungen Hegel ein
Vorbild seiner Philosophie; durch die Erhebung der Liebe und des Lebens zu einer
Form der Vernunft konnte Hegel die Vernunft nicht mehr als etwas Substanzielles,
sondern als ein Medium betrachten, das das Selbst und das Andere miteinander
verbindet. Hegel entwickelt in der Philosophie des Geistes der Jenaer Zeit den Begriff
der Vernunft als Medium noch systematischer, wo er den subjektiven Geist in Sprache,
Arbeit (bzw. Werkzeug) und Familie (bzw. Liebe) unterteilt; die Funktion der Sprache
besteht in der Darstellung des Verhältnisses zwischen dem erkennenden Subjekt und
dem erkannten Gegenstand, das Werkzeug vermittelt die Natur und das handelnde
Subjekt, und die Liebe bezieht die handelnden Subjekte aufeinander.
Dieser Gedanke unterscheidet sich stark von dem Begriff des Selbstbewußtseins der
Reflexionsphilosophie, den Habermas eine 'narzißtische', transzendentale Subjektivität
nennt, weil er auf dem "reinen, sich auf sich selbst beziehenden Bewußtsein der
TP
10PT G. W. F. Hegel, TW, Bd. 1, S. 422.
TP
11PT A.a.O., S. 277.
195
ursprünglichen Apperzeption"TPF
12FPT basiert. Der Geist wird dagegen bei Hegel als eine
Einheit zwischen Subjekt und Objekt konzipiert: "Es muß eigentlich weder von einem
solchen Subjekte noch Objekte die Rede sein, sondern vom Geiste." TPF
13FPT Habermas
schreibt dazu: "Anstelle der fruchtlosen Kontroversen der Erkenntnistheorie will Hegel
die Diskussion auf jene 'Medien' lenken, die die Beziehungen zwischen Subjekt und
Objekt bereits vor jeder aktuellen Begegnung strukturieren. Beide Seiten, Subjekt und
Objekt, sind Relata, die nur mit und in ihren Beziehungen zueinander existieren. [...]
Gleichwohl gebraucht Hegel den Terminus 'Geist' für die Medien von Sprache, Arbeit
und Interaktion [...]." TPF
14FPT Wenn das Subjekt in der Welt als ein in den
Weltzusammenhang integrietes Element vorhanden ist, dann kann es keine
philosophische Aufgabe des Subjektes sein, eine Kluft zwischen sich und einem von
ihm separierten Anderen zu überbrücken.
Habermas ist der Ansicht, daß Hegel die problematischen Aspekte der Moderne zwar
richtig erkannt hat, aber keine überzeugende Lösung anbietet. Beispiele dafür sind, daß
Hegel in der Frankfurter Zeit, entgegen dem Bedürfnis der Moderne nach
Selbstbegründung,TPF
15FPT die vormoderne, antike Gesellschaftsform als Vorbild für eine neue
Gesellschaft betrachtete und daß er in der Jenaer Zeit das Problem der modernen
Gegensätze mit dem Begriff des absoluten Geistes zu lösen versuchte, der nichts
anderes ist als eine alle Unterschiede unter sich subsumierende substanzielle Vernunft;
seine zutreffende Kritik an der Aufklärung, von der er sich wegen ihrer Abhängigkeit
von der substanziellen, abstrakten Vernunft abgrenzen möchte, endete nach Habermas
lediglich mit einer Zementierung der substanziellen Vernunft. Habermas betrachtet dies
als die Grenze des mentalistischen Denkens, das seit Descartes die europäische
Philosophie beherrscht.TPF
16FPT
Die Linguistische Wende der Philosophie 1) Die Charakteristik des Sprechens: die Erhebung der Geltungsansprüche
Das ursprüngliche Projekt des jungen Hegel, eine versöhnende Vernunft zu entwerfen,
die die Differenzierung der Moderne als solche anerkennt und gleichzeitig eine rationale
TP
12PT J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195.
TP
13PT G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe I, in: GW, Bd. 6, S. 205.
TP
14PT J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 195f.
TP
15PT Siehe zur Auffassung der Moderne den 1. Abschnitt des II. Kapitels in dieser Arbeit.
TP
16PT Siehe dazu J. Habermas, Wege der Detranszendentalisierung, a.a.O., S. 186.
196
Einheit hervorbringt, kann nach Habermas erst durch den Paradigmenwechsel vom
bewußtseinsphilosophischen zum linguistischen Paradigma verwirklicht werden.
Eine der interessantesten Eigenschaften der Sprache ist nach ihm, daß jeder Sprechakt
immer von einem Geltungsanspruch begleitet wird; jeder konkrete Sprechakt verweist
auf einen bestimmten Kontext, in dem er gültig ist, und setzt damit einen die
Konkretheit dieses Aktes transzendierenden Bereich voraus. Die Äußerung: "Dies ist
ein Kugelschreiber" z. B. verweist um ihrer Gültigkeit willen auf einen bestimmten
Kontext, in dem sie beispielsweise als wahr oder als falsch beurteilt werden kann. Diese
Äußerung erhebt in diesem Fall den Geltungsanspruch der Wahrheit.
Dieses Beispiel zeigt, daß die im Sprechakt vollzogenen Geltungsansprüche als
Ansprüche jeden lokalen Kontext transzendieren und zugleich hier und jetzt erhoben
sowie faktisch anerkannt werden: Die "Geltung transzendiert Räume und Zeiten, 'tilgt'
Raum und Zeit, aber der Anspruch wird jeweils hier und jetzt, in bestimmten Kontexten,
erhoben und mit faktischen Handlungsfolgen akzeptiert oder zurückgewiesen."TPF
17FPT Also
geht es bei der sprachphilosophischen, kommunikativen Reflexion um diese konkrete
und geschichtliche Transzendentalität, während es bei der bewußtseinsphilosophischen,
vorsprachlich-einsamen Reflexion um die formale und überzeitiliche Transzendentalität
geht.TPF
18FPT
Habermas sieht in dieser linguistischen Theorie eine Möglichkeit, sowohl den 'Purismus
der Vernunft' der Kantischen Ethik, die den von der konkreten Realität unabhängigen
Kategorischen Imperativ herstellt, als auch die utilitaristische Ethik des Empirismus zu
überwinden, der keine (rein) vernünftige Realität anerkennt. Die Semi-
Transzendentalität der den Sprechakt begleitenden Geltungsansprüche kann nach
Habermas deutlich machen, daß diese zwei philosophischen Positionen lediglich zwei
Extremfälle sind, die in der Ethik jeweils nur einen Aspekt der Sprechakte
(Tranzendentalität oder Empirizität) berücksichtigen. Die sprachphilosophische Wende
der Philosophie macht die traditionelle philosophische Grundfrage nach dem Verhältnis
von Empirie und Transzendentalität sowie Individualität und Universalität etc.
gegenstandlos.
2) Das Wesen der Sprache: die Kommunikation
Auch die Sprechakttheorie, die für die Habermassche Gesellschaftstheorie eine
entscheidende Rolle spielt, nimmt als eine Sprachtheorie die sprachphilosophische
TP
17PT PDM, S. 375.
TP
18PT A.a.O., S. 371.
197
Einsicht auf, daß jeden konkreten Sprechakt semi-transzendentale Geltungsansprüche
begleiten. Darüber hinaus sieht sie das Wesen der Sprache in deren kommunikativem
Charakter, nicht in deren Sachverhalte darstellender Funktion. Diese Auffassung der
Sprache unterscheidet sich vor allem von der Wahrheitssemantik bzw. von der
Bedeutungstheorie. Die Bedeutungstheorie geht davon aus, daß die Funktion der
Sprache in der objektiven Darstellung der Tatsachen bzw. der Sachverhalte besteht. Die
Gültigkeit dieser objektiven Darstellung, die mit den Kategorien wahr/falsch zum
Ausdruck gebracht wird, hängt vollständig davon ab, ob das darstellende Subjekt eine
objektive Distanz zu dem dargestellten Objekt, d. h. eine Beobachterperspektive,
einnimmt. Wenn man unter Rationalität, so Habermas, "die Wissenserwerbung und –
verwendung der Subjekte"TPF
19FPT versteht, bemißt sich Rationalität bei dieser
Bedeutungstheorie daran, "wie sich das einsame Subjekt an seinen Vorstellungs- und
Aussageinhalten orientiert."TPF
20FPT Für diese Position ist die objektive Welt bloß das Korrelat
aller wahren assertorischen Sätze. Habermas sieht darin eine sprachphilosophische
Version der modernen Subjektphilosophie bzw. der positivistischen Neigung der
modernen Wissenschaft.
Im Gegensatz zur Bedeutungstheorie geht die Sprechakttheorie davon aus, daß für die
gesellschaftliche und kulturelle Lebensform der Menschen nicht primär der Gebrauch
der Propositionen, die einer Abbildung der Dinge bzw. der Sachverhalte dienen,
entscheidend ist, sondern der kommunikative Gebrauch der propositionell konstituierten
Sprache. Dies schließt ein, daß das Wesen der Sprache in der 'Verständigung über etwas
in der Welt' liegt. Bei diesem Gedanke ist also immer die Interaktion zwischen
Subjekten vorausgesetzt. Die Interaktionsteilnehmer nehmen nicht eine objektive
Beobachterperspektive für die Darstellung der Sachverhalte ein, sondern eine
Teilnehmerperspektive, von der aus sie durch den Austausch ihrer Meinungen
bestimmte Resultate erreichen können. Bei dieser Theorie bemißt sich Rationalität an
der "Fähigkeit zurechnungsfähiger Interaktionsteilnehmer, sich an Geltungsansprüchen,
die auf intersubjektive Anerkennung angelegt sind, zu orientieren", und die
Rationalitätsmaßstäbe der kommunikativen Vernunft finden sich in "den
argumentativen Verfahren der direkten oder indirekten Einlösung von Ansprüchen auf
TP
19PT Vgl. TkH 1, 25f. und PDM, S. 366.
TP
20PT PDM, S. 366.
198
propositionale Wahrheit, normative Richtigkeit, subjektive Wahrhaftigkeit und
ästhetische Stimmigkeit."TPF
21FPT
Die Sprechakttheorie geht von der These aus: "etwas sagen [heißt] etwas tun."TPF
22FPT Dies
bedeutet, daß die Funktion eines Sprechaktes nicht in dem Abbild der Dinge bzw. der
Sachverhalte, sondern in der Kommunikation besteht, die als eine Interaktion der
Subjekte auf eine bestimmte Verständigung abzielt. Nach dieser Theorie enthalten
elementare Sprechakte wenigstens drei Bestandteile: 1) den propositionalen
(lokutionären) Akt, in dem die Sachverhalte objektiv dargestellt werden, 2) den
performativen (illokutionären) Akt, der den Sprecher und den Hörer in eine
intersubjektive Verbindung bringt, und 3) den expressiven (perlokutionären) Akt, in
dem sich die Intention des Sprechers zeigt.TPF
23FPT
Wenn alle Sprechakte aus den aufeinander nicht reduzierbaren drei verschiedenen
sprachphilosophischen Prinzip: 'jeder Sprechakt erhebt Geltungsansprüche', unter drei
Geltungsaspekten analysiert werden. Ein Hörer kann z. B. eine Äußerung eines
Sprechers zurückweisen, weil sie entweder objektiv nicht wahr, normativ nicht richtig
oder subjektiv nicht wahrhaftig ist. Im ersten Fall fungiert die objektive Wahrheit, im
zweiten die normative Richtigkeit und im dritten die subjektive Wahrhaftigkeit als
Geltungskriterium der Aussage. Aus der Sicht der Sprechakttheorie wird also die
Geltung einer Äußerung nicht bloß auf die Problematik der Wahrheit reduziert;
vielmehr bezieht sich eine Äußerung je nach dem Kontext auf verschiedene,
aufeinander nicht reduzierbare Geltungsbereiche.TP
F
24FPT
TP
21PT Ebd.
TP
22PT John L. Austin, Zur Thoerie der Sprechakte, a.a.O., S. 35.
TP
23PT Siehe dazu PDM, S. 363.
TP
24PT Wie ein Satz kommunikativ benutzt wird, zeigt Habermas durch einen exemplarischen Satz (TkH 1, S.
411f.); wenn ein Professor einen Seminarteilnehmer auffordert: "Bitte, bringen Sie mir ein Glas Wasser!",
kann der aufgeforderte Seminarteilnehmer diese Aufforderung prinzipiell im Hinblick auf die drei
Geltungsansprüche ablehnen: 1) "Nein, Sie können mich nicht wie einen Ihrer Angestellten behandeln."
2) "Nein, eigentlich haben Sie ja nur die Absicht, mich vor anderen Seminarteilnehmern in ein schiefes
Licht zu bringen." 3) "Nein, die nächste Wasserleitung ist so weit entfernt, daß ich vor Ende der Sitzung
nicht zurück sein könnte." Er stellt bei der ersten Antwort die normative Angemessenheit der Äußerung
des Professors in Frage, bei der zweiten die subjektive Wahrhaftigkeit und bei der dritten die
Exsistenzpräsuppositionen der Aussage. Dieses Beispiel verdeutlicht, daß sich ein kommunikatives
Handeln je nach den Handlungskontexten ganz verschieden entwickeln kann.
199
Hier ist zu betonen, daß die Sprechakttheorie die Welt nicht nur als die Gesamtheit von
Gegenständen oder existierenden Sachverhalten begreift, wie es die Ontologie der
Bewußtseinsphilosophie tut; außer der Welt des Objektiven werden auch die Welt des
Normativen sowie die Welt des Subjektiven postuliert. "Mit jedem Sprechakt bezieht
sich der Sprecher gleichzeitig auf etwas in der objektiven, in einer gemeinsamen
sozialen und in seiner subjektiven Welt."TPF
25FPT Der kommunikativ verstandene Sprechakt
besteht also darin, daß das Subjekt den Gegenstand durch die Interaktion mit anderen
Subjekten reflexiv rekonstruiert.
Die Habermassche Anwendung der Sprechakttheorie auf die
Handlungs- und die Gesellschaftstheorie Habermas nimmt den Grundgedanken der Sprechakttheorie als Grundlage für eine neue
Handlungs- bzw. Gesellschaftstheorie. Die menschlichen Handlungen werden
gewöhnlich als eine Form der Zwecktätigkeit begriffen, mit der "ein Aktor in die Welt
eingreift, um durch die Wahl und den Einsatz geeigneter Mittel gesetzte Ziele zu
realisieren."TPF
26FPT Durch die Arbeit, eine besondere Form dieser Zwecktätigkeit, will das
Subjekt den gegebenen Gegenstand zu seinem Zweck verändern. Die Arbeit kann also
als ein Ausdruck der Zweck-Mittel-Beziehung verstanden werden. Über dieses
instrumentelle Handeln herrscht daher die instrumentelle Rationalität bzw. die
Zweckrationalität. Die klassische Sozialwissenschaft wie z. B. bei K. Marx betrachtet
diese Zwecktätigkeit als ihren Hauptgegenstand.
Habermas versteht diese Handlungstheorie, die das Objekt als das ansieht, was vom
Subjekt bearbeitet wird oder werden muß, als eine sozialwissenschaftliche Version der
Subjektsphilosophie. Bei der Subjektsphilosophie wird "Wissen ausschließlich als
Wissen von etwas in der Welt"TPF
27FPT verstanden, und der Handlungserfolg hängt vollständig
davon ab, ob das Subjekt seine Beziehung zur Welt möglicher Objekte richtig beurteilen
kann. Wenn man die sprachpragmatischen Annahmen – 1) jeder Sprechakt erhebt
Geltungansprüche, die über den konkreten Kontext hinausgehen, 2) es gibt mindestens
drei verschiedene Bestandteile in dem Sprechakt und dementsprechend drei
Geltungsbereiche und 3) der Sprechakt zielt auf die Verständigung ab – auf diesen
Handlungsbegriff anwendet, kann ein ganz anderer Typ der Handlung zum Vorschein
TP
25PT PDM, S. 365.
TP
26PT ND, S. 63.
TP
27PT PDM, S. 366.
200
kommen. Habermas nennt ihn 'sprachlich vermittelte Interaktion', also 'kommunikatives
Handeln'.
Habermas unterscheidet das kommunikative Handeln nicht nur von jenem einfachen
instrumentellen Handeln, sondern auch vom reinen Sprechakt. Der reine Sprechakt wird
bei der Sprechakttheorie als eine Handlung unter vielen menschlichen Handlungen
angesehen. Habermas geht aber bei seiner Konzeption des kommunikativen Handelns
davon aus, daß jedes menschliche Handeln sprachlich vermittelt ist und daß es somit auf
die Verständigung abzielt. Dies ist der Grund, warum Habermas die Sprechakttheorie
zur 'Universalpragmatik' verallgemeinert. Kommunikatives Handeln ist daher weder
eine Handlung, die von der Beziehung des einsamen Subjektes zum Objekt ausgeht,
noch ein Sprechakt, der bloß auf eine kognitive Verständigung abzielt, sondern eine
Interaktion der sprech-handelnden Subjekte, die sich auf die praktische Verständigung
richtet. Das kommunikative Handeln läßt sich entsprechend den drei Bestandteilen des
Sprechaktes und dessen drei Geltungsansprüchen jeweils in strategisches, normatives
und dramaturgisches Handeln unterteilen.
Strategisches Handeln, das dem propositonellen Gebrauch des Sprechaktes entspricht,
ist ein anderer Name für die utilitaristische Seite des kommunikativen Handelns, die auf
die Realisierung eines Zwecks durch die Wahl der erfolgversprechenden Mittel und
deren Anwendung abzielt. Die Interaktionsbeteiligten erscheinen hier als egozentrische
bzw. erfolgsorientierte Subjekte. Dieses Handeln findet sich besonders im
Tauschverhältnis in dem ökonomischen sowie im Machtverhältnis im politischen
Bereich. Die Gesellschaft ist von diesem Standpunkt aus betrachtet als 'eine
instrumentelle Ordnung', die die Handlungsgrenze der erfolgsorientiert handelnden
Subjekte bestimmt.
Normatives Handeln, das dem illokutionären Gebrauch des Sprechaktes entspricht, ist
eine Handlung, die von den anderen Mitgliedern einer Gruppe erwartet wird. Die
Gesellschaft ist hier nichts anderes als ein System anerkannter Normen.
Dramaturgisches Handeln, das dem perlokutionären Gebrauch des Sprechaktes
entspricht, ist eine Handlung, durch die die Interaktionsbeteiligten füreinander das
Publikum bilden und bei der ein Aktor sich selbst vor dem Publikum präsentiert, indem
er sich selbst kontrolliert. Bei diesem Hadeln geht es um die Selbstrepräsentation des
Subjektes.
Die sprachtheoretische Wende der Handlungstheorie zeigt, daß einerseits die vom
teleologischen Handlungsbegriff ausgehende traditionelle Handlungstheorie nur eine
201
sehr begrenzte Gültigkeit hat und nicht alle Formen der Handlungen berücksichtigt.
Andererseits können alle Geltungsansprüche, also die Wahrheit (bzw. Nützlichkeit) bei
dem teleologischen (bzw. strategischen), die Richtigkeit bei dem normativen und die
Wahrhaftigkeit bei dem dramaturgischen Handeln, nur innerhalb der Kategorie der
'Verständigung' bei dem komunikativen Handeln sinnvoll betrachtet werden. Aus dieser
Sicht erscheinen die oben beschriebenen drei Handlungstypen als 'Grenzenfälle' des
kommunikativen Handelns.
Ideale Sprechsituation: Die bei jedem Sprechakt vorausgesetzten Geltungsansprüche
bedeuten die Einbeziehung des Aktors in einen universellen Diskurs. Die Mitglieder
einer Gemeinschaft können in einem bestimmten Konfliktfall mit Hilfe dieser
Geltungsansprüche einen Platz jenseits der bestehenden Ordnung einnehmen, von dem
aus sie auch einen Konsens über die gewandelten Sitten und über die Neudefinition von
Werten erzielen können. Anders gesagt, die Interaktionsteilnehmer setzen immer eine
ideale Sprechsituation voraus, die "die Idee einer unversehrten Intersubjektivität"
beinhaltet, die nichts anderes als "symmetrische Verhältnisse freier reziproker
Anerkennung" TPF
28FPT meint. Habermas grenzt sich aber dabei von dem Versuch ab, die Idee
der idealen Sprechsituation zur Totalität einer versöhnten Lebensform auszumalen und
als Utopie in die Zukunft zu projizieren. Er beschreibt mit dieser Idee die notwendigen
Bedingungen für nicht antizipierbare Formen eines nicht verfehlten Lebens. Von
zentraler Bedeutung sind dabei nicht die materiellen Inhalte einer nicht verfehlten
Lebensform, sondern die formale Wichtigkeit des "eigenen, nicht etwa konfliktfreien,
aber solidarischen Zusammenwirkens"TPF
29FPT der Beteiligten, damit ein besseres Leben
überhaupt realisiert werden kann. In dieser Idee konkretisiert Habermas daher eine in
den Bedingungen des kommunikativ erreichten Konsenses ausgedrückte Rationalität, d.
h. die prozedurale Rationalität.
Lebenswelt: Während das Konzept eines nicht verfehlten Lebens bei Habermas als ein
Idealtypus fungiert, drückt die Lebenswelt die konkrete Totalität des sittlichen Lebens
aus; die Lebenswelt ist den verständigungsorientiert handelnden Subjekten immer nur
'mitgegeben' und kann niemals thematisiert werden. Die Sprechsituation, die die
Handelnden in bestimmte Kontexte einbindet, weist auf ihre Beziehung zur Lebenswelt
hin. Die Lebenswelt kann selbst nicht thematisiert werden und fungiert bei den
konkreten Sprechsituationen nur als 'Ressource' der Interaktionsbeteiligten. Je nach der
TP
28PT ND, S. 185.
TP
29PT A.a.O., S. 186.
202
Sprechsituation erscheint die Lebenswelt, entsprechend der Triade der Sprechakttheorie,
mal als Totalität des traditionell anerkannten Wissens (als Kultur), mal als Totalität der
gebräuchlichen Normen (als Gesellschaft) und mal als Totalität der Sozialisation der
Individuen (als Person).
Reproduktion der Lebenswelt: Wenn die Lebenswelt nicht thematisiert werden kann
und bei jedem Handeln stets 'präreflexiv' bleibt, wie kann die Reproduktion der
Lebenswelt aufgefaßt werden? Habermas erfaßt diesen Vorgang als wechselseitige
Beziehung zwischen der Lebenswelt und der kritischen Reflexion der sprech-
handelnden Subjekte. Während die vorsprachliche einsame Reflexion des
Erkenntnissubjektes sich objektivierend auf sich bezieht und daher eine
weltkonstituierende Stellung einnimmt, hat die kommunikative Reflexion eine andere
Ausrichtung; jedes konkrete kommunikative Handeln beinhaltet die Geltungsansprüche,
über die die Interaktionsteilnehmer mit ihren Ja/Nein-Stellungnahmen streiten können;
dieser argumentative Streit über die Geltungsansprüche setzt also schon eine
Reflexionsform voraus, die die Selbstbeziehung des Subjekts mit dem intersubjektiven
Gegenüber von Proponenten und Opponenten vermittelt. Dies besagt, daß beim Verlauf
der Argumentationen schon die Momente der Selbstreflexion der Sprecher
vorausgesetzt sind und die Reflexion sich daher nicht auf das Ganze der Lebenswelt
bzw. das lebensweltliche Hintergrundwissen bezieht, sondern sie nur indirekt die
Lebenswelt ändert, indem sie die bis dahin anerkannten Deutungsmuster transformiert.
Diese Reflexion ist also keine weltkonstituierende Fähigkeit des einsamen Subjekts,
sondern eine Rekonstruktionsfähigkeit einer intersubjektiven Gemeinschaft.
Der Strukturwandel der Lebenswelt bedeutet bei Habermas, neu auftretende Situationen
an die bestehenden Weltzustände anzuschließen.TPF
30FPT Es geht dabei um die Verstärkung
der Kontinuität einer kulturellen Überlieferung durch die diskontinuierenden Mittel der
Kritik, um die Festigung der Solidarität in Lebenszusammenhängen durch die riskanten
Mittel des universalistischen Verfahrens diskursiver Willensbildung sowie um die
Stabilisierung eines Prozesses der Vergesellschaftung durch das Mittel der erweiterten
Spielräume für Individuierung. Die 'Reproduktion der Lebenswelt' dient also der
Überlieferung kulturellen Wissens und dessen Erneuerung in der kulturellen Dimension,
der sozialen Integration und der Herstellung neuer Formen der Solidarität in der
räumlichen, sozialen Dimension und der Ausbildung von personalen Identitäten in der
zeitlichen, historischen Dimension. Die Lebenswelt reproduziert sich also allein durch
TP
30PT Siehe dazu TkH 2, S. 209 und PDM, S. 398.
203
eine dialektische Einheit von Kontinuität und Bruch, d. h. durch "eine
Traditionsfortsetzung und -erneuerung, die sich zwischen den Extremen der bloßen
Fortschreibung von, und eines Bruches mit Traditionen bewegt."TPF
31FPT
Kolonialisierung der Lebenswelt: Die Darstellung des Strukturwandels der
Lebenswelt enthält die Antwort von Habermas auf 'die Paradoxie der Rationalisierung',
die darin besteht, daß die sozialpathologischen Probleme der Moderne durch die
Rationalisierung paradoxerweise verstärkt werden. Die Analyse der Wechselwirkung
zwischen der konstituiven Autonomie des Subjekts und der Funktionsweise der
Lebenswelt, die jene Autonomie einschränkt, ist ein wesentlicher Bestandteil der
Habermasschen Gesellschaftstheorie. Diese Theorie widmet somit dem
Spannungsverhältnis zwischen der Tendenz des Subjekts, die Lebenswelt zu
vergegenständlichen, und der Charakteristik der Lebenswelt, sich von solcher
Vergegenständlichung immer wieder zu entziehen, besondere Aufmerksamkeit. Sie
unterscheidet sich damit vor allem von der Auffassung der Gesellschaft als System, die
heutzutage bei der Analyse der 'Tausch- und Machtverhältnisse' vorherrscht. Habermas
ist der Ansicht, daß die Systemtheorie die Lebenswelt unzulässigerweise
vergegenständlicht, d. h. technisiert. Die Systemtheorie ist nach Habermas eine
Variation der klassischen Gesellschaftstheorie, die die gesellschaftlichen Systeme aus
der Perspektive des auf der Zweckrationalität beruhenden instrumentellen Handelns
ananlysiert. Die klassische Gesellschaftstheorie ist wiederum eine
gesellschaftsphilosophische Version der Subjektphilosophie, die als Ausdruck des
modernen Denkens angesehen wird, das von einer instrumentell verkürzten Vernunft
ausgeht. Von daher läßt sich nach Habermas 'die Paradoxie der Rationalisierung' durch
die Systemtheorie nicht auflösen, obwohl sie sich mit dieser Paradoxie gründlich
beschäftigt.
Im Gegensatz dazu entwirft Habermas eine zweistufige Gesellschaftstheorie von
System und Lebenswelt. Der Ausgang vom System betont hierbei die
Beobachterperspektive und die konstituive Fähigkeit des Subjekts, sich etwas zum
Objekt machen zu können. Die Einbeziehung der Lebenswelt betont im Gegenzug die
Teilnehmerperspektive des Subjekts und dessen Abhängigkeit von der Allgemeinheit.
Das Wesen der Modernisierung besteht nun nach Habermas in einer massiven
Verdrängung der Kommunikationsstruktur der Lebenswelt durch das System, das zu
einer Überhandnahme der Zweckrationalität in der Gesellschaft führt. Diese Zerstörung
TP
31PT TkH 2, S. 210.
204
des Gleichgewichtes zwischen System und Lebenswelt nennt Habermas die "systemisch
induzierte Lebensweltpathologie" bzw. "die Kolonialisierung der Lebenswelt".TPF
32FPT
Habermas versucht mit dieser zweistufigen Gesellschaftstheorie von System und
Lebenswelt die Autonomie des einzelnen Subjekts und gleichzeitig dessen
Abhängigkeit von der Lebenswelt, die Kontinuität der Geschichte und deren
Diskontinuität sowie die Kritik an der Kultur und die Aufnahme der kulturellen
Überlieferungen etc. in einer Theorie zu vereinigen. Hiermit erhellt sich seine Absicht,
durch diese Theorie die zeitgenössische Kritik an der Moderne aufzunehmen und
dennoch eine von der Rationalität ausgehende Gesellschaftstheorie zu entwerfen.
Die 'Vernunft' in der Theorie von Habermas Habermas versteht die sittliche Totalität des jungen Hegel als die "reziproken
Anerkennungsverhältnisse eines intersubjektiv konstituierten Lebenszusammenhangs"TPF
33FPT
bzw. als die "Formen des vernünftigen Zusammenlebens". TPF
34FPT Die Realisierung dieser
Idee ist nach ihm nur mit dem Paradigmenwechsel von der Subjektivität zur
Intersubjektivität möglich. Denn das vernünftige Zusammenleben heißt bei ihm,
"Autonomie und Abhängigkeit in ein befriedetes Verhalten"TPF
35FPT einzutreten.
Der Gedanke der Autonomie des Subjekts und dessen Abhängigkeit von der
Gesellschaft enthält die Habermassche Antwort auf die alte metaphysische Frage nach
dem Verhältnis zwischen dem Einen und Vielen, der Vernunft und dem Anderen, dem
Allgemeinen und dem Besonderen sowie der Notwendigkeit und dem Akzidentellen etc.
Die Metaphysik, das Besondere nur relativ zum Allgemeinen betrachtet, bringt nach
Habermas wegen dieser "gewaltigen Abstraktion" TPF
36FPT die drei unlösbaren philosophischen
Probleme mit sich: (1) das Problem des Verhältnisses von Identität und Differenz, (2)
das Problem der Individualität und (3) das Unbehagen am affirmativen Denken.TPF
37FPT
Diese Probleme der metaphysischen All-Einheitslehre rechtfertigen aber den
postmodernen bzw. kontextualistischen Versuch nicht, die Einheit der Vernunft
vollständig zu verneinen und die Vielheit, das Andere und die Differenz etc. zum
TP
32PT TkH 2, S. 293.
TP
33PT PDM, S. 40.
TP
34PT NU, S. 202.
TP
35PT J. Habermas, Die nachholende Revolution, a.a.O., S. 202.
TP
36PT ND, S. 156.
TP
37PT Siehe dazu oben S. 171ff.
205
Prinzip der Philosophie zu erheben. Denn eine Stimmungslage der Zeit "ersetzt noch
keine Argumente."TPF
38FPT
Habermas versucht in dieser Problemlage, die von der Einheit der Vernunft ausgehende
metaphysische und die kontextualistische Position miteinander zu verbinden, die davon
ausgeht, daß die Entstehung und die Tätigkeit der Vernunft durchaus akzidentiell sind.
Die kommunikative Vernunft, die Wert auf den Verfahrensbegriff der
argumentgeleiteten Kommunikation legt, richtet sich darauf, unter bestimmten
Bedingungen die Wahrheit einer bestimmten Aussage oder die Richtigkeit einer
Handlung herauszufinden. Es geht bei dieser Vernunft um das Abwägen von Gründen
und Gegengründen, durch das erst die Erkenntnis der Wahrheit von Aussagen und der
Richtigkeit einer Handlung erreicht werden kann.
Die Theorie der kommunikativen Vernunft steht daher genau zwischen einem
Relativismus und einem Objektivismus in dem Sinne, daß diese Vernunft einerseits alle
historischen Tatsachen und sogar die Entstehung der Vernunft selbst als kontingent
ansieht und andererseits die Eigenschaft des Mediums sprachlicher Verständigung
anerkennt, die Grenzen angeblich inkommensurabler Welten zu transzendieren. Dieser
Vernunftbegriff erscheint deshalb zwar aus der Sicht der Objektivisten als 'zu schwach',
aber aus der Sicht der Relativisten als 'zu stark',TPF
39FPT aber er entwickelt eine "schwache,
aber nicht defaistische"TPF
40FPT Einheit, in der die Vielheit miteinbezogen ist, indem er den
metaphysischen Vorrang der Einheit vor der Vielheit sowie den kontextualistischen
Vorrang der Vielheit vor der Einheit als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet.
Die Bemühung, das Rationalitätsideal der Aufklärung fortzuführen, kann daher nur in
abgemilderter Form verwirklicht werden. Dies ist der Grund, warum Habermas den
Begriff der "transitorischen Einheit" entwickelt hat, "die sich in der porösen und
gebrochenen Intersubjektivität eines sprachlich vermittelten Konsenses herstellt"TPF
41FPT und
damit die Pluralisierung der Lebensformen sowie die Individualisierung der Lebensstile
ermöglicht. Er formuliert diese Einheit als "Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer
Stimmen".TPF
42FPT
Die Theorie des kommunikativen Handelns stellt aber andere Probleme her, die daraus
entstehen, daß es nicht einfach ist, den wechselseitigen Bedingungszusammenhang von TP
38PT A.a.O., S. 172.
TP
39PT A.a.O., S. 154.
TP
40PT A.a.O., S. 182.
TP
41PT A.a.O., S. 180.
TP
42PT A.a.O. S. 115.
206
kommunikativem Handeln und Lebenswelt genau vorzustellen; die Lebenswelt fungiert
als 'Ressource' des kommunikativen Handelns, und der kommunikativ Handelnde wird
als Subjekt angesehen, das durch die ungezwungene Kommunikation mit den Anderen
einen Konsens erreichen kann; wenn man aktzeptiert, daß das Transzendieren der
gegebenen vorbewußten Bedingungen für die Kritik als Kernbegriff der Rationalität
notwendig ist, wie kann der lebensweltabhängig kommunikativ Handelnde wirklich
einen ungezwungenen Konsens erreichen?
Der Grund, daß Habermas von entgegengesetzten Positionen gleichzeitig kritisiert wird,
liegt darin, daß die Problematik der Totalität bei dem Begriff des kommunikativen
Handelns einerseits und die der Reflexionsfähigkeit des Subjekts bei dem der
Lebenswelt andererseits nicht ausreichend berücksichtigt werden können.
1) Kritik an dem kommunikativen Handeln:
Habermas verbindet mit Hilfe der Sprachphilosophie den Begriff der Rationalität mit
den Begriffen 'Einverständnis', 'Verständigung' sowie vor allem 'ungezwungener
Kooperation'. Die Idee der 'Zwanglosigkeit', eines der zentralen Begriffe der
Habermasschen Rationalitätstheorie, spiegelt einen modernen rationalistischen
Optimismus wider, der von der Autonomie des Subjekts und auch von der Möglichkeit
einer grundsätzlichen Kritik an der Kultur ausgeht. In der Tat deutet er selbst auf eine
Möglichkeit der Kritik an dem gesamten kulturellen Bereich hin: "Die kulturelle
Überlieferung muß ein reflexives Verhältnis zu sich selbst gestatten; sie muß ihrer
Dogmatik soweit entkleidet sein, daß die durch Tradition gespeisten Interpretationen
grundsätzlich in Frage gestellt und einer kritischen Revision unterzogen werden
dürfen." TPF
43FPT
Aber wenn die Interaktionsbeteiligten nicht vollständig frei von äußeren sowie von
internalisierten Zwängen sind, ist diese grundsätzliche Kritik an der Kultur möglich?
Können sich die Interaktionsbeteiligten des Sinns ihrer Aussagen und ihres Tuns
vollständig bewußt sein? Können die sprachlich strukturierten Weltbilder einfach als
von Menschen konstituierte Interpretationen betrachtet werden, die vollständig der
Kritik offen sind? Diese Fragestellungen sind daran angeschlossen, ob ungezwungenes,
bewußtes, rationales Einverständnis überhaupt möglich ist, wenn die Beteiligten
unvermeidlich von der vorbewußten Tiefenstruktur der Symbole geprägt sind.
In seiner Rationalitätstheorie scheint Habermas – entgegen seiner Absicht – die
Abhängigkeit der Menschen von den unbewußt wirkenden Strukturen der Lebenswelt
TP
43PT TkH 1, S. 109.
207
zu unterschätzen. Um seiner These gerecht zu werden, daß die Rationalität des
Menschen nicht in der vollständigen Befreiung von solchen Strukturen liegt, sondern
nur in dem Maße verwirklicht werden kann, in dem Kooperation innerhalb der
Strukturen der Lebenswelt zustande kommt, müßte Habermas statt der Vorstellung der
Zwanglosigkeit die empirischen Tatsachen stärker in seiner Theorie berücksichtigen.
Die Erfahrung lehrt, daß es nicht einfach ist zu beurteilen, ob moderne Weltdeutungen,
die häufig arationale Momente enthalten, wirklich irrational sind. Aus diesem Grund ist
Alexander der Ansicht, daß die Rationalitätstheorie von Habermas, da sie das sprech-
handelnde Subjekt zu stark akzentuiert, die vorbewußten Strukturen des Kulturcodes
unterschätzt und insofern in den Verdacht gerät, daß sie "in antagonistischer Beziehung
zur Kultur"TPF
44FPT steht.
Diese Kritik weist also darauf hin, daß die Habermassche Theorie ebenfalls dem Ideal
der modernen Subjektphilosophie verhaftet ist, die zwar von der Idee der absoluten
Autonomie des transzendentalen Subjekts ausgeht, aber mit der Paradoxie der
Rationalität endet.
2) Kritik an der Lebenswelt: Der Begriff der Lebenswelt führt zu einer ganz anderen
Kritik. Habermas versucht mit Hilfe des Begriffs der Lebenswelt einerseits die Idee der
Totalität der Gesellschaft zu rekonstruieren und andererseits die Beziehungen der
einzelnen Handlungen zur Lebenswelt darzustellen. Es ist aber fraglich, ob die
Lebenswelt ein wissenschaftlicher oder philosophischer Begriff sein kann, wenn selbst
die Wissenschaft, die dieses Weltkonzept zu einem wissenschaftlichen Begriff erhebt,
nach Luhmann paradoxerweise aus diesem Weltbegriff entsteht. Der Begriff der
Lebenswelt führt also in eine Paradoxie. Luhmann fragt vor diesem Hintergrund
ironisch: "Aber was hilft die Umsetzung eines Problems in eine Paradoxie?"TPF
45FPT
Der Begriff der Lebenswelt von Habermas scheint außerdem die Leistungen der
Moderne zu unterschätzen; dieser Begriff relativiert den Begriff der Reflexion, der als
der Ausgangspunkt der modernen Philosophie gelten kann. 'Reflexion' ist nach Henrich
ein Grundterminus im Denken der Moderne, der nichts anderes meint als "das
Bewußtsein von den Unterschieden zwischen den Verständigungsarten, welche sich in
der Spontaneität des bewußten Lebens ausgebildet haben", und "eine Distanznahme zu
den primären Tendenzen der Verstehensarten und Selbstbeschreibungen insgesamt."TPF
46FPT
TP
44PT J. Alexander, Habermas' neue Kritische Theorie: Anspruch und Probleme, a.a.O., S. 103.
TP
45PT N. Luhmann, Intersubjektivität oder Kommunikation, a.a.O., S. 49.
TP
46PT D. Henrich, Was ist Metaphysik - was Moderne? - Zwölf Thesen gegen J. Habermas. a.a.O., S. 18f.
208
Die Reflexion ist also ein Resultat der anstrengenden Bemühungen des menschlichen
Denkens, sich der Unmittelbarkeit des Seins zu entziehen. Aber mit der Einführung des
Lebensweltbegriffs bringe Habermas nach Henrich nur "eine längst verlorene
Unmittelbarkeit"TPF
47FPT oder eine metaphysische Einheit in Umlauf und könne dadurch den
Begriff der Reflexion und dessen Vorzüge nicht angemessen würdigen.
TP
47PT Ebd.
209
Literaturverzeichnis Abel, Theodore, The Operation Called Verstehen(1948/49), in: H. Albert(Hg.), Theorie
und Realität, Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, Tübingen 1964.
Adorno, Theodor Wiesengrund / Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung, Gesammelte Schriften, Bd. 3, R. Tiedemann (Hg.), Frankfurt/M. 1981.
Alexander, Jeffrey, Habermas' neue Kritische Theorie: Anspruch und Probleme, in: A. Honneth / H. Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1986.
Apel, Karl-Otto, Die Logosauszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Tragweite der Sprechakttheorie, Frankfurt/M. 1984.
------, Die Vernunftfunktion der kommunikativen Realität. Zum Verhältnis von konsensual-kommunikativer Rationalität, stratgischer Rationalität und Systemrationalität, in: K.-O. Apel/M. Kettner(Hg.), Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, Frankfurt/M. 1966.
Aristoteles, Lehre vom Satz, Philosophische Bibliothek, Bd. 8, 9, Hamburg 1974. Arrivé, Michel, Linguistics and Psychoanalysis. Freud, Saussure, Hjelmslev, Lacan and
others, Amsterdam, Philadelphia 1992. Austin, John Langshaw, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1998. Best, Steven / Kellner, Douglas, Postmodern Theory, New York 1991. Blühdorn, Jürgen/JAmme, Christoph, Positiv, Positivität, in: Historisches Wörterbuch
der Philosophie, Basel, Stuttgart 1998(=HWPh), Bd. 7. Bogner, Christoph, Die Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne. Zum
Verhältnis von Ethik und Gesellschaftstheorie bei Jürgen Habermas, München 1990.
Bondeli, Martin Vom Kantianismus zur Kantkritik. Der junge Hegel in Bern und Frankfurt, in: M. Bondeli / H. Linneweber-Lammerskitten(Hg.), Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit, München 1999
Böhme, Helmut / Böhme, Gernot, Das Andere der Vernunft, Zur Entwicklung von Rationalitatsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1983
Cooley, Chales Horton, Human Nature and the social Order, New York 1902. ------, Social Organisation, New York 1909 Créau, Anne, Kommunikative Vernunft als 'entmystifiziertes Schicksal', Frankfurt/M.
1991 Culler, Jonathan, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische
Literaturtheorie, Hamburg 1999 Derrida, Jacques, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976. ------, Grammatologie, Frankfurt/M. 1974. ------, Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der
Philosophie Husserls, Frankfurt/M. 1979. ------, Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine,
Guy Scarpetta, Wien 1986 ------, Der Schacht und die Pyramide. Einführung in die Hegelsche Semiologie, in: ders.,
Randgänge der Philosophie, Wien 1988 Doeleman, Wiljo, Philosophische Methodik: Apel vs. Habermas, in: W. van Reijen / K.-
O. Apel (Hg.), Rationales Handeln und Gesellschaftstheorie, Bochum 1984 Düsing, Edith, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische,
phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel, Köln 1986
210
Fetscher, Iring, Aufklärung über Aufklärung, in: A. Honneth / T. McCarthy / C. Offe / A. Wellmer (Hg.), Zwischenbetrachtung. Im Prozeß der Aufklärung. J. Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1989.
Ferry, Luc / Renaut, Alain, Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Meisterphilosophen, München 1987.
Fichte, Johann Gottlieb, Das System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre (1798), M. Zahn(Hg.), Hamburg 1963.
------, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, in: Fichtes Werke, I. H. Fichte (Hg.), Bd. 3: Zur Rechts- und Sittenlehre, Berlin 1971.
Finelli, Roberto, Mythos und Kritik der Formen. Die Jugend Hegels (1770-1803), Frankfurt/M., Berlin 2000.
Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969. ------, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften,
Frankfurt/M. 1971. ------, Die Ordnung des Diskurses, ü. ------, Wahrheit und Macht. Interview von Allessandro Fontatana und Pasquale
Pasquino, in: ders., Despositive der Macht, Berlin 1978 ------, Sexualität und Wahrheit, Erster Band: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1977. -----, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976 Gawoll, Hans-Jürgen, Glauben und Positivität. Hegels frühes Verhältnis zu Jacobi, in:
M. Bondeli / H. Linneweber-Lammerskitten (Hg.), Hegels Denkentwicklung in der Berner und Frankfurter Zeit, München 1999.
Klaus Günther / Lutz Wingert, Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 2001
Habermas, Jürgen, Wege der Detranszendentalisierung. Von Kant zu Hegel und zurück, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999.
------, Theorie des kommunikativen Handelns (= TkH), Bd. 1, Frankfurt/M. 1987. ------, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1996 (=PDM). ------, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1996 (= NU). ------, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988 (=ND). ------, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983 ------, Hegels Kritik der Französischen Revolution, in: ders., Theorie und Praxis,
Frankfurt/M. 1971. ------, Historischer Materialismus und die Entwicklung normativer Strukturen, in: ders,
Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976. ------, Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser 'Philosophie des
Geistes', in: ders, Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt/M. 1969. ------, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1991. ------, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns (=VE),
Frankfurt/M. 1995 ------, Die nachholende Revolution, Frankfurt/M. 1990. -----, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: ders.,
Erläuterung zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991. ------, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: ders., Kleine Politische Schriften,
Frankfurt/M. 1981 Hartmann, Nicolai, Die Philosophie des Deutschen Idealismus, Berlin, New York 1974. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, in:
ders., Werke in zwanzig Bänden, E. Moldenhauer / K. M. Michel (Hg.), Frankfurt/M. 1986 (= TW), Bd. 15.
------, Enzyklopadie 1, in: TW, Bd. 8.
211
------, Frühe Schriften I, F. Nicolin / G. Schüler (Hg.), in: Gesammelte Werke. Die Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Hg.) (=GW), Bd. 1. Hamburg 1989.
------, Wissenschaft der Logik I, Die objektive Logik, in: GW, Bd. 11, Hamburg 1981. ------, Wissenschaft der Logik II, Die subjektive Logik, in: GW, Bd. 12, Hamburg 1981 ------, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie
(=Differenzschrift), in: GW, Bd. 4, Jenaer Kritische Schriften, H. Buchner / O. Pöggeler (Hg.), Hamburg 1968.
------, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjectivität, in der Vollständigkeit ihrer Formen, als Katische, Jacobische, und Fichtesche Philosophie, in: GW, Bd. 4.
------, Ueber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschften, in: GW, Bd. 4 (=Naturrechtschrift)
------, Phänomenologie des Geistes, in: GW, Bd. 9, W. Bonsiepen / R. Heede (Hg.), Hamburg 1980
------, Jenaer Systementwürfe I, in: GW, Bd. 6, Hamburg 1975. Heidegger, Martin, Nietzsche, Bd. 2, Pfullingen 1989. ------, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954 K. Held, 'Intersubjektivität' in: HWPh, Bd. 4. Henrich, Dieter, Einleitung, in: G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts: die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, D. Henrich (Hg.), Frankfurt/M. 1983. ------, Was ist Metaphysik – was Moderne? Thesen gegen Jürgen Habermas, in: ders.,
Konzepte, Frankfurt/M. 1987 Hobbes, Thomas, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und
kirchlichen Staates, Neuwied 1966 Honneth, Axel, Dezentrierte Autonomie. Moralphilosophische Konsequenzen aus der
modernen Subjektkritik, in: ders., Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2000.
------, Anerkennung und Vergesellschaftung: Meads naturalistische Transformation der Hegelschen Idee, in: ders., Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1994.
------, Kritik der Macht, Frankfurt/M. 1989. Husserl, Edmund, Logische Untersuchungen, in: ders, Husserliana XIX/1, U. Panzer
(Hg.), Den Haag 1984. ------, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, in: ders., Husserliana X, R.
Boehm (Hg.), Den Haag 1966. ------, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und transzendentale
Phänomenologie, Hamburg 1977. ------, Historizismus und Weltanschauungsphilosophie, in: F. Rodi / H.-U. Lessing (Hg.),
Materialen zur Philosophie Wilhelm Diltheys, Frankfurt/M. 1984 Jaeschke, Jaeschke, Religion, in: HWPh, Bd. 8. Jauß, Hans Robert, Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee in der sogenannten
'Querelle des Anciens et des Modernes', in: H. Kuhn / F. Wiedmann (Hg.), Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964.
------, Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1970.
Jay, Martin, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt/M. 1976.
Joas, Hans, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G. H. Mead, Frankfurt/M. 1980.
212
Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft,, Hamburg 1971. ------, Kritik der praktischen Vernunft, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1990. ------, Die drei Kritiken in ihrem Zusammenhang mit dem Gesamtwerk, zsgf. von R.
Schmidt, Stuttgart 1975. ------, Metaphysik der Sitten, K. Vorländer (Hg.), Hamburg 1959. ------, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: ders., Ausgewählte
kleine Schriften, Hamburg 1969 ------, Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1796), in; ders., Ausgewählte kleine
Schriften Kaufmann, Walter, Hegel. A Reinterpretation, Garden City, New York 1978. Kolakowski, Leszek Main Currents of Marxism. Its Rise, Growth and Dissolution,
Oxford 1978. Koselleck, Reinhart,Vergangene Zukunft, Frankfurt/M. 1989. Korsch, Karl, Marxismus und Philosophie, Frankfurt/M. 1975. Kroner, Richard, Von Kant bis Hegel, Bd. 1, 2, Tübingen 1977. Lacan, Jacques, Das Drängen des Buchstabens im Unterbewußtsein oder die Vernunft
seit Freud, in: ders., Schriften II, N. Haas (Hg.), Olten, Freiburg 1975. Leat, Diana, Das mißverstandene 'Verstehen' (1972), in: K. Acham (Hg.),
Methodologische Probleme der Sozialwissenschaften, Darmstadt 1978. Löwith, Karl, Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz,
1985 ------, Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte
soziologischer Theoriebildung, in: Archivio di Filosofia, Marco M. Olivetti (Hg.), Cedam 1986
Lukács, Georg, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Neuwied und Berlin 1967
------, Geschichte und Klassenbewußtsein: Studien. über die marxistische Dialektik, Neuwied 1967.
Lytord, Jean-Francois Das postmoderne Wissen, Wien 1999. Marx, Karl, Thesen über Feuerbach, in: Marx Engels Werke, Bd. 3, Berlin 1962. Mead, Georg Herbert, Cooleys Beitrag zum soziologischen Denken in Amerika (1930),
in: Gesammelte Aufsätze, H. Joas (Hg.), Bd. 1, Frankfurt/M. 1987 ------, Soziales Bewußtsein und das Bewußtsein von Bedeutungen, in: ders., Gesammelte
Aufsätze, a.a.O. ------, Der Mechanismus des sozialen Bewußtseins, in: ders., Gesammelte Aufsätze,
a.a.O. ------, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973 Mommsen, Wolfgang, Max Weber: Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt/M.
1974 Morris, Chales William, Grundlagen der Zeichentheorie, München 1972. Nagl, Ludwig, Zeigt die Habermassche Kommunikationstheorie einen 'Ausweg aus der
Subjektsphilosophie'?, in: M. Frank / G. Raulet / W. Reijen (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. 1988.
Ong, Walter I., Oralität und Literalität: Die Technologisierung des Wortes, Darmstadt 1987
Parsons, Talcott, Religion in Postindustrial America, New York 1978. ------, The System of Modern Societies, Englewood Cliffs 1971. Piepmeier, Rainer, Modern, die Moderne, in: HWPh, Bd. 6.
213
Pöggeler, Otto, philosophie und revolution beim jungen hegel, in: Enciclopedia 72, Arti Grafice Marchesi-Roma 1971.
Ritter, Joachim, Hegel und die Französische Revolution, in: ders., Metaphysik und Politik, Frankfurt/M. 1977.
Rockmore, Tom, Habermas on historical materialism, Bloomington, Indianapolis 1989. Rodi, Frithjof, 'Der Rhythmus des Lebens selbst'. Hegel und Hölderlin in der Sicht des
späten Dilthey, in: ders., Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1990.
Rothacker, Erich, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, München 1965. Rousseau, Jean-Jacques, Lettere a C. de Beaumont, in: Euveres complètes, Paris 1964. Saussure, Ferdinand de, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von, Werke, M. Schröter (Hg.), Jena 1926, Bd. 1. Schnädelbach, Herbert, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt/M. 1983. Scholtz, Gunter, Historismus, Historizismus, in: HWPh, Bd. 3. ------, Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in:
ders., Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, Frankfurt/M. 1991
Schulte, Günter, Immanuel Kant, Frankfurt/M. 1991. Semplici, Stefano, Das Leben Jesu und das Problem des Bösen: Kant oder Rousseau?,
in: H.F. Fulda / R.-P. Horstmann (Hg.), Rousseau, die Revolution und der junge Hegel, Stuttgart 1991.
Smith, Steven B., Hegels Critique of Liberalism, Chicago 1991 Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, J.
Wickelmann (Hg.), Bd. 1, Tübingen 1976. ------, Wissenschaft als Beruf, in: ders, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, J.
Winckelmann (Hg.), Tübingen 1988. ------, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, 1963. Wellmer, Albrecht, Reason, Utopia and the Dialectic of Enlightment in: R. J. Bernstein
(Hg..), Habermas and Modernity, Cambridge 1985. ------, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno,
Frankfurt/M. 1985. ------, Kommunikation und Emanzipation. Überlegungen zur 'sprachanalytischen
Wende' der kritischen Theorie, in: U. Jaeggi / A. Honneth (Hg), Theorien des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1977.
Wildt, Andreas, Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitaetskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1982.
Zahn, L., Reflexion, in: HWPh, Bd. 8.
214
* Lebenslauf 1964: Geboren in Kohung in S-Korea 1984-1990: Philosophiestudium an der Yonsei Uni. in Seoul(Magisterarbeit: Kritik der Positivitaet vom jungen Hegel) 1991-1992: Militaerdienst 1992-1995: Doktorand an der Uni. Yonsei in Seoul 1993-1995: Dozent an der Uni. Yonsei in Seoul 1996-2003: Promotion an der Ruhr Universitaet Bochum(Dissertation: Von der Subjektivitaet zur Intersubjektivitaet - Die Auseinandersetzung von Habermas mit der Subjektivitaetsphilosophie