1 Daniel Gaus Von der Kritik liberaler Demokratie zur Analyse deliberativer Systeme: Reflexionen zur gegenwärtigen Diskussionslage der Theorie deliberativer Demokratie In der Betrachtung des Diskurses der Theorie deliberativer Demokratie wird ein „Erwachsenwerden“ derselben festgestellt (Bohman 1998). Während es demnach in einer frühen Phase in den 1980er Jahren darum ging, ein „theoretical statement“ in die demokratietheoretische Auseinandersetzung einzuführen, hat sich die Theorie deliberativer Demokratie bis heute zu einer „working theory“ weiterentwickelt, die eine Fülle von empirischen Studien zur Überprüfung und Weiterentwicklung ihrer Annahmen hervorgebracht hat (Chambers 2003). Im Unterschied zu dieser eher forschungspraktischen Systematisierung und anderen informativen Literaturüberblicken 1 zielt die hier vorgeschlagene Rekonstruktion des Diskurses deliberativer Demokratie darauf, wesentliche inhaltliche Entwicklungslinien und Wendepunkte der Debatte nachzuzeichnen, um das Potential genauer spezifizieren zu können, das die Theorie deliberativer Demokratie insbesondere zur Reflexion über die Bedingungen transnationaler Demokratie anbieten kann. Folgende These soll begründet werden. Die Theorie deliberativer Demokratie kennzeichnet in erster Linie zwei Annahmen. Erstens gründet die Legitimität moderner Demokratie auf einem epistemischen Sinn, der politischen Entscheidungen über ihr Zustandekommen in einem demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess verliehen wird. Für diesen demokratischen Prozess ist öffentliche Deliberation eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung. Zweitens ist für die Erzeugung dieses epistemischen Sinns demokratischer Entscheidungen eine parlamentarisch organisierte Legislative von hervorgehobener Bedeutung. Ein Parlament bildet zwar nur eines von mehreren Elementen im deliberativen System Demokratie, jedoch ein unverzichtbares. Eine Engführung des Diskurses deliberativer Demokratietheorie hat nun Interpretationen dieser beiden Annahmen hervorgebracht, die die demokratietheoretische Auseinandersetzung allgemein sowie – in zugespitzter Form – die Debatte über transnationale Demokratie belasten. Diese Engführung besteht darin, deliberative Demokratie als ein vom Konzept des idealen Diskurses abgeleitetes normatives Idealmodell der Demokratie zu betrachten. Eine Folge davon ist, die Theorie als eine unrealistische erscheinen zu lassen, die an der Diversität und Pluralität der Lebensformen in komplexen Gesellschaften scheitert. Einerseits wird der epistemische Sinn demokratischer Entscheidungen mit einem über Deliberation herbeigeführten rationalen Konsens gleichgesetzt. So verstanden muss deliberative Demokratie als eine Utopie erscheinen, die an der Konflikthaftigkeit von Politik in realen Gesellschaften vorbei geht. Andererseits wird die hervorgehobene Bedeutung des Parlaments als eine unzeitgemäße Fixiertheit auf die Institutionen des nationalen demokratischen Rechtsstaats begriffen, die dem Kontext transnationaler Politik – insbesondere in der EU – nicht angemessen erscheint. Beide Interpretationen werden jedoch der Theorie deliberativer Demokratie nicht gerecht. Über eine genauere Betrachtung des Begriffs des epistemischen Sinns sowie der Bedeutung des Parlaments in der deliberativen Demokratie lässt sich vielmehr begründen, dass gerade die Theorie deliberativer Demokratie ein Modell zur Verfügung stellt, das Demokratie unter den agonalen Bedingungen gesellschaftlicher Diversität sowie unter den Bedingungen transnationaler Politik jenseits des Nationalstaats möglich erscheinen lässt. 1 Vgl. Dryzek 2010: 3-18; Gutmann/Thompson 2004: 1-63; Schaal/Ritzi 2010; Thompson 2008.
27
Embed
Von der Kritik liberaler Demokratie zur Analyse deliberativer Systeme: Reflexionen zur gegenwärtigen Diskussionslage der Theorie deliberativer Demokratie
This document is posted to help you gain knowledge. Please leave a comment to let me know what you think about it! Share it to your friends and learn new things together.
Transcript
1
Daniel Gaus
Von der Kritik liberaler Demokratie zur Analyse deliberativer Systeme: Reflexionen zur
gegenwärtigen Diskussionslage der Theorie deliberativer Demokratie
In der Betrachtung des Diskurses der Theorie deliberativer Demokratie wird ein „Erwachsenwerden“
derselben festgestellt (Bohman 1998). Während es demnach in einer frühen Phase in den 1980er
Jahren darum ging, ein „theoretical statement“ in die demokratietheoretische Auseinandersetzung
einzuführen, hat sich die Theorie deliberativer Demokratie bis heute zu einer „working theory“
weiterentwickelt, die eine Fülle von empirischen Studien zur Überprüfung und Weiterentwicklung
ihrer Annahmen hervorgebracht hat (Chambers 2003). Im Unterschied zu dieser eher
forschungspraktischen Systematisierung und anderen informativen Literaturüberblicken1 zielt die
hier vorgeschlagene Rekonstruktion des Diskurses deliberativer Demokratie darauf, wesentliche
inhaltliche Entwicklungslinien und Wendepunkte der Debatte nachzuzeichnen, um das Potential
genauer spezifizieren zu können, das die Theorie deliberativer Demokratie insbesondere zur
Reflexion über die Bedingungen transnationaler Demokratie anbieten kann.
Folgende These soll begründet werden. Die Theorie deliberativer Demokratie kennzeichnet in erster
Linie zwei Annahmen. Erstens gründet die Legitimität moderner Demokratie auf einem
epistemischen Sinn, der politischen Entscheidungen über ihr Zustandekommen in einem
demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess verliehen wird. Für diesen
demokratischen Prozess ist öffentliche Deliberation eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende
Bedingung. Zweitens ist für die Erzeugung dieses epistemischen Sinns demokratischer
Entscheidungen eine parlamentarisch organisierte Legislative von hervorgehobener Bedeutung. Ein
Parlament bildet zwar nur eines von mehreren Elementen im deliberativen System Demokratie,
jedoch ein unverzichtbares. Eine Engführung des Diskurses deliberativer Demokratietheorie hat nun
Interpretationen dieser beiden Annahmen hervorgebracht, die die demokratietheoretische
Auseinandersetzung allgemein sowie – in zugespitzter Form – die Debatte über transnationale
Demokratie belasten. Diese Engführung besteht darin, deliberative Demokratie als ein vom Konzept
des idealen Diskurses abgeleitetes normatives Idealmodell der Demokratie zu betrachten. Eine Folge
davon ist, die Theorie als eine unrealistische erscheinen zu lassen, die an der Diversität und Pluralität
der Lebensformen in komplexen Gesellschaften scheitert. Einerseits wird der epistemische Sinn
demokratischer Entscheidungen mit einem über Deliberation herbeigeführten rationalen Konsens
gleichgesetzt. So verstanden muss deliberative Demokratie als eine Utopie erscheinen, die an der
Konflikthaftigkeit von Politik in realen Gesellschaften vorbei geht. Andererseits wird die
hervorgehobene Bedeutung des Parlaments als eine unzeitgemäße Fixiertheit auf die Institutionen
des nationalen demokratischen Rechtsstaats begriffen, die dem Kontext transnationaler Politik –
insbesondere in der EU – nicht angemessen erscheint. Beide Interpretationen werden jedoch der
Theorie deliberativer Demokratie nicht gerecht. Über eine genauere Betrachtung des Begriffs des
epistemischen Sinns sowie der Bedeutung des Parlaments in der deliberativen Demokratie lässt sich
vielmehr begründen, dass gerade die Theorie deliberativer Demokratie ein Modell zur Verfügung
stellt, das Demokratie unter den agonalen Bedingungen gesellschaftlicher Diversität sowie unter den
Bedingungen transnationaler Politik jenseits des Nationalstaats möglich erscheinen lässt.
2 Habermas spricht nicht von Deliberation, sondern verwendet dafür den Begriff des Diskurses. Im Hinblick auf
die hier diskutierten Aspekte können jedoch beide Begriffe synonym gebraucht werden. Aus Gründen der Übersichtlichkeit spreche ich daher nachfolgend zunächst auch in Bezug auf Habermas‘ Überlegungen von Deliberation statt von Diskurs.
7
1.3 Kritik an der deliberativen Demokratietheorie
Die deliberative Demokratietheorie hat eine Vielzahl von Kritiken hervorgerufen. In unserem
Zusammenhang ist es wichtig zu bemerken, dass den wesentlichen, den weiteren Verlauf der
Debatte prägenden Kritiken, eine ganz bestimmte Interpretation deliberativer Demokratietheorie
zugrunde liegt. Anstatt zwischen den beiden geschilderten Argumentationszielen zu differenzieren,
wird deliberative Demokratietheorie (von Befürwortern wie Kritikern) meist als Versuch verstanden,
ein normatives Ideal demokratisch legitimer Politik philosophisch zu rechtfertigen und seine
Realitätstauglichkeit auszuweisen, um reale Demokratien Schritt für Schritt in Richtung der von
Cohen explizierten ‚ideal deliberative procedure‘ weiterzuentwickeln. Darin besteht eine
folgenreiche Engführung in der Rezeption deliberativer Demokratietheorie. Grob vereinfacht lässt
sich die Kritik an der deliberativen Demokratietheorie in drei Bereiche zusammenfassen.
1.3.1 Deliberative Demokratie verfehlt Politik als über Wahlen vermittelter Interessenkampf
Erstens wird eingewendet, dass Deliberation im Gegensatz zum interessegeleiteten, strategischen
Handeln und Entscheiden in demokratischer Politik eine untergeordnete Rolle spielt (Shapiro 1999).
Weil Deliberation an sich kein Mechanismus zur Herbeiführung von Entscheidung ist, sei Demokratie
auf den Mechanismus der Aggregation durch Wahl angewiesen. Der zentrale Einwand dieser Kritik
ist, dass „deliberation theorists [...] wish away the vulgar fact that under democracy deliberation
ends in voting”, sodass „it is the result of voting, not of discussion, that authorizes governments to
govern, to compel” (Przeworski 1998: 141 und 142). An dieser Kritik zeigt sich die angesprochene
Engführung des Verständnisses deliberativer Demokratie. Sie beruht auf der Annahme, deliberative
Demokratietheorie präsentiere ein Modell der Demokratie als einer ‚ideal deliberative procedure‘,
die Bedingungen demokratischer Legitimität vorgibt. Vor diesem Hintergrund erst macht es Sinn, die
Realitätstauglichkeit dieses Ideals dafür anzuzweifeln, dass es keinen Entscheidungsmechanismus
bereitstellt, der für reale Politik unabdingbar ist. Während Mehrheitsentscheidungen im Rahmen der
Explikation einer ‚ideal deliberative procedure‘ tatsächlich keine Rolle spielen (und keine Rolle
spielen müssen), zielt der zweite Diskussionsstrang deliberativer Demokratie gerade darauf, die
Bedeutung öffentlicher Deliberation für die Legitimitation von Mehrheitsentscheidungen in
repräsentativen Demokratien nachzuvollziehen. Hier läuft der Vorwurf, Selbstinteresse und Macht
würden in der Theorie deliberativer Demokratie ausgeblendet, ins Leere (Mansbridge et al. 2010).
1.3.2 Deliberative Demokratie verfehlt eine differenzempfindliche Politik
Dieselbe Engführung liegt einer zweiten Kritik zugrunde, die für den weiteren Verlauf der Debatte
bedeutsamer ist. Hier wird eingewendet, das von der deliberativen Demokratietheorie
vorgeschlagene Modell führe im Kontext pluralistischer Gesellschaften nicht zu legitimer, sondern im
Gegenteil zu illegitimer Politik, die eine Exklusion und Unterdrückung bestimmter gesellschaftlicher
Gruppen zur Folge habe (Dryzek 2002: 57ff.). Erneut wenden sich die Einwände gegen Annahmen,
die mit der ‚ideal deliberative procedure‘ im Zusammenhang stehen.
8
Erstens wird die Annahme, demokratische Deliberation ziele auf die Herbeiführung rationaler
Konsense, in denen sich das Allgemeinwohl manifestiere, in zwei Hinsichten zurückgewiesen. Zum
einen kann es nach Mouffe (1999) in demokratischer Politik gar keinen Konsens geben, weil Konsens
allgemeine Zustimmung voraussetzt und das dem Wesensmerkmal des Politischen als einem
endlosen gesellschaftlichen Konflikt widerspricht. Konsens bedeutet in dieser Lesart die Aufhebung
des Politischen schlechthin. Da das unmöglich ist, komme der Versuch, Demokratie als zwanglose
Herbeiführung von Konsensen zu verstehen, einer Ideologie gleich, die sich bloß als Vertreter des
Allgemeinwohls ausgibt und dadurch ihr gesellschaftliches Anderes unterdrückt. Tatsächlich ziele
demokratische Politik stets lediglich darauf, den ständigen gesellschaftlichen Konflikt in friedliche,
legitime Bahnen zu lenken: „politics aims at the creation of unity in a context of conflict and
diversity“ (Mouffe 1999: 755). Zum anderen wird argumentiert, die Festlegung auf Konsens als Ziel
von Deliberation erlege der Teilnahme an demokratischen Auseinandersetzungen Bedingungen auf,
die in verschiedener Hinsicht exkludierend wirken. Das vorgegebene Ziel eines Konsenses übt
demnach einen Konformitätsdruck auf Stellungnahmen aus, die in die politische Auseinandersetzung
eingebracht werden und führt so zur Verleugnung bzw. Marginalisierung diverser Identitäten im
politischen Diskurs (Gould 1996). Weil die Herbeiführung eines Konsenses die Überwindung der je
eigenen partikularen Sichtweise oder Identität voraussetze, werde gesellschaftliche Pluralität als
möglicher Zustand des Allgemeinwohls entwertet.
Zweitens handele es sich bei der Praxis vernünftiger Argumentation nicht um eine kulturell neutrale
Praxis. Vielmehr werde dadurch eine bestimmte, in institutionellen Kontexten westlicher
Gesellschaften – Wissenschaft, Parlament, Gerichte – verbreitete Kommunikationsform als
Erfolgsbedingung der politischen Auseinandersetzung festgelegt, die in verschiedener Hinsicht
exkludierend wirkt (Young 1996: 122ff.). Die formale, von Emotionen befreite und auf schlüssige
Konklusionen angelegte Sprache kommt demnach nicht nur der männlichen Art zu kommunizieren
näher als der weiblichen, sondern entwertet zudem die Sprache kulturell anderer
Bevölkerungsgruppen. Darüber hinaus seien diese Normen sprachlicher Artikuliertheit Kennzeichen
sozial privilegierter Bevölkerungsgruppen, was zur Benachteiligung sozial Schwacher führe.
1.3.3 Deliberative Demokratie fokussiert auf die parlamentarische Legislative im demokratischen
Rechtsstaat
Eine dritte Kritik richtet sich direkt gegen die Habermassche Demokratietheorie (Dryzek 2002: 20-24),
die im Diskurs deliberativer Demokratie zweifellos die größte Wirkung entfaltet hat. Habermas‘
Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats wird hier als Versuch gedeutet, Cohen’s ‚ideal
deliberative procedure‘ auf eine Weise dem Kontext gegenwärtiger Demokratien anzupassen, die
den beiden erhobenen Einwänden (1.3.1 und 1.3.2) Stand halten kann (Dryzek 2002: 24). Dabei, so
der Einwand, ziehe Habermas jedoch der deliberativen Demokratietheorie den kritischen Stachel,
indem er den institutionalisierten Verfahren des demokratischen Rechtsstaats, insbesondere der
parlamentarischen Legislative, zu viel Bedeutung beimesse und so bestehende repräsentativ-
demokratische Systeme affirmiere. Prozesse politischer Kommunikation werden demnach nur noch
unter dem Gesichtspunkt betrachtet, inwiefern sie auf den staatlichen Gesetzgebungsprozess
einwirken können. „There is no sense that the administrative state, or economy, should be
democratized further. All that matters is that they be steered by law, itself democratically
influenced.” (Dryzek 2002: 26)
9
1.4 Empirische Deliberationsforschung
Auch wenn sich ein kausaler Zusammenhang schwer überprüfen lässt, so ist doch auffällig, dass die
mittlerweile zahlreichen empirischen Studien zur Überprüfung von Annahmen der deliberativen
Demokratietheorie sich thematisch an den oben angesprochenen Schwerpunkten der Kritik zu
orientieren scheinen. Die Engführung der Perspektive deliberativer Demokratietheorie setzt sich in
den empirischen Ansätzen insofern fort, als diese sich vornehmlich der Überprüfung der Annahmen
der ‚ideal deliberative procedure‘ und ihrer Realitätstauglichkeit widmen. Ihr Fokus richtet sich dabei
einerseits auf die Analyse von Deliberation in kleineren Gruppen, entweder in experimentellen
Settings oder unter ‚realen‘ Bedingungen („deliberative polls“, „citizens‘ juries“,
Bürgerversammlungen etc.), um die Rahmenbedingungen erfolgreicher Deliberation sowie die
Annahmen im Hinblick auf die Effekte von Deliberation zu überprüfen. Führt Deliberation tatsächlich
zur Transformation individueller Präferenzen, zu inklusiveren Perspektiven in politischen Streitfragen,
zu mehr Toleranz und Verständnis unter den Beteiligten, zu einem höheren Informationsgrad und zu
Entscheidungen, die sich einem Konsens annähern? Oder bringt Deliberation im Gegenteil die
Gegensätze zwischen Parteien klarer zum Vorschein und polarisiert? Der zweite Schwerpunkt liegt in
der empirischen Erforschung des Ausmaßes und des „Reinheitsgrades“, in dem Deliberation in
politischen Institutionen, in erster Linie in Parlamentsdebatten, tatsächlich vorkommt.3 Weil der für
deliberative Demokratie entscheidende Zusammenhang der Wirkung öffentlicher Deliberation auf
die Legitimität politischer Entscheidungen bislang kaum eine Rolle spielt, scheint es vertretbar, von
empirischer Deliberationsforschung zu sprechen.4 Dieser Umstand ist wiederum einer der Gründe für
die jüngste Forderung nach einer Neuausrichtung des Diskurses deliberativer Demokratie – hin zu
einer holistischen Perspektive auf Demokratien als „deliberative Systeme“.
2. Deliberative Demokratietheorie als Analyse deliberativer Systeme
Eine Vielzahl prominenter Vertreter der Theorie deliberativer Demokratie hat jüngst gemeinsam zu
einer Neuausrichtung des Diskurses hin zu einer systemischen Perspektive auf deliberative
Demokratie aufgerufen (Mansbridge et al. 2012). Sie fordern dazu auf, nun, nachdem die Explikation
und Rechtfertigung des Ideals deliberativer Demokratie sowie dessen empirischer Erforschung in
isolierten deliberativen Arenen im Mittelpunkt stand, politische Deliberation in der gesellschaftlichen
Makroperspektive zu analysieren. „To understand the larger goal of deliberation, we suggest that it is
necessary to go beyond the study of individual institutions and processes to examine their
interaction in the system as a whole” (Mansbridge et al. 2012: 1-2). Mit der Einnahme einer
systemischen Perspektive verbindet sich für die Autoren mehr als ein bloßer Wechsel der
3 Anstelle der Vielzahl einzelner empirischer Studien sei an dieser Stelle auf die informativen Überblicke zur
empirischen Deliberationsforschung von Bächtiger/Wyss (2013), Chambers (2003), Delli Carpini et a. (2004), Schaal/Ritzi (2008) und Ryfe (2005) verwiesen. Zur Diskussion des Verhältnisses von normativer und empirischer Forschung in der deliberativen Demokratietheorie vgl. Mutz (2008) sowie Thompson (2008). 4 Das ist nicht als Vorwurf an die empirische Deliberationsforschung zu verstehen. Zum einen ist es unklar, wie
eine empirische Überprüfung der Wirkung öffentlicher Deliberation auf die Legitimität politischer Entscheidungen aussehen könnte (Peters 2001). Zum anderen kann die Überprüfung der Bedingungen und Wirkung von Deliberationsprozesse wertvolle Erkenntnisse darüber liefern, wann eine gezielte Ergänzung repräsentativer Demokratien um zusätzliche deliberative Verfahren sinnvoll sein kann (dazu Mutz 2008).
10
Analyseebene. Vielmehr, so der Anspruch, können dadurch zugleich verschiedene Annahmen
korrigiert werden, die im Mittelpunkt des bisherigen Diskurses deliberativer Demokratie standen und
Kritik hervorgerufen haben. Bevor die Systemperspektive in die hier vorgeschlagene Rekonstruktion
des Diskurses deliberativer Demokratie eingeordnet wird (2.3), soll kurz erläutert werden, was damit
genau gemeint ist (2.1) und welche Korrekturen sich mit ihr verbinden (2.2).
2.1 Was ist ein systemischer Ansatz deliberativer Demokratie?
Eine Demokratie als deliberatives System zu betrachten erweitert den Blickwinkel über das (ideale)
Funktionieren politischer Deliberation innerhalb einer Gruppe oder Institution hinaus auf die Frage,
unter welchen Bedingungen ein Zusammenspiel politischer Institutionen und gesellschaftlicher
Diskurse in informellen Öffentlichkeiten als ein Prozess deliberativer Entscheidungsfindung begriffen
werden kann. Mansbridge et al. (2012: 4-5) definieren ein deliberatives System wie folgt:
„A system here means a set of distinguishable, differentiated, but to some degree
interdependent parts, often with distributed functions and a division of labour, connected in
such a way as to form a complex whole. It requires both differentiation and integration
among the parts. It requires some functional division of labour, so that some parts do work
that others cannot do as well. And it requires some relational interdependence, so that a
change in one component will bring about changes in some others.
A deliberative system is one that encompasses a talk-based approach to political conflict and
problem-solving – through arguing, demonstrating, expressing, and persuading. In a good
deliberative system, persuasion that raises relevant considerations should replace
suppression, oppression, and thoughtless neglect. Normatively, a systemic approach means
that the system should be judged as a whole in addition to the parts being judged
independently. We need to ask not only what good deliberation would be both in general
and in particular settings, but also what a good deliberative system would entail.”
Das deliberative System der Demokratie hat demzufolge drei Funktionen (Mansbridge et al. 2012:
10-13): seine epistemische Funktion besteht darin, informierte Präferenzen, Meinungen und
politische Entscheidungen als Ergebnis reflektierter Berücksichtigung relevanter Aspekte
hervorzubringen; seine ethische Funktion besteht vor allem darin, gegenseitigen Respekt unter den
Bürgern zu erzeugen; seine demokratische Funktion besteht darin, politische Gleichheit über einen
inklusiven politischen Prozess herzustellen. Die wesentliche Annahme des systemischen Ansatzes ist,
dass die Erfüllung dieser drei Funktionen nicht allein über Deliberationsprozesse in der
parlamentarischen Legislative einer Demokratie erfüllt werden können:
“Deliberative systems include, roughly speaking, four main arenas: the binding decisions of
the state (both in the law itself and its implementation); activities directly related to
preparing for those binding decisions; informal talk related to those binding decisions; and
arenas of formal or informal talk related to decisions on issues of common concern that are
not intended for binding decisions by the state.”(Mansbridge 2012 et al.: 9)
Für die Legitimität des Entscheidungsoutputs in einem deliberativen System spielt demnach jede
Kommunikation eine Rolle, die gesellschaftliche Sichtweisen darüber beeinflusst, was wie und warum
11
politisch geregelt werden sollte oder nicht. Damit wird die schleichende Transformation
gesellschaftlicher Diskurse durch „everyday talk“ (Mansbridge 1999) für die Analyse deliberativer
Demokratie ebenso relevant wie die Frage nach formellen und informellen Kanälen des Einflusses
solcher gesellschaftlicher Sichtweisen auf den institutionalisierten demokratischen
Entscheidungsprozess (Chambers 2012: 62-71).
2.2 Welche Korrekturen ergeben sich aus der Systemperspektive am Diskurs deliberativer
Demokratie?
Eine auf die Makroebene politischer Praxis in Demokratien gerichtete Systemperspektive führt dazu,
verschiedene Aspekte, die bislang eine untergeordnete Rolle spielten oder gar als im Widerspruch
zum Ideal deliberativer Demokratie aufgefasst worden sind, als für ein deliberatives System relevant
einzustufen. Das liegt vor allem daran, dass sich die Beurteilungsgrundlage politischer Deliberation
ändert. Es steht nicht mehr die Beurteilung von Deliberation in einzelnen Arenen für sich genommen
im Vordergrund. Stattdessen wird zur Leitfrage, welche Funktion und Wirkung deliberative wie nicht-
deliberative Kommunikation an einzelnen Orten für das Funktionieren des Gesamtsystems, also die
Erzeugung demokratisch legitimer Entscheidungen, hat.
“What might be considered low quality or undemocratic deliberation in an individual
instance might from a systems perspective contribute to an overall healthy
deliberation…Judging the quality of the whole system on the basis of the functions and goals
one specifies for the system does not require that those functions be fully realized in all the
parts.” (Mansbridge et al. 2012: 12 und 13)
Unter dieser Maßgabe kommt vor allem drei Elementen eine wichtige Rolle für die Erfüllung der
Funktionen eines deliberativen Systems zu, die üblicherweise nicht als Bestandteil deliberativer
Demokratie gesehen werden (Mansbridge et al.: 13-22). So ist erstens die Einbeziehung von Experten
für die epistemische Funktion des demokratischen Entscheidungsprozesses unerlässlich, weil über sie
diverses Fachwissen eingebracht wird, das für die Ermittlung sachlich adäquater Entscheidungen
wichtig ist. Die damit einher gehenden Gefährdungen für die ethische und demokratische Funktion
politischer Willensbildung muss durch entsprechende Verfahren der Selektion und Delegation sowie
der retrospektiven Beurteilung ausbalanciert werden, die die Bedingung politischer Gleichheit
erfüllen. Zweitens kommt dem von Protestgruppen ausgeübten Druck, obwohl er in der Regel
deliberativen Standards zuwiderläuft, eine wichtige Rolle zu, weil er Informationen Geltung sowie
den Anliegen Betroffener Gehör verschaffen kann, die im politischen Prozess bislang keine oder
kaum Beachtung fanden. Schließlich sind Medien selbst dann für ein deliberatives System
unverzichtbar, wenn sie parteiisch agieren, weil sie zwischen den verschiedenen Elementen des
deliberativen Systems eine Verbindung herstellen, den Bürgern Informationen vermitteln,
Interpretationen der Vorgänge im politischen Prozess anbieten und als „watchdogs, critics, and
investigators“ (Mansbridge et al. 2012: 20) fungieren.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich für die Befürworter eines systemischen Ansatzes eine
Neueinschätzung von drei zentralen Streitpunkten, die den Diskurs deliberativer Demokratie bis
heute wesentlich geprägt haben:
12
Erstens kann die Herbeiführung eines rationalen Konsenses nicht mehr als das vorrangige
Qualitätsmerkmal demokratischer Deliberation angesehen werden. „Deliberative theory has moved
away from a consensus-centered teleology—contestation and indeed the agonistic side of
democracy now have their place—and it is more sensitive to pluralism.” (Chambers 2003: 321)
Jenseits von Konsens entfaltet politische Deliberation auch dadurch eine legitimierende Wirkung,
dass sie unterschiedlichen gesellschaftlichen Sichtweisen und Identitäten im politischen Prozess eine
Stimme gibt und sie als gleichberechtigt anerkennt.
Zweitens, und damit zusammenhängend, setzt politische Deliberation nicht voraus, Beiträge in Form
rationaler Argumente vorzutragen. Stattdessen können alle Formen der Kommunikation unter zwei
Bedingungen einen wertvollen Beitrag zur Erfüllung der Funktionen deliberativer Systeme leisten
(Dryzek 2000: 68-71): sie dürfen keinen Zwang ausüben oder androhen und sie müssen in der Lage
sein, zur Verbindung des Partikularen mit dem Allgemeinen beizutragen. Allerdings bedarf jede
politische Deliberation der Argumentation, um die Einhaltung dieser Bedingungen zu überprüfen,
denn nur Argumentation ist in der Lage, auch in anderen Kommunikationsformen Versäumnisse in
diesen beiden Hinsichten aufzudecken.
Drittens verliert das Parlament seinen hervorgehobenen Status für die Erzeugung legitimer
Entscheidungen in der Demokratie. Es ist vielmehr eines von vielen Elementen, die für das
deliberative System relevant sind. „We take the state and its legislatures as the ultimate decision-
makers in a polity, but not as the centre to which everything is aimed in the polity's deliberative
system.” (Mansbridge et al. 2012: 9-10) Das betrifft auch die Funktion des Parlaments für
demokratische Repräsentation: „some of the functions of representation are no longer tied to the
standard legislative model, particularly in the wider public role in opinion formation and in creating
the access to political influence against powerful interests.” (Bohman 2012: 75)
2.3 Die Systemperspektive aus der Sicht rekonstruktiver deliberativer Demokratie
Die Hinwendung zur Perspektive auf deliberative Systeme ist wichtig, weil sie zur Überwindung der
Engführung des Diskurses deliberativer Demokratie beitragen kann. Es geht ihr darum, die mit der
‚ideal deliberative procedure‘ verbundenen Annahmen in den Kontext pluralistischer Gesellschaften
einzubetten und damit zugleich den Blick über den Tellerrand von Deliberation in einzelnen
Institutionen bzw. Gruppen hinaus zu erweitern. Das ermöglicht es ihr, auf zentrale Einwände zu
antworten, die gegen die deliberative Demokratietheorie erhoben worden sind. Es stellt sich jedoch
die Frage, wie dieser Vorgang der Kontextualisierung demokratietheoretisch begründet werden
kann. Hält man an der Vorstellung fest, deliberativer Demokratietheore gehe es darum, ein ideales
Demokratiemodell auf der Basis einer ‚ideal deliberative procedure‘ zu entwerfen und in den Kontext
pluralistischer Gesellschaften einzubetten, lässt sich das schwer rechtfertigen. Dann erschienen die
mit der Systemperspektive verbundenen Umstellungen als Abstriche, die die ideale Theorie
zugunsten ihrer Realisierung in komplexen Gesellschaften zu machen hätte – also als ein „second-
best“, das deliberative Demokratie zwar realitätstauglicher macht, dafür aber Widersprüche zu den
eigenen Annahmen in Kauf nimmt (oder diese zumindest erheblich einschränkt).
Die Bedeutung des systemischen Ansatzes lässt sich dagegen besser fassen, wenn man ihn nicht als
eine nachträgliche Anpassung eines Ideals an den gesellschaftlichen Kontext, sondern im Sinne einer
13
rekonstruktiven Theorie deliberativer Demokratie versteht. Die Diskurstheorie der Demokratie
(Habermas 1992, 2009) analysiert Demokratie im Nationalstaat in der Perspektive eines deliberativen
Systems und fragt, welche Rolle die demokratischen Institutionen und ihr Zusammenspiel im
formalen Gesetzgebungsprozess einerseits sowie ihre Wechselwirkung mit der anarchischen
politischen Öffentlichkeit andererseits für die legitime Regelung gesellschaftlicher Konflikte spielen.
Entsprechend ist ihre Motivation nicht, eine möglichst ideale deliberative Demokratie unter realen
Bedingungen zu entwerfen.5 Vielmehr geht es der Diskurstheorie darum, die Funktionslogik von
Demokratie als einem deliberativen System nachzuvollziehen. Sie geht der Frage nach, warum
moderne Demokratie nach dem Zusammenbruch einer festen religiösen Weltordnung in
pluralistischen, von Dissens und potentiellem Konflikt geprägten Gesellschaften stabile soziale
Integration sichern kann. Ihre Antwort darauf lautet: weil das deliberative System Demokratie die
gesamtgesellschaftliche Willensbildung und Entscheidungsfindung routinemäßig in Bahnen lenkt, die
starke Parallelen zu den Eigenschaften der sprachvermittelten Problemlösung aufweisen, welche für
menschliche welterschließende Praxis grundlegend ist, erklärt es sich, dass demokratische
Entscheidungen regelmäßig als legitim aufgefasst werden, Gefolgschaft erzeugen können und so
soziale Integration sichern. Um das Potential zu erfassen, dass eine rekonstruktive systemische
Theorie deliberativer Demokratie für die Auseinandersetzungen um die Bedingungen und
Möglichkeit transnationaler Demokratie anbietet, ist es wichtig, die Folgen zu berücksichtigen, die
mit dieser Umstellung des Erkenntnisinteresses einher gehen.
3. Idealer Diskurs, epistemischer Sinn von Demokratie und Funktion des Parlaments in einer
rekonstruktiven Theorie der Demokratie als deliberatives System
Verbindet man die Systemperspektive mit der Umstellung auf ein rekonstruktives
Erkenntnisinteresse und überwindet so die Engführung im Diskurs deliberativer Demokratie, geht
damit vor allem eine Revision der Rolle einher, die das Konzept des idealen Diskurses in der
deliberativen Demokratietheorie spielt. Das Konzept des idealen Diskurses hat nicht den Zweck, ein
Ideal zwangloser Verständigung zu explizieren, das als normative Blaupause zum Design
demokratisch legitimer politischer Ordnung dienen könnte. In der Diskurstheorie ist es vielmehr
Bestandteil einer Beschreibung der Praxis welterschließender kooperativer Problemlösung durch
kommunikatives Handeln in modernen Gesellschaften (3.1). In Analogie zu diesem Begriff
kommunikativen Handelns entwickelt die Diskurstheorie der Demokratie einen pragmatistisch
orientierten Begriff demokratischer Legitimität. Demokratische Legitimität ruht demnach darauf,
dass der Prozess demokratischer Willensbildung und Entscheidung eine epistemische Dimension hat,
die der epistemischen Dimension des kommunikativen Handelns entspricht: demokratische
Entscheidungen können als gerechtfertigte Lösungen eines gemeinsamen Handlungsproblems
begriffen werden. Diese diskurstheoretische Deutung des epistemischen Sinns von Demokratie
unterscheidet sich einerseits von Theorien epistemischer Demokratie, ohne andererseits einen
idealen deliberativen Prozess anzunehmen, der auf der Basis ausschließlich vernünftiger Argumente
einen rationalen Konsens unter den Beteiligten herbeiführt – wie beispielsweise die Kritik der
agonalen an der deliberativen Demokratietheorie voraussetzt (vgl. Westphal in diesem Band) (3.2).
5 Insofern läuft der Einwand, die Diskurstheorie der Demokratie affirmiere bestehende repräsentativ-
demokratische Systeme, ins Leere (siehe oben 1.3.3 und Dryzek 2000: 20-27).
14
Aus dieser Interpretation des epistemischen Sinns demokratischer Praxis ergibt sich die Bedeutung
einer parlamentarischen Legislative für das deliberative System Demokratie. Die Vertreter eines
systemischen Ansatzes weisen zu Recht darauf hin, dass das Parlament nicht die einzig relevante
Größe im deliberativen System ist. Man darf aber umgekehrt nicht übersehen, dass das Parlament
für die Erzeugung des Legitimität begründenden epistemischen Sinns in einem deliberativen System
eine entscheidende Rolle spielt – und zwar nicht nur im Nationalstaat, sondern gleichermaßen im
Kontext des Regierens jenseits des Staates (3.3).
3.1 Der Status des Konzepts der idealen Sprechsituation in der deliberativen Demokratietheorie
Das Konzept des idealen Diskurses6 bezeichnet eine Reihe von idealisierenden Unterstellungen, die
Akteure unweigerlich vornehmen, wenn sie sich zur kooperativen Lösung eines gemeinsamen
Problems einander zuwenden, um eine Verständigung zu erzielen. Es ist Bestandteil einer Theorie
sozialer Interaktion – der Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1981) –, die von der
pragmatistischen Grundannahme ausgeht, dass menschliche Interaktion als eine kooperative und
kreative Problemlösungspraxis zu begreifen ist. Grob gesagt verläuft menschliches Handeln demnach
solange im ‚Routinemodus‘ des unreflektierten Deutens stets neuer Handlungssituationen, die von
den Interaktionsbeteiligten in bestehende Muster materiellen Wissens und normativer
Überzeugungen eingeordnet werden, bis eine Situation auftritt, die sich einer solchen Einordnung
sperrt. Dann sehen sich die Beteiligten mit der Frage konfrontiert, wie sie das vorliegende Problem
im Umgang mit der materiellen Welt effizient und/oder den zwischen ihnen auftretenden Konflikt
legitim lösen können.7 Um den damit einher gehenden Einstellungswechsel bei den Beteiligten zu
beschreiben, bezeichnet Habermas den Übergang vom unreflektierten Routinemodus des Handelns
zum reflektierten Modus der gemeinsamen Problembearbeitung als Übergang vom Handeln zum
Diskurs. Diese Beschreibung ist insofern nicht ganz glücklich, als sie suggerieren könnte, Diskurs sei
etwas vom Handeln Abgekoppeltes. Tatsächlich ist jedoch – das ist für unsere Überlegungen zentral –
der Diskurs als Bestandteil derselben Interaktionspraxis zu begreifen. Er zielt auf nichts anderes, als
ein wahrgenommenes Handlungsproblem dadurch zu bewältigen, dass die Beteiligten zu einer
gemeinsamen Beurteilung des Problems gelangen und auf dieser Basis Wege zu dessen Überwindung
6 Der theoretische Status des Konzepts des idealen Diskurses im Zusammenhang mit der Theorie des
kommunikativen Handels, wie er hier erläutert wird, darf nicht mit dem Status des Konzepts der ‚idealen Sprechsituation‘ verwechselt werden, das Habermas in frühen Schriften zur Wahrheitstheorie benutzt hat (Habermas 1972: 174ff.). Dort wurde Wahrheit im Sinne idealer Rechtfertigbarkeit in einer idealen Sprechsituation, die rationalen Konsens erzeugt, verstanden. Diese Überlegungen liegen jedoch noch vor dem, was man als ‚pragmatische‘ oder ‚rekonstruktive‘ Wende der Habermasschen Theorie (Habermas 1973: 411-417) nennen könnte, welche zur Entwicklung der Theorie des kommunikativen Handels geführt hat. Damit einher ging die handlungstheoretische Unterscheidung zwischen einem Routinemodus unreflektierten Handelns und einem reflexivem Modus des Diskurses, die für unsere Zwecke entscheidend ist und gleich näher erläutert wird. In der Folge hat Habermas seinen konsenstheoretischen Wahrheitsbegriff durch eine pragmatistische Interpretation des Diskursbegriffs der Wahrheit ersetzt (Habermas 1999a; 1999c: 286ff.; 1999d: 261ff.). Demnach unterstellen die Interaktionsbeteiligten zwar im reflexiven Modus der Problembearbeitung („Diskurs“) einen Begriff von Wahrheit als idealer Rechtfertigbarkeit. Sobald jedoch eine Annahme als hinreichend gerechtfertigt erscheint und die Beteiligten den Diskurs „verlassen“, legen sie in ihrem „vorreflexive[n] ‚Zurechtkommen mit der Welt‘“ (Habermas 1999d: 263) wieder eine realistische Auffassung von Wahrheit zugrunde. 7 Vorausgesetzt, sie ziehen nicht aus egoistischen Motiven eine gewaltsame Bearbeitung oder ‚strategisches
Handeln‘ vor.
15
finden. Dementsprechend findet Diskurs nicht müßig, sondern unter Zeitdruck statt: es muss eine
Lösung herbeigeführt werden.8
Zur theoretischen Beschreibung der Einstellung, in der die Interaktionsbeteiligten sich nun, beim
Übergang vom Handeln zum Diskurs, einander zuwenden, um über eine Lösung zu beraten,
entwickelt Habermas das Konzept des idealen Diskurses. Die Eigenschaften des idealen Diskurses
bezeichnen jene Annahmen, die die Interaktionsbeteiligten mehr oder weniger unwissentlich in
dieser (und jeder) Situation unterstellen, in denen ihnen zur Bewältigung eines Problems kein
anderes Mittel übrig bleibt, als der Versuch, mit den anderen Beteiligten eine Verständigung über die
Situation herbeizuführen. Diese idealisierenden Unterstellungen9 im Hinblick auf die aktuelle
Verständigungssituation sind kontrafaktisch insofern, als die Beteiligten sie auch dann vornehmen,
wenn sie wissen, dass sich diese Annahmen gar nicht vollständig realisieren lassen, sie in der
Vergangenheit schon unzählige Male unerfüllt geblieben sind und sie sich auch stets wieder im
Nachhinein als unerfüllt herausstellen können. Tritt dieser letzte Fall ein, kann das zur Folge haben,
dass das in dem betreffenden Diskurs erzielte Ergebnis seine Gültigkeit verliert. Dennoch werden die
idealisierenden Unterstellungen in der nächsten Situation wieder und immer wieder vorgenommen.
Den Grund dafür sieht die Diskurstheorie darin, dass den Beteiligten zur Bewältigung von
Handlungsproblemen letzten Endes kein anderes Mittel zur Verfügung steht, um zu sachadäquatem
Wissen bzw. einer gerechten Regelung ihrer Beziehung zu gelangen, als eine
verständigungsorientierte Haltung einzunehmen und in einen Diskurs einzutreten. Die wechselseitige
Unterstellung, dass die Bedingungen eines idealen Diskurses gegeben sind, hat den praktischen Sinn,
den Beteiligten eine vorbehaltlose Prüfperspektive auf den jeweils problematischen Gegenstand zu
eröffnen, in der alle Aspekte thematisierbar sind und alle thematischen Aspekte dem größtmöglichen
Bewährungsdruck ausgesetzt werden. In diesem Sinn sind die Beteiligten im problembewältigenden
Umgang mit der materialen und der sozialen Welt in letzter Instanz „an die Ebene der Argumentation
und der Reflexion als Bewährungsinstanz verwiesen“ (Habermas 1999b, S. 130; Herv. orig.). Somit
wird mit dem idealen Diskurs zwar ein utopisches Ideal beschrieben. Bei diesem Ideal handelt es sich
aber nicht um eine Blaupause für das Design einer perfekten Demokratie. Vielmehr handelt es sich
um ein utopisches Ideal, das jeder stillschweigend als mehr oder weniger geltend in dem Moment
unterstellt, in dem er sich an dem alltäglichen Prozess der Verständigung mit anderen beteiligt. Der
ideale Diskurs ist eine im Alltag wirksame Utopie, die verständigungsorientiertes Handeln erst
ermöglicht. Die mit den im Konzept des idealen Diskurses zusammengefassten kontrafaktischen
Einstellungen sind daher keine Ideale in einem moralischen Sinn.10 Der theoretische Begriff der
Deliberation bzw. des Diskurses ist weiter gefasst und beschreibt die Bedingungen der Möglichkeit
welterschließender Praxis.
8 Das trifft auf alle Formen politischer Deliberation zu. Nicht alle Diskurse sind aber praktisch in diesem Sinne.
So zielt beispielsweise die Institution der Wissenschaft genau darauf, Diskurse weitest möglich dem praktischen Problemlösungsdruck zu entziehen. 9 Vgl. zu den idealisierenden Unterstellungen, die Diskursbeteiligte vornehmen Habermas (2005: 27-57) sowie
zu damit implizierten Bedingungen einer idealen Sprechsituation Habermas (2005: 54f.). 10
Vgl. Habermas (1999b: 133). Obwohl beide Ansätze ansonsten starke Parallelen aufweisen, unterscheidet sich an diesem theoriearchitektonisch tiefliegenden Punkt der Habermassche Grundbegriff des Diskurses von Rainer Forsts Grundbegriff eines „Rechts auf Rechtfertigung”. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung Forst (2011) und Habermas (2012, S. 294-298).
16
3.2 Der epistemische Sinn demokratischer Praxis
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen interpretiert die Diskurstheorie Demokratie als eine über
Institutionen auf Dauer gestellte und damit erwartbare Praxis kollektiver Problemlösung. Sie sieht die
Rationalität demokratischer Praxis in Analogie zu dem epistemischen Sinn, den die diskursive
Bearbeitung von Handlungsproblemen in welterschließender Praxis hat. Dieses Verständnis
unterscheidet sich in wichtigen Hinsichten von zwei in der Literatur gängigen Deutungen des
epistemischen Sinns des demokratischen Prozesses.
Dem ersten Verständnis zufolge liegt die Legitimität der Demokratie darin begründet, dass ihre
Verfahren nicht nur den Wert der prozeduralen Fairness und politischen Gleichheit über die
allgemeine Wahl realisieren, sondern darüber hinaus – und davon unabhängig – ein effektives Mittel
darstellen, aus vorhandenen Entscheidungsoptionen die beste zu selektieren (Estlund 2008). Hierbei
liegt die Prämisse zugrunde, dass es vom demokratischen Verfahren unabhängige, objektive Kriterien
zur Beurteilung dafür gibt, was die für alle beste politische Entscheidung ist. Der epistemische Sinn
der Demokratie besteht demnach darin, mit ihren Entscheidungen eine unabhängig existierende
politische Wahrheit aufzuspüren: Demokratie hat die Fähigkeit „to ‘track the truth‘“ (List/Goodin
2001: 277).11 Die prominenteste Begründung für diese epistemische Leistung demokratischer
Verfahren liefert das Condorcet Jury Theorem, welches die Treffsicherheit der demokratischen
Mehrheitswahl grob gesprochen wie folgt erklärt: Nimmt man an, dass jeder einzelne Wähler in
seiner Beurteilung dessen, was die für alle beste Entscheidung ist, eher richtig als falsch liegt, liegt die
aggregierte Mehrheit ebenfalls eher richtig als falsch und zwar mit umso höherer Wahrscheinlichkeit,
je größer die Gruppe der Wähler ist (Grofman/Feld 1988; List/Goodin 2001).
Die Schwierigkeit dieses Ansatzes besteht darin, dass sich die Annahme, die für die Legitimität
politischer Entscheidungen relevanten Qualitätsstandards seien vom demokratischen Verfahren
unabhängig, kaum aufrechterhalten lässt. Zweifellos kann man argumentieren, jede politische
Entscheidung betreffe auch Fakten, die verfahrensunabhängig beurteilt werden können und müssen
(Goodin/List 2012: 306). Es gilt aber gleichermaßen, dass die angemessene Regelung einer
politischen Materie nicht allein auf der Grundlage objektiv beurteilbarer Fakten ermittelt werden
kann. Das für die Legitimität demokratischer Entscheidungen relevante Wissen schließt immer die
Frage mit ein, welche Bürger auf welche Weise von einer möglichen Entscheidung wie betroffen sein
würden. Dieses zerstreute Wissen, das nur die jeweiligen Bürger selbst haben können (Anderson
2006: 11), kann aber nur dann zur Beurteilungsgrundlage für alle anderen werden, wenn es vorher in
den Willensbildungsprozess eingespeist worden ist. Anders gesagt, weil Bürger einer Demokratie
„self-originating sources of valid claims“ (Rawls 1980: 543) sind, ist ihre gleichberechtigte
Partizipation am Zustandekommen von politischen Entscheidungen nicht nur aus dem moralischen
Prinzip der Fairness geboten, sondern zudem aus epistemischen Gründen erforderlich.
Das wiederum legt eine Schlussfolgerung nahe, die zu einem zweiten Verständnis des epistemischen
Sinns von Demokratie führt. Diese Interpretation wird häufig mit dem oben beschriebenen ersten
11
Wie gleich gezeigt wird unterscheidet sich das diskurstheoretische Verständnis des epistemischen Sinns des demokratischen Prozesses deutlich von dem hier angenommen ‚Auffinden‘ unabhängig existierender politischer Wahrheiten. Dieser Unterschied ist zu beachten, wenn Habermas die kontrafaktische Einstellung der Teilnehmer an einer demokratischen Wahl (in dieser Hinsicht unscharf) damit beschreibt, die Wähler unterstellten der Wahlpraxis ein „truth-tracking potential“ (Habermas 2009: 99).
17
Strang deliberativer Demokratietheorie in Verbindung gebracht. Inklusive demokratische
Partizipation ist demnach Mittel zum Legitimität begründenden epistemischen Zweck der
Generierung rationaler Konsense, in denen sich das Allgemeinwohl im Hinblick auf eine politische
Entscheidungsmaterie manifestiert. Das demokratische Verfahren hat in dieser Sichtweise keinen die
politische Wahrheit aufspürenden, sondern konstruierenden Charakter: die beste Entscheidung
manifestiert sich in Form eines argumentativ herbeigeführten Konsenses, in dem die Bürger ihre je
unterschiedlichen Sichtweisen aufgeben und zu einem Allgemeinwillen verschmelzen. Der
wesentliche Schwachpunkt dieser Interpretation ist es, wie schon erwähnt, den pluralistischen
Charakter moderner Gesellschaften zu verkennen. Erstens lässt sich in dieser Sichtweise die
Legitimität von Mehrheitsentscheidungen, die unter Bedingungen gesellschaftlicher Pluralität
unumgänglich sind, nicht begründen. Das Mehrheitsprinzip erscheint zwar aus pragmatischen
Gründen notwendig, steht aber im Widerspruch zum Legitimität erzeugenden epistemischen Sinn der
Demokratie. Zweitens wird Politik hier als Prozess ausgezeichnet, in dem Einheitsbildung und die
Überwindung von Pluralität wünschenswert erscheint. Auch diese Lesart des epistemischen Sinns der
Demokratie verstößt also gegen das Grundprinzip individueller Autonomie, wonach Bürger
gleichermaßen als „self-originating sources of valid claims“ anzuerkennen sind, deren Willen nicht
ohne Weiteres hinter einem Allgemeinwohl zurücktreten darf.
Die diskurstheoretische Interpretation des epistemischen Sinns von Demokratie unterscheidet sich
von beiden Lesarten. Sie legt ein pragmatistisches Konzept demokratischer Legitimität zugrunde,
wonach die epistemische Funktion des demokratischen Prozesses zwar konstruktiv ist, aber nicht von
der Erzielung rationaler Konsense abhängt. Die Erklärung dafür liegt in einer Parallele demokratischer
zur alltäglichen welterschließenden Praxis. Die alltägliche Problemlösungspraxis beruht auf einer
Spannung zwischen der kontrafaktischen Unterstellung einer idealen Diskurssituation einerseits, die
den Beteiligten eine Prüfperspektive auf den problematischen Gegenstand eröffnet, und dem hinter
diesem Ideal notwendig zurückbleibenden tatsächlich geführten Diskurs, in dem (nicht perfekte)
Lösungen generiert werden. Dass die so gefundenen Lösungen für die Beteiligten akzeptabel sein
können, obwohl sie wissen (können), dass ihr geführter Diskurs das Ideal verfehlt hat, hat zwei
Gründe. Erstens handelt es sich um praktische Diskurse, die im Hier und Jetzt unter Zeitdruck geführt
werden. Das heißt, den Beteiligten ist klar, dass eine Entscheidung zur Problembewältigung
herbeigeführt werden muss, obwohl die Informationslage möglicherweise (und wahrscheinlich)
unvollständig ist. Das gilt aber, zweitens, nur, sofern der tatsächlich geführte Diskurs nicht gegen
Bedingungen des idealen Diskurses auf eine Weise verstoßen hat, die realistischerweise vermeidbar
gewesen wäre. Wenn offensichtlich Stimmen kein Gehör bekamen, obwohl das möglich gewesen
wäre, ist das Ergebnis inakzeptabel, auch wenn den Beteiligten klar sein sollte, dass auch nach der
Einbeziehung dieser Stimmen noch keine ideale Inklusion aller möglichen Stimmen vorliegen kann.
Der Diskurstheorie zufolge ist es für die Analyse der Demokratie ist es wichtig, sich dieser Spannung
in der welterschließenden Praxis zu vergewissern, weil sich über sie die Konstitution der sozialen
Welt „zwischen Faktizität und Geltung“ (Habermas 1992) vollzieht. „So wandern Ideen auf dem Wege
über unvermeidliche idealisierende Voraussetzungen in die Alltagspraxis ein und nehmen hier
unauffällig die Qualität harter sozialer Tatsachen an.“ (Habermas 2009: 98; Herv. orig.) Das gilt auch
für politische Praxis. Politische Institutionen sind in diesem Sinne als „harte soziale Tatsachen“ zu
verstehen, die kontrafaktisch einen idealen Sollwert richtiger Politik festlegen, der den Vollzug
politischer Praxis orientiert. Anders gesagt: in politischen Institutionen verkörpert sich ein kognitiver
Gehalt, der für alle Mitglieder der Gemeinschaft als richtungsweisend gilt.
18
Diese Parallelen zwischen der alltäglichen sprachlichen Verständigungspraxis und der
demokratischen Praxis können begründen, warum die Akzeptabilität politischer Entscheidungen
nicht davon abhängt, dass sie im Konsens getroffen werden, sondern im Gegenteil, fehlender
Konsens im Ergebnis einen für alle erwartbaren Normalzustand darstellt – auch wenn umgekehrt
daraus nicht folgt, dass Mehrheitsentscheidungen ohne Weiteres gerechtfertigt sind. Die deliberative
Demokratietheorie sieht das Erfordernis eines Konsenses in der Demokratie nicht im Hinblick auf den
Inhalt politischer Entscheidungen, sondern auf den kognitiven Sinn, den die Beteiligten der
politischen Praxis unterstellen. Das bedeutet, es bedarf des geteilten Einverständnisses darüber, a)
dass es Probleme gibt, die sich nur durch Kooperation gemeinsam bewältigen lassen, b) diese Praxis
gemeinschaftlicher Problemlösung über eine rechtlich institutionalisierte politische Ordnung auf
Dauer gestellt werden soll und c) diese Institutionen den Sinn haben, alle möglicherweise
auftretenden Konflikte und Probleme für alle gleichermaßen legitim zu regeln.
Die These der Diskurstheorie der Demokratie ist nun, dass das Institutionensystem
nationalstaatlicher Demokratien im Zusammenspiel mit der anarchischen Öffentlichkeit ein
deliberatives System etabliert, das diesen Anforderungen entspricht – und deshalb soziale
Integration in pluralistischen, von potentiellem Konflikt geprägten modernen Gesellschaften sichert.
Der kognitive Gehalt, den der demokratische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess verkörpert,
und der den Sollwert legitimer politischer Entscheidungen als für die demokratische Gemeinschaft
geltend festlegt, etabliert einen epistemischen Sinn der Demokratie, der an fünf Bedingungen
geknüpft ist:
- erstens muss der politische Prozess so offen sein, dass alle möglichen gesellschaftlichen
Probleme thematisierbar und zum Gegenstand gemeinsamer politischer Entscheidung werden
können;
- zweitens müssen in einem Entscheidungsprozess alle relevanten Fragestellungen thematisiert
und alle relevanten sachlichen Aspekte und Fakten zugrunde gelegt werden, um das
Qualitätskriterium sachlicher Angemessenheit zu bedienen;
- drittens müssen die Perspektiven (Bohman 2009) und Ansprüche aller möglicherweise
Betroffenen gleichermaßen berücksichtigt werden, um das Qualitätskriterium politischer
Gleichheit zu erfüllen. Hierbei handelt es sich um ein prozedurales Kriterium, das einen
epistemischen Sinn hat, den nicht-deliberative Entscheidungsprozeduren (etwa ein Münzwurf
oder die mechanische Aggregation abgegebener Stimmen) verfehlen. Politische Gleichheit
erfordert die Anerkennung eines jeden Bürgers als einer „self-originating source of valid claims“.
Individuelle Sichtweisen, Ansprüche und Ziele als gültig anzuerkennen, setzt voraus, dass diese
im politischen Prozess nicht willkürlich, das heißt ohne die Angabe von Gründen, hinter einem
gemeinsamen Beschluss zurücktreten dürfen (Forst 2007: insbesondere 248-269). Diese Art von
Vermittlung zwischen individuellen Ansprüchen macht öffentliche politische Deliberation
erforderlich.
Für sich betrachtet könnten diese Kriterien nahelegen, die Legitimität demokratischer
Entscheidungen hinge von konsensualen Beschlüssen ab. Allerdings handelt es sich bei ihnen
offensichtlich um Ideale, die im demokratischen Prozess stets zu einem gewissen Grade unterlaufen
werden. Die Frage ist also, warum demokratische (Mehrheits-)Entscheidungen dann nicht per se
illegitim bleiben müssen. Die Antwort darauf liegt für die Diskurstheorie in folgenden zwei
Umständen. Erstens haben Bürger moderner Gesellschaften ein reflexives Bewusstsein entwickelt.
19
Das heißt, sie wissen einerseits um die gesellschaftliche Pluralität und Komplexität (Habermas 1992:
42ff.) und haben andererseits einen Sinn für die Fallibilität ihres Wissens und ihrer normativen
Überzeugungen (Habermas 1999c: 291-295). Ihnen ist aus eigener Erfahrung ersichtlich, dass
Konsens im Lichte der Pluralität von Sicht- und Lebensweisen nicht nur unwahrscheinlich ist, sondern
auch dann, wenn er erzielt wurde, stets unter Vorbehalt steht, weil neue Erfahrungen regelmäßig
neue Erkenntnisse und Deutungen mit sich bringen, die eine Revision erforderlich machen. Zweitens
realisieren Bürger, dass trotz dieser unvermeidlich unvollständigen Bedingungen Entscheidungen
zum kollektiven Handeln herbeigeführt werden müssen, wenn politische Probleme gemeinsam
bewältigt werden sollen. So gesehen ist der Legitimitätssinn in modernen Demokratien durch eine
Ambivalenz gekennzeichnet, die durch die Spannung zwischen den Anforderungen der ersten drei
Ideale inklusiver Deliberation einerseits und der Notwendigkeit der Entscheidungsfindung unter
Zeitdruck andererseits erzeugt wird. Entsprechend hängt die Legitimität politischer Entscheidungen
- viertens davon ab, dass Entscheidungen zu einem angemessenen Zeitpunkt getroffen werden.
Allerdings darf in einem demokratischen Prozess das Pendel nicht unkontrolliert zugunsten der
Notwendigkeit der Entscheidung ausschlagen und dabei die Norm inklusiver Deliberation verletzen.
Die Einschränkung dieser Norm zugunsten der Ermöglichung einer Entscheidung ist nur zulässig
unter der Bedingung, dass
- fünftens die tatsächlich erfolgte Willensbildung nicht auf eine Weise gegen das Ideal verstößt,
die sich realistisch hätte vermeiden lassen. Bürger müssen unterstellen können, dass der
faktische Prozess den idealisierenden Bedingungen jeweils bestmöglich entspricht.
Die besondere Herausforderung für jede Demokratie besteht darin, dass die Frage, wie weit die
ersten drei Kriterien von Fall zu Fall erfüllt werden können und sollen und wann Ergebnisse
hinreichend gerechtfertigt sind, nicht (theoretisch) vorab bestimmt werden kann. Die Frage bedarf
selbst der demokratischen Bearbeitung.12
Mit dieser Interpretation bietet die Diskurstheorie einen Begriff der epistemischen Qualität
demokratischer Entscheidungen an, ohne dabei auf die Annahme objektiv existierender politischer
Wahrheiten oder die Notwendigkeit rationaler Konsense zurückgreifen zu müssen. Dadurch eröffnet
sich ein begrifflicher Raum zur Erfassung einer demokratisch legitimen Mehrheitsentscheidung als
einem öffentlich gerechtfertigten Kompromiss, der zwischen den Polen einer willkürlichen,
mechanisch aggregierten Mehrheitsentscheidung einerseits sowie andererseits einem rationalen
Konsens, der keine abweichende individuelle Haltung zulässt, liegt. In diesem Sinn schlägt Henry S.
Richardson (1997) vor, den gemeinsamen Willen, der aus demokratischer Willensbildung hervorgeht,
nicht als rationalen Konsens zu verstehen, sondern als eine „democratic intention“: eine gemeinsame
Intention, zur Lösung eines gemeinsamen Problems eine bestimmte kollektive Handlung zu
12
Gleiches gilt für die Beurteilung des institutionalisierten Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses in einer Demokratie. Auch dessen Angemessenheit im Hinblick auf die gleichzeitige Erfüllung der drei Bedingungen muss selbst zum Gegenstand demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung werden können (Bohman 2007). Demokratische Legitimität bedarf insofern der Einrichtung einer „reflexiven Demokratie“ (Schmalz-Bruns 1995).
20
vollziehen, auch wenn diese Handlung gegen das, was „ich persönlich“ als beste politische Lösung
betrachte, verstoßen sollte.
3.3 Das Parlament im deliberativen System Demokratie
Die Befürworter eines systemischen Ansatzes deliberativer Demokratie sprechen sich dagegen aus,
das Parlament als Zentrum zu begreifen, auf das öffentliche politische Kommunikation in einer
Demokratie zuläuft. Diese Haltung entspricht der von Rosanvallons (2010) angemahnten Vorsicht vor
einer in der gegenwärtigen Demokratietheorie verbreiteten Überhöhung der Bedeutung des
Parlaments. Rosanvallon zufolge wird – im Gegensatz zur Praxis demokratischer Gesellschaften – das
theoretische Nachdenken über Demokratie noch heute von einem Gründungsmythos moderner
Demokratie gefangen gehalten, von dem es sich zu verabschieden gelte. Dieser bestehe in der
Einheitsvorstellung eines Volkes, dessen Wille sich in den Mehrheitsentscheidungen des Parlaments
manifestiert. In diesem Sinne werde die parlamentarische Praxis der Mehrheitsentscheidung
demokratietheoretisch nach wie vor als die einzige Quelle demokratischer Legitimität aufgefasst.
Demgegenüber, so Rosanvallon weiter, hat sich in demokratischen Gesellschaften die Ökonomie
demokratischer Legitimität über die Ausbildung nicht-majoritärer „Gegeninstitutionen“
(Beamtentum, Verfassungsgerichte, Regulierungsagenturen etc.), welche die normativen
Dysfunktionalitäten elektoral-majoritärer Demokratie ausgleichen, faktisch verschoben. In der
Sprache der systemischen Ansätze deliberativer Demokratie könnte man sagen, dass das
parlamentarische elektoral-majoritäre Verfahren der Willensbildung einerseits mit der „counter
democracy“ (Rosanvallon 2008) nicht-majoritärer Institutionen und einer wachsamen und
kontrollierenden Öffentlichkeit andererseits in einer spannungsreichen Wechselwirkung steht, über
die sich Demokratie als ein deliberatives System etabliert.
Eine rekonstruktive deliberative Demokratietheorie teilt die Überzeugung, dass parlamentarische
Praxis für sich genommen den Legitimität begründenden epistemischen Sinn politischer
Entscheidungen nicht erzeugen kann. Ebensowenig ist es jedoch umgekehrt der Fall, Demokratie
ließe sich als ein deliberatives System auch ohne starke parlamentarische Legislative einrichten. Dass
aber genau diese Sichtweise in der Auseinandersetzung über die Bedingungen der Demokratisierung
der Europäischen Union fest verankert ist, spricht für Rosanvallons Beobachtung über die
Wirkmächtigkeit des demokratischen Gründungsmythos. Die unterschiedlichen Versuche,
deliberative europäische Entscheidungsfindung auch ohne demokratische Inklusion als legitim
auszuzeichnen (so beispielsweise Joerges/Neyer 2014; kritisch dazu Niesen 2008), ruhen auf der
Annahme, eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments verbände sich mit einem
„essentialism“ bzw. einem „pull of oneness“, der dem transnationalen Charakter der EU zuwider läuft
(Nicolaïdis 2012: 270 und 274): weil parlamentarische Repräsentation im Sinne der spiegelbildlichen
Abbildung einer vorpolitisch existierenden Gemeinschaft verstanden wird und es in der EU einen
solchen euro-nationalen Demos weder gebe noch geben solle, muss die über allgemeine Wahlen zu
einer parlamentarischen Legislative hergestellte Form demokratischer Repräsentation abgelehnt
werden.
Insbesondere an diesem Punkt zeigt sich das Potential des diskurstheoretischen Konzepts
demokratischer Legitimität für die Auseinandersetzung um Möglichkeit und Bedingungen
transnationaler Demokratie. Die epistemische Dimension der Demokratie impliziert demokratische
21
Repräsentation nicht im Sinne der Spiegelung einer vorpolitischen nationalen Gemeinschaft, sondern
als konstruktive und dynamische politische Beziehung. Sie legt nahe, demokratische Repräsentation
als einen dynamischen Prozess zu verstehen, in dem politische Repräsentationsbeziehungen über
claims-making stets umkämpft bleiben und fortlaufend neu ausgehandelt werden (Saward 2006;
Urbinati 2006). Die Einrichtung und Erhaltung dieses dynamischen Prozesses demokratischer
Repräsentation in einem deliberativen System (gleich ob national oder transnational) ist jedoch in
dreifacher Hinsicht von dem kognitiven Sinn abhängig, der sich mit der Institution eines über