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Von der künstlerischen Produktion der Geschichte I Jochen Gerz Herausgegeben von Bernhard Jussen Sonderdruck WALLSTEIN
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Vom wissenschaftlichen und vom künstlerischen Arbeiten an der Vergangenheit

May 13, 2023

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Kolja Möller
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Page 1: Vom wissenschaftlichen und vom künstlerischen Arbeiten an der Vergangenheit

Von der künstlerischen Produktion der Geschichte I

Jochen Gerz

Herausgegeben von

Bernhard Jussen

Sonderdruck

WALLSTEIN

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Vom wissenschaftlichen und vom künstlerischen Arbeiten

an der Vergangenheit Überlegungen zu einem notwendigen Experiment

und zu den ,Gründen zu lächeln, von Esther und Jochen Gerz'

von BERNHARD ]USSEN

I. Von der künstlerischen Produktion der Geschichte: Eine Herausforderung für die wissenschaftliche Historie?

Der Soziologe Pierre Bourdieu hat vor ein paar Jahren in einem Gespräch mit dem Künstler Hans Ihaeke den Vorschlag gemacht, kulturwissenschaftliche und künstlerische Arbeit zu vereinen: "Soll­te man nicht Arbeitsgruppen gründen, in denen Forscher, Künstler, Theaterleute und Kommunikationsexperten [ ... ] zusammenarbeiten, um Stilmittel und Erkenntnisvehikel zu erfinden (und zu erproben), die gleichzeitig wirksam und politisch komplex, stringent und kom­prornißlos sind [ ... ]?« Präziser wurde Bourdieu nicht, was bedauer­lich ist, immerhin hat er die Auffassung angedeutet, daß es bei einer solchen Begegnung um Grundsatzfragen wissenschaftlichen Arbei­tens ginge.'

Erste Fragen

Welche Sprache sollen die Künstler in einem solchen Dialog spre­chen? Ihre eigene ,künstlerische,? Und die Wissenschaftler? Sollten sie überhaupt versuchen, sich auf die Sprache der Künstler einzu-

I Für Unterstützung und Diskussion gilt mein besonderer Dank Jcan-Christophe Ammann, Gtto Gerhard Oexlc, Peter Reill und Jochen Gerz, ferner Egon Flaig, Danicl Göske, Stefanie Heraeus und Tanja Michalsky. Dieser Publikation ging eine Veranstaltung am Max~Planck-Institut für Geschichte voraus, an der neben den Beiträgern dieses Bandes Hcinz-Dieter Kittstciner teilgenommen hat. Seine Stellungnahme wird an anderem Ort publiziert.

2 PIERRE BOURDlEU U. HANS HAACKE, freier Austausch. Für die Unabhängigkeit der Phantasie und des Denkens, Frankfurt 1995 (Franz. Orig.ausg. 1994), S. I I J.

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lassen, ihre eigene Art des Argumentierens und Denkens zu modi­fizieren durch die Erfahrung in den "Arbeitsgruppen" ? Wie sollen diese verschiedenen Wege der Erkenntnis, wissenschaftliche und künstlerische, es miteinander halten? Können die historischen Wis­senschaften auf neue Formen wissenschaftlichen Verstehens ("Er­kenntnisvehikel«) und Argumentierens ("Stilmittel,,) hoffen, wenn sie sich auf das Gespräch mit der Kunst einlassen? Anders gesagt, leistet dieser Dialog einen Beitrag zur Theorie historischer Erkennt­nis, zur Selbstdeutung der historischen Wissenschaften, vielleicht auch nur (aber immerhin) einen Beitrag zur Frage der Vermittlung historischen Verstehens, historischen Bewußtseins?

Was Bourdieu im Gespräch mit Haacke ansprach, ist zwar für die historischen Wissenschaften alles andere als ein neues Problem, gleichwohl eines, das im Wissenschaftsbetrieb kaum eine Rolle spielt. Sieht man sich in den historischen Wissenschaften nach Versu­chen um, im Dialog mit künstlerischer Arbeit an der Vergangenheit neue »Erkenntnisvehikel" und »Stilmittel" für die eigene Arbeit zu gewinnen, bleibt eine magere Bilanz nicht erspart. Wo bildende Künstler mit und an den Vergangenheitsbildern arbeiten, da ist die­sen Arbeiten das weitgehende Desinteresse der historischen Wissen­schaften gewiß. Nur wenig mehr Interesse als die bildende Kunst finden filmische oder literarische Eingriffe in die gesellschaftlichen Konzepte von Vergangenheit.

Einige Voraussetzungen

Das Desinteresse der wissenschaftlichen Historie an gegenwärtigen künstlerischen Arbeiten mit Vergangenheit ist erstaunlich in einem akademischen Betrieb, in dem sich das Konzept einer ,Historischen Kulturwissenschaft< zunehmend durchsetzt. Nach vielen Jahrzehn­ten des Außenseiterdaseins trat diese Denk- und Organisationsform der historischen Wissenschaften in den 80er Jahren ihren Siegeszug an. Davon künden Benennungen neuer wissenschaftlicher Institu­tionen (vom ,Kulturwissenschaftlichen Institut< in Essen bis zur Fakultät für Kulturwissenschaften an der Europa-Universität in Frankfurt IOder), Verlags reihen ("Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek«, "c. H. Beck Kulturwissenschaft« usw.) und besonders die Durchsetzung neuer Zentral begriffe in wissenschaftlichen Dis-

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kussionen. Seit Beginn der 90er Jahre konzentriert sich in den histo­rischen Wissenschaften eine Vielzahl von Diskussionen um Leit­wörter wie ,Erinnerungskultllf< oder ,kulturelles Gedächtnis<, For­mulierungen, die das Paradigma des Konzepts' Kulturwissenschaft< zu kondensieren beanspruchen.

Mit einem halben Jahrhundert Verzögerung eignet sich damit ein Gutteil des Wissenschaftsbetriebs den Anspruch und das Programm (nicht unbedingt die Sachforschungen) von Forschern wie Aby War­burg oder Maurice Halbwachs an. Diese hatten das Gedächtnis aus der Biologie in die Kultur verlegt und so jenes ,kulturelle Gedächt­nis< erst geboren, das sie dann zum zentralen Forschungsgegenstand einer vergleichenden Wissenschaft von den Kulturen erhoben.l

Als arbeitspraktisches Programm bedeutet diese Aneignung die Untersuchung und Unterscheidung verschiedener vormoderner ,Ge­dächtniskulturen<. Als erkenntnistheoretisches Programm bedeutet es für die meisten Forscher eine Auffassung von 'Vergangenheit<, die zwischen der Skylla eines ,Wie-es-eigentlich-gewesen< im Stile Rankes und der Charybdis eines ,Alles-ist-Fiktion< im Stile Hayden Whites hindurch manövriert: Gegen objektivistische Tendenzen wird betont, daß jede historische ,Wahrheit< vom Standpunkt des Beob­achters abhängt. Die Vergangenheit - so beruft sich Jan Assmann auf Maurice Halbwachs - "ist eine soziale Konstruktion, deren Beschaf­fenheit sich aus den Sinnbedürfnissen und Bezugsrahmen der jeweili­gen Gegenwarten her ergibt. Vergangenheit steht nicht naturwüchsig an, sie ist eine kulturelle Schöpfung.«4 Wie alle anderen Formen historischen Denkens, so konstruiert auch die wissenschaftliche Historie ihren Gegenstand, wenngleich die wissenschaftliche Art des Konstruierens ihre eigenen Regeln hat. Mit Formeln wie der vom ,empirisch gestützten Hypothesenwissen< halten solche Vorstellun­gen zugleich Abstand von narrativistischen Tendenzen und beharren darauf, daß die wissenschaftliche ,Konstruktion< der Vergangenheit

3 Dazu konzis] AN ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Kultur und Gedächtnis, hg. von dems. u. TONlO I-!ÖLSCHER, Frankfurt 1988, s. 9-19; umfassende Konzeptualisierung bei JAN ASSMANN, Das kulturelle Ge­dächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, bcs. S. 29-48, und OTTO GERHARD OEXLE, Memoria als Kultur, in: lvlemoria als Kultur, hg. von dems. (Veröffentlichungen des Max-Planck­Instituts für Geschichte 121), Göttingen [995, s. 9-78, hier bes. S. 22-29·

4 ASSMANl'\, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 3), S. 48.

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nicht nur vom Beobachter abhängig bleibt, sondern auch von den beobachtbaren Phänomenen.5

Zumindest bei jenen, die solchen Konzepten offen gegenüber­stehen, sind die historischen Wissenschaften aus der Rolle der Lehr­meisterin entlassen. Sie haben kein Privileg bei den stets neuen Schöpfungen dcr Vergangenheit, verfügen nicht als einzige über spe­zifische Verfahrensweisen zur Erkenntnis des Vergangenen. Sie sind eine von vielen Instanzen des historischen Bewußtseins. Gegenwär­tige wie vergangene Kulturen haben nach diesem Konzept einen semantischen Knotenpunkt in ihren spezifischen Formen der Ver­gangenheitskonzeption. Um zu verstehen, wie sich eine bestimmte Gesellschaft selbst entwirft oder entworfen hat, muß man ihre Ver­gangenheitskonzeptionen, ihre ,Erinnerungskultur< untersuchen.

Zahlreiche solcher ,Erinnerungskulturen< sind in den letzten Jah­ren wissenschaftlich vermessen worden. Man hat einen ägyptischen Typ von einem semitischen unterschieden, hat einen römischen, einen okzidental-vormodernen oder einen modernen Typ der ver­gangenheitsbezogenen Selbstdeutung isoliert. Erinnerungsformen sind klassifiziert worden - vom kurzlebigen »kommunikativen Ge­dächtnis" bis zum institutionalisierten» kulturellen Gedächtnis'" das in Riten, Texten, Bildern und so fort gepflegt wird und sich wieder­um vom wissenschaftlichen Blick unterscheidet. Neben den 'großen< Entwürfen haben zahlreiche ,mikroskopische< Untersuchungen gezeigt, wie schnell ,das' kulturelle Gedächtnis in viele sehr unter­schiedliche Gedächtnisse und Artikulationsweisen zerfällt, wenn man näher herantritt. Dabei ist die Art des Zusammenspiels von mikroskopischen und makroskopischen Sichtweisen ein seit den An­fängen des kulturwissenschaftlichen Blicks bis heute immer wieder eingestandenes und oft diskutiertes Dilemma.

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Zu diesem Konzept und seiner Entfaltung von Montesquieu über Droysen bis Weber, Durkheim und Simmel vgl. OT'1'O GERHARD OEXLE, Die Geschichts­wissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: Historische Zeitschrift 238,1984, S. 17-55, hier S. 4I ff. und 44 H.; wiederabgedruckt in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft I I6), Göttingen 1996 S. 17-40; zum Narrativismus im Kontext der Perspektivendiskussionen UTE

DANIEL, Clio unter Kulturschock. Zu den aktuetlen Debatten der Geschichts­wissenschaft II, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1997, S. 259-278, bcs. s. 27) H.

Durch die Popularität solcher ,kulturwissenschaftlicher, Per­spektiven ist wieder in den Blick geraten, daß die wissenschaftliche Flistorie zwar eine für unsere Gegenwart signifikante Organisati­onsform historischen Wissens ist, daß aber zugleich andere Arten des Wissens über Geschichte und Geschichtlichkeit wirksam sind -womit nicht nur die bildende Kunst in den Blick gerät. Es versteht sich, daß die Auffassungen innerhalb dieses Fragenkomplexes oft kontrovers sind, es versteht sich auch, daß neben dem Konzept' Kul­turwissenschaft< die Historie vom Typ ,Ranke< und besonders jene vom Typ ,Hayden White< eine bisweilen kräftige Stimme hat. Dies muß hier nicht im einzelnen entfaltet werden. Worauf es für den Dialog mit künstlerischen Formen der Historie ankommt, ist leicht konsensfähig: Die beinahe vergessenen Außenseiterpositionen aus der ersten Jahrhunderthälfte eines Warburgs oder Halbwachs sind in der vergangenen Dekade von auffallend vielen Forschern aus allen historischen Wissenschaften aufgegriffen worden. 6

Damit aber ist nichts anderes gesagt, als daß die gegenwärtige wis­senschaftliche Historie, um ihre eigene Tätigkeit zu verstehen, auch etwas Von der künstlerischen Produktion der Geschichte verstehen muß: »Der Historiker als akademischer Lehrer", um noch einen Verteidiger dieser geschichtswissenschaftlichen Richtung zu Wort kommen zu lassen, »umschreibt keineswegs das gesamte Feld der Möglichkeiten, Historiker zu sein, Historie zu betreiben und histo­risches Bewußtsein zu bilden".' Eine wissenschaftliche Historie, die sich diese Ansicht zu eigen macht, mull wohl oder übel- um der Selbstpositionierung willen - immer wieder neu formulieren, wie Nutzen und Nachteil ihres Arbeitens sich verhalten zu anderen Arbeitsweisen am historischen Bewußtsein. Es läge in der Logik dieses Denkens, wenn Kulturwissenschaftler den Dialog suchen würden mit jenen, die zwar mit anderen »Erkenntnisvehikeln« und mit anderen »Stilmitteln« arbeiten, doch immerhin am selben Ge­genstand wie die historischen Wissenschaften, an den Vergangen-

6 In der inzwischen abundanten Literatur orientieren DANIEL, Clio (wie Anm. )) und der Artikel von OEXLE, Memoria als Kultur (wie Anm. 3), der als Parteinah­me für das Konzept einer >Historischen Kulturwissenschaft< zugleich einen Überblick über die verschiedenen konkurrierenden Positionen bietet.

7 So in dem 1995 publizierten intellektuellen Portrait Marc Blochs programma­tisch ULRICH RAULH, Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt am Main 1995, S. 26.

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heitskonzeptionen. Bislang aber lassen sich die historischen Kultur­wissenschaften nur sporadisch auf den Dialog mit einer ,Historie< ein, deren Argumentationsweisen und Erkenntnismittel nicht den wissenschaftlichen Konventionen entsprechen. Und es steht zu be­fürchten, daß viele Wissenschaftler nicht mehr gewohnt sind, andere Formen von historischer Erkenntnis als die eigenen ernst zu neh­men. Es ist in Vergessenheit geraten, daß unter den Arten, histo­risches Bewußtsein zu erzeugen, die wissenschaftliche Spielart eine vergleichsweise junge - und keineswegs die einzige - ist. 8

Aus den wenigen Versuchen, dies als Defizit zu formulieren und Abhilfe zu schaffen, ragt einer - auf der anderen Seite des Atlantiks­zumindest insofern heraus, als er einen beachtlichen Grad an Institu­tionalisierung in der Wissenschaftsorganisation erreicht hat. Seit 1989 gibt es im ,American Historical Review<, dem Verbandsorgan der amerikanischen Geschichtswissenschaft, neben Besprechungen wissenschaftlicher Literatur auch Filmkritiken. Die neue Sparte in der Verbandszeitschrift wurde im ersten Jahr durch eine knappe Einleitung gerechtfertigt. Daß Geschichte durch Worte konstill1iert werden müsse, so der Editor, sei zwar inzwischen als »ideologische Scheuklappe" erkannt.9 Doch Historiker seien mit der Sprache des Films und der Art, wie er argumentiert, so wenig vertraut, daß sie nicht einmal beurteilen könnten, ob und inwiefern Film ein geeigne­ter Modus sei, Historie zu betreiben. So wurden die Rezensenten aufgefordert, das ungewohnte Terrain mit ganz grundsätzlichen Fra­gen zu betreten. \'(!as erwarten wir von einer Arbeitsweise, die als Historie gelten soll? Welchen spezifischen Beitrag zum Verstehen des Historischen kann ein visuelles und akustisches Argumentieren leisten, das ganz anderen Regeln folgt als das schriftliche, wissen­schaftliche Argumentieren? Die Rezensenten wurden aufgefordert, mehr den Film als eigenständiges Ausdrucksmittel im Blick zu haben als den Text hinter dem Film, das Drehbuch. Ausdrücklich wurden

8 Dies betont ARNALDO MOJl.lIGLIANO, Geschichte in einer Zeit der Ideologien, in FERl\"AND BRAUDEL Ll. a., Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers, Berlin 1990, S. 30-45. In diesem Sinne produktiv ist der von KAI-UWE f-IEMKEN herausgegebene Sammelband: Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996. Er beabsichtigt, :»die ver­schiedenen Aktionsfclder kultureller Gedächtnisarbeit zu beleuchten« (S. [3)'

9 Vgl. die Einleitung des Editors der Film Reviews ROBERT ROSENSTONE, in: The American Historical Review 94,1989, s. I031~1033.

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die Filmkritiker der Verbandszeitschrift zum gedanklichen und sti­listischen Experiment aufgefordert: "Fühlen Sie sich nicht gebunden an vorgcfaßte Auffassungen davon, was Geschichte ist und wie eine Rezension auszusehen hat." Daß es den Erfindern dieser Sparte um erkenntnistheoretische Auseinandersetzungen ging, machten sie schließlich mit der Auswahl der Filme deutlich. Nicht das "Standard­drama" werde zu rezensieren sein (wie man ja auch keine populär­wissenschaftliche Literatur berücksichtige), sondern experimentelle filmische Versuche, unseren Sinn für das Historische zu erweitern.

Inzwischen tastet sich die neue Sparte der Verbandszeitschrift in die Formulierung der wissenschaftlichen Probleme vor. Standards und Kriterien zur Beurteilung von historischen Filmen werden ebenso vermiflt wie ein Instrumentarium, um filmische Historie mit geschriebener wissenschaftlicher Historie ins Verhältnis zu setzen. Analog zur wissenschaftlichen Historie will der Editor die filmische Historie nach methodischen Veränderungen befragt wissen, nach ,Schulen< und ,Diskussionen' und nach deren jeweiligem Verhältnis zu den Strömungen in der wissenschaftlichen Historie. Schon beim Ordnungsprinzip für die Filmrezensionen - man übernahm von den Wissenschaftsrezensionen die regionale Ordnung - fingen die Pro­bleme an.'O

Diese Filmrezensionen sind ein besonders prominentes, gleich­wohl vereinzeltes Beispiel für den Versuch, aus dem erkenntnis­theoretischen Gemeingut die Konsequenz zu ziehen und aufleraka­demische Konstruktionen der Vergangenheit als gleichberechtigte Formen der Historie ernst zu nehmen. Die Filmrezensionen sind im weitesten Sinne ein Weg, um in den fachhistorischen Diskurs Vor­stellungen Von der künstlerischen Produktion der Geschichte zu inte­grieren. In der deutschen Geschichtswissenschaft ist nichts institu­tionalisiert, das mit den Filmrezensionen im ,American Historical Review< vergleichbar wäre. Immerhin in Einzelfällen, so bei Steven Spiel bergs Film ,schindlers Liste<, überschritt die Debatte die Gren­zen der Feuilletons und betrat das Forum einer Fachzeitschrift wie der' Historischen Anthropologie<." Doch es ist kein Zufall, daß sich

10 Vgl. die Einleitungen ROSENSTONES zu den Rezensionen der Jahrgänge 95~97,

1990- 1992.· I I Vgl. zu >Schindlers Liste< die Artikel in: Historische Anthropologie 3, 1995,

S.293-33+

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das Interesse auf einen Film wie ,Schindlers Liste< richtet oder auf Historienmaler wie Werner Tübke und Johannes Grützke, auf Stile des Argumentierens also, die mit dem eingeübten Werkzeug der historischen Wissenschaften noch ohne allzu große Unsicherheiten zu bewältigen sind. Solange eine konsistente Handlung vorliegt oder ein narrativer Bildinhalt, erlischt die Bereitschaft zur Auseinander­setzung nicht sogleich. Aber selbst in diesen Fällen bleibt sie eine Randerscheinung des geschichtswissenschaftlichen Betriebs. Dabei ist das Experiment des Einlassens auf künstlerische Historie wohl unausweichlich, wenn die historischen Kulturwissenschaften ihre eigene Epistemologie ernst nehmen wollen.

Einige Erwartungen

Künstlerische Arten, Historie zu betreiben, sind - gerade wenn ihre Alterität den Zugang zunächst versperrt - eine besondere epistemo­logische und wohl auch methodologische Herausforderung. Einiges sei knapp skizziert.

(I) Wenn die Vermutung zutrifft, daß das Desinteresse der Kultur­wissenschaftler an ihren "Halbbrüdern« (wie Gerz sie bisweilen nennt) aus der Kunst mit den extrem unterschiedlichen Artikulati­onsweisen zusammenhängt, dann spricht gerade dies für eine Einlas­sung. Denn so radikal in den letzten Dekaden die Perspektiven und das Instrumentarium der historischen Wissenschaften verändert worden sind durch die Integration des soziologischen und anthropo­logischen Blicks: die Darstellungsformen sind weitgehend gleich ge­blieben. Zum linearen Text werden kaum Alternativen gesucht. Dies könnte sich durchaus als eine Reaktionsschwäche erweisen gegen­über den Veränderungen des Publikums, gegenüber den Wahrneh­mungs- und Argumentationsgewohnheiten einer Generation, deren Parameter für gedankliches Ordnen nicht unbedingt an der Logik linearer Argumentation in Texten orientiert sind - eher an der Logik von windows, hypertext und Videoclips, generell an der Logik des Visuellen.

Ob hypertext - die nicht lineare Verbindung von Texten - nur eine Form der elektronischen Textorganisation ist oder aber Symptom einer anderen Denk- und vor allem Argumentationsweise, einer anderen Vorstellung von Plausibilität, wäre immerhin zu diskutieren.

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Es ist verwunderlich, daß sich in einer Umwelt von windows und hypertext das Monopol des linearen Textes in den historischen Wis­senschaften so unbefragt hält. Experimente mit anderen Ordnungs­formen des Wissens, etwa Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas oder Walter Benjamins ,Berliner Kindheit<, sind nicht weiterverfolgt wor­den und werden auch derzeit als Option kaum diskutiert. Nur ein paar Außenseiter im Wissenschaftsbetrieb haben sich in nicht-linea­ren Darstellungsweisen versucht." Diese unveränderte Organisation der Argumente im Buch, die unveränderte Form der wissenschaftli­chen Artikulation gegenüber einer mit ganz neuen Wahrnehmungs­gewohnheiten aufwachsenden Zielgruppe ist nur ein besonders augenfälliges Beispiel für eine Herausforderung, mit der jene Spezia­listen, die Historie mit den Mitteln der Kunst hetreiben, erheblich mehr Erfahrung haben als die wissenschaftlichen Spezial isten.

(2) Die skizzierte Selbstdeutung vieler Kulturwissenschaftler als perspektivische ,Konstrukteure< von Vergangenheit ist außerhalb der ,Zunft< kaum vermittelbar. Immer wieder begegnet man einer Außenwahrnehmung, die dem Metier des Historikers ganz andere Ziele zuschreibt als sich zumindest die Anhänger einer kulturwissen­schaftlichen Sicht selbst setzen. Man unterstellt weiterhin das Inter­esse an objektiver Rekonstruktion der Vergangenheit, an einer Tätig­keit, die das forschende Subjekt möglichst ausschaltet. In diesen Fremdzuschreibungen existiert nach wie vor allein jener, (zumin­dest) in den Kulturwissenschaften längst begrabene Historikertypus, der sein Ego und seine Intuition ausschaltet (mit Ranke wünscht, sein "Selbst gleichsam auszulöschen«), nach Objektivität sucht und die Vergangenheit ansieht, um - mit dem berühmten Diktum Rankes - zu zeigen, "wie es eigentlich gewesen«. Künstler und Kunstkritiker haben es mit einer solchen Zu schreibung (mit der zweifellos manche Geschichtswissenschaftler durchaus einverstanden wären) besonders leicht, die Position künstlerischen Umgangs mit Geschichte von der wissenschaftlichen abzuheben. Anders als der Wissenschaftler trage der Künstler die eigene Gegenwart in die Geschichte, erlaube sich Intuition, Perspektivität, sei parteiisch.

12 Ich erinnere an das prominenteste (jedenfalls bestens verkaufte) Beispiel: ALEXANDER KLUGE u. OSKAR NEGT, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt am Main 1981 u. ö.; nicht zufällig ist einer der Autoren dieses Versuchs, Alcxander Kluge, Grenzgänger zwischen künstlerischem Film und Wissenschaft.

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Um ein durchaus symptomatisches Beispiel genauer anzusehen: Georg Bussmann hat im Jahr 1988 für die Ausstellung ,Arbeit in Geschichte - Geschichte in Arbeit< den seltenen Versuch gemacht, das Verhältnis von künstlerischer und wissenschaftlicher Historie zu bestimmen. Er suehte "das Konzept Kunst als ein System sinnlichen Denkens" zu definieren »im Vergleich zum Konzept Geschichtswis­senschaft".') Wenn er dabei das Konzept Kunst "als vergleichsweise chaotisch, spielerisch oder unentschieden" ausweist, mag man noch geneigt sein, ihm ohne genauere Prüfung zu folgen. Doch kann man es nicht als Eigenheit des" Konzepts Kunst« reklamieren, daß Ge­schichte nichts ist, »in das man sich hineinarbeitet, sondern zugleich etwas, das man erst herzustellen, zu konstruieren hat«. Mit dem "Konzept Geschichtswissenschaft« mug man Geschichte ebenso konstruieren, ist der Gegenstand genausowenig vorgegeben und wird ebenso hergestellt wie im "Konzept Kunst". Auch dag in der künstlerischen Vergangenheitskonstruktion "Gegenwart stets mit erscheint", ist kein spezifischer" Vorteil« des künstlerischen Schaf­fens. Dies teilt die Kunst mit der Geschichtswissenschaft, und zwar nicht als Vor- oder Nachteil, sondern als einzig mögliche Denk- und Wahrnehmungsweise. Auch die Geschichtswissenschaften tun mit ihrem historischen Material nichts anderes, als die eigene Gegenwart zu kommentieren, auch die wissenschaftliche Historie ist "nur eine andere Art und Weise, das Politische zu sagen und zu denken«."

Ebenso wie mit diesen Positionsbestimmungen repräsentiert Bussmanns Text von 1988 eine immer noch weit verbreitete Fremd­zuschreibung mit seiner Erwartung, Geschichtswissenschaft bringe im Gegensatz zur Kunst »Wahrheit ... als definitorische Festschrei­bung hervor". Wenn es darum geht, das Proprium künstlerischer Historie zu fassen, finden wir heute wie vor 10 Jahren im kunst­wissenschaftlichen Repertoire die Vorstellung vom »außergeschieht-

13 GEORG BUSSMANN, Arbeit in Geschichte - Geschichte in Arbeit, in: Ausst.Kat. Arbeit in Geschichte - Geschichte in Arbeit, hg. von GEORG BussMANN, Ham­burg 1988, S. [I-r6, hier S. I I; mag man Bussmanns Sichweise auch proble­matisch finden, so ist doch zu betonen, daß vergleichbare Versuche der Verhältnisbestimmung in der Regel völlig unterbleiben, wenn »der Blick der Kunst auf die Geschichte« Thema ist, um den Titel der Kritischen Berichte 20.2,

1992, aufzugreifen. Auch dieses Themenheft setzt den »Blick der Kunst« nicht ins Verhältnis zu einem anderen Blick; Beispiel dafür ist auch der opulente Ausst.Kat. Face a J'histoire I 93 3 - 1996, hg. von ]EAN-PAUL AMELINE, Paris 1996.

14 Mit den Worten von RAULFF, Ein Historiker (wie Anm. 7) S. 28.

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lichen Standort, der zur wissenschaftlichen Geschichtsschreibung nötig ist«. Dies glaubt zumindest jener große, vielleicht übenviegen­de Teil der Historiker nicht mehr, für den historische ,Wahrheiten< stets relativ zum Standpunkt des Beobachters und wissenschaftliche Kategorien und Begriffe »notwendig einseitige« sind. 1 5

Mögen solche Versuche also daran kranken, dag sie die künst­lerische Historie vor einem zu düsteren Bild wissenschaftlicher Hi­storie leuchten lassen, so lassen sie immerhin bereits erkennen, dag jeder Versuch der kategorialen Differenzierung auf groge Schwierig­keiten stößt. Das liegt an der Vielstimmigkeit der wissenschaftlichen Historie von Objektivisten am einen Extrem zu Fiktionalisten am anderen, erst recht an der Vielstimmigkeit der künstlerischen Arten, IIistorie zu betreiben. Schnell fänden sich Gegenbeispiele, wollte man mit Etiketten wie ,analytisch<, ,diskursiv< oder ,forschend< die wissenschaftliche Historie von der künstlerischen abgrenzen, wollte man mit ästhetischen Kategorien oder den beliebten Hinweisen auf Radikalität, Totalit:it und Subjektivität künstlerischer Positionen ein Proprium künstlerischen Arbeitens an Geschichte erfassen. Daß es gleichwohl deutliehe Unterschiede gibt, wäre unsinnig zu leugnen. Man braucht - um das N aheliegendste zu nennen - nur die Rezi­pienten in den Blick zu nehmen. Allzu offensichtlich begegnen sie einem geschichtswissenschaftlichen Buch mit einer anderen Haltung und Erwartung als einer künstlerischen Form der Historie.

Für den Augenblick reicht die Feststellung aus, dag mit dem Kon­zept ,Kulturwissenschaften< eine Theorie historischer Erkenntnis auf hreite Zustimmung stößt, die eine einfache Grenzziehung zwi­schen wissenschaftlicher und künstlerischer Erkenntnis des Vergan­genen nicht zuläßt und eine Auseinandersetzung der historischen Wissenschaften mit anderen Formen der Historie geradezu not­wendig macht. Die Bände Von der künstlerischen Produktion der Geschichte, deren erster helfen soll, das Gespräch mit Jochen Gerz zu finden, werden um diese Fragen zu kreisen haben.

(3) Wohlgemerkt, es geht nicht darum, die Unterschiede der künstlerischen und der wissenschaftlichen Arbeitsweisen zu nivellie­ren. Es geht dartlln, die Arbeitsweisen im Rahmen der gegenwärti-

15 Um es mit einem gerne zitierten ,Klassiker( zu sagen, GEORG SnIMEL, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, Leip­zig 1[905, S. 46; den »auBergeschichtlichcn Standort .. ,« zieht l-IEl\-1KEN (wie Anm. 8) heran.

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gen erkenntnistheoretischen Diskussionen auszuloten, ihren jeweils spezifischen Nutzen wie ihre Grenzen und Gefahren in den Blick zu nehmen. Da kommt es gerade recht, daß die meisten Wissenschaftler sich nicht besonders wohlfühlen, wenn sie ihre Haltuno oegenüber b b <-

künstlerischen Formen der Historie artikulieren sollen. Dabei sollten über die Betonung der Distanz die Gemeinsam­

keiten nicht aus dem Blick geraten, die erkenntnistheoretischen ebenso wenig wie die arbeitspraktischen. Gemeinsam ist das Profil der Tätigkeiten als politische Tätigkeit, als Eingriff in die gegen­wärtigen Vergangenheitskonzeptionen und damit in die Identitäten. Wissenschaftler und Künstler gehen auf dieselbe Öffentlichkeit zu, auf dieselbe politisch-soziale Situation. Gemeinsam ist die Arbeit an den Formulierungen von Geschichtsbildern, gemeinsam sind die Adressaten (wenngleich deren Rezeptionshaltung gegenüber ,Kunst< anders ist als gegenüber ,Wissenschaft<), ist eine Vielzahl problemati­scher Schlüsselkonzepte, etwa ,Zeit<, ,Dauer< ,MiEtrauen '"eaenüber , b b

Evidenzen<, ,Subjektivität<, das problematische Verbltnis der Histo­rie zu ,Erinnerung< und so fort. Gemeinsam sind auch Arbcitszwän­ge, etwa die Notwendigkeit von Öffentlichkeit und die Abhängig­keit von öffentlicher Förderung.

Die kleine Liste von Erwartungen lieile sich leicht verlängern, doch dürften die skizzierten Aspekte vorerst Grund genug für die Annahme sein, daE eine Konfrontation von wissenschaftlicher und künstlerischer Historie nicht unnütz ist für die jeweilige Selbstausle­gung, vielleicht sogar notwendig. Die Gespräche Von der künstleri­schen Produktion der Geschichte können dafür einen institutionellen Rahmen bereitstellen. üb ein solcher Versuch zu etwas führt, ob sich für solche, die sich als Kulturwissenschaftler verstehen, im selbst­reflexiven Annähern an Arbeiten der bildenden Kunst Ansätze zu grundsätzlichen Befragungen der eigenen Arbeitsweise bieten, ob Routine gestärt wird, auch, ob dies ein zweiseitiges oder cher ein einseitiges Geschäft ist, ist scbwer vorhersehbar. Zu erwarten ist immerbin, daß die wissenschaftliche (und vielleicht auch die künst­lerische?) Selbstpositionierung komplizierter wird, wenn man die kulturwissenschaftlichen Konstruktionsweisen svstematisch ins Verhältnis setzt mit auflerwissenschaftlicben Arbeitsweisen an der Geschichte.

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Über den vorläufigen Versuchsaufbau

Der Versuch, historisch arbeitende Kulturwissenschaftler mit histo­risch arbeitenden Künstlern in einen Dialog zu bringen, ist ein Ex­periment. Und wie jedes Experiment kann es scheitern. Die Gegen­wartskunst und ihr ganzer Apparat an Kunstkritik ist ein hoch spezialisierter Diskurs, der hermetischer sein dürfte als der nicht minder spezialisierte Diskurs der historischen Kulturwissenschaften. Dieses Buch soll eine erste Animation sein für die beiden Formen der Historie, sich miteinander einlassen. Die sclbstreflexive Annähe­rung historisch arbeitender Kulturwissenschaftler an Arbeiten der gegenwärtigen bildenden Kunst ist die Aufgabenstellung der fol­genden Bände. Die Beiträge dieses ersten Buches mögen Hinweise geben, wie der Versuchsaufbau für ein solches Experiment aussehen könnte.

Dem Buch ging eine Podiumsdiskussion am Max-Planck-Institut für Geschichte voraus, in der sich bereits gezeigt hat, daß die Schwie­rigkeiten der Verständigung an die Fundamente gehen. Es ist grund­s;üzlich mit der Skepsis zu beginnen (um es mit einem Diskussions­beitrag von Ludolf Kuchenbuch zu sagen), ...

" ... ob wir uns als Wissenschaftler leisten können, dieses Gespräch nach unseren klassischen Regeln des wissenschaftlichen Diskurses zu führen, ob unser Ausdrucks- und Rationalitätsstandard ange­messen bleibt. Soll der Text einer Arbeit (oder eines Interviews) von Gcrz von uns zitierbar sein, oder müssen wir ihn doch cher rezitieren. Rezitieren heiEt, das, was Gerz macht oder schreibt, immer als haltungsverdicbtenden Ausdruck zu versteben von je­mandem, der sieb anders geriert als wir. Es ist in diesem Dialog zunächst nicht unser Auftrag, den Künstler angemessen zu kritisieren. Es ist auch nicht seine Aufgabe, meine Dissertation zu lesen und mir zu sagen, was er von meiner Ge­schichte hält. Die Zitationspraxis etwa ist ein rationales Beweis­mittel für den eigenen Gedankengang, und zwar in dem Sinne, daE man den arretierten Wortlaut, auf den man sich dabei beruft, jeweils in einen Denkzusammenhang einholt, der einem selber an­gehört. Diese Technik ist unser wissenschaftliches Besteck, aber nicht unbedingt das des Künstlers. Es ist in dem Auftrag, den wir in diesem Dialog miteinander haben, zunächst zu fragen, wie eine künstlerische Produktion von

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Geschichte auf uns wirken soll, aber erst viel später, wie wir diese Produktion an unseren RationalitCitsstandards messen können."

Kuchenbuch hat mit der Mahnung zum friedlichen und willigen Umgang mit den jeweils anderen Rationalitätsstandards eine Grund~ voraussetzung des Dialogs eingefordert, die für viele Wissenschaftler ebenso schwer hinzunehmen sein dürfte wie sie an sieh selbstver~ ständlich sein sollte. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Wenn die wissenschaftliche Historie keine Lehrmeisterin ist, wenn es viele Formen der Historie gibt mit ganz unterschiedlichen Plau~ sibilitäten, Redeweisen, Zielen und Leistungen, dann muß die wis~ senschaftliehe Historie sich auf das Experiment einlassen, andere Weisen der Historie verstehen zu wollen. Eine wissenschaftliche Historie, die sich in der Kunstwissenschaft nicht adäquat dargestellt findet (oben S. 15~17), kann kaum damit rechnen, ihrerseits die künstlerische Historie angemessen zu erfassen.

Nicht, daß damit Kritik von vornherein unterbunden werden soll~ te. Es gibt schlechte Kunst wie es schlechte Wissenschaft gibt. Aber um künstlerische Historie kritisieren zu können, bedarf es eines Sensoriums für die Koordinaten dieses Feldes historischer Arbeit. Und vielleicht wichtiger: Ehe man sich ans Kritisieren macht, sollte man voneinander zu lernen bereit sein, sind die Möglichkeiten der Erkenntniserweiterung auszuloten. Ob das Experiment der wissen~ schaftlichen Historie mit andere Formen der Historie zu etwas führt oder nicht, hat nicht zuletzt etwas mit Willen zu tun.

Es werden in den nächsten Begegnungen Kulturwissenschaftler aus verschiedenen Bereichen das Gespräch mit ganz unterschiedlich arbeitenden Künstlern aufnehmen - Althistoriker und Archäologen, Germanisten und Ägyptologen, Osteuropaspezialisten, Mediävisten und andere. Solange es geht (und wenn es sich als zweckmäßig erweist) soll ein Übergewicht an Kunstwissenschaftlern vermieden werden, um der Gefahr einer Reproduktion existierender Gesprächs~ zusammenhänge vorzu beugen.

Zu den Begegnungen, die bislang in der Vorbereitung sind, liefern die beteiligten Künstler jeweils einen Beitrag in der ihnen eigenen Sprache. Jochen Gerz hat mit der Arbeit Gründe zu lächeln, einer Gemeinschaftsarheit von Esther und Jochen Gerz, den Anfang ge~ macht. Die folgenden Begegnungen werden zeigen, wie gut oder wie schlecht sich ein solcher Dialog planen und im Wissenschafts betrieb

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realisieren läßt, ob sich überhaupt eine Serie eher ungewohnter (mit~ hin für die Beitragenden relativ zeitintensiver) Annäherungen im Alltag des Tagungsgeschäfts verankern läßt. Die Distanzen zwischen den Diskursen, damit auch die Interessenunterschiede und Mißver~ ständnisse, sind groß. Wenn es gelingt, den personellen Rahmen und die Sprachkonventionen der gegenwärtigen Kunstkritik und ihrer einschlägigen Publikationen ZU überschreiten, dann bedeutet dies, daß sich die Dialogpartner in der Regel kaum kennen und das Instru~ mentarium des Gegenübers nicht gut beherrschen. Dies ist nicht nur für die Wissenschaftler eiu Risiko. Die meisten Künstler sind nicht gewohnt, in Veranstaltungen oder Büchern, an denen sie selbst betei~ ligt sind, mit Skeptikern in Berührung zu kommen. Und mancher wissenschaftliche Skeptiker ist nicht bereit, sich auf andere Ar~ gumente als die ihm vertrauten des wissenschaftlichen Diskurses einzulassen.

Eine Apologie am Schluß: Die Beschränkung auf den Dialog mit der bildenden Kunst, also zunächst der Verzicht auf Literatur und Film, hat keine andere Logik als eine arbeitspraktische. Sie könnte beizeiten revidiert werden, läßt sieh einstweilen immerhin damit rechtfertigen, daß im Verhältnis zur bildenden Kunst die Sprach~ losigkeit am augenfälligsten ist.

Ir. Gründe zu lächeln (Reasons Jor Smiles) Bemerkungen zum künstlerischen Beitrag

Es fügt sich gut, daß eine Publikation mit Jochen Gerz die Gespräche Von der künstlerischen Produktion der Geschichte zwischen Wissen~ schaftlern und Künstlern eröffnet. Zum einen versteht sich Jochen Gerz auf die Sprache der Wissenschaft. Er ist es gewohnt, seine künstlerische Arbeit intensiv selbst verbal und schriftlich auszu~ legen. ,6 Zum anderen kreisen seine Arbeiten seit dreißig Jahren um Kategorien, die im Zentrum geschichtswissenschaftlicher Problem~ stellungen stehen: um die Funktionsweise von Gedächtnisleistun~ gen, die Möglichkeit der Erinnerung, die Weisen der Beschreibung

16 Sammlung seiner Interviews: JOCHEN GERZ, Gegenwart der Kunst. Interviews r97o~I995, Regensburg [995; Liste seiner Publikationen seit 1968 in: Ausst.Kat. Jochen Gerz, Les Images. CEU\TCS depuis [969, Straßburg 1994, S. I)4 f.

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des Vcrgangenen, das Mißtrauen gegenüber der Evidenz der Belege, die Übermächtigung der Erinnerung durch den Besitz der Belege, oder das Verständnis der eigenen Arbeitsweise als einer forschenden Tätigkeit.

Gerz hat zum ersten Gespräch Von der künstlerischen Produktion der Geschichte ein gemeinsam mit Esther Gerz initiiertes, interak­tives Langzeitprojekt beigetragen mit dem Titel Gründe zu lächeln. Das erste Fragment dieses Projekts, das ,Göttinger Fragment<, ent­stand bei der Vorbereitung der Gespräche am Max-Planck-Institut für Geschichte.

Esther und Jochen Gerz haben zunächst nur einen kurzen Ein­ladungs text nach Göttingen gesandt, der die Regeln der interaktiven Arbeit festlegte (abgedruckt unten S. 35). Der Text bdtjene, die an dem Projekt teilnehmen wollen, dazu ein, sich einer Sache zu erin­nern, die ein Licheln hervorruft, sich im Moment des Lächelns foto­grafieren zu lassen und den nicht entwickelten Film an Esther und Jochen Gerz zu senden.

Die Gründe zu lächeln waren als Antwort auf die Einladung, einen Beitrag zu den Gesprächen Von der künstlerische Produktion der Geschichte zu leisten, zunächst eine Provokation. Zwar schließen sie in mancher Weise an die bekannten Arbeiten im öffentlichen Raum an - an das Mahnmal gegen Faschismus in Hamburg (Abb. 13- 15), an die 2146 Steine. Mahnmal gegen Rassismus in Saarbrücken (Abb. 2t und 22) oder an Das lebende Monument von Biron (Abb. I). Aber im Ganzen erfüllen sie nicht die Erwartungen, die diese öffentlichen Er­inncrungsarbcitcn wecken.

Keine konkrete Vergangenheit, keine Erinnerung wird in den Smiles zu finden sein, schon gar nicht jene Erinnerungsarbeit am Holocaust, um die es in den großen öffentlichen Arbeiten geht. Mit den Smiles hat Jochen Gerz es vermieden, für den Dialog zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer rIistorie den inzwischen öf­fentlich approbierten ,Gerz< zu wiederholen. Dem immer selbstver­stiindlicheren und sich zunehmend selbst bestätigenden wissen­schaftlichen Diskurs über ,Erinnerungs kultur< wird ein zunächst sperrig wirkender Beitrag angeboten.

Ähnlich der Hamburger Arbeit (und der Bremer Befragung von '995 und dem Oberhausener Projekt von 1996, Abb. 2) wird die Interaktion mit den Rezipienten bei den Smiles durch einen Ein­ladungs text hergestellt, der die Regeln für die Beteiligung festlegt.

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Abb. r: Jochen Gerz, Das lebende Monument von Biroo, I996. Gcrz bekam 1994 vom französischen Kultusministerium den Auftrag, in Biron, einem kleinen Dorf in der Dordogne, das 1920 errichtete Denkmal für die Kriegstoten zu ersetzen. Gcrz antwortete nicht mit einer neuen Denkmalsarchitektur, sondern ließ den alten Obe­lisken identisch rekonstruieren und verwandelte ihn in ein lebendes Monument. Er führte mit jedem der 127 Eirnvohner ein Gespräch, dessen Gegenstand man ,mf die Formel bringen könnte: Für 1..cen und für '7.oas 'loürden Sie heute ihr Leben riskieren? Ein Satz aus jeder Antwort wurde auf eine Platte übertragen und auf das Monument geschraubt. Zwei Bewohner des Dorfes sind verantwortlich für die Fortführung des lebenden j\·lonuments. Sie befragen alle, die zuziehen oder die Volljährigkeit errei­chen, und ergänzen die Tafeln. \'{1ie Erinnerung >;unentwegt wicdergclebt« werden m1..J\~ ("sam cesse revcC1..1«, J. Gerz), bleibt das lebende Monument im Zustand der Entstehung.

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Abb. 2: Esther und Jochen Gcrz, Das zwanzigste Jahrhundert, Oberhausen, 1996. Die Lokalzeitung "Oberhausener Abendblatt« publizierte 8 Wochen in Folge an je­dem Dienstag einen ganzscitigcn Fragebogen mit der frage: \Fenn das zwanzigste Jahrhundert noch einrnc!l stattfände, 'was 'lJ.a:trden S'ie {indern? Darunter war jeweils ein anderes Foto aus dem Ruhrgebiet abgedruckt. Die Leser wurden zur Beantwor­tung eingeladen: Können sie diese Fräge beantu'orten? Die Abbildung zeigt einen der beantworteten Bögen.

Wie das Lebende Monument von Biron oder das Hamburger Mahn­mal hat die Arbeit Dauer und bleibt für eine noch uubestimmte Zeit unabgeschlossen (dem Text zufolge so lange, bis Esther oder Jochen Gerz stirbt). Und wie die Hamburger oder die Oberhausener Arbeit entstanden die Göttinger Portraits für die Gründe Zu lächeln nicht im Dialog mit Esther und Jochen Gerz, sondern als Auseinander­setzung der Teilnehmenden mit dem Einladungstext. Doch die Gründe zu lächeln fordern von den Beteiligten eine andere Initiative als die anderen interaktiven Arbeiten, eine unvertrautere und von den meisten Teilnehmern als riskanter empfundene. Man kommt nicht mit dem Abliefern eines Namenszugs davon (wie in Hamburg), kann nicht auf limitierten Zeilen eines Fragebogens eine Meinung notieren (wie in Oberhausen). Die Smiles fordern visuellen statt sprachlichen und eher emotionalen als rationalen Ausdruck. Sie for­dern, das eigene Gesicht künstlerischen Kriterien auszuliefern.

In stärkerem Maß als die bekannten öffentlichen Arbeiten sind die Gründe zu lächeln eine Arbeit geschichtlichen Experimentierens. Gegenstand ist nicht der Umgang mit einer konkreten Vergangen­heit, sondern der Moment des Erinnerns und seine Bildwerdung, ein Selbstversuch beim Erfahren von Erinnerungsfähigkeit. Das Erinnerte selbst tritt nicht in Erscheinung, nur ein Verweis auf die Qualität des Erinnerten in der Mimik der Portraitierten.

Aber warum gerade Lächeln? Das Gedächtnis, das ein Lächeln provoziert, ist das private Gedächtnis. Die Produktion der Photos ist eine nicht zuletzt intime Arbeit, die Erinnerungen der Gründe zu lächeln haben nichts mit dem ,kulturellen Gedächtnis' zu tun. Sie gehören, wenn man in der Sprache der wissenschaftlichen Systema­tisierer bleiben will, zu den Äußerungen des kommunikativen Ge­dächtnisses, des kurzlebigen Alltagsgedächtnisses - dessen Verhält­nis zur Kultur und ihrem Gedächtnis besonders schwer zu erfassen ist. Als inszeniertes 'nach Innen' Lächeln ist die Herstellung der Bilder für die Teilnehmenden ein Akt des Meditierens über die Vergegenwärtigung ihrer privaten Vergangenheit. Insofern lassen sich die Gründe zu lächeln als anthropologischer Versuch auffassen­Lächeln als Ausdruck für das erste Erwachen der Erinnerung, als Symbol der Erinnerungsfähigkeit, als Zeichen für die flüchtigste Form von Gegenwart. Die Präsentation der Arbeit - transparente Negative hinter reflektierendem Glas und vor einer Spiegelrück­wand - gewichtet gerade das Flüchtige und Unklare, das Dunkle und

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Schattenhafte der Erinnerung, das Lächeln als Reflex eines kurz im Dunkel auftauchenden Bildes.

In dem Projekt Gründe zu ldcheln wird das Erinnern zum Bild. Momente der Bildwerdung hat Gerz seit seinen frühesten Arbeiten befragt. Die Arbeit faul M. (Abb. 3) von I969/70 ist die expliziteste Arbeit dieser Art. Eine Reihe von zehn Schwarzweig-Fotos, aus einem Flugzeug aufgenommen, zeigen willkürlich wirkende Aus­schnitte städtischer Strukturen. Darunter erzählt eine Reihe von acht Texttafeln folgende Geschichte:

,,[Tafel I] Die nebenstehenden Aufnahmen brachte Paul M. von einer längeren Reise nach Nord- und Mittelamerika zurück, ohne sich jedoch erinnern zu können, sie selbst fotografiert zu haben. [2J Erst dachte er, dag es sich um ein Versehen des Labors handel­te, dem er die Aufnahmen zum Entwickeln gegeben hatte, doch konnte man ihm anhand der Numerierung und Datierung nach­weisen, dag es sich um das Material haudeln mußte, das er zum Entwickeln gegeben hatte. [3] Eine Verwechslung bei der Zollab­fertigung, die in seiner Abwesenheit vorgenommen \vorden war, schien ihm schon unwahrscheinlicher. [4] Auf dem Flughafen er­klärte man ihm, daß Gepäckstücke in der Regel nicht aus ihren Behältern genommen und nur im Ausnahmefall einzelne Teile in hierfür vorgesehenen Schachteln zur Ansicht gebracht würden. Das zuständige Büro teilte ihm mit, daß sein Gepäck nicht durch­sucht worden war. [5] Der Fluggesellschaft schrieb er, um zu erfahren, ob sich ein Passagier gemeldet hatte, der seinen Film ver­migte, war aber ohne Antwort geblieben. Der Grund für seine Bemühungen war, wie gesagt, dag er sich nicht erinnerte, die Auf­nahmen fotografiert zu haben. Ebenso wenig war es ihm ge-

Abb. 3: Jochen Gerz, Paul M.) Sammlung National Gallcry Canbcrra

lungen, ihren Inhalt zu entziffern. [6] So sehr die Aufnahmen, das, was darauf zu sehen war, anfangs dagegen sprachen, sich selbst für ihren Besitzer zu halten, so schienen sie jetzt, je länger er mit der Aufklärung ihrer Herkunft heschäftigt war, dafür zu sprechen. Diese und andere Beobachtungen, die er an sich machen konnte, blieben jedoch ohne Einfluß auf seine Entschlossenheit, ihren Besitzer zu finden. [7] In seinem Tagebuch, das er nach der Reise begann, vermerkte er jede Situation und jedes verfügbare Detail seiner Reise. Auf diese Weise wollte er verhindern, dafl sich die Aufnahmen nachträglich in sein Gedächtnis einnisteten und sich beweisen, dag er mit ihnen nichts zu tun haben konnte. Bald je­doch schien ihn auch dieser Prozeg nicht mehr zu überzeugen. Es war, als könnte die Existenz der Aufnahmen alles, dessen er sich erinnerte auf seiner Reise, in Frage stellen. Nur der Beweis ihrer Herkunft, falls e; möglich war, würde erlauben zu sagen, ob sie einmal in einer Beziehung zu einem Moment seines Lebens stan­den oder ob sie weiterhin Vorwand bleiben würden für eine der zahllosen anonymen Obsessionen, die wir alle kennen. [8] Ich habe sie hier wiedergegeben, um ihnen nicht mehr und nicht weni­ger Bedeutung zu geben als anderen Relikten, Andenken, Gegen­ständen, die nur noch ihr Besitz bestimmen kann. Mehr noch als unsere Bemühungen um Entzifferung sind sie selbst Teile eines Ganzen, das sich nur allzu leicht beschreiben hflt und doch nie, hier und anderswo, mehr ist als dessen Kopie.«

Wie die Smiles kreist Paul M. um den Zusammenhang von Erinne­rung und Bildwerdung. In Paul M. geht es um den Zusammenhang zweier Aufbewahrungsweisen des Erlebten, um den Zusammenhang von Erinnerung und Belegen. Paul M. spielt durch, wie Bildwerdung

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des Erlebten und Erinnerung an das Erlebte auseinanderfallen, wie zugleich der Besitz der Belege die Erinnerung korrumpiert. Die intensive Spurensuche in der Erinnerung dreht schließlich die ur­sprüngliche Gewißheit der Erinnerung um und führt zur Aneignung der Belege. Bei den Smiles ist es die Erinnerung selbst, die Bild wird. Die Bildwerdung des Lächelns, dieser flüchtigsten aller Äußerungen der Erinnerung, markiert den Übergang von Gegenwart in Zeit. In den Fotos der >nach Innen< blickenden Lächelnden ist die Erinne­rung verloren, der Umschlag ins Bild markiert das Verschwinden der Erinnerung in der Verfestigung. Das Bild ist nurmehr Erinnerung an eine Erinnerung. T7

Politische oder anthropologische Stellungnahme? Erfahrungen mit dem Gättinger Fragment

Esther und Jochen Gerz hatten geplant, die Arbeit zusammen mit den Beschäftigten des Max-Planck- Instituts für Geschichte durchzu­führen. Doch dazu kam es nicht. Auf einer Vollversammlung wurde das Projekt so heftig und kontrovers diskutiert, daß an eine gemein­same Arbeit nicht mehr zu denken war. Die wortstärkste Gruppe, \'Vissenschaftler aus der Generation von Jochen Gerz, haben die Gründe zu lächeln ohne Umwege in politische Zusammenhänge ein­geordnet: Poetisierung der Geschichte? Lächeln? Am Ende des 20. Jahrhunderts? Als deutsche Historiker? Tränen vielleicht, aber nicht Lächeln. Lächeln sei am Ende des 20. Jahrhunderts eine gewal­tige Provokation, sei das falsche Signal. Dies hatte man von Esther und Jochen Gerz, die doch als die Produzenten der überzeugendsten Mahnmale des Holocaust bekannt sind, nicht erwartet. Gerade jene Historiker, die sich ein Leben lang gegen das Vergessen eingesetzt haben, die Widerstand leisteten gegen eine Bundesrepublik der Normalität, reagierten irritiert und spontan ablehnend auf die Zu­mutung, nun zu lächeln.

Anscheinend ist diese politische Rezeption der Gerz'schen Ein­ladung zum Lächeln nicht zuletzt ein Generationenproblem. Die

17 \Ver in den Arbeiten von Esther Gerz und]ochen Gcrz den Spuren folgen will, die auf teils verschiedenen, teils ähnlichen Wegen um die in den Smiles ange­sprochenen Themen kreisen, sei zu Esther Gerz etwa velwiesen auf Ausst.kat. Esther Shalcf-Gerz, Irreparable, La Roche-Sur-Yon [996, vgl. hier auch das Gespräch DORIS VON DRATI-iEN - Esn-IER SHALEF GERZ, S. 12-22.

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politische Linke der >SöhnegeneratiOll', so wird immer wieder er­zählt, hat stets mit der offenen Frage gelebt, ob und wie Freude und Genuß (wieder) möglich sein können und dürfen. Gerz ist einer von ihnen, er kennt diesen spezifisch nachkriegsdeutschen Konflikt der Söhne mit den Vätern aus eigenem Erleben. Er hat einen immer noch wunden Punkt getroffen bei jenen ,Söhnen<, die ihn - ganz im Sinne der berühmten Mahnmale - in einer Reihe mit sich selbst gegen den­selben Gegner kennen.

Die jüngeren Teilnehmer an der Diskussion lieferten zumeist völlig andere Beiträge, faflten das Projekt als anthropologisch­existentiellen Versuch auf, fragten nach der Authentizität des Zu­sammenhangs zwischen Erinnerung und dem in Szene gesetzten Lächeln, nach den Möglichkeiten des >Mißlingens< der Arbeit - etwa durch vorgespielte Erinnerung. Politische und anthropologisch­existentielle Rezeption, Ablehnung und Einlassen, standen einander nicht zuletzt als generationenspezifische Lesarten gegenüber. Augen­scheinlich situierten die Rezipienten das Lächeln in unterschied­lichen Gedächtniszusammenhängen. Die politische Rezeption ord­net die Smiles in die Koordinaten des kulturellen Gedächtnisses ein, wo Lächeln im Angesicht der deutschen Vergangenheit zur uner­wünschten Äußerung wird. Wer das Lächeln als anthropologischen Versuch rezipiert, begreift die inszenierte Erinnerung in den Koor­dinaten eines Gedächtnisses, das als ,kommunikatives< oder Alltags­gedächtnis im Privaten bleiben kann.

Durch diese sehr unterschiedliche Rezeption wurde nur allzu offensichtlich, daß das Lächeln nicht mit einer Institution, sondern allenfalls mit interessierten Privatpersonen verwirklicht werden konnte. So wurde die Herstellung des Gättinger Fragments aus dem institutionellen Zusammenhang gelöst und im Herbst 1996 von Stn­denten und Wissenschaftlern in Göttingen, Chemnitz, Oldenburg und Bielefeld sowie einigen Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Geschichte durchgeführt - in der Folge von Diskussionsver­anstaltungen und methodenorientierten Seminaren, von deren Teil­nehmern sich schließlich nur ein geringer Teil ablichten ließ.'8

18 Denjenigen, die in Seminaren mit ihren Studenten an den Gründen zu lächeln arbeiteten und sie zum Anstoß für theoretische Diskussionen nahmen, sei an dieser Stelle gedankt - Danicl Göske, Detlcf Hoffmann, Alf Lüdtke, Jürgen Schlumbohm, Norbert Schnitzler, Peter Schuster und Nicole Zeddies.

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Zweiundvierzig Personen haben die Betrachterrolle für einen Moment aufgegeben. Die auf den Fotos dieses Fragments portrai­tierten Personen waren fast alle mit den Fotografierenden allein. Die Verständigung zwischen der erinnernd LicheInden und der foto­grafierenden Person war stets ein Problem. Es erforderte oft viele Versuche, bis die Teilnehmer sich in ein erinnerndes Lächeln hinein­gefunden hatten. Den einen gelang das Lächeln schlicht nicht, andere vermochten der fotografierenden Person nicht zu signalisieren, wann sie erinnernd lächeln. Einige haben es bis zum Abbruch nicht geschafft, das ,In-die-Kamera-Lächcln< abzustreifen, die Aufgabe ernstzunehmen. Die einzelnen Portraits des >Göttinger Fragments< lassen das Spektrum von Reaktionen gut erkennen.

Zur Chronologie des Projekts

Das Gättinger Fragment ist der erste publizierte Teil des Projekts. Bislang sind die Gründe zu lächeln in dichter zeitlicher Folge an fünf verschiedenen Orten in Angriff genommen worden und führten, auf die jeweilige Situation reagierend, Zll jeweils eigenen Ausdrucks­formen. Als Arbeit im öffentlichen Raum ist der Text im Oktober 1996 auf den elektronischen Informationstafeln der Stadt Paris er­schienen. Die Ausdrucksform des workshop hatte das Projekt, als zwischen Januar und April 1997 Kunststudenten zweier Universi­täten in Tallahassee/Florida (FAMU und FSU) einander auf dem jeweils anderen Campus besucht haben, um miteinander diese Bild­werdungen von Erinnerungen zu erproben. Die Aktion war der ein­zige Ausdruck, den die Arbeit in Tallahassee fand, den materialen Niederschlag (das ,Tallahassee Fragment<, Abb. 4) haben die Studen­ten nicht gesehen. Als Antwort auf die Bitte, einen Beitrag zu den Gesprächen Von der künstlerischen Produktion der Geschichte zu leisten, ist das Gättinger Fragment entstanden. Es hat im Rahmen einer wissenschaftlichen Buchpublikation, eingereiht zwischen Text­beitr:ige des gewohnten wissenschaftlichen Typs, seinen adäquaten Ausdruck. In der klassischen Form der Kunstausstellung werden im Herbst 1997 alle bis dahin bildlich dokumentierten Momente lächelnder Erinnerung bei den ,Rencontres Internationales de la Photographie< in Arles installiert. Zugleich wird ein umfangreiches, im Verlauf des Jahres 1997 in Kanada produziertes Fragment in

Abb. 4: Esther und Jochen Gerz, Gründe zu lächeln. Das Talhhassee Fragment 1996/7.

Vancouver ausgestellt (Catriona Jeffries Gallery). Eine Zeitungsin­stallation der Gründe zu lächeln schließlich produzieren derzeit die Leser der in Berlin erscheinenden Zeitschrift ,Lettre international, für die Herbstnummer der Zeitschrift.

In welcher Ausdrucksform auch immer das Projekt Gründe zu lächeln an verschiedenen Orten realisiert wird, Esther und Jochen Gerz scheinen in dieser wie in vielen anderen Arbeiten das Gegenteil der Historiker zu machen. Während sich Historiker in der Regel bemühen, Geschichte ,freizulegen<, zu weilen buchst:iblich auszu­graben, als Rekonstruktionen dauerhaft zu machen, Erinnerung zu fixieren, das Flüchtige etwa einer or,,1 history festzuhalten, gehen Esther und Jochen Gerz andersherum vor: die Steine vor dem Saar­brücker Schloß werden kurz gezeigt, dann versch winden sie in der

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Erde (Abb. 21), die Säule in Hamburg: verschwunden (Abb. 15), die umfangreiche Bürger-Arbeit in Bremen: nur mit Erinnerung wieder­zuerkennen in der extremen Reduktion der gravierten Platte. Die Gründe zu lächeln schließen auch hier an. Die Erinnerung der Be­teiligten bleibt verborgen, »das Lächeln legt eine Spur in die Vergan­genheit, ohne sie als konkrete Gestalt vor Augen zu stellen.«'9

19 So Beate Söntgen in ihrer Besprechung der Göttinger Veranstaltung: Zurück­gedachte Gegenwart. Kein Grund zu lächeln: Esthcr und Jochen Gerz treffen auf deutsche Historiker, in: frankfurter Allgemeine Zeitung, r 4.6. I 997, S. 35·