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Masarykova univerzita
Filozofická fakulta
Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky
Německý jazyk a literatura
Bc. Hana Crhová
Vladimir Vertlib und Wladimir Kaminer
im Vergleich
Magisterská diplomová práce
Vedoucí práce: PhDr. Zdeněk Mareček, Ph.D.
2011
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Prohlašuji, že jsem diplomovou práci vypracovala
samostatně s využitím uvedených pramenů a literatury.
...............................................................................
Podpis autora práce
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3
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich bei Herrn PhDr. Zdeněk Mareček, Ph.D., der mich bei
dieser Magisterarbeit begleitete, für seine wertvollen und hilfreichen Ratschläge und
Zeit herzlich bedanken. Ich möchte mich auch beim DAAD bedanken, der mich mit
seinem Stipendium einen für meine Arbeit sehr hilfreichen Forschungsaufenthalt an der
Universität in Heidelberg ermöglichte. Ich danke Frau Prof. Dr. Gertrud Maria Rösch,
die mich während meines Heidelberger Aufenthaltes betreute. Mein Dank gehört auch
dem Zsolnay/Deuticke-Verlag und der Verlagsgruppe Random House für die
Zusendung der Rezensionen und Interviews. Ebenfalls möchte ich mich bei Frau
Susanne Reitemeyer für die Textkorrektur bedanken. Einen besonderen Dank gehört
Herrn Vladimir Vertlib, der bereit war, meine Fragen zu beantworten.
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung ............................................................................................................................................. 6
1. Juden in der Sowjetunion und ihre Emigration ............................................................................. 8
1.1 Die Situation der Juden in der Sowjetunion .............................................................................. 8
1.2 Emigration der sowjetischen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg ......................................... 10
1.3 Jüdische Gemeinden in Deutschland heute ............................................................................ 12
2. Das Leben Vladimir Vertlibs und Wladimir Kaminers ................................................................. 14
2.1 Vertlib und Kaminer: Auf Deutsch schreibende Autoren russisch-jüdischer Herkunft und ihre
unterschiedlichen Lebenswege ............................................................................................... 20
3. Gemeinsame Themen bei V. Vertlib und W. Kaminer ................................................................ 24
3.1. Schriftsteller werden, das Schreiben als Beruf ....................................................................... 24
3.1.1 Schriftsteller werden bei Vertlib ........................................................................................... 25
3.1.2 Schriftstellerwerden bei Kaminer ..................................................................................... 25
3.1.3 Gründe zum Schreiben ..................................................................................................... 26
3.1.4 Lesungen ........................................................................................................................... 27
3.2 Deutsch als Zweitsprache (Fremdsprache) .............................................................................. 28
3.3 Judentum ................................................................................................................................. 30
3.3.1 Leben der Juden in der Sowjetunion ................................................................................ 31
3.3.2 Emigration der sowjetischen Juden .................................................................................. 34
3.3.3 Leben der Juden im heutigen Deutschland ...................................................................... 36
3.3.4 Zusammenfassung ............................................................................................................ 38
3.4 Sowjetunion, Russland ............................................................................................................. 39
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3.5 Emigrantenleben in Deutschland und in Österreich ............................................................... 42
3.5.1 Emigrantenleben bei V. Vertlib ......................................................................................... 43
3.5.2 Emigrantenleben bei Kaminer .......................................................................................... 45
3.5.3 Zusammenfassung ............................................................................................................ 48
4. Auftreten beider Autoren in der Öffentlichkeit und ihre Rezeption .......................................... 50
4.1 Vertlib und Kaminer im Internet .............................................................................................. 50
4.2 Wie wollen die Autoren von ihren Lesern verstanden werden – Authentizität und
Fiktionalität in ihren Werken .................................................................................................. 52
4.3 Vertlib und Kaminer in der Literaturwissenschaft ................................................................... 56
4.4 Vertlib und Kaminer in der journalistischen Welt ................................................................... 62
4.5 Sprachen, in die man Werke Verltibs und Kaminers übersetzt ............................................... 69
5. Schluss ......................................................................................................................................... 71
Bibliographie ...................................................................................................................................... 74
Primärliteratur – Vladimir Vertlib .................................................................................................. 74
Sekundärliteratur zu Vladimir Vertlib und seinem Werk .............................................................. 74
Internetquellen zu Vladimir Vertlib und seinem Werk .................................................................. 76
Primärliteratur – Wladimir Kaminer .............................................................................................. 77
Sekundärliteratur zu Wladimir Kaminer und seinem Werk........................................................... 78
Internetquellen zu Wladimir Kaminer und seinem Werk .............................................................. 79
Bibliographie zum Thema Juden in der Sowjetunion und jüdische Gemeinden in Deutschland .. 81
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Einleitung
In meiner Magisterarbeit möchte ich mich mit dem Thema Deutschsprachige
Schriftsteller russischer Herkunft beschäftigen. Hauptsächlich werde ich mich den
Schriftstellern Vladimir Vertlib und Wladimir Kaminer widmen. Zu diesem Thema
führte mich meine Begegnung mit Vladimir Vertlib, den ich während seines Brünner
Aufenthalts anlässlich seiner Lesung beim Literaturfestival Měsíc autorského čtení im
Juli 2009 betreute.
Gleich zu Beginn möchte ich die Frage beantworten, warum ich über die
beiden Autoren schreiben werde und warum ich sie auch für meinen Vergleich
ausgewählt habe. Die auffälligste Ähnlichkeit beider Autoren ist ihr Geburtsland;
beide Autoren sind in der ehemaligen Sowjetunion geboren, beide sind sogar gleich
alt, Vertlib wurde im Jahre 1966 geboren, Kaminer im Jahre 1967. Beide verbindet
ihre jüdische Herkunft, die mit ihrer Emigration eng zusammenhängt. Beide
emigrierten in ein deutschsprachiges Land, in dem sie immer noch leben – Vertlib in
Salzburg in Österreich, Kaminer in Berlin in Deutschland. Vertlib und Kaminer sind in
ihren Emigrationsländern erfolgreiche Schriftsteller geworden, die ihre Werke auf
Deutsch (also nicht in ihrer russischen Muttersprache) verfassen und daher zu den
bedeutendsten Figuren der deutschsprachigen Literatur mit Migrationshintergrund
gehören.
Die Lebenserfahrung beider Autoren dient sehr oft als Inspiration für ihre
Schriftstellertätigkeit. Wie ich schon oben kurz geschildert habe, weist die
Lebenserfahrung beider Autoren gewisse Ähnlichkeiten auf. Aus diesem Grund kann
man bei Vertlib und bei Kaminer etliche gemeinsame Themen finden. Die Analyse der
gemeinsamen Themen in Vertlibs und Kaminers Werken bildet den Kern meiner
Magisterarbeit. Ich ging vom Werk Vladimir Vertlibs aus, zu dem ich Parallelen im
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Werk von Wladimir Kaminer suchte. Daraus ergaben sich folgende
Themenschwerpunkte meiner Arbeit: Schriftstellertätigkeit, Schreiben in einer
Fremdsprache, Russland bzw. Sowjetunion, Judentum, Emigrantenleben in
Deutschland bzw. in Österreich.
Die Struktur meiner Magisterarbeit ist folgend: Zuerst möchte ich kurz auf das
Thema Juden in der Sowjetunion und ihre Emigration eingehen – die Einstellung des
sowjetischen Staates zu den Juden, den Antisemitismus der Stalin-Jahre, die Ursachen
der jüdischen Auswanderung der letzten Jahrzehnte. Die Tatsache, dass ich ziemlich
weit ausholen muss, um die Wurzeln des Antisemitismus zu zeigen, hängt auch mit
der Thematik von Vertlibs Büchern zusammen. Deshalb ist es meiner Meinung nach
gut, mir schon am Anfang einen Überblick der Ereignisse zu verschaffen, die für die in
der Sowjetunion lebenden Juden wichtig waren. Die Verwicklung der Schicksale von
sowjetischen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg geht z. T. auf Ereignisse vom
Anfang des 20. Jahrhunderts zurück Das ist der zweite Grund, warum ich nicht nur die
Situation der Juden nach dem Zweiten Weltkrieg schildere, sondern auch die Periode
seit 1917. Am Ende des ersten Kapitels gehe ich kurz auf die Veränderungen in den
deutschen jüdischen Gemeinden seit den 90er Jahren, die gerade durch die Emigration
der Juden aus der Sowjetunion verursacht wurden.
Nach diesem kurzen historischen Exkurs suche ich Parallelen im Leben von
Vertlib und Kaminer. Danach beschäftige ich mich mit den Ähnlichkeiten in den
literarischen Werken beider Autoren. Die ganze Arbeit schließt mit einem Überblick
über die Rezeption beider Autoren in Deutschland, in Österreich und im Ausland ab.
In diesem Kapitel arbeite ich mit Rezensionen zu den Werken beider Autoren, deren
Rezeption in Deutschland und in Österreich und ich führe eine Liste mit den Sprachen
ein, in die Vertlibs und Kaminers Wekr übersetzt werden. Ich konzentriere mich auch
darauf, wie beide Autoren selbst in der Öffentlichkeit präsent sind, nicht nur durch
Lesungen, sondern auch im Internet.
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1. Juden in der Sowjetunion und ihre Emigration
Auf dem Gebiet des heutigen Russland lebten Juden seit ältester Zeit. Der
Antisemitismus verstärkte sich nach der Annektierung Polens, als die Zahl der
jüdischen Bevölkerung gestiegen ist.1 Die russische, orthodoxe Bevölkerung wurde
durch ihre Religion sehr stark geprägt. Als negativer Nebeneffekt dieser religiösen
Prägung erwies sich bei manchen eine starke Ablehnung der anderen Religionen, was
zur mangelnden Toleranz gegenüber der jüdischen Bevölkerung führte und oft bis zu
Pogromen eskalierte. Die offizielle Macht bemühte sich, Juden in die russische
Bevölkerung zu integrieren und so die jüdische religiöse Autonomie, die für die meiste
Bevölkerung provozierend war, zu beschränken. Die Hoffnung für die in Russland
lebenden Juden kam erst mit der Revolution.
1.1 Die Situation der Juden in der Sowjetunion
Viele Autoren sind sich einig, dass die russischen Juden in der Revolution eine
gewisse Möglichkeit der Veränderung ihrer unerträglichen Lebensbedingungen sahen,
unter denen sie in dem zaristischen Russland gelebt hatten.2 Die konkreten
Zukunftsvisionen der russischen Juden variieren bei den Autoren. Goldberg erklärt die
Begeisterung der Juden für die Revolution mit ihrem Wunsch nach Emanzipierung
ihrer religiösen Gemeinschaft.3 Er behauptet, dass die meisten Juden auf ein freies
religiöses Leben hofften, in dem sie ihre Religion praktizieren konnten. Schapiro
meint hingegen, dass schon in dem Moment, als die Juden der revolutionären Partei
beitraten, ihr Verzicht auf ihre religiöse Identität fest stand. In der Revolution
1 Goldberg, B.Z. The Jewish Problem in the Soviet Union. Analysis and Solution. New York: Crown
Publishers, Inc., 1961.
2 Vgl. Ebd.
3 Vgl. Ebd.
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kämpften sie, so Schapiro, für ein freies bürgerliches Leben und für bessere
Lebensbedingungen. 4
Unmittelbar nach der Revolution lehnte die offizielle Macht alle
vorrevolutionären Traditionen und Gedanken ab. Den Antisemitismus, der im
zaristischen Russland sehr präsent gewesen war, verurteilte man. Auf der anderen
Seite wollten die anti-sowjetischen Bewegungen den Kommunismus diskreditieren,
indem man die kommunistischen Führer als Juden bezeichnete – was man
ausnahmslos für eine Beleidigung hielt. Diese für die Juden gespannte Lage führte zu
einigen Pogromen (Kischinev, Gomel und andere). Nach dem Bürgerkrieg distanzierte
sich die offizielle Macht davon und versicherte der Bevölkerung, dass sie sich für die
Unterdrückung des Antisemitismus einsetzt. Später bezeichnete Lenin Antisemitismus
als etwas sehr Fatales und Negatives, was es jetzt nur in den imperialistischen Staaten
gäbe und so benutzte er es als Argument, um die westlichen bürgerlichen Staaten zu
diskreditieren.
Man versuchte, die jüdische und andere nicht-russische Bevölkerung in die
große sowjetische Bevölkerung zu integrieren. Als Lenin an der Macht war, bemühte
man sich tatsächlich um eine Integration der Juden, um ihre Gleichheit in der
Bevölkerung und um gleiche Möglichkeiten für sie. Diese Fortschritte wurden
allerdings in der Ära des Stalinismus wieder zurückgenommen.
Anfang der 40er Jahre, als deutsche Truppen einen Teil der Sowjetunion
okkupierten, gelang es der Nazi-Propaganda, antisemitische Ideen unter der russischen
Bevölkerung zu verbreiten. Die Bedrohung für die jüdische Bevölkerung kam nicht
nur von den faschistischen Okkupanten, sondern auch von den Einheimischen. Aus
diesem Grund übernahmen viele Juden, z.B. solche, die in der Roten Armee dienten,
4 Vgl. Schapiro, L. Introduction. In Kochan, L. Hrsg.: The Jews in Soviet Russia since 1917. Oxford: Oxford
University Press, 1978, S. 1 - 14
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einen russischen Namen, um der antisemitischen Gefahr nicht ausgesetzt zu werden.
Auch nach dem Krieg, als die meisten Juden aus den Konzentrations- und
Arbeitslagern zurückgekehrt waren, kam es zu Pogromen. Die Regierung schrieb die
Schuld dafür den faschistischen Okkupanten zu, weil diese die Bevölkerung mit
starkem Antisemitismus „anstecken“ sollten, und distanzierte sich davon.5
Mit dem unter dem Stalinismus immer stärker werdenden sozialistischen
Gedankengut kam eine rasante Unterdrückung der Religion, was sich auch auf den
Judaismus bezog. Mit der Entstehung des Staates Israel wurden sowjetische Juden
automatisch als Verschwörer dieses neuen Staates angesehen.
Im Januar 1953 wurden prominente jüdische Ärzte einer Verschwörung
beschuldigt und in Haft genommen. Nach Stalins Tod wurden sie entlassen und
rehabilitiert. Juden wurden fortan immer als andere Nationalität angesehen. In ihren
Reisepässen (in der sog. fünften Rubrik) war deutlich gezeichnet, dass sie Juden
waren. Als Mitglieder dieser Minderheit wurden sie sehr oft benachteiligt. Ihr Zugang
zum Universitätsstudium, zu besseren Arbeitsplätzen oder ihre Teilnahme am
öffentlichen Leben wurden deutlich erschwert oder überhaupt nicht ermöglicht. Aus
diesen Gründen entschieden sich viele Juden zur Emigration.6
1.2 Emigration der sowjetischen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg
Das erste große Zielland der jüdischen Emigration war Israel. 1975
unterschrieb Breschnew in Helsinki die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa. Infolgedessen konnten sowjetische Juden Ausreisevisa
5 Vgl. Weinryb, B. Antisemitism in Soviet Russia. In Kochan, L. Hrsg.: The Jews in Soviet Russia since
1917. Oxford: Oxford University Press, 1978, S. 300 – 332.
6 Vgl. Ebd.
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nach Israel beantragen. Das Ganze war als Familienzusammenführung gedacht: Jeder,
der ausreisen wollte, musste zuerst eine Einladung von Familienangehörigen aus Israel
bekommen. Es folgte dann eine mühsame und lange Prozedur, die Duwidowitsch
folgendermaßen beschreibt:
Außerdem war bei den zuständigen Behörden eine beglaubigte
Einverständniserklärung der sowjetischen Angehörigen, eine Bescheinigung des
Arbeitsgebers, der Hausverwaltung und eine der Partei oder des Komsomol
(sowjetische Jugendorganisation) über den Austritt aus der Organisation
einzureichen.7
Die Bewerber um den Ausreisepass mussten auf ihre Arbeitsstelle verzichten,
die Studenten unter ihnen mussten sich exmatrikulieren lassen. Im Fall einer
Ausreiseverweigerung bekamen sie ihre Arbeits- oder Universitätsstelle meist nicht
mehr zurück. Nach der Erteilung des Ausreisevisums wurde der Emigrierende
ausgebürgert.
Die offizielle Erklärung, so Duwidowitsch, für die Ausbürgerung lautete: Da es
keine diplomatischen Beziehungen zu Israel gebe, sei der Schutz des Sowjetbürgers
auf israelischem Territorium nicht gewährleistet. (In der Folge des Sechs-Tage-
Krieges hatte die Sowjetunion 1967 die diplomatischen Beziehungen zu Israel
abgebrochen.)8
Es gab keine Flugverbindung von Moskau nach Tel Aviv. Die Emigranten
mussten deshalb zuerst nach Österreich. In Wien änderten dann viele ihr Reiseziel. Als
häufigste Immigrationsländer für sowjetische Juden können die USA, Australien,
Kanada und Israel genannt werden. Manche entschieden sich, in Westeuropa zu
bleiben.
Vladimir Vertlibs Familie gelang es schon im Jahre 1971 nach Israel
auszureisen, also vier Jahre vor der größten Emigrationswelle der sowjetischen Juden
nach Israel. Wie auch viele andere jüdische Familien aus der Sowjetunion bemühten
7 Duwidowitsch, L, Dietzel, V. Hrsg. Russisch-jüdisches Roulette. Zürich: Amman Verlag, 1993, S. 10.
8 Ebd. S. 10-11.
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sie sich um eine Emigration nach Westeuropa und später auch in die USA. Im Jahre
1972 übersiedelten sie nach Wien.9
Es entstanden noch viele illegale Wege, wie die sowjetischen Juden nach
Westdeutschland, hauptsächlich nach Westberlin, kommen konnten. 1988-89 konnte
man in Wien einen Antrag auf Einreisegenehmigung in die Bundesrepublik
Deutschland stellen, über den in Bonn entschieden wurde.
Am 11. Juli 1990 trat das Gesetz in Kraft, demzufolge Juden aus Osteuropa bei
ihrer Ankunft auf dem Territorium der DDR eine Vielzahl von sozialen Rechten
und Garantien in Anspruch nehmen konnten. Am 15. Februar 1991 wurde Juden,
die zwischen dem 1. Juni und dem 15. Februar eingereist waren, rückwirkend der
Status eines politischen Flüchtlings zuerkannt. In diesem Zeitraum waren ungefähr
3600 sowjetische Juden mit einem Touristenvisum nach Berlin eingereist.10
Unter diesen 3600 war auch Wladimir Kaminer.
1.3 Jüdische Gemeinden in Deutschland heute
Die Emigration der Juden aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion setzte
auch von 1990 bis 2007 fort. Jedes Jahr kamen mehrere Tausend Juden aus der
ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Laut der Mitgliederstatistik der jüdischen
Gemeinden und Landesverbände in Deutschland für das Jahr 2009 gab es die größten
Emigrationswellen der sowjetischen Juden nach Deutschland in den Jahren 1999 (8.
929), 1995 (8. 851) und 1996 (8. 608).11
Von 1990 bis 2009 kamen insgesamt 102.
533 sowjetische Juden nach Deutschland. Auch in den letzten Jahren kamen Juden aus
der ehemaligen SU-Staaten nach Deutschland, ihre Anzahl ist aber im Vergleich zu
den früheren Jahren geringer (im Jahr 2008 waren es 862, im Jahr 2009 704). Sie
waren sicher der Grund, warum die jüdischen Gemeinden in Deutschland in den
9 Vgl. Vertlib, V.: Spiegel im fremden Wort. Dresden: Thelem, 2008.
10 Ebd. S. 12-13
11 Vgl. von Bassewitz, H. (Redaktion) Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in
Deutschland für das Jahr 2000. Frankfurt am Main, April 2010, S. 2-3.
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13
letzten Jahren deutlich größer geworden waren. Im Jahre 1990 registrierten die
jüdischen Gemeinden in Deutschland 29. 089 Mitglieder, im Jahre 2009 waren es
schon 104. 241.12
Die Statistik, die ich zur Verfügung hatte, befasste sich nur mit den Zugängen
der aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Juden. Für die Abgänge wurden
gesamte Mitglieder berechnet. Deshalb kann ich nicht genau sagen, wie groß der
Anteil der ehemaligen Sowjetbürger in den jüdischen Gemeinden in Deutschland ist.
Die Statistik beweist aber mit Sicherheit, dass es sich um die Mehrheit handelt.
12 Vgl. Ebd.
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2. Das Leben Vladimir Vertlibs und Wladimir Kaminers
Vladimir Vertlib wurde am 2. Juli 1966 in Leningrad in der Sowjetunion
geboren. Durch meine E-Mail-Korrespondenz mit Vladimir Vertlib habe ich erfahren,
dass seine Mutter als Mathematiklehrerin in einer Mittelschule gearbeitet hatte. Später
arbeitete sie als Computerprogrammiererin in einem Forschungsinstitut in Leningrad.
Sein Vater studierte Jura, aber diesen Beruf konnte er wegen seiner jüdischen
Herkunft ohne Protektion und Parteimitgliedschaft nicht richtig ausüben. Eine gewisse
Zeit arbeitete er als Jurist in Krasnojarsk, aber er kehrte bald nach Leningrad zurück,
wo er sich als Lektor und Korrektor in einem wissenschaftlichen Verlag und in einer
Druckerei anstellen ließ. Vertlibs Familie wurde in der Sowjetunion oft wegen ihrer
jüdischen Herkunft diskriminiert, und deshalb entschlossen sich Verlibs Eltern zur
Emigration. Die erste Station ihrer Emigration führte im März 1971 nach Kiryat Ono
in Israel. Diese Stadt liegt 11 km östlich von Tel Aviv und wurde im Jahre 1940
gegründet, als sich ca. 40 jüdische Familien entschieden hatten, sich in dieser Region
niederzulassen.13
Vertlibs Eltern waren aber in diesem Land unzufrieden und fühlten
sich unsicher. Aus diesem Grund übersiedelten sie im April 1972 nach Wien.14
Vladimir Vertlib spricht über diese Zeit folgendermaßen:
Ursprünglich wollten meine Eltern nach Israel, blieben aber nur ungefähr ein Jahr
lang dort. Sie waren mit völlig unrealistischen Erwartungen eingewandert und von
den Zuständen im Land bald enttäuscht. Zu Beginn der Siebzigerjahre wusste man
in der Sowjetunion noch kaum etwas über den Westen, der Informationsfluss war
sehr gering. Meine Eltern hatten die Illusion, dass der jüdische Staat etwas ganz
Besonderes sein müsse, ein Ort, an dem alle Juden „solidarisch und voller
Enthusiasmus gemeinsam am Aufbau des Landes mitarbeiten". Dass es dort auch
Korruption, soziale Ungerechtigkeit und Parteibuchwirtschaft gibt, war für sie ein
Schock. Außerdem wurden sie mit Vorurteilen und Klischees konfrontiert, die viele
Alteingesessene über die Neuzuwanderer aus der Sowjetunion hatten.15
13
Vgl. Offizielle Homepage der Stadt Kiryat Ono [on-line]. [Letzter Zugriff: 2011-04-07]. Abrufbar unter:
‹http://www.kono.org.il/_uploads/dbsattachedfiles/english%281%29.pdf›
14Vertlib, V. Spiegel im fremden Wort. Dresden: Thelem, 2007.
15 Schweiger, S. Reise zu meinen Wurzeln [on-line]. nu, Nr. 2., 2004, S. 15-18. [Letzter Zugriff: 2010-10-20].
Abrufbar unter: ‹http://www.nunu.at/›
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15
Nicht einmal in Wien konnten sie richtig Fuß fassen. Verltibs Eltern konnten
auch hier antisemitische Stimmungen spüren und fühlten sich oft diskriminiert.16
Die
lange Odyssee dieser Familie war auch deshalb Anfang der Siebzigerjahre noch lange
nicht zu Ende. Von Juni bis Oktober 1972 wohnte Familie Vertlib in Rom, von
Oktober 1972 bis Juni 1975 lebten sie wieder in Wien, wo der kleine Vladimir die 1.
bis 3. Klasse der Volksschule besuchte. Von Juni bis Oktober 1975 hielten die Vertlibs
in Amsterdam auf. Dann wanderten sie zum zweiten Mal nach Israel aus, wo Vladimir
die 4. Klasse der Grundschule besuchte. Im August 1976 kehrte die Familie – nach
einem weiteren kurzen Zwischenaufenthalt in Rom - nach Wien zurück. Vladimir ging
dort in die 1. Klasse des Gymnasiums. Im Juni 1980 versuchten sie in die USA
einzuwandern, sie bekamen dort aber die notwendige Aufenthaltsgenehmigung nicht
und übersiedelten endgültig im Oktober 1981 nach Wien.
Seit 1981 lebt Vladimir Vertlib in Österreich. Die Frage, die sich aufdrängt,
wenn man über den ganzen Emigrationsprozess Vertlibs liest, ist, wo er sich zu Hause
fühlt und welches Land er für seine Heimat hält. Fragen dieser Art beantwortete
Vertlib schon mehrmals. Auf eine ähnlich gestellte Frage antwortet er
folgendermaßen:
Das lässt sich für mich auch heute nicht eindeutig beantworten. Ich würde sagen,
dass ich mein Zuhause in einer Zwischenwelt gefunden habe. Ich nehme aktiv am
Kulturleben in Österreich teil, fühle mich mit diesem Land verbunden und würde
ungern auf die österreichische Variante des Deutschen und auf manches, das für die
Lebensweise in diesem Land typisch ist, verzichten wollen. Außerdem bin ich mit einer
gebürtigen Österreicherin verheiratet. Und natürlich ist vieles, was man gemeinhin als
„österreichische Mentalität“ bezeichnet, inzwischen Teil meines Wesens
geworden...Genügt das, um Österreich als „Heimat“ zu bezeichnen? Ja und nein …
Meine familiäre, sprachliche und kulturelle Prägung ist jedoch nur zum Teil
österreichisch, und auch von anderen werde ich manchmal immer noch als Fremder,
jedenfalls nicht als „typischer Österreicher“ wahrgenommen. Gerade meine zum Teil
alles andere als angenehmen Erinnerungen daran, wie ich Österreich als
Zuwandererkind erlebt und wahrgenommen habe, lassen sich auch Jahrzehnte später
nicht beiseiteschieben. Eine gewisse Distanz und ein latentes Misstrauen Österreich und
den Österreichern gegenüber werden wohl immer bleiben.17
16 Vgl. Ebd.
17 Malik, W. Interview mit Vladimir Vertlib [on-line]. Ausblicke 8, Nr. 2, 2003, S. 21 – 23. [Letzter Zugriff: 2010-10-
20]. Abrufbar unter: ‹http://www.scribd.com/doc/27415229/Ausblicke-17›
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Vladimir Vertlib lebte während seines Lebens in vielen verschiedenen Ländern,
deren Sprachen er auch lernen musste. Insgesamt wurde er mit 6 Sprachen
konfrontiert: Russisch, Deutsch, Englisch, Hebräisch, Italienisch und Niederländisch.
In meiner E-Mail fragte ich ihn nach seiner Beziehung zu diesen Sprachen: Russisch
ist seine Muttersprache, aber dank seinem langjährigen Aufenthalt in Österreich und
seinem Schreiben auf Deutsch ist er sprachlich im Deutschen besser. Englisch musste
er lernen, als die Familie eineinhalb Jahre in den USA lebte. Die Vertlibs wurden aus
den USA abgeschoben und mussten daher sehr viel Unangenehmes durchmachen.
Trotzdem ist Vertlibs Beziehung zum Englischen sehr positiv: Ich mag Englisch sehr
und verbinde diese Sprache ganz stark mit meiner Jugendzeit.18
In Israel sprach er
Hebräisch. Diese Sprache vergaß Vertlib aber später, trotzdem hält er sie wegen ihrem
Klang für eine der schönsten Sprachen der Welt.19
Italienisch und Niederländisch
vergaß er später bis auf ein paar Sätze. Dazu lernte er als Erwachsener noch
Französisch.
Von 1984 bis 1989 studierte Vertlib Volkswirtschaftslehre in Wien. Wie kam es
aber dazu, dass ein Volkswirt zum Schriftsteller wurde? Wann war es für ihn klar, dass
er seine Ausbildung als Diplom-Volkswirt an den Nagel hängt:
Klar war es für mich intuitiv schon mit 14 Jahren, seit ich Tagebuch geschrieben
habe. Aber zugetraut habe ich es mir lange Zeit nicht. Den Sprung ins kalte Wasser
habe ich erst mit Mitte/Ende 20 gewagt, nach einem Studium der
Volkswirtschaftlehre, weil ich zunächst nach den Erfahrungen der Unsicherheit in
der Emigration auch auf Drängen meiner Eltern etwas Handfestes erlernen wollte.
Danach habe ich dann noch drei Jahre in einer Versicherung gearbeitet und die
Schriftstellerei nur nebenbei gemacht. Als ich meine Lebensgefährtin kennen lernte
und von Wien nach Salzburg zog, habe ich mir dann einen gewissen Zeitraum
zugestanden, um nur zu schreiben. Und als ich mit dem ersten Buch Erfolg hatte,
war für mich alles entschieden.20
18
E-Mail-Korrespondenz zwischen der Autorin und Vladimir Vertlib vom 4. 4. 2011.
19 Ebd.
20 Bittner, H. Zunächst etwas Handfestes gelernt [on-line]. Neuß-Grevenbroicher Zeitung , 28. Mai 2002. [ Letzter
Zugriff: 2010-10-20]. Abrufbar unter: ‹http://www.ngz-online.de/archiv/neusser_feuilleton/Zunaechst-
etwas-Handfestes-gelernt_aid_228740.html›
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17
Für sein literarisches Werk wurde er wiederholt mit Preisen und Stipendien
ausgezeichnet. 1999 erhielt er den Österreichischen Förderpreis für Literatur. 2001
bekam er den Förderpreis zum Adalbert-von-Chamisso-Preis und den Anton-
Wildgans-Preis. 2006 folgte dann die Dresdner-Poetikdozentur.
In den 90er Jahren zog er aus Wien nach Salzburg um. Über seinen Umzug in
die Provinz spricht Vertlib sehr positiv:
In Salzburg zu leben bedeutet, dass ich mich dem Literaturauftrieb und den vielen
Intrigen in Wien entziehen kann. Das kleine Österreich hat eine große Hauptstadt
mit einer weit zurückreichenden historischen und kulturellen Tradition. Darum ist
Wien oft selbstgenügsam und egozentrisch. Ein Wiener Künstler befindet sich
vermeintlich im Zentrum des Kulturlebens des Landes, meint, er wäre am Nabel
der Welt, verliert aber die Außenperspektive, die man von der Provinz aus hat. In
der österreichischen Provinz bleibt einem ja nichts anderes übrig, als über die
Grenze der eigenen Stadt oder des Bundeslandes hinauszuschauen.21
Von seinem Publikum wird Vertlib häufig als russisch-jüdischer Emigrant, der in
deutscher Sprache schreibt22
, bezeichnet. Er selbst möchte in erster Linie als
österreichischer Schriftsteller wahrgenommen werden23
. Gleichzeitig versteht er sich
auch als jüdischer Autor. Er ist Mitglied der Theodor Kramer Gesellschaft24
und der
jüdischen Gemeinde in Salzburg. Diese Gemeinde zählt etwa 100 Mitglieder, die aktiv
sind. In Österreich gibt es keine russischen Kontingentflüchtlinge, wie es der Fall in
Deutschland ist. Deshalb gibt es auch in Salzburg nur ein paar jüdisch-russische
Familien, die zu dieser Gemeinde gehören. Vertlib selbst ist in der Salzburger
Kultusgemeinde nicht aktiv. Er trat dieser Gemeinde nicht aus religiösen, sondern aus
prinzipiellen Gründen bei. Nach seinen Worten sei er kein besonders religiöser
Mensch.25
Das Judentum hängt aber sehr eng mit vielen seiner Texte und Werke
zusammen.
21 Presser, E. Heimat im Zwischenbereich. Illustrierte Neue Welt, H4/5, 2006, S. 8.
22 Malik, W. Interview mit Vladimir Vertlib [on-line]. Ausblicke 8, Nr. 2, 2003, S. 21 – 23. [Letzter Zugriff: 2010-10-
20]. Abrufbar unter: ‹http://www.scribd.com/doc/27415229/Ausblicke-17›
23 Ebd. 24 Theodor Kramer Gesellschaft – nähere Informationen unter: http://www.theodorkramer.at/ 25
E-Mail-Korrespondenz zwischen der Autorin und Vladimir Vertlib vom 4. 4. 2011
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Wladimir Kaminer wurde am 19. Juli 1967 in Moskau in der Sowjetunion
geboren. Seine Mutter arbeitete als Lehrerin, sein Vater war Betriebswirt von Beruf
und arbeitete bei der sowjetischen Binnenflotte. Zuerst ließ sich Kaminer zum
Toningenieur für Theater und Rundfunk ausbilden, dann folgte das Studium der
Dramaturgie am Theaterinstitut in Moskau. Im Jahre 1990 entschied sich der 23-
jährige Kaminer für die Ausreise in die DDR. Ohne jegliche Kenntnisse der deutschen
Sprache versuchte Kaminer in Berlin Fuß zu fassen, was ihm später sehr gut gelang. In
Berlin arbeitete er als Tontechniker bei einer freien Theatergruppe. Später begann er
an im Berliner Kaffee Burger die sog. Russendisko zu veranstalten, bei der er bis jetzt
als DJ auftritt. Im Jahre 1995 lernte er seine zukünftige Frau Olga kennen. Mit ihren
Kindern Nicole und Sebastian leben sie in Berlin.26
Seit Ende der 90er Jahre schrieb Kaminer Feuilletons und Kolumnen für etliche
deutsche Zeitungen. Kaminer war auch im Rundfunk aktiv – beim Radio MultiKulti
des SFP war er als Moderator tätig und hatte seine eigene Sendung namens Wladimirs
Welt. Im Jahre 2000 erschien sein erster Erzählband Russendisko, der Kaminer auch
weit über die Grenze Deutschlands hinaus bekannt machte. Darauf folgten weitere
Erzählbände und Literaturwerke.27
Im Jahre 2001 gab Kaminer zusammen mit wenig oder überhaupt nicht
bekannten jungen Berliner Autoren einen Sammelband mit dem Titel Frische
Goldjungs28
heraus. Kaminer fand diese Autoren bei verschiedenen
Literaturveranstaltungen oder auf den Vorlesebühnen in Berlin. Er hielt sie für sehr
begabt und wollte ihnen zum Durchbruch verhelfen. Es gelang ihm auch, dass fast alle
Autoren von Frischen Goldjungs inzwischen Verträge bei verschiedenen Verlagen
haben.
26 Stichwort: Kaminer, Wladimir: Leben und Biographie [on-line]. [Letzter Zugriff: 2010-10-20]. Abrufbar unter:
‹http://www.litde.com/autoren/kaminer-wladimir.php›
27 Ebd.
28 Kaminer, W. Hrsg. Frische Goldjungs. München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2001.
Page 19
19
In der deutschen Literaturwelt wird Kaminer oft mit seiner Tätigkeit in Bezug
auf sein russisches Herkunftsland verbunden. Es ist eine logische Konsequenz, da die
meisten Literaturwerke Kaminers die Themen wie Russen in Deutschland oder im
Ausland, Sowjetunion, das heutige Russland usw. behandeln. Dazu trägt auch seine
Tätigkeit bei der Russendisko bei. Oft wird Kaminer als Shootingstar oder Kult-Autor
oder Schootingstar der Berliner Szene bezeichnet.29
Wegen seiner vielfältigen
Aktivitäten wird Kaminer als Schriftsteller, Moderator, DJ oder Clubbesitzer
bezeichnet. Er selbst bezeichnet sich aber als Geschichtenerzähler. Und wie ein
Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sehr trefflich bemerkt: Zwar wechselt
er ständig das Medium, doch eine Konstante bleibt: Was Kaminer auch macht, er
transportiert Geschichten.30
Unter all diesen Bezeichnungen fehlt die Zuordnung als jüdischer Autor. Mit
dieser Bezeichnung wird Kaminer im Unterschied zu Vertlib sehr selten verbunden.
Wenn wir uns aber Kaminers Aktivitäten genauer ansehen, stellen wir fest, dass er
z.B. bei den Jüdischen Kulturwochen am 18. Oktober 2010 in Frankfurt am Main aus
seinem Buch Meine kaukasische Schwiegermutter vorlas.31
Über das Judentum
äußerte sich Kaminer beim Interview für die schweizerische jüdische Zeitung Aufbau,
eine Nachfolgerin der traditionsreichen New Yorker Wochenzeitung Aufbau, die seit
2005 im Züricher Verlag Jüdische Medien AG erscheint. Er sagte, dass er alle
29 Vgl. Ebd.
30
FAZ: Wladimir Kaminer. Der Geschichtenerzähler, 5. 3. 2007 [on-line]. [Letzter Zugriff: 2010-10-20]. Abrufbar
unter:
‹http://www.faz.net/s/Rub2309A3DB4F3C4474B93AA8610A24AE0A/Doc~E564F0C02450A4BC582A52E9A894BFF
0D~ATpl~Ecommon~Scontent.html›
31 Vgl. Jüdische Kulturwochen 2010 in Frankfurt, [on-line]. [Letzter Zugriff: 2010-10-20]. Abrufbar unter: ‹
www.juedischekulturwochen2010-frankfurt.de›
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20
Religionen respektiert, aber dass er keine praktiziert – wie es der Fall vieler
ehemaliger Sowjetbürger ist.32
Auch Kaminer wird gefragt, wo er sich zu Hause fühlt. Auf die Frage, ob er
inzwischen Berlin als seine Heimat betrachten würde, antwortet er:
Ich würde nicht sagen, Berlin, sondern vielmehr die Gegend hier im Prenzlauer
Berg. Wir hatten hier zuerst Wohnungen in besetzten Häusern, das war 1990/91
und es gab eine große Gemeinschaft von vielen Russen, darunter viele Künstler.
Dann sind viele wegen ihren Jobs weg, einige nach West-Berlin, einige nach Köln,
andere nach Skandinavien und eine Zeit lang war ich alleine hier. Jetzt sind wieder
Neue gekommen und von denen kenne ich mittlerweile fast alle.33
2.1 Vertlib und Kaminer: Auf Deutsch schreibende Autoren russisch-
jüdischer Herkunft und ihre unterschiedlichen Lebenswege
In der Einleitung zu dieser Arbeit nannte ich verschiedene Gründe, warum ich
über die beiden Autoren schreibe und welche Erkenntnisse ihr Vergleich zu
versprechen schien. Kurz ging ich auch auf die Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten
dieser Autoren ein. In diesem Abschnitt meiner Arbeit möchte ich mir diese
Gemeinsamkeiten detaillierter ansehen und in ihnen auch mögliche Unterschiede
aufzeigen, um einen plastischeren Vergleich der Lebenswege beider Autoren zu
gewinnen.
Wie erwähnt, wurden die beiden Autoren in der Sowjetunion geboren. Vertlib
emigrierte jedoch mit seinen Eltern im Alter von nicht einmal 5 Jahren. Seitdem lebte
er für längere Zeit nicht mehr in der Sowjetunion oder in Russland. Sicher wurde er
32 „Ich trage einen tollen Anzug und bin auch noch nicht Deutscher“ Interview mit Wladimir Kaminer.
Aufbau, Das jüdische Monatzsmagazin, April 2003.
33 Buhre, J.; Bergamini, J. Wladimir Kaminer. Fiction gibt es für mich nicht. 6. 7. 2001 [on-line]. [Letzter
Zugriff: 2010-10-20]. Abrufbar unter: ‹http://www.planet-interview.de/wladimir-kaminer-06072001.html›
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21
nicht von der russischen Kultur isoliert. Er lernte sie mittels seiner Eltern kennen.
Dagegen lebte Kaminer in der Sowjetunion bis zu seinem 23. Lebensjahr.
Beide Autoren emigrierten und bei der Emigration beider spielte ihre jüdische
Herkunft eine große Rolle. Vertlibs Eltern entschieden sich zur Emigration noch
während der diktatorischen Breschnew-Jahre, weil sie sich in der Sowjetunion wegen
ihrer jüdischen Herkunft diskriminiert fühlten. Kaminer konnte dank seiner jüdischen
Herkunft überhaupt aus der Sowjetunion ausreisen und bekam die Staatsangehörigkeit
der ehemaligen DDR. Kaminer entschied sich selber für die Emigration, für Vertlib
entschieden seine Eltern.
Während Vladimir Vertlib oft das Judentum thematisiert, ist es bei Wladimir
Kaminer nicht leicht, sein Bekenntnis oder wenigstens seine Einstellung zum
Judentum zu finden. Vereinzelt sind jedoch Hinweise auf das Judentum zu finden –
wie z.B. seine Teilnahme an den Jüdischen Kulturwochen in Frankfurt am Main (siehe
oben) oder ein paar Erwähnungen in seinem literarischen Werk (Russendisko,
Militärmusik) oder sein Interview für das jüdische Monatsmagazin Aufbau, in dem er
auch die jüdische Religiosität thematisiert.
Beide Autoren leben in einem deutschsprachigen Land. Vertlib kam im Jahre
1981 nach Wien. Österreich oder Wien gelten in Vorstellungen von Vielen als Orte,
wo man Ausländer nicht besonders herzlich begrüßt. Selbst Vertlib bestätigt diese
Vorstellungen, indem er sagt, dass er als Zuwandererkind in dieser Stadt nicht nur
schöne Sachen erlebte (siehe Fußnote 17). Kaminer kam in der Revolutionszeit nach
Berlin, das für eine multikulturelle Stadt gehalten wird. Gerade in einer solchen
multikulturellen Stadt kann eine Institution wie die Russendisko sehr populär und
erfolgreich werden.
Die Muttersprache beider Autoren ist Russisch, aber beide verfassen ihre Werke
auf Deutsch. Vertlib lebte schon mehrmals während seiner Kindheit in Österreich,
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22
endgültig übersiedelte die Familie Vertlib nach Österreich, als ihr Sohn Vladimir 15
Jahre alt war. Vertlib spricht eine österreichische Variante des Deutschen und man
kann bei ihm keinen russischen Akzent hören. Er selbst sagt, dass er inzwischen
Deutsch besser beherrscht als Russisch.34
Kaminer kam nach Deutschland, als er 23
Jahre alt war. Deutsch lernte er in einem Intensivsprachkurs, der 25 Wochen dauerte.35
Wie die You-Tube-Aufnahmen der Interviews mit Kaminer zeigen, spricht er
heutzutage ein einwandfreies Deutsch mit einem russischen Akzent. Man könnte sich
aber einen DJ auf der Russendisko ohne russischen Akzent kaum vorstellen.
Beide Autoren nahmen zusammen an einem Symposium in Japan teil. Dieses
Symposium wurde zum Thema Identität, Migration und Nationalität36
veranstaltet und
fand von 7. bis 8. November 2009 statt. Bei diesem Symposium diskutierten Vertlib
und Kaminer über ihre Schriftstellerexistenz in Österreich bzw. Deutschland und über
ihre Emigration und Leben in Deutschland und in Österreich.
Zum Schluss dieses Kapitels möchte ich noch auf die Schreibweise der
Vornamen beider Autoren eingehen. Obwohl sich im Russischen um denselben
Vornamen handelt, werden der Vorname Vertlibs mit V und der Vorname
von Kaminer mit W fast ausnahmslos in allen ihren Werken, Interviews und
Rezensionen geschrieben. Die Schreibweise von Wladimir mit W entspricht der
Duden-Transkription, während die Schreibweise mit V in der wissenschaftlichen und
englisch-amerikanischen Transkription erscheint.37
Dies mag mit dem
34 Vgl. Malik, W. Interview mit Vladimir Vertlib [on-line]. Ausblicke 8, Nr. 2, 2003, S. 21 – 23. [Letzter Zugriff: 2010-
10-20]. Abrufbar unter: ‹http://www.scribd.com/doc/27415229/Ausblicke-17›
35 FAZ: Wladimir Kaminer. Der Geschichtenerzähler, 5. 3. 2007 [on-line]. [Letzter Zugriff: 2010-10-20]. Abrufbar
unter:
‹http://www.faz.net/s/Rub2309A3DB4F3C4474B93AA8610A24AE0A/Doc~E564F0C02450A4BC582A52E
9A894BFF0D~ATpl~Ecommon~Scontent.html›
36 Symposium Identität, Migration, Transnationalität [on-line]. [Letzter Zugriff: 2011-01-10]. Abrufbar unter:
‹http://www.hum.nagoya-cu.ac.jp/~tsuchiya/sympo/sym20091107.html›
37 Vgl. Russisch online lernen und üben. [Letzter Zugriff: 2011-04-11]. Abrufbar unter: ‹http://www.russian-
online.net/de_start/beginner/lesen/translit.php›
Page 23
23
Emigrationsprozess beider Autoren zusammenhängen. Kaminer emigrierte aus der
Sowjetunion direkt nach Deutschland, wo sein Vorname auf deutsche Weise
geschrieben wurde. Vertlib lebte in seiner Kindheit in verschiedenen Ländern, wo eine
andere Transkription zum Kyrillischen verwendet wurde.
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24
3. Gemeinsame Themen bei V. Vertlib und W. Kaminer
In diesem Kapitel gehe ich auf die Themen ein, die in den Werken Vertlibs und
Kaminers erscheinen und gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. Ich versuche zu
beschreiben, wie ähnlich oder auch wie unterschiedlich sich die beiden Autoren mit
diesen Themen befassen.
3.1. Schriftsteller werden, das Schreiben als Beruf
Vladimir Vertlib wurde im Jahre 2006 zur Dresdner Poetikdozentur eingeladen.
Aus dieser Poetikdozentur entstanden fünf Vorlesungen, die im Jahre 2007 vom
Universitätsverlag und Buchhandel Eckhard Richter in Dresden als Band mit dem
Titel Spiegel im fremden Wort herausgegeben wurden. In den Vorlesungen widmet
sich Vertlib literarisch-theoretischen Themen und schildert unter anderem auch seinen
schriftstellerischen Werdegang. Es handelt sich also um wissenschaftliche Texte ohne
Fiktion. Bei Kaminer kann man das Thema Schriftsteller werden und das Schreiben
als Beruf in seinen Büchern Militärmusik (München, 2001), Mein deutsches
Dschungelbuch (München, 2003) und Karaoke (München, 2005) finden. Hier handelt
es sich um Erzählbände bzw. um einen Roman. Auch wenn Kaminer behauptet, dass
seine Geschichten wirklich passiert seien, sagt er gleichzeitig, dass er das Geschehene
beim Schreiben gelegentlich leicht abwandelt. Deshalb kann man diese Texte nicht als
rein autobiographisch auffassen. Ich möchte also darauf hinweisen, dass die Formen
der Texte, die sich den Themen Schriftsteller werden und Schreiben als Beruf widmen,
bei den Autoren unterschiedlich sind, jedoch ihr Inhalt - meiner Meinung nach - für
einen Vergleich durchaus geeignet ist.
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25
3.1.1 Schriftsteller werden bei Vertlib
Vladimir Vertlib begann, ein Tagebuch zu führen, als er 14 Jahre alt war. Zu
dieser Zeit versuchte die Familie Vertlib, nach Amerika auszuwandern und dort die
notwendigen Genehmigungen zu bekommen. Er schrieb einfach alles auf, was er nicht
vergessen wollte, die Phantasie setzte sich aber beim Schreiben der Tagebücher durch:
Die Wirklichkeit erschien mir oft als karge und trockene Oberfläche dessen, was
ich als eigentliche Wahrheit hinter der Wirklichkeit zu erkennen glaubte. Es war
nicht allzu schwer, zu dieser Wahrheit vorzustoßen. Ich brauchte sie nur
erfinden[…] Phantasie war eine ernste Angelegenheit. Manchmal versuchte ich
mir vorzustellen, was geschehen wäre, wenn ich in bestimmten Situationen anders
reagiert hätte. Dann fügte ich Traumsequenzen oder kleine Zusatzerzählungen
ein.38
Viel später übersetzte Vertlib diese Tagebücher aus dem Russischen, seiner
Muttersprache, ins Deutsche. Bei dieser Übersetzung veränderte bzw. ergänzte er
einige Teile oder entfernte sie gänzlich. So wurde die Basis für sein erstes Buch
Abschiebung (Salzburg/Wien, 1995) geschaffen.
3.1.2 Schriftstellerwerden bei Kaminer
Wladimir Kaminer geht in seinem belletristischen Werk nur selten auf seine
literarischen Anfänge ein. Dennoch kann man bei ihm einige Bearbeitungen des
Themas Schriftsteller werden finden. Im Roman Militärmusik erzählt der Ich-Erzähler
Wladimir über seine Kindheit und Jugend in der Sowjetunion. Im ersten Kapitel
schildert er seine ersten „literarischen“ Tätigkeiten. Als Kind erzählte er gerne. Die
meisten Geschichten, die er erzählte, waren aber erfunden: Ich erzählte und erzählte,
der eine war begeistert, den anderen machten meine Geschichten wütend, immerhin –
alle hörten aufmerksam zu. Ich wurde zum größten Spinner der Schule.39
Bei einem
38
Vertlib, V. Der subversive Mut zur Naivität. In Spiegel im fremden Wort. Dresden: Thelem 2008, S. 23.
39 Kaminer, W. Militärmusik. München: Manhattan, 2001, S. 16.
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26
literarischen Schulwettbewerb sollte er Majakowskis Gedicht vortragen. Das Gedicht,
das er vor einer Kommission vortrug, war aber von ihm selbst erfunden. Die
Kommission erkannte es leider.
In der Erzählung Kaninchen im Buch Salve Papa! beantwortet der Ich-Erzähler
die Frage, was aus einem normalen Menschen einen Schriftsteller macht. In dieser
Erzählung schreibt er, dass er vom Arbeitsamt einen sehr langweiligen Job bei einer
Theaterwerkstatt bekam. Am Ende jedes Tages sollte er einen Tagesbericht verfassen.
Er schrieb immer eine offizielle Version für das Arbeitsamt und eine für das
Vergnügen seiner Kollegen. An das Schreiben von Tagesberichten hat sich der Ich-
Erzähler Wladimir aber sehr gewöhnt:
Die Theaterwerkstatt wurde vor einem Jahrzehnt geschlossen[…] Trotzdem
verfasse ich weiter meine täglichen Dienstberichte. Ich kann einfach nicht damit
aufhören. Aus heutiger Sicht würde ich also behaupten, das Arbeitsamt war der
Auslöser für meine literarische Karriere.40
Auf diese Weise stellt Kaminer in seinen Erzählungen seine literarischen
Anfänge dar.
3.1.3 Gründe zum Schreiben
Beide Autoren befassten sich auch mit der Frage, warum sie eigentlich
schreiben. Im Spiegel im fremden Wort nennt Vladimir Vertlib gleich mehrere Gründe:
Natürlich: auch ich schreibe, weil ich schreiben muss, hoffe bei jedem Buch auf
höhere Verkaufszahlen, bin stolz, wenn ich als Schriftsteller gelobt werde, und
freue mich sehr über Preisgelder und Stipendien. Das allein wäre aber kein
ausreichender Anreiz, den permanenten Ausnahmezustand eines Lebens als
freiberuflicher Schriftsteller auf mich zu nehmen. Eine vielleicht naive, aber nie zur
Gänze aufgegebene Hoffnung, mit dem eigenen Werk (trotz allem) etwas zu
verändern oder zumindest aufzuzeigen, ist durchaus hilfreich.41
40
Kaminer, W. Salve Papa! München: Manhattan, 2008, S. 151.
41 Vertlib, V. Spiegel im fremden Wort. Dresden: Thelem 2008, S. 121.
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27
Einen Grund zum Schreiben, den ich bei Kaminer in seinem Erzählungsband
Karaoke gefunden habe, ist zwar vielleicht nicht so ernst gemeint, aber beantwortet
die Frage auch. Er schreibt seine Geschichten auf, um sich besser an Dinge in seinem
Leben zu erinnern: Lange Zeit nutzte ich meine Geschichten als eine Art Denkzettel
fürs Leben, zum Beispiel um mich an Orte zu erinnern, die ich besucht hatte.42
3.1.4 Lesungen
Als Schriftsteller nehmen sie beide an verschiedenen Lesungen in Deutschland,
Österreich, aber auch im Ausland teil. Bei diesen Veranstaltungen treffen sie sich mit
ihren Lesern und können deren Fragen beantworten. Im Spiegel im fremden Wort
schildert Vertlib seine zweite Lesung, die in Salzburg im Jahre 1995 stattfand. Dort
beschreibt er seine Nervosität und Angst vor den Fragen aus dem Publikum:
Schließlich zeigte ein junger Mann in der hinteren Reihe auf. Er schaute nicht
mich, sondern meine Lektorin an und fragte in einer Mischung aus Hochsprache
und Dialekt: Warum spricht denn der so gut Deutsch? Das ist ja nicht seine
Muttersprache, aber er hat überhaupt keinen Akzent? Wieso ist es so?43
Auch Kaminer beantwortet Fragen auf Lesungen, die mit seiner nicht-
deutschen Herkunft zusammenhängen:“Wie haben Sie unsere Sprache gelernt“?,
wunderte sich das Publikum. ʺHaben Sie nicht Heimweh“?, „Träumen sie auf Deutsch
oder auf Russisch?“, „Wie gefällt es Ihnen hier bei uns in Deutschland?“44
Die
Lesungen in verschiedenen deutschen Städten inspirierten Kaminer dazu, ein Buch
über seine Besuche in der deutschen Provinz zu schreiben. Dieses Werk mit dem Titel
Mein deutsches Dschungelbuch erschien im Jahre 2003.
42
Kaminer, W. Karaoke. München: Manhattan, 2005, S. 124. 43
Vertlib, V. Spiegel im fremden Wort. Dresden: Thelem 2008, S. 121.
44
Kaminer, W. Mein deutsches Dschungelbuch. München: Manhattan, 2003, S. 11.
Page 28
28
3.2 Deutsch als Zweitsprache (Fremdsprache)
Die Tatsache, dass Vertlib und Kaminer auf Deutsch (also nicht in ihrer
Muttersprache) schreiben, beschäftigt nicht nur ihre Leser und ihr Publikum bei den
Lesungen, sondern auch sie selbst. Die Frage, die Vertlib bei seiner zweiten Lesung
gestellt wurde, beantwortet er mit einer erfundenen Geschichte. Er sagte, dass er
Deutsch noch vor dem Stimmenbruch erlernt hatte und dass man eine Zweitsprache –
wenn man sie vor Beginn der Pubertät erlerne -, fehlerfrei und akzentlos spreche.
Wissenschaftlich belegt ist diese Theorie Vertlibs aber leider nicht.
Im Spiegel im fremden Wort erzählt Vertlib über seinen Vater und dessen
Beziehung zur deutschen Sprache, die anfangs sehr negativ war, weil er sie mit der
Nazi-Zeit verbunden hatte. Außerdem wollten die Vertlibs ursprünglich nicht in
Österreich bleiben und deshalb sah der Vater keinen Grund dafür, diese Sprache zu
lernen, die für ihn hart klang. Mit zunehmendem Alter mäßigte sich die einst radikal
ablehnende Haltung des Vaters. Vertlib selbst spricht über den sprachlichen Einfluss
seines Vaters folgendermaßen:
Er war stolz darauf, dass ich Schriftsteller geworden war. Dass ich Deutsch
schreibe, nahm er in Kauf. Doch seine ambivalente Haltung Fremdsprachen – vor
allem dem Deutschen – gegenüber war auch für meine Entwicklung prägend. Der
lange Weg, den ich als Zuwanderer zu meiner neuen Sprache gehen musste, wurde
dadurch noch beschwerlicher.45
Seit dieser Zeit veränderte sich Vertlibs Beziehung zum Deutschen, aber auch
zum Russischen. Er führt ein schönes Beispiel am Wort Hund, auf Russisch Sobaka
ein:
Für mich hat das russische Wort Sobaka einen unmittelbaren, einen hündischen
Klang. Sobaka riecht nach Hund[… ]Höre ich dieses Wort oder denke ich nur
daran, kommt es mir vor, als berühre ich das zottelige Fell des Tieres. Es gibt
keine Distanz zwischen dem Wort und dem, was es bezeichnet. Im Deutschen
hingegen hat sich für mich der Begriff vom Lebewesen emanzipiert. Er lässt den
Schatten eines Hundes entstehen oder- noch treffender – einen Hund an sich[…]
45
Vertlib, V. Spiegel im fremden Wort. Dresden: Thelem 2008, S. 121.
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29
Hund hat die Tendenz mit anderen Wörtern, so zum Beispiel mit Mund und noch
mehr mit Schlund oder rund, eine Klangpartnerschaft einzugehen und dadurch die
Gedanken schweifen zu lassen.46
Vertlibs erste Schreibversuche waren auf Russisch: Im Deutschen hatten die
Worte eine Bedeutung, im Russischen, meiner Muttersprache, einen tieferen Sinn.47
Dann aber folgten die Werke auf Deutsch. Die Tatsache, dass er nicht in seiner
Muttersprache schreibt, sieht er als Vorteil. Wenn man über Ausdrücke in der Sprache
nachdenken muss und nicht gleich intuitiv weiß, ob sie passend sind, gewinnt man
eine gewisse Distanz. Eine solche Distanz kann für das Schreiben Verltibs Meinung
nach sehr positiv sein, weil sie die Worte in einen anderen Kontext versetzen oder
ihnen eine veränderte Bedeutung geben kann.
Wladimir Kaminer erlernte Deutsch erst als Erwachsener, nachdem er in
Berlin angekommen war. In seinen Erzählungen widmet er sich also auch dem Thema
Deutsch lernen. Im Erzählband Russendisko (München, 2000) kann man eine
Erzählung mit dem Titel Deutschunterricht finden. In dieser Erzählung macht sich
Kaminer über die deutschen Lehrbücher lustig. Eine andere Erzählung in diesem Buch
mit dem Titel Sprachtest schildert auf amüsante Weise Versuche vom Vater des Ich-
Erzählers, die deutsche Einbürgerung zu bekommen, für die auch das Bestehen des
deutschen Sprachtests eine Vorbedingung ist.
In der Erzählung Deutsch für Anfänger im Erzählband Ich mache mir Sorgen,
Mama schildert Kaminer Lesungen an deutschen Schulen. Auch die Schüler fragten
den Hauptprotagonisten, warum er auf Deutsch schreibt und ob er schon in der
Sowjetunion Deutsch lernte:
„Nein, ich habe Deutsch nicht in der Schule gelernt, sondern nur hier, aus Not“,
erkläre ich. Als Schriftsteller und Journalist war ich an einem großen
Lesepublikum interessiert, habe aber den Übersetzern immer misstraut.48
46
Ebd. S. 55. 47
Ebd. S. 58. 48
Kaminer, W. Ich mache mir Sorgen, Mama. München: Manhattan, 2004, S. 11-12.
Page 30
30
Er fügt noch hinzu, was für ihn die Sprache bedeutet: Ein Sprachkünstler
bin ich nie gewesen, für mich ist die Sprache nur ein Werkzeug, ein Hammer, der mir
hilft, Verständigungsbrücken zu anderen zu schlagen.49
In dieser Erzählung spricht der Ich-Erzähler über seinen ersten Kontakt
mit der deutschen Sprache. Als er die Schule in der Sowjetunion besuchte, musste er
sich für eine der Fremdsprachen entscheiden. Englisch und Deutsch standen zur
Auswahl; fast alle Kinder wollten natürlich Englisch lernen. Nur diejenigen, die
Verhaltensprobleme oder schlechte Noten hatten, wurden in den Deutschunterricht
versetzt. Unser Erzähler gehörte nicht zu dieser Gruppe und konnte deshalb Englisch
lernen. Als er in Berlin ankam, war für ihn der einzige Kommunikationsvermittler zu
den Deutschen ein russisch-deutscher Sprachführer. Er schrieb sich in einen
Deutschkurs an der Humboldt-Universität ein und ist seitdem viel mit Deutsch in
Kontakt. Die deutsche Sprache beschreibt er folgendermaßen:
Sie ist vielmehr eine Art Lego-Baukasten, in dem alle Teile zueinander passen. Was
man daraus baut, ist jedem selbst überlassen. Neulich zum Beispiel zeigte meine
Schwiegermutter, die kein Deutsch kann, unserer siebenjährigen Tochter ein Foto
von mir mit der Bildunterschrift Schriftsteller Kaminer und fragte sie, was da steht.
„Ist doch klar“, sagte Nicole, „Schriftsteller – das ist ein Teller mit Schrift.“
Meine Schwiegermutter guckte sich daraufhin das Foto noch einmal genauer an,
konnte aber nirgendwo einen Teller entdecken. Deutsch bleibt nach wie vor
geheimnisvoll.50
3.3 Judentum
Wie ich schon im Kapitel 2 erwähnte, hängen viele Werke Verltibs mit dem
Judentum zusammen. Die jüdische Thematik bei Vertlib kann man in mehrere Aspekte
aufteilen, z.B. Leben der Juden in der Sowjetunion, Emigration der russischen Juden,
Leben der Juden im heutigen Deutschland. Kaminer geht auf das Thema Judentum
49
Ebd. S. 12.
50 Ebd. S. 16.
Page 31
31
nicht so oft ein, einige Bearbeitungen dieses Themas können wir jedoch auch bei ihm
finden (in den Werken Russendisko, Militärmusik). Bei Kaminer geht es hauptsächlich
um Themen wie Juden in der Sowjetunion und Emigration der russischen Juden. In
diesem Absatz konzentriere ich mich darauf, wie ähnlich oder wie unterschiedlich
Vertlib und Kaminer mit diesem Thema umgehen.
3.3.1 Leben der Juden in der Sowjetunion
In Vertlibs Roman Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur (München,
2003) wird das Leben der 92-jährigen russischen Jüdin Rosa Masur geschildert, die in
diesem Alter mit ihrer Familie nach Gigricht in Deutschland emigrierte. Die Stadt
bereitet zu ihrem Jubiläum ein Buch vor, in dem auch Rosas Lebensgeschichte
erscheinen soll. Rosas Erzählung beginnt mit ihrer Kindheit im weißrussischen Dorf
Witschi. In diesem Dorf lebte die jüdische Minderheit zusammen mit den christlichen
weißrussischen Bewohnern. Dieses Zusammenleben war in den ruhigen Zeiten ganz
friedlich, auch wenn die Weißrussen viele antisemitische Vorurteile gegen die Juden
hatten. In den schwierigeren Zeiten galten die Juden als Sündenböcke für alles Böse.
Rosa spricht über die Angst ihrer Eltern vor Pogromen und über die äußerst
schwierige Lage für die russischen Juden im Ersten Weltkrieg.
Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg veränderte sich die Situation für
Juden. Sie wurden im neuen Staat gleichberechtigt und konnten sogar in leitenden
Positionen arbeiten. Rosa entschied sich für ein Jurastudium. Zu diesem Studiengang
wurde sie aber nicht zugelassen, da ihr Vater für einen Großgrundbesitzer in Witschi
gearbeitet hatte und mit ihm befreundet gewesen war. Zuerst arbeitete Rosa in einer
Fabrik, um Anspruch auf ein Studienstipendium zu haben, dann studierte sie Deutsche
Philologie und nach dem Studium wurde sie als Übersetzerin eingestellt. Sie heiratete
Naum und bekam einen Sohn und eine Tochter. Rosa und Naum verzichteten auf die
Religiosität und wollten wie normale sowjetische Bürger leben.
Page 32
32
Während des Zweiten Weltkriegs musste Naum einrücken. Rosa blieb mit den
Kindern alleine. Vom Staat wurde sie beauftragt, eine Gruppe der Kinder auf das Land
zu begleiten. Ihre eigenen Kinder fuhren mit. Bei der Fahrt drohte die Gefahr, von den
deutschen Truppen erwischt zu werden, und deshalb ließen sich Rosa und ihre Kinder
russische Namen statt ihrer jüdischen einfallen. Die deutschen Truppen kamen zwar
nicht, aber wegen der Bombardierung und Epidemie mussten sie nach Leningrad
zurückkehren. In Leningrad erlebte Rosa die Blockade und den großen Hunger.
Einmal kam ihre Tochter Schelja lange nicht mehr nach Hause, Rosa geriet in Panik,
weil sie befürchtete, dass Schelja den Menschenfressern zum Opfer gefallen war.
Später fand Rosa sie wieder.
Nach dem Krieg war der Antisemitismus unter den Menschen in der
Sowjetunion sehr deutlich spürbar. Viele wurden wegen angeblichem
Kosmopolitismus verhaftet oder aus leitenden Positionen entlassen. Kostik, Rosas
Sohn, wollte Fluggerättechnik studieren. Er bewarb sich an mehreren Universitäten
und obwohl sein Ergebnis bei den Aufnahmeprüfungen sehr gut war, bekam er wegen
seiner jüdischen Herkunft, die man an seinem Namen Schwarz ablesen konnte, keinen
Studienplatz. Letztendlich durfte er in Tallin studieren, erkrankte jedoch dort und
musste zurück zur Familie nach Leningrad. Rosa bemühte sich, in Leningrad einen
Studienplatz für ihren Sohn zu finden, was zuerst hoffnungslos schien, aber
letztendlich gelang. In einem deutschen Aufsatz machte Kostik einen Schreibfehler,
der zur Verhaftung führte. Er schrieb STALINGAD statt STALINGRAD, wobei GAD
im Russischen im übertragenen Sinne Bösewicht bedeutet. Die verzweifelte Rosa
wandte sich sogar an Stalin, der überraschenderweise reagierte, Kostiks Freilassung
veranlasste und ihm die Fortsetzung des Studiums ermöglichte. Kostik heiratete Frieda
und sie hatten einen Sohn. Der Sohn emigrierte nach der Revolution nach Deutschland
und machte Karriere, seine restliche Familie folgte ihm.
Dieser Roman erzählt am Beispiel einer Frau die Geschichte der Juden in der
Sowjetunion. Vertlib lässt Rosa ohne Pathos sprechen, auch wenn sie über tragische
Momente erzählt. Obwohl der Roman ernste und sehr traurige Aspekte des Lebens der
Page 33
33
jüdischen Bevölkerung in der Sowjetunion beschreibt, lassen sich in diesem Werk
auch humorvolle Momente finden.
In einem ganz anderen Ton erzählt Kaminer über die Aspekte des Lebens
seines Haupthelden Wladimir in der Sowjetunion, die mit dem Judentum
zusammenhängen. In seinem Roman Militärmusik schildert der Ich-Erzähler, wie sein
Vater nach Moskau kam. Der Vater stammt aus einem ukrainischen Dorf, wo er in
einer Konservenfabrik arbeitete. Nach ein paar Jahren wollte er ein Studium in
Moskau aufnehmen. Dafür brauchte er ein Gutachten von seinem Chef, der ihn aber
zur Gründung einer Fabriktheatergruppe zwang. Nach ein paar Jahren durfte er nach
Moskau ausreisen, wo er Betriebswirtschaft studierte und bald zum stellvertretenden
Leiter der Abteilung Planwesen wurde: eine seltene Kariere für einen parteilosen
Jungspezialisten jüdischer Abstammung51
, so beendet Kaminer diese Geschichte.
In Kaminers Militärmusik macht der Hauptprotagonist Wladimir ein Praktikum beim
Majakovskij-Theater. Als Strafe musste er bei Choreograf Stein arbeiten. Stein war
Jude, hatte keine Angst, seine kritische Meinung zu äußern, und dafür hatte er einen
eigenen KGB-Mann, der ihn ständig kontrollierte. Das Theaterensemble bereitete das
Politspiel In Chile regnet es vor. Stein und der junge Praktikant beobachteten die
Premiere dieses Stückes von einer Lichtbrücke. Stein stand plötzlich auf und begann,
auf das Publikum unten zu urinieren. Das Kultusministerium wollte die beiden einer
zionistischen Verschwörung bezichtigen, weil sie Juden waren. Der Theaterdirektor
setzte sich für beide ein und Stein wurde „nur“ aus dem Theater entlassen. Auch
weiter verhielt sich Wladimir nicht wie ein richtiger sowjetischer Bürger:
Obwohl jung, brachte ich es schnell fertig, alles Negative, was ein Bürger der
Sowjetunion nur anstellen konnte, zu akkumulieren. Ich war kein richtiger Russe,
weil in meinem Pass Jude stand, nicht Komsomolze, ein wenig Hippie und ein
passiver Dissident. Ich trank Alkohol mit Unbekannten und versuchte, wenn sich
die Möglichkeit ergab, schwarz Geld zu verdienen. Wie viele meiner Freunde hatte
auch ich mehrere Auseinandersetzungen mit Organen des Ordnungsdienstes, und
51
Kaminer, W. Militärmusik. München: Manhattan, 2001, S. 23.
Page 34
34
in dem so genannten Schwarzen Buch der Jugendabteilug des KGB war ich auch
registriert. Alles in allem: kein schlechter Beginn.52
In diesem Buch beschreibt Kaminer weitere Arbeitserfahrungen des Ich-
Erzählers Wladimir. Er arbeitete beim Kulturhaus in Moskau. Eine Volksinitiative
wollte sich bei ihnen einen Saal mieten, um dort Vorlesungen zu organisieren. Von
seinem Leiter wurde er beauftragt, alles aufzunehmen, was im Saal gesagt wurde. Der
erste Vortrag dieser Initiative hieß Die unwiderstehliche Schönheit des Baikal-Sees53
,
der sich sehr bald zu einer antisemitischen Rede des Volksinitiativevorsitzenden
entwickelte. Er behauptete, dass die Juden - von ihm als Vorboten des weißen Zions
bezeichnet - das Land ins Verderben stürzen, insbesondere die schöne Natur am
Baikal-See. Deshalb sollte eine neue Kirche am Baikal-See entstehen. Der Ich-
Erzähler war die ganze Zeit dabei: „Gut, dass sie meinen Nachnamen nicht wissen“,
dachte ich und winkte den Verrückten freundlich mit der Hand.54
Es folgten weitere
Vorlesungen dieser Initiative, bis sich jemand aus der Leitung die Tonbänder anhörte.
Dann wurden alle Veranstaltungen der Initiative verboten.
3.3.2 Emigration der sowjetischen Juden
Das weitere gemeinsame Thema beider Autoren stellt die Emigration der
sowjetischen Juden dar. Die Emigration einer jüdischen Familie aus der Sowjetunion
schildert Vertlib in zwei seiner Werke – Abschiebung (Salzburg/Wien, 1995) und
Zwischenstationen (Wien, 1999). In Zwischenstationen erzählt ein Mann über seine
Emigration in den 70er Jahren aus der Sowjetunion nach Israel, Österreich, Holland,
wieder nach Israel, Italien, in die USA und nach Österreich. Der Vater dieses Jungen
war ein aktiver Zionist in der Sowjetunion, weshalb Israel zur ersten Station dieser
Familie wurde. Die Eltern waren aber vom Leben in Israel enttäuscht und
52
Ebd. S. 54.
53 Ebd. S. 87.
54 Ebd. S. 89.
Page 35
35
entschlossen, nach Österreich auszuwandern, wo sie jedoch oft mit Antisemitismus
konfrontiert wurden. Aus diesem Grund wollten sie ihr Glück in den Niederlanden
finden, wo sie wiederum keine Aufenthaltserlaubnis erhielten. So kehrten sie nach
Israel zurück. Zu dieser Zeit kam es hier oft zu Bombenangriffen; so war Todesangst
an der Tagesordnung. Aufgrund dieser gefährlichen Lage wanderte die Familie
zunächst nach Italien und schließlich in die USA aus. In den USA durften sie aber
auch nicht bleiben und kehrten nach Wien zurück. Im letzten Kapitel ist der Erzähler
ein erwachsener Mann, der gerade den Entschluss fasst, aus Wien zu seiner
Lebensgefährtin nach Salzburg umzuziehen. Die Eltern tobten wegen dieser
Entscheidung: Vater setzte nach, indem er darauf hinwies, dass ich Jude sei. Es wäre
schon schwierig genug, im antisemitischen Wien zu leben. Aber die österreichische
Provinz sei noch chauvinistischer als die Hauptstadt.55
Aber der junge Mann gab sein
Vorhaben nicht auf und übersiedelte in die österreichische Provinz.
In diesem Roman werden verschiedene Aspekte der Emigration geschildert: die
Bemühungen der Eltern (hauptsächlich des Vaters), für ihren Sohn das ideale Land für
ein Leben ohne Antisemitismus und mit vielen Möglichkeiten zu finden, die
Verzweiflung des Sohnes, der sich immer an das neue Land gewöhnen musste, und die
unterschiedliche Herangehensweise der ausländischen Behörden zu Emigranten im
jeweiligen Land.
In der Erzählung Abschiebung begegnet der Leser einem russisch-jüdischen
Jungen, der mit seinen Eltern in den USA auf die Aufenthaltserlaubnis wartet. Aus
der Sicht dieses Jungen erfährt man über die ganze Prozedur. Die amerikanischen
Beamten werden hier sehr kritisch dargestellt – als Menschen, welche die Emigranten
als Last betrachten, mit vielen Vorurteilen und Hass. Die Familie bekam die nötige
Erlaubnis nicht und wurde nach Österreich abgeschoben, die ganze Abschiebung
geschah unter für die Familie äußerst demütigenden Bedingungen.
55
Vertlib, V. Zwischenstationen. München: DTV, 2009, S. 292.
Page 36
36
Wladimir Kaminer geht auf die jüdische Emigration Anfang der 90er Jahre in
seinen Erzählungen und Romanen ein, indem er sich von seinen eigenen Erfahrungen
mit der Emigration inspirieren lässt. In der Erzählung Russen in Berlin im Erzählband
Russendisko beschreibt der Ich-Erzähler Wladimir, wie er von seinem Onkel erfuhr,
dass russische Juden in die DDR ausreisen dürfen. Zum ersten Mal in der Geschichte
der Sowjetunion waren die russischen Juden froh, dass sie in ihrem Pass als Juden
bezeichnet waren, obwohl es früher für sie ein Hindernis war. Wladimir erinnert sich
in dieser Erzählung daran, dass seinem Vater aufgrund seiner jüdischen Herkunft die
Aufnahme in die Partei verweigert wurde. Nun war die Situation völlig anders. Viele
täuschten sogar eine jüdische Herkunft vor. In Berlin am Polizeipräsidium bekam er
die ostdeutschen Dokumente und zog ins Wohnheim in Marzahn ein. Später ging
dieser Prozess nicht mehr so schnell, nach der Wiedervereinigung wurden die neuen
jüdischen Einwohner in alle Bundesländer verteilt, überall waren die Regeln für die
Einreise etwas anders:
Wir bekamen die wildesten Geschichten in unserem gemütlichen
Marzahnwohnheim zu hören. In Köln zum Beispiel wurde der Rabbiner der
Synagoge beauftragt, durch eine Prüfung festzustellen, wie jüdisch diese neuen
Juden wirklich waren. Ohne ein von ihm unterschriebenes Zeugnis lief gar nichts.
Der Rebbe befragte eine Dame, was Juden zu Ostern essen. „Gurken“, sagte die
Dame, „Gurken und Osterkuchen“. „Wie kommen Sie denn auf Gurken?“ regte
sich der Rebbe auf. „Ach ja, ich weiß jetzt, was Sie meinen“, strahlte die Dame,
„wir Juden essen zu Ostern Matze.“ „Na gut, wenn man es ganz genau nimmt,
essen die Juden das ganze Jahr über Matze und auch mal zu Ostern. Aber wissen
Sie überhaupt, was Matze ist?“ fragte der Rebbe. „Aber sicher doch“, freute sich
die Frau, „das sind doch die Kekse, die nach altem Rezept aus dem Blut von
Kleinkindern gebacken werden.56
3.3.3 Leben der Juden im heutigen Deutschland
Vladimir Vertlib befasst sich auch mit der Situation der deutschen jüdischen
Gemeinden in dieser Zeit, zu denen die russisch-jüdischen Emigranten untrennbar
gehörten. In seinem Roman mit dem Titel Letzter Wunsch schildert Vladimir Vertlib
die Geschichte von Gabriel Salzinger, einem deutschen Juden aus Gigricht – es
handelt sich hier um dieselbe fiktive deutsche Stadt wie im Roman Das besondere
56
Kaminer, W. Russendisko. München: Manhattan, 2000, S. 14.
Page 37
37
Gedächtnis der Rosa Masur. Gabriels Vater David Salzinger starb und sein letzter
Wunsch war, auf dem jüdischen Friedhof neben seiner Frau begraben zu werden.
Seine Bestattung wurde aber von einer Mitarbeiterin der hiesigen Kultusgemeinde
unterbrochen, die behauptete, dass David Salzinger kein Jude war, weil seine
christliche Mutter bei einem reformierten Rabbi zum Judentum konvertiert sei. Die
Gigrichter orthodoxe jüdische Gemeinde kann die Bestattung eines Nicht-Juden auf
dem jüdischen Friedhof nicht erlauben. Im Roman erfahren wir die Lebensgeschichte
des Vaters David Salzinger, der mit seiner Mutter vor dem Krieg nach Palästina
ausgewandert war, nach dem Krieg aber wieder nach Deutschland zurückkehrte. Man
kann den Überlegungen Gabriel Salzingers über das Judensein folgen. Er stellt sich oft
Frage, wer ein Jude ist, und sucht nach seiner eigenen Identität.
Im Roman bespricht man das Judentum im heutigen Deutschland. Der Leser
bekommt eine Vorstellung davon, wie eine jüdische Gemeinde aussieht und
funktioniert. Auch in diesem Werk begegnet man dem Thema Antisemitismus. Man
kann hier über antisemitische Einstellungen lesen, mit denen Gabriel Salzinger schon
seit seiner Jugend konfrontiert wird.
In diesem Roman wird u.a. das Thema der russisch-jüdischen Emigranten
besprochen, die fast die Mehrheit der Gigrichter jüdischen Gemeinde bilden. Sie sind
aber für die orthodoxen Juden keine richtigen Juden:
Diese Kontingentflüchtlinge aus der GUS“, erklärt der Rabbiner, „sind entweder
überhaupt keine Juden oder am Judentum nicht interessiert. Die Sozialleistungen
der Kultusgemeinde nehmen sie gerne in Anspruch, doch dem Judentum gehen sie
letztendlich verloren. Niemand von ihnen befolgt die Mitzwot, viele haben sogar
nichtjüdische Ehepartner.57
Gabriel Salzinger trifft sich in der Synagoge mit Konstantin Schwarz und Rosa Masur
– also mit den russischen Kontingentflüchtlingen aus Verltibs anderem Roman.
57
Vertlib, V. Letzter Wunsch. München: DTV, 2006, S. 297.
Page 38
38
3.3.4 Zusammenfassung
In diesem Absatz versuchte ich zu zeigen, wie unterschiedlich beide Autoren
das Thema Judentum bearbeiten. Hier eine kurze Zusammenfassung: Von Vladimir
Vertlib bekommt man eine literarische Bearbeitung der jüdischen Geschichte in der
Sowjetunion und im heutigen Deutschland vermittelt. Vertlib selbst arbeitete mit
vielen geschichtlichen Quellen und wollte bei diesem Thema in die Tiefe gehen.
Kaminer widmet sich diesem Thema wie allen anderen, die zu seinem Alltag gehörten
oder gehören. In seinem Alltag wurde er mit seiner jüdischen Herkunft konfrontiert
und diese Konfrontationen beschreibt er auf leichte und unterhaltsame Weise in seinen
Büchern. In Vertlibs Werken findet man Überlegungen und Reflexionen über die
jüdische Identität und Religiosität. Es ist etwas, womit sich Kaminer nicht beschäftigt,
er schreibt über seine jüdische Herkunft wie über eine von vielen Dingen, die in
seinem Leben vorkommen. Katrin Molnár geht in ihrem Vergleich der Bearbeitungen
der jüdischen Thematik bei Vertlib und Kaminer noch weiter:
Die ungewöhnliche, mit Dilettantismus, Naivität und Entpolitisierung kokettierende
Nonchalance, mit der Deutschland (genau Ostberlin) in Kaminers Texten zum
Emigrationsziel erkoren wird, deutet es schon an: Während Vertlibs Romanfiguren
sowohl ein jüdisch-diasporisches als auch ein säkulares Selbstverständnis mit
ihren Migrationserfahrungen verknüpfen, haben Kaminers Ich-Erzähler und seine
jüdischen Emigranten-Figuren ein ausschließlich säkulares Selbstverständnis. Sie
repräsentieren noch stärker als Vertlbis Roman-Figuren den „homo sovieticus“
ohne Verwurzelung im Judentum. 58
Meiner Meinung nach lässt sich dieser Unterschied durch unterschiedliche
Lebenserfahrungen (siehe Kapitel II) beider Autoren erklären, die ihnen als
Inspirationsquelle für ihre literarische Tätigkeit dienten. Molnár führt ein, dass bei
Kaminer das Judentum als Spaßfaktor jugendlicher Rebellion in der Sowjetunion und
als Reiseleiter59
behandelt wird. Das hängt meiner Meinung nach damit zusammen,
dass Kaminers Werk als Ganzes mit leichtem Humor geschrieben wird und nie in die
58
Molnár, K. „Die bessere Welt war immer anderswo.“ Literarische Heimatskonstruktionen bei Jakob
Hessing, Chaim Noll, Wladimir Kaminer und Vladimir Vertlib im Kontext von Alija, jüdischer Diaspora und
säkulerer Migration. In Amsterdamer Beiträger zur neuren Germanistik, Nr. 69, 2009, S. 328.
59 Ebd.
Page 39
39
Tiefe geht oder heikle Faktoren des menschlichen Zusammenlebens thematisiert. Wie
man weiter in diesem Kapitel sehen kann, bearbeitet Kaminer auf diese Weise fast alle
Aspekte in seinen Werken – das Thema Judentum ist also auch keine Ausnahme.
3.4 Sowjetunion, Russland
Vladimir Vertlibs Darstellung des Lebens in der Sowjetunion findet man in
seinen Romanen Zwischenstationen und Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur.
Beide Werke sind aus der Sicht der sowjetischen Juden geschildert. In
Zwischenstationen gilt die Sowjetunion als ein Land, das stark antisemitisch ist und
den Juden keine Möglichkeiten bietet, als ein Land, in dem man als Jude nicht gut
leben kann. Der Hauptdarsteller dieses Romans kann über die Sowjetunion aber nur
indirekt sprechen, er verließ sie schon als kleines Kind. Das meiste, was er über das
Leben in der Sowjetunion weiß, erzählten ihm seine Eltern.
Die Hauptdarstellerin des anderen Romans Vertlibs, Rosa Masur, erlebte
persönlich, wie die Sowjetunion entstanden und aufgelöst worden war. Alle
Geschichten und Erlebnisse Rosas, die es in diesem Roman dargestellt werden, setzt
Verltib in einen geschichtlichen Rahmen. Der Anfang der Sowjetunion versprach allen
eine bessere Zukunft, es gab keine Juden oder andere Minderheiten mehr, alle wurden
zu Sowjetbürgern und waren für eine gewisse Zeit gleichberechtigt - mit Ausnahme
derer, die man als Feinde des Sozialismus bezeichnete. Mit der Besetzung der
Sowjetunion durch die deutschen Truppen während des Zweiten Weltkriegs
veränderte sich die Situation deutlich. Vertlib gelingt es, über diese Ereignisse sehr
überzeugend zu berichten. Am stärksten und lebhaftesten ist seine Schilderung der
Leningrader Blockade. Im Zusammenhang mit der Blockade schreibt er über die
Verzweiflung der Menschen, die ihre Haustiere aufessen mussten und auch über
Menschenfresser, die kleine Kinder umbrachten, um sie zu verspeisen. Die 50er Jahre
in der Sowjetunion hält man für die Zeit der Angst; auch dieses Gefühl kann Vertlib
den Lesern vermitteln. Weiter erfährt man über die Macht der Regierenden in diesem
Page 40
40
großen Staat, wie sie über die Schicksale anderer entscheiden und sie kontrollieren,
verhaften und die Verwandten in Angst lassen.
Die ersten Zeilen dieses Romans sind aber dem heutigen Russland gewidmet:
In der Küche einer Kommunalwohnung in Leningrad, das seit kurzem wieder
Sankt Petersburg hieß, aber von allen weiterhin Leningrad genannt, erzählt die
Hure Svetlana ihren Nachbarn vom fernen und märchenhaft schönen Aix-en-
Provence.60
Svetlana teilt mit der Familie Rosa Masurs die Wohnung. Sie war früher
Französischlehrerin an einer Kadettenschule, aber die neue Zeit, die allgemeine Not
mitgebracht hatte, brachte Svetlana zu ihrer neuen Beschäftigung. Svetlana half
Kostik, dem Sohn Rosas, zu seiner Entscheidung, nach Deutschland auszuwandern.
Die größte Motivation war vor allem die deutsche Sozialleistung, weil ihre russische
Rente kaum zum Überleben reichte. Am Beispiel Svetlanas und an der Armut der
Familie Masur werden die neuen Verhältnisse in Russland zum Ausdruck gebracht.
Der Erzähler des Romans Zwischenstationen kam Anfang der 90er Jahre seine
Familie in Sankt Petersburg besuchen. Die Stadt wirkte mit allen Werbungen und
Plakaten neu kapitalistisch. Von seinen Verwandten erfuhr er, dass sie auch gefährlich
geworden war:
Das Leben sei gefährlich geworden, wird mir erklärt. Am Abend auszugehen könne
das Leben kosten. Wer die Gefahren mißachtete, sei selber schuld. In den
folgenden drei Wochen werde ich ständig auf der Hut sein und mich öfters
umschauen.61
Die Leute äußern ihre Unzufriedenheit ziemlich oft, war es aber früher besser? Nein,
wirklich besser sei es früher auch nie gewesen, nur anders.62
Das Russland in den
Büchern Vertlibs ist ein Land, wo das Leben sehr schwierig ist und die Menschen
unzufrieden und arm sind.
60
Vertlib, V. Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur. München: DTV, 2007, S. 5. 61
Vertlib, V. Zwischenstationen. München: DTV, 2009, S. 12.
62
Ebd. S. 22.
Page 41
41
Ein anderer Blick auf die Sowjetunion und später auf Russland vermittelt
Kaminer. Sein Roman Militärmusik ist von seiner Kindheit und Jugend in der
Sowjetunion inspiriert. Dieses Werk erwähnte ich bereits in dieser Arbeit im Absatz
über das Thema Judentum. Bereits da zeigte ich, dass Kaminer über seine Themen
sehr leicht und auf amüsante Weise schreibt. Die Schilderung des Lebens in der
Sowjetunion ist keine Ausnahme. Er schreibt darüber auch kritisch, aber die Kritik
wirkt eher satirisch und nicht so streng:
1967 feierte unser Land ein wichtiges Jubiläum – 50 Jahre sind seit der Großen
Oktoberrevolution vergangen. Für die real existierenden sozialistischen
Kleinbürger gibt es nicht viele Gründe, stolz auf ihr Land und die dort herrschende
Ordnung zu sein. Sie hatten mit dieser Ordnung etliche Probleme: das
Wurstproblem, das Zuckerproblem, das Butterproblem und unzählige andere,
welche die Sowjetunion für sie unattraktiv machten. Für einen Romantiker sah die
Realität dagegen sehr positiv aus. Denn im Ballet waren wir die Nummer eins.63
In den Geschichten über seine Jugend tritt der Ich-Erzähler auch gegen die offizielle
Macht, begegnet dem Unsinn der Diktatur und wurde in seiner Tätigkeit durch die
KGB beschränkt, aber das Erzählen wirkt auf die Leser im Endeffekt positiv und
lustig; es ist im Grunde ein Erzählen über die Jugend, an die sich der Autor nach
einigen Jahren gerne erinnert.
Die Sinnlosigkeit der kommunistischen Diktatur kommt bei Kaminer im Buch
Es gab keinen Sex im Sozialismus. Legenden und Missverständnisse des vorigen
Jahrhunderts zum Ausdruck. Auch hier liegt jedoch erneut keine starke, ernste Kritik
vor. Kaminer zeigt am Alltag der sowjetischen Einwohner und an den von der
Bevölkerung verbreiteten Legenden, wie lächerlich diese Diktatur sein konnte.
Im Jahre 2006 gab Kaminer zusammen mit seiner Frau Olga das Buch Küche
totalitär, das Kochbuch des Sozialismus heraus. Das Buch ist anhand der Länder und
Gebiete der ehemaligen Sowjetunion strukturiert: Armenien, Weißrussland, Georgien,
Ukraine, Aserbaidschan, Sibirien, Usbekistan, Lettland, Tatarstan und Südrußland. Zu
63
Kaminer, W. Militärmusik. München: Manhattan, 2001, S. 9.
Page 42
42
jedem Gebiet gibt es eine kurze Erzählung Wladimir Kaminers, entweder über das
Gebiet selbst, über ihre Einwohner oder über Erfahrungen, die Kaminer mit diesem
Gebiet oder dessen Bewohnern machte; oft hängen sie mit dem Essen zusammen. Zu
jedem Gebiet findet man ein entsprechendes Kochrezept mit für diese Region
typischen Gerichten.
Über die Veränderungen im Russland der Neunzigerjahre schreibt Kaminer in
seinem Buch Die Reise nach Trulala (München, 2002). Unter der sozialistischen
Diktatur sehnten sich alle ein bisschen nach der Kultur des Westens, in den 90er
Jahren kam diese Kultur nach Moskau selbst. In der Erzählung Die Verdeckung
Amerikas schildert er das Durchdringen der amerikanischen Kultur nach Moskau am
Beispiel der neuen Moskauer Stripbars. In dieser Erzählung kann man eine Kritik der
damaligen Verhältnisse erkennen; sie wird wie in den meisten Erzählungen Kaminers
aber auf amüsante Art und Weise geäußert.
An der Bearbeitung dieses Themas ist deutlich zu sehen, dass Kaminers
Erzählungsbild der Sowjetunion und Russlands die Leser hauptsächlich amüsieren
soll. Der Fokus ist auf die witzigen Erlebnisse eines jungen Mannes in der
Sowjetunion und später in Russland gerichtet. Vladimir Verltibs Darstellung hingegen
hängt oft mit den historischen Ereignissen zusammen. Seine Romane sollen die Leser
nicht amüsieren, sie weisen hauptsächlich auf das Schicksal der Juden in der
Sowjetunion hin, das sehr schwierig und in vielen Momenten tragisch war.
3.5 Emigrantenleben in Deutschland und in Österreich
Zu Beginn dieses Absatzes möchte ich mir die Frage stellen, wer die Emigranten
in Deutschland und in Österreich sind, über die Vladimir Vertlib und Wladimir
Kaminer schreiben. Bei Verltib sind es am häufigsten die russisch-jüdischen
Emigranten: der Junge und seine Familie aus dem Roman Zwischenstationen, Rosa
Masur und ihre Familie aus dem Roman Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur
Page 43
43
oder auch teilweise aus dem Roman Letzter Wunsch. In der Erzählung Ein schöner
Bastard64
erzählt Vertlib die Geschichte einer tschechoslowakischen Emigrantin in
Wien. Im Roman Am Morgen des zwölften Tages konzentriert er sich auf die
moslemische Minderheit in der deutschen Fiktionsstadt Gigricht. Kaminer schreibt fast
ausnahmslos über Emigranten verschiedener Nationalität in Berlin, am häufigsten aber
über die russischen Emigranten. Sehr oft handelt es sich hier um alltägliche
Geschichten dieser Menschen mit sog. internationalem Hintergrund.
3.5.1 Emigrantenleben bei V. Vertlib
Während ihres Wiener Aufenthaltes musste die russisch-jüdische Familie im
Roman Zwischenstationen viel Unangenehmes durchmachen. Die Mutter, eine in
Russland hochgeschätzte Akademikerin, musste zuerst als Putzfrau arbeiten, der Vater
konnte lange Zeit keine Arbeit finden. Die Wiener in den 70er Jahren, denen die
Familie begegnete, waren nicht besonders freundlich: Eh klar! Man sollte euch endlich
alle raushauen. Früher, da ist man mit euch noch anders verfahren! Bagage,
elendigliche.65
, so ein österreichischer Nachbar. Die Nachmittage verbrachte der Sohn
bei einer anderen Nachbarin. Sie war zu diesem Kind zwar sehr lieb, sprach aber in
seiner Anwesenheit über Hitler wie über einen Helden. Das gefiel den Eltern nicht,
aber sie hatten keine andere Betreuung für ihren Sohn. Später in der Schule hatte der
Junge sehr gute Leistungen. Er konnte auf das Gymnasium gehen, was zu dieser Zeit
nur wenigen ausländischen Kindern gelang. Seine Mutter verglich die Situation für
österreichische Kinder und für ihren Sohn folgendermaßen: Glaub ja nicht, daß sie dir
jemals verzeihen, wer du bist. Wenn du nach oben kommen willst, musst du schon viel
besser sein als sie, und wenn du fällst, fällst du viel tiefer.66
Am Gymnasium gab es
natürlich Mitschüler, die den russischen Jungen wegen seiner Herkunft beschimpften.
Der Vater dieses Jungen betonte die Schwierigkeit ihrer Situationen: Sie sind Juden,
64
Verltib, V. Mein erster Mörder. München: DTV, 2008, S. 83 – 189.
65 Vertlib, V. Zwischenstationen. München: DTV, 2009, S. 63.
66 Vertlib, V. Zwischenstationen. Wien-München: Franz Deuticke Verlagsgesellschaft, 1999, S.163.
Page 44
44
aber zugleich auch Russen, eine Minderheit in einer Minderheit, das heißt doppelt so
fremd. 67
Rosa Masur bekam die Möglichkeit, sich am Projekt zum Jubiläum der Stadt
Gigricht zu beteiligen. Die größte Motivation für sie war das Geld, das sie für ihre
Geschichte bekommen sollte. Die Deutschen in Gigricht verhielten sich ihr gegenüber
mit Respekt, auf der Jubiläumsfeier bereitete man ihr sogar koscheres Essen zu. Unter
den russisch-jüdischen Bewohnern dieser Stadt wird oft über das schlechte Gewissen
der Deutschen gesprochen, das sie gegenüber den Juden haben. Daher sollen ihrer
Meinung nach die Juden von den Deutschen freundlich aufgenommen werden.
Im Roman Letzter Wunsch begegnet man auch der russisch-jüdischen
Minderheit. Sie nehmen am Leben der Synagoge zwar teil, werden von den deutschen
orthodoxen Juden jedoch für keine richtigen Juden gehalten (siehe Fußnote 20).
Im Roman Am Morgen des zwölften Tages (Wien, 2009) geht Vertlib auf das
Thema der muslimischen Minderheit in Deutschland ein. Die Hauptfigur in diesem
Werk ist Astrid Heisenberg, eine deutsche Buchhandlungsverkäuferin. Astrid hat eine
Tochter, deren Vater, der Iraker Khaled, noch vor ihrer Geburt verschwand. Astrids
Großvater Sebastian Heisenberg galt als einer der größten Orientalisten Deutschlands.
Im Buch erfährt der Leser über seine Studienreise in die persischen Gebiete während
des Zweiten Weltkriegs. Astrid begann eine Affäre mit dem Iraker Adel, der sie in
Betrunkenheit schlug. Astrid suchte einen Frauenclub namens Der weiße Halbmond
auf und ging regelmäßig zu den Treffen dieses Clubs. Die Clubmitglieder waren alle
Frauen, die sehr schlechte Erfahrungen mit muslimischen Männern gemacht hatten. In
diesem Roman wird also die Problematik der Frauenstellung in den muslimischen
Familien in Deutschland und des ständigen Terrorverdachts gegenüber der
muslimischen Minderheit geschildert.
67
Ebd. 250.
Page 45
45
Ein schöner Bastard ist eine Erzählung Verltibs über eine deutsch-tschechische
Familie. Der Vater war deutscher Jude, die Mutter Tschechin und die Familie lebte in
Český Těšín. Vor dem Krieg hatte der Vater seinen eigenen Parfümerieladen, der
prosperierte. Während des Krieges wurde er verhaftet und seine Frau musste sich
allein um die Tochter Renate kümmern. Nach dem Krieg emigrierte der Vater nach
Wien, als Deutscher hatte er in der kommunistischen Tschechoslowakei
Schwierigkeiten mit der offiziellen Macht. Viel später emigrierte auch Renate nach
Wien, wo sie keine feindlichen Angriffe wegen ihrer Herkunft erlebte. Gelegentlich
hörte sie solche Meinungen von Österreichern, dass es Tschechen und
„Judenmischlinge“ unter dem Protektorat gut gehen sollte. Diese Äußerungen endeten
immer mit einem Nehm ´S ma´s net üb´l, gnä´ Frau68
. Sie nahm es aber übel. Ihr Chef
in der Arbeit war einer der ersten Nazis noch vor dem Krieg. Er mochte Renate aber
sehr und half ihr einmal mit der Aufenthaltserlaubnis. Dank ihm konnte sie in
Österreich bleiben.
3.5.2 Emigrantenleben bei Kaminer
Die Erzählungen Kaminers, in denen zumeist in Berlin lebende Emigranten
auftreten, beinhalten Geschichten über das alltägliche Leben dieser Menschen oder
ihre interessanten Lebensgeschichten. Die Erzählungen wurden wieder in einer für
Kaminer typischen leichten Form verfasst. In einigen dieser Erzählungen bearbeitet
Kaminer auch typische Vorurteile, mit denen Ausländer in Deutschland konfrontiert
werden. In folgendem Absatz konzentriere ich mich hauptsächlich auf diese
Bearbeitungen.
In der Erzählung Russen in Berlin im Erzählband Russendisko thematisiert
Kaminer das typische Vorurteil gegenüber den Russen und der Mafia:
68
Vertlib, V. Mein erster Mörder. München: DTV, 2008, S. 183.
Page 46
46
Gestern in der Straßenbahn unterhielten sich zwei Jungs ganz laut auf Russisch,
sie dachten, keiner versteht sie. „Mit einem 200 mm-Lauf kriege ich das nicht hin.
Er ist doch ständig von vielen Menschen umgeben.“ „Dann solltest du einen 500er
nehmen.“ „Aber ich habe doch nie mit einem 500er gearbeitet“ „Gut, ich rufe
morgen den Chef an und bestelle eine Gebrauchsanweisung für den 500er. Ich
weiß aber nicht, wie er reagieren wird. Besser ist es, du versuchst es mit dem
200er. Man kann es doch noch einmal probieren.“69
So endet die Erzählung, ohne Erklärung, Kommentar oder eine Stellungnahme
Kaminers zu diesem Klischee.
In der Erzählung Wie ich einmal Schauspieler war in demselben Band
begegnet man dem Ich-Erzähler Wladimir bei seinem Job als Statist bei der
Verfilmung der Schlacht um Stalingrad. In dieser Erzählung wird der Leser mit der
Vorstellung Westlers konfrontiert, dass Russen barbarisch und grob seien. Er
beschreibt das Drehen folgender Szene:
Während sich die Mumien-Frau im Zelt mit Shakespeare in Love dem Rausch der
Leidenschaft hingibt, haben die Kartenspieler draußen ihren eigenen Spaß. Der
Verlierer muss fünf Kerzen mit einem Furz ausblasen. So sind sie eben, die wilden
russischen Sitten. Die 30 Soldaten sollen sich dabei wie verrückt amüsieren, aber
alle schämen sich nur.70
An dieser Stelle ist die kritische Stimme schon spürbar.
An einer anderen Stelle beschäftigt er sich mit dem illegalen Aufenthalt einer
seiner Freunde in Berlin; er wurde beim Autofahren von der deutschen Polizei
erwischt und ins Gefängnis gebracht. Die Polizei fuhr ihn zu sich nach Hause, damit er
vor der Ausweisung seine Sachen packen konnte. Er wollte aber vor der Polizei
fliehen und sprang vom zweiten Stock aus dem Fenster und prallte gegen eine Laterne:
Glücklicherweise konnte er sich an einem NPD-Plakat „Mut zur Wahl – wähle
National“ festhalten. Mit diesem rutschte er dann langsam nach unten. Sein
Freund schleppte ihn ins Auto. Nur das NPD-Plakat blieb zurück. Einige Stunden
später stellte mein Bekannter fest, dass sein Bein immer mehr anschwoll. Er ging
69
Kaminer,W. Russendisko. München: Manhattan, 2000, S. 18.
70 Ebd. S. 142.
Page 47
47
zum „Chirurgen“, einem illegalen russischen Arzt, der in seiner illegalen Praxis
illegale Patienten von legalen Krankheiten heilt.71
In der Erzählung Die russische Braut wird auf die deutsch-russischen Paare
eingegangen:
Kommt dir dein Leben langweilig vor? Bist du arbeitslos? Hast du
Minderwertigkeitskomplexe oder Pickel? Beschaff dir eine russische Braut und
bald wirst du dich selbst nicht mehr wieder erkennen.72
Die Liebe zu einer Russin ist aber laut Kaminer nichts Einfaches. Die
russischen Frauen sind nämlich sehr teuer, sie wollen nach der neuesten Mode
gekleidet sein und pflegen teure Hobbys. In dieser Erzählung geht Kaminer auch
darauf ein, dass die Russinnen mit einer solchen Heirat die Aufenthaltsgenehmigung
für Deutschland erhalten. Er bearbeitet das Phänomen der russischen Bräute auf eine
hyperbolische Weise. Diese übertriebene Weise wirkt aber nicht kritisch.
Kaminer befasst sich aber auch mit dem Leben anderer Nationalitäten in
Berlin. Im Buch Schönhauser Alle erzählt er über Vietnamesen, die einen
Lebensmittelladen besitzen. Er hebt ihren Fleiß hervor – sie sind fast zu jeder
Tageszeit im Geschäft und machen nur einen Tag Urlaub. Er schreibt aber auch über
die sprachliche Barriere - die Vietnamesen sprechen fast kein Deutsch. Auch die
vietnamesische Küche wird hier beschrieben:
Man riecht es jeden Tag in ihrer Mittagspause im Hausflur. Diese exotischen
Gerüche, die unser Haus erfüllen, sind schwer zu beschreiben. Ich stelle mir dabei
einen frittierten Hund mit Ananas vor.73
In der Erzählung Geschäftstarnungen (Russendisko) kam er auf eine andere
merkwürdige Sache im Leben der Emigranten in Berlin: Viele Ausländer besitzen ein
Restaurant oder einen Imbiss mit Gerichten aus ihrem Herkunftsland. In Berlin kann
man viele türkische Imbisse, italienische oder griechische Restaurants besuchen. Man
kam aber darauf, dass die Besitzer eines türkischen Imbisses nicht Türken, sondern
Bulgaren waren. Griechen führten ein italienisches Restaurant und Araber hingegen
71
Ebd. S. 88.
72 Ebd. S. 62.
73 Kaminer, W. Schönhauser Allee. München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2003, S. 13.
Page 48
48
ein griechisches Restaurant. So erfuhr er eine typische Eigenschaft für Bewohner
Berlins: Nichts ist hier echt, jeder ist er selbst und gleichzeitig ein anderer.74
Bis jetzt scheint es, dass Kaminer das Emigrantenleben in Berlin bzw. in
Deutschland als friedliches Zusammenleben betrachtet und keine Konflikte mit den
einheimischen Bewohnern sieht. Die meisten Geschichten über Ausländer sind auf
diese Weise geschrieben. Ein Gegenbeispiel können wir im Buch Meine russischen
Nachbarn finden. In der Erzählung Die Russen-WG erzählt Kaminer über die neuen
Nachbarn, die von anderen Hausbewohnern folgendermaßen begrüßt wurden:
Die anderen Bewohner unseres Hauses empfingen die Russen-WG nicht mit
Blumen. Vor allem die Rentnerin aus dem vierten Stock und unser Hausmeister
zeigte Misstrauen. Bei dieser Bevölkerungsgruppe ist die Fremdenangst am
stärksten entwickelt.75
In Salve Papa! fühlt sich der Ich-Erzähler bei einer seinen Lesungen in einer
deutschen Kleinstadt ein bisschen deprimiert, weil die deutschen Leser ihn fragten,
wie es ihm in Deutschland gefällt und begrüßte ihn herzlich willkommen in
Deutschland. Gerade diese Leute verstehen sich selber als sehr tolerant, aber verstehen
nicht, dass der Hauptprotagonist trotz seiner russischen Herkunft nach so langer Zeit
zum Teil Deutschlands wurde.76
3.5.3 Zusammenfassung
In diesem Absatz verglich ich die Bearbeitungen des Themas Emigrantenleben
in Deutschland und Österreich bei beiden Autoren. Hier eine Zusammenfassung:
Vertlib schildert das Leben der Ausländer in Österreich oder in Deutschland auf eine
Weise, die der Realität entsprechen kann. Er schreibt über Feindlichkeit der
Einheimischen gegenüber den Emigranten oder über ihre Angst vor der Abschiebung.
Bei Kaminer ist dieses Thema wieder humorvoll bearbeitet, es soll die Leser
hauptsächlich amüsieren. Er schreibt auch über die Abschiebung aus Deutschland, die
74
Kaminer, W. Russendisko. München: Manhattan, 2000, S. 98.
75 Kaminer, W. Meine russischen Nachbarn. München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2009, S. 17.
76 Vgl. Kaminer, W. Salve Papa! München: Manhattan, 2008, S. 38.
Page 49
49
einem russischen Illegalen drohte, er macht es aber auf eine ganz andere Weise: In
diesem Fall entstand daraus fast eine Groteske. Auch bei Kaminer lassen sich Stellen
finden, in denen er unfreundliche Verhaltensweisen von Einheimischen gegenüber
Ausländern beschreibt. Sie überwiegen jedoch nicht und sind durchaus in einen
humorvollen Rahmen gesetzt – damit meine ich, dass es in der Erzählung, die sie
beinhaltet, witzige Momente gibt.
Page 50
50
4. Auftreten beider Autoren in der Öffentlichkeit und ihre
Rezeption
Vladimir Vertlib und Wladimir Kaminer sind Autoren, die gerade jetzt ihre Werke
schreiben und herausgeben. Für beide ist es natürlich auch wichtig, dass sie gelesen
werden; deshalb präsentieren sie sich selbst und ihre Werke in der Öffentlichkeit durch
verschiedene Mittel. In diesem Kapitel konzentriere ich mich darauf, wie die beiden
Autoren in den Medien auftreten, wie sie da von anderen (hauptsächlich von den
Kritikern) dargestellt werden und ich versuche auch herauszufinden, wie sie von ihrem
Publikum wahrgenommen werden. Einige Punkte in diesem Kapitel sind auch der
Wahrnehmung dieser Autoren von den Germanisten gewidmet und den Sprachen, in die
ihre Werke übersetzt werden.
4.1 Vertlib und Kaminer im Internet
Für die Stichwörter Vladimir Vertlib findet man in Google 77 700 Treffer (Stand
am 17.11.10), für Wladimir Kaminer 98 700 (Stand am 17.11.2010). Bis jetzt gelang es
mir jedoch nicht, eine eigene Homepage von Vladimir Vertlib zu finden. Wladimir
Kaminer stellt sich und die Russendisko auf der Homepage russendisko.de vor. Hier
befindet sich auch sein Blog. Der letzte Beitrag wurde aber leider schon am 1.9.2009
hochgeladen. Man kann hier aber einen Link zu Twitter finden, wo Kaminer sehr oft
seine Bemerkungen veröffentlicht. Im Dezember 2010 gründete Kaminer seine neue
Homepage wladimirkaminer.de, wo man die Neuigkeiten aus Twitter finden kann,
genauso wie andere Informationen zum Autor. Auf dieser Hompage sind auch das
Video Kaminer goes Kaukasus und vom Autor selbst gelesene Bemerkungen zu
verschiedenen Themen hochgeladen. Beim sozialen Netzwerk Facebook hat Kaminer
auch seine Seite – mit 2 435 Fans (17.11.2010). Beim Suchen nach Vladimir Vertlib im
Facebook findet man keinen entsprechenden Treffer.
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Die meisten Treffer, die ich zu Vladimir Vertlib gefunden habe, sind Berichte
über seine Lesungen, Rezensionen oder Informationen zu seiner Person. Vereinzelt
findet man auch Interviews mit ihm.
Kaminer hingegen ist im Internet sehr aktiv. Auf YouTube (über 100 Treffer zu
Wladimir Kaminer auf YouTube am 18.11.2010) findet man sehr viele Gespräche mit
ihm oder seine aufgenommenen Auftritte, ab und zu sieht man ihn auch mit seiner
Familie. Ein Gespräch mit Wladimir Kaminer, seiner Frau Olga und den Kindern Nicole
und Sebastian, das auch im Internet abrufbar ist77
, erschien in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung am 5. Oktober 2008.
Obwohl es im Internet viele Links zu Wladimir Kaminer, sein Leben und Werk
gibt, ist es schwierig, glaubwürdige Informationen zu seiner Person zu finden: Ich habe
irgendwann mal festgestellt, dass fast alles, was über mich im Internet zu lesen ist, nicht
stimmt.78
Gleichzeitig gesteht Kaminer ein, dass selbst die Informationen auf seiner
eigenen Homepage eine gewisse Zeit unkorrekt waren. Sie waren aber nicht die einzige
Quelle, aus der sich all diese falschen Informationen im Internet verbreiteten. Kaminer
selbst sorgt in vielen Interviews für Verwirrung der Journalisten. Im Herbst 2006 z.B.
kündigte er an, dass er im Jahre 2011 gegen den zurzeit regierenden Berliner
Bürgermeister Wowereit antreten will.79
Beim Interview für die tschechische Zeitung
MF Dnes gibt er aber zu, dass es sich dabei nur um einen Witz handelte. Er wollte auf
diese Weise lediglich auf politische Probleme Berlins aufmerksam machen.80
77
Adorján, J. Wladimir Kaminer. Papa schreibt das so oder so auf. Frankfurter Allgemeine Zeitung,
5.10.2008, [on-line]. Abrufbar unter:
‹http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E1CE96C01485D4AF88340723
A6CE61062~ATpl~Ecommon~Scontent.html›
78 Kinder, A. Interview mit Wladimir Kaminer. 18.10.2007, [on-line]. [Letzter Zugriff: 2010-10-20]. Abrufbar
unter: ‹http://www.easttalk.de/articles/show/interview-mit-wladimir-kaminer›
79 Vgl. Neuber, F. Konkurenz für Wladimir Kaminer. Jüdische Zeitung, Juli 2007, [on-line]. Letzter Zugriff:
2010-10-20]. Abrufbar unter: ‹ http://www.j-zeit.de/archiv/artikel.615.html›
80 Horáčková A.: Berlínskou zeď bych dal znovu postavit. A ještě výš! MF Dnes, 12.12.2009, Beilage Kavárna,
S. 38 – 39.
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Auf YouTube konnte ich zu Vladimir Vertlib keine Treffer finden (18.11.2010).
Über die Familie von Vertlib erfährt man kaum etwas. Im Spiegel im fremden Wort
erscheinen Verltibs Eltern in den Kapiteln über die Authentizität und Fiktion in seinen
Werken. Die Erlebnisse während seiner Emigration waren schließlich mit seinen Eltern
eng verbunden und diese Erlebnisse dienten Vertlib als Inspiration. In den Gesprächen
in den Zeitungen (teilweise auch online) erfährt man nur, dass Vertlib verheiratet ist und
dass er sowohl in Salzburg als auch in Wien lebt. Ansonsten erhält man keine näheren
Informationen zu seinem Privatleben.
Die zwei Autoren nutzen das Medium Internet ganz unterschiedlich. Kaminer
präsentiert sich selbst und „lebt“ aktiv im Internet. Seine Familie wird auch mit
einbezogen und unterstützt Kaminer bei Interviews, die man nicht nur in den
Printmedien, sondern auch im Internet finden kann. Seine Kinder und seine Frau treten
auch in verschiedenen Fernsehspots auf, die später auf YouTube abzurufen sind. Vertlib
hingegen geht an das Medium Internet deutlich zurückhaltender heran und weigert sich,
sein Privatleben in der Öffentlichkeit zu präsentieren.
4.2 Wie wollen die Autoren von ihren Lesern verstanden werden –
Authentizität und Fiktionalität in ihren Werken
Wenn man Zwischenstationen und Abschiebung von Vladimir Vertlib liest und
gleichzeitig über seine Biographie informiert ist, ist man geneigt, die beiden Werke mit
der Kindheit und Jugend des Autors zu verknüpfen. Vertlib selbst schließt die
Entstehung dieser Verbindung nicht aus, indem er in einer seiner Vorlesungen im
Spiegel im fremden Wort Beispiele zur Fiktionalität und Authentizität in seinen Werken
einführt:
Ich beginne mit einem Ausschnitt aus meinem Roman Zwischenstationen, in dem
von den Irrwegen einer russisch-jüdischen Familie auf der Suche nach einer
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„idealen Heimat“ berichtet wird, weil diese Passagen – wie der gesamte Roman –
besonders dazu provozieren, als Autobiographie gelesen zu werden.81
Auch der Erzähler in Zwischenstationen trägt dazu bei: Die Geschichte des Jungen
und seiner Familie wird vom Ich-Erzähler aus der Retrospektive erzählt, also von einem
schon erwachsenen Mann, der sich mit zeitlicher Distanz an die Emigration in seiner
Kindheit erinnert. In der Erzählung Abschiebung ist der Ich-Erzähler hingegen der
Protagonist selbst, also ein heranwachsender Junge.
Das Thema der Authentizität und Fiktionalität in den Werken Vertlibs geht auf
seine literarischen Anfänge zurück. Schon früher im Text ging ich auf dieses Thema
ein: Vertlib führte seit seiner Kindheit Tagebücher – schon in diesen Tagebüchern
veränderte er oder ergänzte Teile, die ihm in der realen Form nicht gefallen hatten.
Später übersetzte er die Tagebücher aus dem Russischen ins Deutsche. Bei dieser
Übersetzung wurden noch mehrere Passagen verändert und so entstand die Basis für
das erste Werk Vertlibs, dessen Veröffentlichung noch eine Weile dauerte: Nach der
Emigration hat es fast fünfzehn Jahre gedauert, bis ich die notwendige Distanz zu
haben glaubte, um über meine Erlebnisse als Kind und als Jugendlicher zu reflektieren
und sie zu Literatur zu verdichten.82
Schon die Tagebücher, also die Basis für die frühen Werke Vertlibs, waren
nicht authentisch. Vertlib reflektiert darüber folgendermaßen:
Die meisten meiner Geschichten sind auf diese Weise entstanden – Aus Erfahrung
und Anschauung und aus deren kreativer Ergänzung […].Soweit die Fiktion als
Ergänzung zu Selbsterlebtem eine symbolische und allgemein gültige Dimension
besitzt, kann sie, wie ich glaube, zu guter Literatur werden. Wenn ich beim
Schreiben das Gefühl habe, dass das Erlebte oder das Erinnerte sowie das
Erinnerte, das man nachträglich als Erlebtes wahrnimmt, etwas widerspiegelt, das
über die eigene Person hinausgeht, in dem sich also auch andere Menschen
spiegeln könnten, dann kann daraus etwas Wertvolles entstehen.83
81
Vertlib, V. Spiegel im fremden Wort. Dresden: Thelem, 2008, S. 10 – 11.
82 Ebd. S. 22
83 Ebd. S. 25
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Sehr interessant ist auch die Entstehung des Romans Das besondere Gedächtnis
der Rosa Masur. Die Basis für diesen Roman waren die Erzählungen von Vertlibs
Großmutter Mira. Ihre Erinnerungen nahm Vertlib auf Kassetten auf. Dazu kamen noch
Erinnerungen von seinen Eltern und Verwandten an das Leben während des Zweiten
Weltkriegs und in der Sowjetunion:
Als ich aus Miras Geschichten tatsächlich einen Roman machte, emanzipierte sich
Rosa Masur nach und nach und immer mehr von ihrem realen Vorbild, wurde zu
einer fiktiven Gestalt, zu einer Romanfigur, die nur mehr bedingt, an manchen
Stellen wenig oder nichts mehr, mit meiner Großmutter gemeinsam hatte.84
Laut Vertlib hat also jede Fiktion einen realen Hintergrund und jedes autobiographische
Werk auch etwas Fiktionales in sich.
Diese These von Vertlib ist auch für Kaminer gültig. Kaminer wiederholte schon
mehrmals während Interviews für verschiedene Zeitungen oder sogar in seinen
Büchern, dass seine Geschichten tatsächlich passiert waren. Er gibt aber gleichzeitig
auch zu, etwas verändert oder ergänzt zu haben. In den Erzählungen oder Romanen gibt
es immer einen Ich-Erzähler namens Wladimir, der viele Ähnlichkeiten mit dem Autor
selbst aufweist, und der Leser bekommt bald das Gefühl, dass es sich tatsächlich um den
Autor selbst handelt. Er erzählt Geschichten aus seinem Leben, Geschichten seiner
Verwandten und Freunde oder Geschichten aus dem Leben in der ehemaligen
Sowjetunion und im heutigen Deutschland. Gleichzeitig bewahrt sich Kaminer auch
eine gewisse Distanz zu diesen Geschichten und ihrer Authentizität, die man am besten
auf der letzten Seite seines Buches Salve Papa! beobachten kann: Ähnlichkeiten mit real
existierenden Personen sind weder vorhanden noch beabsichtigt. Es sei denn, die
Personen wollen sich in dem Buch erkennen.85
Die Erzählungen in diesem Sammelband
sind zumeist Geschichten aus dem Leben seiner Familie – seine Kinder kommen hier
sehr oft vor. Nach Erscheinen dieses Buches wurde seine ganze Familie von der
Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung interviewt. In diesem Interview äußern
84
Ebd. 92.
85 Kaminer, W. Salve Papa! München: Manhattan, 2008, S. 224.
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sich die Kinder darüber, was und inwieweit ihr Vater die Geschichten über sie verändert
hatte und sie stellten fest, dass ihr Vater ziemlich viel erfunden hatte.86
Kaminer schrieb mehrmals darüber, wie sein Protagonist Wladimir nach
Deutschland gekommen war. Eine Version davon können wir in Russendisko (2000)
finden. Hier erzählt er, dass er als sowjetischer Jude in die DDR ausgereist war – diese
Version korrespondiert am meisten mit dem tatsächlichen Lebenslauf Kaminers, den
man in verschiedenen Quellen finden kann. In Militärmusik (2001) schreibt er hingegen,
dass er seine Tante in Deutschland besuchte und sich daraufhin zum Bleiben entschied.
In Frische Goldjungs (2001) findet man als Vorstellung des Autors Informationen zu
Kaminers Person. Dort steht, dass er ursprünglich nach Paris fahren wollte, wegen
Unkenntnis der lateinischen Buchstaben jedoch versehentlich schon in Berlin ausstieg.
Diese unwahrscheinlichste Version wird in diesem Sammelband als wahre Information
über den Autor präsentiert.
Vertlib betont häufig, dass seine Geschichten fiktiv sind, man kann aber in
einigen autobiographische Züge erkennen. Kaminer behauptet genau das Gegenteil. Er
sagt oft, dass seine Geschichten nicht fiktiv sind und dass er die wahren
Lebensgeschichten immer interessanter findet als die erfundenen.87
Trotzdem arbeitet er
auch mit einer gewissen Fiktionalität, über die er auch offen spricht. Diese Fiktionalität
ist auch teilweise ein Mittel, wie er sich selber in der Öffentlichkeit präsentiert (z.B.
Kandidatur zum Berliner Bürgermeister, angebliche Unkenntnis der lateinischen
Buchstaben bei der Ankunft in Berlin). Man kann also sehen, dass beide Autoren mit
Authentizität und Fiktionalität arbeiten und sie auch thematisieren. Jeder aber betont
eine andere Sichtweise auf diese Problematik und nur Kaminer verwendet sie zur
Selbstpräsentation.
86
Vgl. Adorján, J. Wladimir Kaminer. Papa schreibt das so oder so auf. FAZ, 5. 10. 2008.
87 Vgl. z.B.: Horácková A.: Berlínskou zeď bych dal znovu postavit. A ještě výš! MF Dnes, 12.12.2009,
Beilage Kavárna, S. 38 – 39.
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4.3 Vertlib und Kaminer in der Literaturwissenschaft
In diesem Absatz möchte ich mich darauf konzentrieren, wie Vertlib und
Kaminer von der heutigen Literaturwissenschaft rezipiert werden, in welchen
Zusammenhängen sie in den literaturwissenschaftlichen Werken erscheinen und zu
welchen literarischen Strömungen sie laut den Germanisten gehören. Die für mein
Thema relevanten Werke der Sekundärliteratur fand ich in der elektronischen
Datenbank Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft.
In den Werken Verltibs suchen viele Literaturwissenschaftler nach
Identitätsmodulen. Maciej Drynda geht in seinem Absatz zu Vertlib auf das Thema der
verfremdeten Identität ein. Er versucht auch Merkmale der collected memory (die
Erinnerungen, die ein Mensch während seines Lebens einsammelte) und collective
memory (Gedächtnis der Menschheit) in den Geschichten Vertlibs zu finden.88
Die Identität, für die sich die literaturwissenschaftlichen Aufsätze im Fall von
Vertlibs Werken interessieren, ist oft mit dem Judentum verbunden. Das Thema der
Emigration der Juden und ihre Suche nach einer neuen Heimat bzw. nach ihrer neuen
Identität, die auch von der Heimat abhängt, bearbeitet Hans-Joachim Hahn in seinem
Artikel Europa als neuer jüdischer Raum? Diana Pintos Thesen und Vladimir Verltibs
Romane89
. Er betont Vertlibs Definition des Judentums, die uns in Zwischenstationen
vom Ich-Erzähler vermittelt wird, nämlich dass das Judentum eine
Schicksalsgemeinschaft darstellt – alle Juden sind nach der Shoah miteinander
verbunden, egal ob sie religiös sind oder nicht. Laut Hahn kann der Protagonist in den
Zwischenstationen sein Glück in der Zwischenwelt finden, die eine imaginäre Welt
darstellt. Hahn macht auch auf die Probleme der Diaspora aufmerksam, indem er die
unterschiedliche Wahrnehmung der jeweiligen Emigrationsländer von den sowjetischen
88
Drynda, M. Erinnerungsräume revisited. Vladimir Verltibs Geschichten der verfremdeten Identität. In
Drynda, J., Dzikowska, K. Hrsg.: Labyrinhte der Erinnerung. Beiträge zur österreichischen Literatur.
Poznan: 2009, S. 315 – 322.
89 Hahn, H-J. Europa als neuer jüdischer Raum? Diana Pintos Thesen und Vladimir Vertlibs Romane. In
Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Nr. 69, 2009.
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Juden in Verltibs Roman Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur beschreibt. Die
Juden-Figuren in diesem Roman werden von ihren Verwandten, die nach Israel oder
nach Amerika auswanderten, verachtet, weil sie nach Deutschland, also ins Land der
Täter, emigrierten.
Vladimir Vertlib wird nicht nur zu den jüdischen Autoren (wie z.B. bei Hahn,
der aber schon auf die Schwierigkeiten bei der Definition der jüdischen Literatur
überhaupt hinweist), sondern auch und wahrscheinlich häufiger zur österreichischen
Literatur eingeordnet.90
Oft hält man Vertlib für einen österreichischen Autor mit
Migrationshintergrund. Mit diesem Aspekt arbeitet Ernst Grabovzski in seinem Artikel
Österreich als literarischer Erfahrungsraum zugewanderter Autorinnen und Autoren.91
In diesem Artikel wird analysiert, wie die Protagonisten in Vertlibs Zwischenstationen
Österreich als Zuwanderungsland wahrnehmen.
Eine komplexere Darstellung Vertlibs als Autor findet man in Annette Teufels
und Walter Schmitz´ Nachwort zu Vertlibs Spiegel im fremden Wort. Schmitz und
Teufel befassen sich unter anderem auch mit dem autobiographischen Element in den
Werken Vertlibs. Sie weisen auf seine Distanz zu dem Erzählten in Zwischenstationen
hin, die durch die Figur des Ich-Erzählers geschieht. Der Ich-Erzähler ist ein
erwachsener Mann, der mit dieser Distanz über seine Kindheit erzählt. In der Figur des
Vaters in Zwischenstationen fanden sie das Bild Peter Schlemhils, der nach seinem
Schatten sucht. So sucht diese Figur des Vaters nach dem idealen Land für das Leben
seiner Familie. Diese zwei Literaturwissenschaftler halten Vertlib für einen Autor der
zweiten Generation der Shoah – in seinen Romanen thematisiert er auch das Schicksal
der Juden während des Zweiten Weltkries und seine Romane gehören gewiss zu den
90
Vgl.: Drynda, M. Erinnerungsräume revisited. Vladimir Verltibs Geschichten der verfremdeten
Identität. In Drynda, J., Dzikowska, K. Hrsg.: Labyrinhte der Erinnerung. Beiträge zur österreichischen
Literatur. Poznan, 2009, S. 315 – 322.
91 Vgl. Grabovszki, E. Österreich als literarischer Erfahrungsraum zugewanderter Autorinnen und
Autoren. In.: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Nr. 69, 2009.
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bewegendsten dieser zweiten Generation.92
Zugleich baut er in seinen Werken das
Klischee von den Ostjuden ab: Vom Bild des ungeschickten, bettelarmen, doch frommen
und vergeistigten – eben deshalb liebenswerten – Ostjuden sind Vertlibs Figuren weit
entfernt.93
Die ganze Abhandlung schildert das Schaffen Vertlibs sehr positiv. Einen
besonders positiven Eindruck hinterlässt der letzte Satz dieses Artikels: Erzählen
braucht Zuhörer, braucht ein Gegenüber, sucht nach Antwort: Vladimir Vertlibs
erzählte Poetik ist eine Einladung zum Dialog.94
In den literaturwissenschaftlichen Artikeln, die sich dem literarischen Werk
Kaminers widmen, wird auch häufig auf das Thema Identität eingegangen. In Aigi
Heeros Artikel Multikulturelle Identitätskonstruktion in der deutschen
Gegenwartsliteratur – am Beispiel Aglaja Veteranyis, Radek Knapps und Wladimir
Kaminers95
wird die Schilderung der Identität bei Kaminer als Anpassung oder
Dazwischen sein96
definiert. Heero weist darauf hin, dass man in Kaminers
Erzählungen oder Romanen sehr viele Assimilationen finden kann, und zwar
Assimilation des Bekannten und Unbekannten, des Eigenen und des Fremden. Zugleich
versteht Heero als eines der literarischen Ziele Kaminers die Zerstörung von Klischees,
die man im Westen gegenüber dem Osten hat. Heero analysiert auch mögliche Ursachen
für den Erfolg von Kaminers Werken. Zu seiner Popularität trägt sicher das wachsende
Interesse der Menschen im Westen für den Osten bei. Eine andere Ursache wird
folgendermaßen zusammengefasst: Möglicherweise ist das [Mythoszerstörung] auch
das Erfolgsrezept Kaminers und Knapps, nämlich den (deutschen) Lesern das Fremde
zu präsentieren, ohne dabei tiefer zu gehen […], sondern populäre oberflächliche
Vorstellungen zu reflektieren.97
92
Schmitz, W., Teufel, A. Wahrheit und „subversives Gedächtnis“. Die Geschichte(n) von Vladimir
Vertlib. In Spiegel im fremden Wort. Dresden: Thelem, 2008, S. 216.
93 Ebd. S. 235.
94 Ebd. S. 253.
95 Heero, A. Multikulturelle Indentitätskonstruktion in der deutschen Gegenwartsliteratur. In Parry, Ch.,
Voßschmidt, L. Hrsg. Europäische Literatur auf Deutsch? München: Judicium Verlag, 2008, 193 ff.
96 Ebd. S. 193.
97 Ebd. S. 199.
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59
Elke Mehnert befasst sich mit dem Phänomen Kaminer, indem sie auch die
Ursachen seines Erfolgs analysiert.98
Ihrer Ansicht nach repräsentiert Kaminer selbst
das Bild des Russen von nebenan99
, der zugleich alle Ideale des gut integrierten
Immigranten erfüllt. Zu den Ursachen gehört auch die Themenauswahl, die gut für
breiteres Publikum geeignet ist. Auch die Form, in der seine Geschichten geschrieben
werden – also überwiegend die Form der Kurzgeschichten - wird vom heutigen Leser
positiv rezipiert. Die bedeutendste Ursache des Erfolgs Kaminers sieht sie aber darin,
dass der Autor seine Bücher in der heutigen Mediengesellschaft gut und geschickt
„verkaufen“ kann. Nicht nur seine Bücher, sondern auch der Autor muss „pop“ sein,
muss sein Werk gut repräsentieren, indem er für seine Leser fast überall präsent ist. Das
tut Kaminer auch – allein im Dezember 2010 hat er 11 Lesungen in verschiedenen
deutschen Städten100
. Diese These wird meiner Meinung nach auch durch die Anzahl
der Treffer zu Kaminer im Internet bestätigt.
Christoph Meuer analysiert in seinem Artikel „Ihr seid anders und wir auch“:
Inter- und transkulturelle Russlandsbilder bei Wladimir Kaminer101
Räume in Kaminers
Werk, wobei er sich hauptsächlich auf Russland in Kaminers Geschichten konzentriert.
Er befasst sich mit der sowjetischen und mit der eigenen Identität des Ich-Erzählers in
Kaminers Büchern und mit dessen Darstellung verschiedener Phänomene
(sowjetische/russische Kultur, russische Musik, typische russische Frau).
98
Mehnert, E. Russen und Deutsche – Nachbarn in Deutschland. In Schmitz, W. Hrgs.:
Zwischeneuropa/Mitteleuropa. Dresden: Thelem, 2008, S. 440 ff.
99 Ebd. S. 442.
100 Offizielle Homepage von der Russendisko:
http://beta.russendisko.de/de/termine/lesungen/?tx_cal_controller[offset]=1&cHash=171158df0c
[Letzter Zugriff: 2010-11-30]
101 Meuer, Ch. „Ihr seid anders und wir auch“: Inter- und transkulturelle Russlandsbilder bei Wladimir
Kaminer. In.: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Nr. 69, 2009.
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60
In einem kritischen Ton stellt Eva Hausbacher die literarische Tätigkeit
Kaminers in der Publikation Poetik der Migration im Kapitel mit dem Titel „Zwischen
Konsalik und Kafka: Wladimir Kaminer – ein russischer Star der deutschen Literatur102
dar. Laut Hausbacher bewegt sich Kaminer immer irgendwo im Zwischenraum – z.B.
zwischen Mainstream und Minoritätsliteratur, zwischen Autobiographie und Fiktion,
zwischen jüdischer und deutscher Literatur. Hausbacher sieht darin eine gelungene
Marketingstrategie, die zusammen mit Kaminers immigrant chic, das Kaminer zu seiner
Selbstvermarktung103
nutzt, zur Tatsache beiträgt, dass seine Bücher Bestseller
geworden sind. In Kaminers Russendisko sieht sie ebenfalls eine erfolgreiche
Vermarktung, die auf Ostalgie basiert.104
Oft bearbeitet Kaminer Klischees gegenüber
den Russen. Laut Hausbacher spart er dabei mit Gefühlen und geht nicht in die Tiefe.
Sie macht auf einen Paradox aufmerksam: Auch wenn Kaminer in seinen Büchern
gegen Klischees kämpfen will, ist sein Kampf nicht erfolgreich, so dass die Klischees
verbleiben. An dieser Stelle führt sie noch eine These an, die folgendermaßen
paraphrasiert werden kann: Kaminers Bücher decken eher das traditionelle Denken des
Deutschen über Russen auf und so hält er den Deutschen einen Spiegel vor. Die Autorin
befasst sich auch mit der Frage, ob Kaminer zur Popliteratur gehört. Auch wenn sich
Kaminer von der Popliteratur distanziert, findet Hausbacher viele Pro-Argumente seiner
Zugehörigkeit zu dieser Strömung. Er spricht ein breites Publikum an; die formale Seite
seiner schriftstellerischen Persönlichkeit, die er durch sein Performance zum Ausdruck
bringt, ist bei seinem Schaffen sehr wichtig und ständig präsent. Ein weiteres Pro-
Argument ist laut Hausbacher die Oberflächlichkeit seiner Texte in Form und Inhalt105
.
Hausbacher analysiert auch die Sprache in Kaminers Texten. Er vermischt die
russischen und die deutschen Wörter nicht und führt Neologismen ein. Wenn man die
deutsche mit der russischen Version des Buches Russendisko vergleicht, ist zu sehen,
dass es für das deutsche Publikum geschrieben wurde.
102
Hausbacher, E. Poetik der Migration. Transnationalle Schreibweise in der zweitgenössischen
russischen Literatur. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 2009, 247 ff.
103 Ebd. S. 248.
104 Ebd. S. 249.
105 Ebd. S 267.
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Mit der Frage, ob Kaminer als Schriftsteller zur Popliteratur gehört, beschäftigt
sich auch Thomas Ernst. Seine Zugehörigkeit zu dieser Strömung sieht er nicht als
eindeutig an. Das Buch Russendisko stellt laut Ernst einen minoritären Debuttext106
dar.
Auch wenn man in Kaminers Werk einige popliterarische Formen beobachten kann –
wie z.B. Positionierung oder Einstellung zur Musik, Beziehung zur materiellen Welt -,
grenzt er sich von dieser Strömung mit der inhaltlichen Seite ab. Das, was von den
Darstellern in den Popliteratur-Romanen hochgeschätzt wird, wird von den
Protagonisten in Kaminers Büchern verspottet. Kaminers Figuren hören im Unterschied
zu den Figuren in Popliteratur-Romanen nicht MTV, sondern russische Musik, sie
stehen nicht auf teure Sachen, sondern sie erinnern sich mit Nostalgie an Waren aus der
ehemaligen Sowjetunion. Auch die Tatsache, dass Kaminer das Leben in Deutschland
aus der Immigrantenperspektive schildert, führt dazu, dass sich Kaminers Werk laut
Ernst eher der Minoritätsliteratur zuordnen lässt.
Es lassen sich auch literaturwissenschaftliche Aufsätze finden, in denen beide
Autoren zusammen zum Thema einer literarischen Abhandlung werden. Oft betrifft die
Thematik dieser Artikel das Werk mehrerer Autoren, die aus dem Osten emigriert sind
und jetzt auf Deutsch schreiben, wie z.B. Radek Knapp. In Aigi Heeros Artikel
Zwischen Ost und West: Orte in der deutschsprachigen transkulturellen Literatur107
wird nach den Alltags- und Sehnsuchtsorten in den Werken beider Autoren gesucht,
wobei sich man auch mit dem Staunen über neue Orte befasst. Kaminers Befassung des
Staunens ist im Unterschied zu Vertlibs eher materiell geprägt: Der Protagonist in
Russendisko überlegt sich neue Verdienstmöglichkeiten, vergleicht Waren und Preise in
Geschäften. Katrin Molnár vergleicht in ihrem Artikel Die bessere Welt war immer
anderswo. Literarische Heimatskonstruktionen bei Jakob Hessing, Chaim Noll,
Wladimir Kaminer und Vladimir Vertlib im Kontext von Alija, jüdischer Diaspora und
106
Ernst, T. Jenseits von MTV und Musikantenstadt. Popkulturelle Positionierungen in Wladimir
Kaminers „Russendisko“ und Feritlun Zaimoglus „Kanaks Sprak“. In Arnold, H. L. Hrsg. Text + Kritik
Sonderband Literatur und Migration, Nr. 10, 2006.
107 Heero, A. Zwischen Ost und West: Orte in der deutschsprachigen transkulutrellen Literatur. In
Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Nr. 69, 2009, S. 205 ff.
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säkularer Migration108
die Bearbeitungen der jüdischen Identität bei Kaminer und
Vertlib. Auf ihre Schlussfolgerungen ist in dieser Arbeit bereits eingegangen ( siehe S.
38).
Ich versuchte, beide Autoren in verschiedenen Lexika zu finden. Das Stichwort
Wladimir Kaminer kann man im Killy Literaturlexikon in Band 6 finden – hier wird sein
literarisches Schaffen dem Situationismus zugeordnet.109
Informationen zu Wladimir
Kaminer kann man auch in der elektronischen Version des Brockhaus nachschlagen110
.
Vladimir Vertlib konnte ich in keinem literarischen Lexikon finden. Der Band 12 Vas –
Z des neuen Killy Literaturlexikons erscheint erst im September 2011111
. Man könnte
aber annehmen, dass das Stichwort Vladimir Verltib in dieser neuen Fassung auch
vorhanden sein wird. Im Kritischen Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
(KLG) findet man keinen der beiden Autoren.
4.4 Vertlib und Kaminer in der journalistischen Welt
In diesem Absatz konzentriere ich mich darauf, wie Vertlib und Kaminer in
Zeitungen und Zeitschriften präsentiert werden. Ich widme mich hauptsächlich den
Rezensionen zu den Werken beider Autoren. Ich versuche auch herauszufinden, wie die
beiden Autoren selbst in der Presse auftreten und welchen Themen sie sich in ihren
Artikeln widmen. Die Materialien für diesen Absatz wurden mir von den Verlagen
108
Molnár, K. „Die bessere Welt war immer anderswo.“ In. Amsterdamer Beiträge zur neueren
Germanistik, Nr. 69, 2009.
109 Vgl. Siebenpfeiffer, H. Kaminer, Wladimir. In Kühlmann, W. Hrsg. Killy Literaturlexikon Band 6. Berlin:
Walter der Gruyter GmbH & Co. 2009, S. 267.
110 Munzinger – Wissen, das zählt *on-line] [Letzter Zugriff: 2010-12-16]. Abrufbar unter:
‹http://online.munzinger.de/search/query?query.id=query-12›
111 Vgl. De Gruyter [on-line] [Letzter Zugriff: 2010-12-16]. Abrufbar unter:
‹http://www.degruyter.com/cont/fb/li/detailEn.cfm?id=IS-9783110220384-2›
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63
Manhattan und Deuticke zugeschickt, wofür ich mich an dieser Stelle bedanken
möchte.112
Vertlibs Werk wird von Kritikern meistens sehr gut angenommen. Eine durchaus
positive Kritik zu Vertlibs Zwischenstationen kann man bei K.-M. Gauss lesen, der die
Erscheinung dieses Buches für ein Ereignis hält:
Worum sich viele bemühen, dem 1966 geborenen, in Österreich lebenden Vladimir
Vertlib, ist es wie nebenhin gelungen. Den europäischen Roman, den die Kritiker
vermissen, Lektoren verlangen, den Roman, der die neue Landkarte Europas
voraussetzt und sich über die nationalen Grenzen hinwegsetzt – dieser Flüchtling
hat ihn geschrieben.113
Thomas Kraft beurteilt vor allem die Dynamik dieses Romans positiv: Und immer
wieder gibt es turbulente Ereignisse, die anekdotisch eingeflochten werden.“114
Vereinzelt kann man aber Widersprüche bei den Kritikern finden. Während Carl-
Ludwig Reichert den Roman für seine hervorragende Sprache und Unsentimentalität
lobt115
, findet Ariane Thomalla in ihm auch Schwächen: Manche Anekdote hätte fehlen
dürfen. Auch die Gesamtdramaturgie hinkt.116
Die negative Kritik dieses Romans ist
aber eher eine Ausnahme.
Für Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur verdiente Vertlib einen Vergleich
mit Joseph Roth und Isaak Singer.117
Günther Stocker bewies dieser Roman Folgendes:
Autoren wie Vladimir Vertlib sind ein Glücksfall für die deutschsprachige Literatur im
112
Von den Verlagen bekam ich Kopien von Interviews mit beiden Autoren oder Rezensionen zu ihren
Werken, die oft nur eine Datumangabe beinhalteten, deshalb konnte ich nicht immer eine vollständige
bibliographische Angabe zu den Zitaten in meiner Arbeit ergänzen.
113 Gauss, K.-M. Auftritt des Erzählers Vladimir Vertlib. Neue Züricher Zeitung, 18.03.1999, S. 68.
114 Kraft, T. Der Führer im Schrank. Der Tagesspiegel, 05.12. 1999.
115 Reichert, K. L. Odysseus Word abgeschoben. Abendzeitung, 14.05.1999.
116 Thomalla, A. Endstation Österreich. Freitag, 18.02.2000.
117 Vgl. Kissler, A. Miss Jahrhundert. FAZ, 23.06.2001.
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Besonderen.118
Bei mehreren Kritikern findet man positive Bemerkungen dazu, dass
sich Vertlib als Protagonistin eine alte Frau aussuchte und dass es ihm gelang, sich in
diese Figur einzuleben, was für einen jungen Mann sicher nicht leicht war.119
In diesem
Roman erzählt die alte Rosa über ihr ganzes langes Leben. Dabei bekommt der Leser
auch die ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts auf 430 Seiten nacherzählt. Georg
Pichler bewertet Vertlibs Bemühen folgendermaßen:
Als kongenialer Chronist von Rosa Masur erweist er sich in diesem großen Roman
(mehr als in seinen beiden vorangegangen Romanen) als ein außergewöhnlicher
Erzähler, der sehr ökonomisch, mit viel Gespür und Gefühl für seine Figuren, ein
anschauliches Geschichtsbuch geschaffen hat[…]120
Laut Hans Auinger gelang es Vertlib aber nicht vollkommen. Einige Geschichten,
die Rosa erlebt hatte, schienen ihm zu abenteuerlich121
. Das Treffen Rosas mit Stalin,
das auch im Roman steht, hält er für das krasseste Beispiel für dieses erzähltechnische
Dopping122
.
Zu Vertlibs anderem Roman Letzter Wunsch meint Paul Jandl, dass er sich mit
wichtigen Themen wie Judentum, jüdische Identität und Antisemitismus
auseinandersetzt: Vladimir Vertlib hat einen wichtigen Roman geschrieben, der beides
zugleich ist: große Erzählung und politischer Essay.123
Auf sehr wichtige Probleme, die
sich nicht nur auf die deutsch-jüdischen Verhältnisse beziehen, weist Vertlib in diesem
Roman auch laut Helmut Sturm hin.124
Martin Link charakterisiert diesen Roman mit
den Worten ironisch, tragikomisch, liebevoll125
. In einigen Rezensionen, die das Werk
als Ganzes positiv beurteilen, kann man auch kritische Bemerkungen finden. Klaus
118
Stocker, G. Aus dem Zeitalter der Extreme. Buch Kritik, BW 1.
119 Vgl. Ebd. Oder Schiller, M. Frauenschicksal aus schwerer Zeit. Hamburger Abendblatt, 11.06.2001.
120 Pichler, G. Tapeten von den Wänden kratzen. Die Presse, 28.04.2001.
121 Auinger, H. Ein Jahrhundert-Roman. Salzburger Nachrichten, 25.08.2001.
122 Ebd.
123 Jandl, P: Tote wandern nicht aus. Neue Züricher Zeitung, 13.01.2004, S. 41 – 42.
124 Sturm, H. Kein Platz für den Toten. Salzburger Nachrichten, 29.11.2003.
125 Link, M. Das Lachen über einem Grab. Neuer Vorarlberger Tageszeitung, 12.05.2004.
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65
Zeyringer findet den Roman sprachlich nicht immer so geschickt126
und David Axmann
wünscht sich einen anderen Schluss.127
Auch der Erzählband Mein erster Mörder wird meist positiv angenommen. Eine
durchaus positive Rezension findet man bei Verena Auffermann in der Süddeutschen
Zeitung, die den Lesern empfiehlt: Unbedingt lesen, dieses Buch ist erhellender als jede
Ausstellung.128
Die Sprache dieser Erzählungen hebt Sabine Berking hervor:
Beim Schreiben, so hat Vertlib einmal gesagt, greift er intuitiv auf den Rhythmus
seiner russischen Muttersprache zurück. Das Vokabular und die Syntax, mit
wienerischem Kolorit, sind so makellos komponiert und den Erzählenden so
passend auf die Zunge gelegt, wie es nicht selten gerade jede translingualen,
transkulturellen Autoren vermögen, die sich das Deutsche als Fremdsprache
erlesen und erhört haben.129
In der Rezension in der Jüdischen Zeitung werden Vertlibs Figuren mit Kaminers
verglichen. Für Kaminer geht dieser Vergleich nicht positiv aus:
Vladimir Vertlib löst in allen seinen Büchern das ein, was Wladimir Kaminer zu
versprechen scheint. Während Kaminers liebenswerte Helden seltsam statisch
bleiben, ohne jede innere Entwicklung, vermag Vertlib legendige Charaktere zu
entwickeln.130
Eine negative Kritik zu Vertlibs Mein erster Mörder können wir bei Barbara
Ruhsmann finden, die diese Erzählungen für nicht sehr fertig hält.131
Zu Vertlibs letztem Roman gibt es sowohl positive als auch negative
Rückmeldungen. Die positiven loben hier das hervorragende Erzähltalent Vertlibs und
126
Zeyringer, K. Verhinderte Grablegung. Der Standard, 31.7.2004.
127 Vgl. Axmann, D. Ein Sohn sucht eine Identität. Wiener Zeitung, 10.10.2003.
128 Auffermann, V. Im richtigen Land zu der falschen Zeit mit der falschen Sprache. Süddeutsche Zeitung,
02.11.2006.
129 Berking, S. Unter der Käseglocke. FAZ, Nr. 79, 03.04.2006, S. 38.
130 „Mein erster Mörder“ von Vladimir Vertlib. Jüdische Zeitung, März 2006.
131 Vgl. Ruhsmann, B. Suchbegegnungen. Die Furche/Bücher-Frühling, Nr. 16, 20.04.2006.
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66
die Spannung in dessen Geschichten.132
Die negativen finden den Roman wenig stabil133
oder „überladen“134
. Mehrmals kann man lesen, dass Vertlib mit diesem Roman und mit
dessen Thematik in ein Wespennest135
sticht.
Vladimir Vertlib tritt selbst als Rezensent in Zeitungen und Zeitschriften auf
(z.B. Mit der Ziehharmonika, Literatur und Kritik, Wiener Zeitung, Die Presse). Er
äußert sich zur Situation in Israel136
oder zur österreichischen Politik gegenüber Juden
und zum Leben der Juden in Österreich.137
Kaminers erster Erzählband Russendisko erregte nicht nur bei den Lesern große
Aufmerksamkeit, sondern auch die in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften tätigen
Journalisten widmeten diesem Werk viele Bemerkungen. So erklärte Alexander Honold
das Erfolgsrezept Kaminers für dieses Buch: Auf Beschönigungen zu verzichten, um
noch die schlimmste Wendung der Dinge für die Komik einzuspannen.138
Im Jahre 2000
war Kaminer für Henryk M. Broder aus dem Spiegel ein großes Erzähltalent und „auf
dem besten Weg, deutscher Dichter zu werden.139
Roland Mischke hielt Russendisko,
Schönhauser Allee und Militärmusik für nett erzählte Ansammlungen von
Beobachtungen, aber nicht von überragender literarischer Qualität.140
Die Popularität
dieser Werke wurde durch den selbstironischen Ton von Kaminers Geschichten
132
Vgl. Gärtner, T. Traumatische Geschichten. Dresdner Neuste Nachrichten, 03.05.2010. Oder Axmann
D. Vertlib, Vladimir: Am Morgen des zwölften Tages. Wiener Zeitung, 17.10.2009.
133 Schaber, S. Leise ächzt es im Gebälk. Die Presse, 10.10.2009.
134 Aschenbrenner, C. Orientalische Affären. Neue Zürcher Zeitung, 20.05.2010.
135 Mazanauer, B. Stich ins Wespennest. Readme.CC., April 2009, S. 31. Und Mezanauer, B.: Ein Plädoyer
für säkulare Werte. Der Landbote, 08.10.2009.
136 Vgl. Vertlib, V. Meine Cousine in Haifa. Die Presse, Spectrum/Zeichen der Welt, 22. 07. 2006.
137 Vgl. Interview mit V. Verltib: „Wegfahren und nie angekommen“. Jüdische Allgemeine, S. 14,
16.03.2006.
138 Honold, A. Verwegen quert ein Russe durch Berlin. FAZ Buchmesse-Literaturbeilage, 17.10.2000.
139 Broder, H. Glücklich in der Russen-Zelle. Spiegel, 18.9.2000.
140 Mischke, R. Kurort Berlin. Handelsblatt, 01.03.2002.
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geschaffen. Mischke beendet seine Rezension folgendermaßen: Er (Kaminer)
produziert Schelmenliteratur, ein Gattung, die Unterprivilegierte zu Helden macht, die
dann mit List, Witz und Verve durchs Leben kommen. Ein Narr darf alles, sogar die
Wahrheit sagen. Das ist Wladimir Kaminers Chance. Er nutzt sie.141
Dieter Hildebrandt hielt Kaminer in seiner Rezension zum Buch Die Reise nach
Trulala für einen begabten Fantast und für einen Candide der Normalität142
. Er lobte
die Sanftheit von Kaminers Satire und bezeichnet die Titelgeschichte als Groteske, wie
sie auch ein Woody Allen nicht besser geschrieben hat.143
Christoph Bartmann behauptete, dass Kaminers Geschichten in Mein deutsches
Dschungelbuch manchmal etwas oberflächlich sind; ansonsten jedoch ist Kaminer
seiner Meinung nach ein großer Stilist, ein Meister seiner Form144
. Bartmanns Artikel
endet für Kaminer sehr positiv: Wladimir Kaminer, soviel steht fest, ist ein großer
Gewinn für die deutsche Literatur.145
Auch Kaminers Erzählband Es gab keinen Sex im Sozialismus wurde von
Kritikern positiv angenommen. In Welt Kompakt macht Marina Neubert auf Kaminers
Nachlässigkeit im Umgang mit Details146
in Bezug auf historische Fakten aufmerksam;
sonst wurde dieses Buch in diesem Artikel als humorvolles Werk mit Witz, ohne große
Ansprüche147
dargestellt. Neubert hebt hier noch die Situationskomik und die Text-
Performance148
dieses Werkes hervor. Im Buch Es gab keinen Sex im Sozialismus
141
Ebd.
142 Hildebrandt, D. Ein Grüner radelt nach Sibirien. Die Zeit (Literaturbeilage) Nr. 47, November 2002.
143 Ebd.
144 Bartmann, Ch. Wo bin ich? Süddeutsche Zeitung, 12.12.2003.
145 Ebd.
146 Neubert, M. Sowjets hatten gar keinen Sex. Welt kompakt, 13.2.2009.
147 Ebd.
148 Ebd.
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68
beweist Kaminer nach Ansicht Ingo Schiwecks, dass er Meister darin ist, aus der
größten Banalität noch etwas Komisches herauszukitzeln.149
In Daniela Mairovicis Rezension zu Kaminers Buch Meine russischen Nachbarn
wurden lauter Superlative verwendet – die Erzählungen sind ihrer Meinung nach witzig,
lustig und unterhaltsam. Sie beschreibt eine Lesung Kaminers, bei der aus diesem Buch
vorgelesen wurde und zu der Kaminers russischer Nachbar Sergej kam – also eine der
Figuren in diesem Buch.150
An diesem Beispiel können wir sehen, wie Kaminer mit der
Authentizität und Fiktionalität umgeht und wie er aus seinen Texten eine Performance
macht.
Wladimir Kaminer ist selbst in der Welt der deutschen Medien präsent. Die
deutschen Medien halten Kaminer für einen Russenexperten151
, deshalb wird er oft zu
Diskussionen über Russland und dessen Politik eingeladen. Andererseits wird er von
russischen Medien für einen Deutschenexperten152
gehalten. Die meisten Interviews mit
Kaminer hinterlassen einen ähnlichen Eindruck wie seine Geschichten. Auch bei den
meisten Interviews erzählt er darüber, wie er nach Deutschland kam oder wie er zum
Schriftsteller und DJ wurde.153
Nach der Erscheinung des Buches Küche totalitär wurde
Kaminer auch von verschiedenen Life-Style-Magazinen zum Thema Russische Küche
interviewt.154
In der Süddeutschen Zeitung im Magazin schildert Kaminer die
traditionellen russischen Speisen und die Gastronomie, hauptsächlich das Gericht
149
Schiweck, I. Kaminer klärt auf. Spiegel Online , 2.3.2009, [on-line]. [Letzter Zugriff 2010-12-03]. Abrufbar unter: ‹http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,6100844,00.htm ›
150Vgl. Mairovici, D. Kaminers komische Nachbarn. Berliner Zeitung, 28.08.2009, S. 29.
151 Adorján, J. Wladimir Kaminer. Papa schreibt das so oder so auf. FAZ, 4. 10. 2008, [on-line]. [Letzter
Zugriff 2010-12-03].Abrufbar unter:
‹http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E1CE96C01485D4AF88340723A6CE61062~ATpl~Ecommon~Scontent.html›
152 Ebd.
153 Vgl. Jung, I. Russendisko auf Sylt. Hamburger Abendblatt, 27.08.2008. oder Stumpff, T. Wladimir
Kaminer „ich bin kein Sprachkünstler. Für mich ist Sprache nur ein Instrument.“ Galore 02, 25.01.2004.
154 Vgl. Piske, S. Küche libertär. H.O.M.E, April/Mai 2006. Oder Wesselhöft, P. Was bekommt der Küche
besser: Sozialismus oder Kapitalismus. Der Feinschmecker, 4/2006, S. 153, ff.
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Cholodez. Auf dem Foto zu diesem Artikel ist Kaminer zusammen mit seiner Mutter
Shanna, die diesen Artikel mit dem Rezept für Cholodez ergänzt.155
4.5 Sprachen, in die man Werke Verltibs und Kaminers übersetzt
Laut Angaben des Verlags Manhattan werden Kaminers Werke in diese
Sprachen übersetzt:
Militärmusik: Bulgarisch, Kroatisch, Tschechisch, Estnisch, Finnisch,
Französisch, Ungarisch, Isländisch, Hebräisch, Italienisch, Koreanisch, Litauisch,
Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Schwedisch, Niederländisch.
Schönhauser Allee: Kroatisch, Finnisch, Ungarisch.
Die Reise nach Trulala: Bulgarisch, Kroatisch, Tschechisch, Französisch,
Ungarisch, Italienisch, Lettisch, Niederländisch, Norwegisch, Polnisch, Russisch,
Koreanisch, Portugiesisch.
Mein deutsches Dschungelbuch: Norwegisch.
Ich mache mir Sorgen, Mama: Finnisch, Italienisch.
Küche totalitär: Italienisch, Ungarisch, Schwedisch.
Ich bin kein Berliner: Finnisch, Chinesisch (Taiwan), Bulgarisch, Spanisch.
Es gab keinen Sex im Sozialismus: Niederländisch.
Russendisko wurde in diese Sprachen übersetzt (Angaben der Agentur
Eggers & Landwehr): Tschechisch, Spanisch, Niederländisch, Englisch, Italienisch,
Russisch, Portugiesisch, Norwegisch, Finnisch, Griechisch, Slowenisch, Serbisch,
Ungarisch, Rumänisch, Hebräisch, Koreanisch, Schwedisch.
155
Vgl. Kaminer, W. Glückliches Händchen. Süddeutsche Zeitung – Magazin, 03.12.2004.
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70
Auch bei der Franz Deuticke Verlagsgesellschaft habe ich nach
Übersetzungen der Werke von V. Vertlib gefragt. Ich habe folgende Information
bekommen:
Folgende Übersetzungen sind gemacht (und teils auch schon erschienen):
Zwischenstationen in Italienisch, Slowenisch, Russisch. Bei den anderen Romanen
sind wir noch in Verhandlungen mit ausländischen Verlagen, da kann aber noch
nichts fix verkündet werden. (09.12.2010)
Beim Otto-Müller-Verlag erkundigte mich nach den Übersetzungen von der
Erzählung Die Abschiebung von Vertlib und bekam folgende Antwort: in unseren
Unterlagen findet sich lediglich eine Übersetzung ins Tschechische. (17.12.2010)
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71
5. Schluss
In dieser Magisterarbeit versuchte ich, zwei Autoren zu vergleichen, die viele
Gemeinsamkeiten aufweisen. Je tiefer ich mich aber mit meiner Analyse beschäftigte,
desto mehr Unterschiede zwischen beiden Autoren fand ich. Diese Unterschiede
besprach ich schon an mehreren Stellen in dieser Arbeit. Hier eine kurze
Zusammenfassung:
Die Herkunft Vertlibs und Kaminers und ihre Emigration nach Österreich und
Deutschland beeinflusste ihr Werk deutlich. Dies mag auch der Grund für Ähnlichkeiten
in ihrer Themenauswahl sein. Wenn man sich aber die literarische Form, für die sie sich
entschieden haben, genauer ansieht, kann man sofort den ersten großen Unterschied
bemerken. Vertlib schreibt Romane oder längere Erzählungen, die oft einen
geschichtlichen Hintergrund haben, und versucht, in seinen Geschichten mehrere
Perspektiven darzustellen. Kaminer wählt hingegen oft die Form kürzerer Erzählungen,
die es ihm nicht erlaubt, in die Tiefe zu gehen. Nahezu alle seiner Erzählungen und
Geschichten sind in einem humoristischen Stil geschrieben. Auf den Leser wirken sie
sehr leicht und witzig und ihr Ziel ist hauptsächlich zu amüsieren. Man kann auch bei
Kaminer Geschichten finden, die die Leser zum Nachdenken bringen sollen, diese
„Momente“ zum Nachdenken sind aber oft in einem Inhalt verborgen, der auf den ersten
Blick sehr humorvoll wirkt.
Der zweite große Unterschied besteht in der Selbstdarstellung beider Autoren.
Über Kaminer kann man sagen, dass er „überall“ präsent ist. Mit diesem „Überall“ sind
seine häufigen Lesungen in ganz Deutschland gemeint (siehe www.wladimirkaminer.de
unter Veranstaltungen) oder die Anzahl der Treffer zu seiner Person und seinem Werk
im Internet. Die literarische Form kurzer Erzählungen lässt sich vor allem im Internet
sehr gut präsentieren, was Kaminer auf seiner Homepage, wo man sich einige vom
Autor selbst gelesene Geschichten anhören kann, auch tut. Kaminer bezieht auch seine
Familie in seine literarische Tätigkeit mit ein. Viele Geschichten Kaminers werden von
Erlebnissen und vom Leben seiner Frau, seiner Kinder und seiner Eltern inspiriert, aber
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die Familienmitglieder treten nicht nur als Figuren im literarischen Werk Kaminers auf,
sondern es gibt auch Interviews mit ihnen. Somit ist nicht nur der Autor selbst für seine
Leser immer „dabei“, sondern auch seine Familie als Inspiration für Figuren in seinen
Erzählungen und Romanen.
Eine solche Selbstdarstellung lässt sich bei Vertlib überhaupt nicht beobachten.
Der größte Unterschied in der Selbstdarstellung beider Autoren besteht sicher in der
Verwendung des Internets. Vertlib gründete bis jetzt keine eigene Internetseite, auf der
er sich selbst und sein Werk vorstellen könnte. Hierbei entsteht eine wichtige Frage: Ist
die literarische Form, die Vertlib ausgewählt hat, für eine solche Präsentation im
Internet geeignet?
Vom Privatleben Vertlibs erfahren die Leser kaum etwas. Meiner Meinung nach
hängt es mit Vertlibs Einstellung zu den autobiographischen Aspekten in seinen
Romanen und Erzählungen zusammen: Vertlib präsentiert sein Werk als fiktional, auch
wenn er zulässt, dass er sich von seinem Leben und vom Leben seiner Familie
inspirieren ließ. Kaminer behauptet, dass seine Geschichten tatsächlich passiert seien,
nur ab und zu habe er etwas verändert. Das bedeutet, dass die meisten Figuren in
Kaminers Erzählungen und Romanen wirklich existieren müssen und deshalb ist es
sinnvoll, sie den Lesern auch vorzustellen. Außerdem ist es eine gute Werbung für das
Buch, wenn die Leser die Figuren aus dem Buch mit eigenen Augen sehen können. Das
wäre bei Vertlib und bei seiner Einstellung zur Realität und Fiktionalität in seinem
Werk unmöglich.
Ich persönlich hatte die Möglichkeit, Lesungen beider Autoren zu besuchen. An
dieser Stelle erlaube ich mir ein paar Bemerkungen zu diesen Veranstaltungen, die eher
einen subjektiven Charakter haben werden:
Die Lesung von Vladimir Vertlib fand anlässlich des Literaturfestivals Měsíc
autorského čtení im Juli 2009 in Brno statt. Vertlib las aus seinen Büchern Spiegel im
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73
fremden Wort und Zwischenstationen vor. Er selbst ging darauf ein, dass sein Werk
keine reine Autobiographie ist und seine Behauptung begründete er mit der Figur der
Mutter, die Unterschiede zu Vertlibs Mutter aufwies. Er besprach auch die sprachlichen
Fragen mit dem Publikum und erklärte, wie es für ihn ist, auf Deutsch zu schreiben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass er sich als österreichischer Autor mit russisch-
jüdischem Hintergrund vorstellte. Schließlich wurde er als österreichischer Autor von
den Veranstaltern eingeladen, da die Ehrengäste aus den Reihen der Schriftsteller in
diesem Jahrgang aus Österreich kamen.
Die Lesung von Wladimir Kaminer, die ich besuchen konnte, fand im Dezember
2010 in Heidelberg statt. Der Autor las sowohl ältere als auch neue, noch nicht
herausgegebene Erzählungen vor. Nebenbei kommentierte er und erklärte Details zu
seinen Erzählungen, was die Authentizität des Erzählten noch verstärkte. Die Leser
konnten den Eindruck gewinnen, dass die Geschichten tatsächlich passiert seien. Die
Thematik der Erzählungen betraf den Alltag, Russland und Deutschland gesehen mit
den Augen eines „Nicht-Deutschen“. Hinsichtlich der Geschichten, die das Leben in
Russland schilderten, wirkte Kaminer als „Botschafter“ Russlands. Der Eindruck wurde
durch die so genannte Russendisko (eine Disko mit russischer Musik) bestätigt, die nach
der Lesung stattfand.
Während der Entstehung dieser Arbeit habe ich mich mit einigen Fragen an
Vladimir Vertlib gewandt. Unter anderem fragte ich ihn, ob er selbst Parallelen in
seinem Werk und im Werk von Wladimir Kaminer sehen kann. Diese Arbeit und diesen
Vergleich möchte ich also mit den folgenden Worten von Vladimir Vertlib beenden:
Die Parallelen bestehen wohl darin, dass wir uns beide ironisch mit Stereotypen
und Klischees auseinandersetzen und dass die Themen Russland und Emigration,
das Leben als Immigrant, die Frage der Identität und die europäische
Vergangenheit in unseren Werken (d.h. bei uns beiden) vorkommen.
Selbstverständlich gehen wir damit sprachlich und inhaltlich unterschiedlich um.
Bei Herrn Kaminer steht die satirische, oft auch groteske Auseinandersetzung mit
der Welt und mit sich selbst weit stärker im Vordergrund als bei mir, auch wenn
der Humor, wie ich glaube, in meinem Werk gleichermaßen eine wesentliche Rolle
spielt.
Page 74
74
Bibliographie
Primärliteratur – Vladimir Vertlib
Vertlib, V. Abschiebung. Salzburg/Wien: Otto Müller Verlag, 1995.
Vertlib, V. Am Morgen des zwölften Tages. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2009.
Vertlib, V. Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur. München: DTV, 2007.
Vertlib, V. Der subversive Mut zur Naivität. In Spiegel im fremden Wort. Dresden:
Thelem 2008.
Vertlib, V. Letzter Wunsch. München: DTV, 2006.
Vertlib, V. Meine Cousine in Haifa. Die Presse, Spectrum/Zeichen der Welt, 22. 07.
2006.
Verltib, V. Mein erster Mörder. München: DTV, 2008.
Vertlib, V. Spiegel im fremden Wort. Dresden: Thelem, 2007.
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Vertlib, V. Zwischenstationen. München: DTV, 2009.
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Primärliteratur – Wladimir Kaminer
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Kaminer, W. Hrsg. Frische Goldjungs. München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2001.
Kaminer, W. Es gab keinen Sex im Sozialismus. München: Manhattan, 2009.
Kaminer, W. Glückliches Händchen. Süddeutsche Zeitung – Magazin, 03.12.2004.
Kaminer, W. Ich mache mir Sorgen, Mama. München: Manhattan, 2004.
Kaminer, W. Karaoke. München: Manhattan Verlag, 2005.
Kaminer, W. Küche totalitär. München: Manhattan Verlag, 2006.
Kaminer, W.: Mein deutsches Dschungelbuch. München: Manhattan, 2003.
Kaminer, W. Meine russischen Nachbarn. München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2009.
Kaminer, W. Militärmusik. München: Manhattan, 2001.
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Kaminer, W. Salve Papa! München: Manhattan, 2008.
Kaminer, W. Schönhauser Allee. München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2003.
Sekundärliteratur zu Wladimir Kaminer und seinem Werk
Bartmann, Ch. Wo bin ich? Süddeutsche Zeitung, 12.12.2003.
Broder, H. Glücklich in der Russen-Zelle. Spiegel, 18.9.2000.
Ernst, T. Jenseits von MTV und Musikantenstadt. Popkulturelle Positionierungen in
Wladimir Kaminers „Russendisko“ und Feritlun Zaimoglus „Kanaks Sprak“. In Arnold,
H. L. Hrsg. Text + Kritik Sonderband Literatur und Migration, Nr. 10, 2006.
Hausbacher, E. Poetik der Migration. Transnationalle Schreibweise in der
zweitgenössischen russischen Literatur. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 2009, 247 ff.
Heero, A. Multikulturelle Indentitätskonstruktion in der deutschen Gegenwartsliteratur.
In Parry, Ch., Voßschmidt, L. Hrsg. Europäische Literatur auf Deutsch? München:
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Heero, A. Zwischen Ost und West: Orte in der deutschsprachigen transkulutrellen
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Hildebrandt, D. Ein Grüner radelt nach Sibirien. Die Zeit (Literaturbeilage) Nr. 47,
November 2002.
Horáčková A.: Berlínskou zeď bych dal znovu postavit. A ještě výš! MF Dnes,
12.12.2009, Beilage Kavárna, S. 38 – 39.
Honold, A. Verwegen quert ein Russe durch Berlin. FAZ Buchmesse-Literaturbeilage,
17.10.2000.
Ich trage einen tollen Anzug und bin auch noch nicht Deutscher“ Interview mit
Wladimir Kaminer. Aufbau, Das jüdische Monatzsmagazin, April 2003.
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