Page 1
Violencia und Machismo in Kolumbien1
Gewalt ist seit jeher eines der beherrschenden Phänomene der lateinamerikani-
schen Wirklichkeit. In Kolumbien wurde „La Violencia“ zum Synonym für
einen bürgerkriegsähnlichen Prozess, der zu Beginn der fünfziger Jahre des 20.
Jahrhunderts durch seine extrem gewaltsamen, ja sadistischen Züge den Mythos
von der „hochkultivierten Musterdemokratie“ Kolumbien mit einem Male zer-
schlug2 und innerhalb von wenigen Jahren das soziale und politische Gefüge des
Landes schwer erschütterte. Die Bezeichnung „La Violencia“, die Gewalt, er-
scheint insofern gerechtfertigt, als es sich hier nicht um einen strukturierten
Bürgerkrieg mit klaren Fronten und politischen Motiven handelte, sondern um
einen scheinbar sinnlosen Kampf aller gegen alle, der den Beobachter vor allem
durch seine unvorstellbare Grausamkeit schockiert. Harmlose Bauern, die an-
sonsten eher als besonders lethargisch und apathisch galten und normalerweise
friedlich und ohne aufzumucken ihrer Feldarbeit nachgingen, wurden mit einem
Male ohne ersichtliches Motiv zu wilden Bestien, die nicht davor zurück-
schreckten, hochschwangere Frauen brutal zu Tode zu quälen oder neugeborene
Babys vor den Augen ihrer Mütter an Zaunpfählen aufzuspießen; die sich ent-
setzliche Techniken ausdachten, um ihre männlichen Opfer zu verstümmeln und
zu kastrieren, und die hilflose alte Menschen einem qualvollen Tod aussetzten,
indem sie sie in ihren Strohhütten fesselten und diese dann in Brand steckten.3
Der große Anteil an Sexualverbrechen, Sadismus und Pyromanie mag nun dazu
verleiten, die Violencia vor allem als psychologisches Phänomen erklären zu
wollen; diese Versuche scheitern jedoch letztlich angesichts der unbegreiflichen
Tatsache, dass es sich ja nicht um psychische Abnormitäten einzelner Personen
handelte, sondern um eine kollektive Erscheinung, die ein ganzes Volk oder
1 Erstveröffentlichung in: Iberoromania. Zeitschrift für die iberoromanischen Sprachen und
Literaturen in Europa und Amerika / Revista dedicada a las Lenguas y Literaturas ibero-
rrománicas de Europa y América. Nummer 21, Neue Folge 1985, S. 146–168.
2 Zu diesem Stereotyp vgl. etwa ARCINIEGAS: „en unos pocos meses, puede arruinarse en la
América Latina la mejor de las democracias.“ Und weiter: „una de las democracias que re-
putábamos entre las más sólidas del hemisferio pasa a estado totalitario. Colombia [...] ha
sido nación de autoridad moral: representaba el ejemplo de un país grande, con fuerte dosis
de sangre americana, sin inmigrantes, que debía todo su progreso a gobiernos civiles y re-
presentativos. Había completa libertad de prensa y un juego libre de opinión publica. De un
día a otro, se apagan las libertades y se proclama un nuevo estilo: el terror.“ (195810: 205f.)
3 Über die in der Violencia üblichen Folterpraktiken kann man ausführlich bei GUZMÁN
CAMPOS et al. 1977
8, Bd. I: 225–237, nachlesen.
Page 2
2
doch zumindest die gesamte bäuerliche Bevölkerung erfasste.4 Um die Bedeu-
tung des Phänomens abschätzen zu können, genügt es eigentlich, auf die Zahl
der Todesopfer im Verlauf der Violencia hinzuweisen, und da zeigt es sich, dass
in dem relativ kurzen Zeitraum von 1948–1964, den man gemeinhin mit „La
Violencia“ umschreibt,5 ungefähr 200.000 bis 300.000 Tote (davon 112.000
allein in den ersten beiden Jahren) zu beklagen waren;6 das ist in relativen Zah-
len mehr als 2% der damaligen Bevölkerung von etwa 14 Millionen (cf. ARDILA
et al. 1971: 42), und absolut gesehen mehr als die gesamten westlichen Verluste
im etwa gleichzeitig stattfindenden Koreakrieg (cf. GUZMÁN CAMPOS et al.,
19778, Bd. I: 293 und BAILEY 1967: 562).
4 Die Violencia ist ein ausgesprochen ländliches Phänomen; in den Städten gab es wohl auch
vereinzelte Ausschreitungen, aber in abgeschwächter Form und mit anderer Zielrichtung.
Denn was sich im selben Zeitraum in städtischen Gebieten an vergleichbaren Auseinander-
setzungen ereignet, ist – mit Ausnahme des „Bogotazo“ – ein zielgerichteter Kampf des
Industrieproletariats um seine soziale Besserstellung. Dieses soziale Element aber fehlt in
der ruralen Violencia – zumindest in ihrem Anfangsstadium – vollkommen.
5 Eine genaue zeitliche Abgrenzung der Violencia vorzunehmen erweist sich als außeror-
dentlich schwierig, da sie im Prinzip nach beiden Seiten hin offen zu sein scheint: Sie wird
von einer relativ langen Vorbereitungsphase (die von manchen bis 1930 zurückdatiert
wird) eingeleitet, und ihre „Nachbeben“ sind bis in die heutigen Tage spürbar. Die Anga-
ben über ihre chronologische Erstreckung schwanken somit beträchtlich: ARDILA et al.
(1971: 41) begrenzen sie mit den Jahren 1949–1958, bei BAILEY (1967) dauert sie von
1946 bis zum „heutigen Tag“ (also ca. 1966), GUZMÁN CAMPOS et al. (19778, Bd. I: 36f.)
datieren sie von 1948–1958, OQUIST (1980: xi) von 1946–1966, und GILHODES (1976: 71)
erhebt überhaupt die Frage: „Quand commence-t-elle? en 1946? en 1948 ou en 1949?
d’aucuns disent 1930? Quand finit-elle? 1957? 1963-64? Continue-t-elle?“, und er kommt
zu dem Schluss, dass die eigentlich charakteristische Phase der Violencia von 1946–1964
anzusetzen wäre (ibid.: 79). Wir haben uns hier für den „Bogotazo“ von 1948 als markan-
ten Anfangspunkt entschieden, obwohl uns bewusst ist, dass die Vorbedingungen hiefür
bereits einige Jahre zuvor geschaffen werden.
6 Auch die Angaben über die Zahl der Opfer schwanken beträchtlich, was zu einem Gutteil
auf die ungenauen Statistiken aus diesem Zeitraum zurückzuführen ist, deren Erhebung ja
damals in den Händen der für die Entfesselung der Violencia unmittelbar Verantwortli-
chen, den lokalen Behörden, lag. Diese hatten verständlicherweise kein Interesse daran,
über den zahlenmäßigen Umfang der Tragödie zu informieren. Die Hochrechnungen und
Schätzungen der verschiedenen Autoren kommen somit zu recht unterschiedlichen Ergeb-
nissen, die von 100.000 im Zeitraum 1947–1956 (ARCINIEGAS 195810: 208) bis 300.000
(GÓMEZ ARISTIZÁBAL 1962: 21) reichen; letzterer beruft sich auf einen Brief, den der Co-
mandante del Ejército brigadier–general Alberto Ruiz Novoa an die kolumbianische Ta-
geszeitung El Siglo geschrieben habe und in dem von dieser Zahl die Rede sei. GUZMÁN
CAMPOS et al. (1977
8, Bd. I: 292) und OQUIST (1980: xi) nehmen eine Mittelstellung ein
und sprechen von ca. 200.000 Toten bis zum Jahr 1962.
Page 3
3
Andererseits aber können auch rein politische oder sozioökonomische Erklä-
rungsversuche wie die marxistische Theorie des Klassenkampfes oder gar die
oberflächliche, aber weit verbreitete Betrachtungsweise der Violencia als bloßer
Machtkampf zwischen den beiden seit Generationen verfeindeten Parteien des
Landes, den Konservativen und Liberalen, nicht befriedigen, ja selbst die mo-
derne Konfliktforschung mit ihren Theorien von direkter und struktureller, laten-
ter und manifester Gewalt7 reicht offensichtlich nicht aus, um dem komplexen
Phänomen „Violencia“ gerecht zu werden. Denn wenn es nur darum gegangen
wäre, den (partei)politischen Gegner auszuschalten, bzw. die kapitalistischen
Ausbeuter ihrer Machtposten zu entheben, dann hätte es ja genügt, sie gefangen
zu nehmen, des Landes zu verweisen oder sie letzten Endes auch physisch zu
liquidieren. Wozu aber dann sie foltern und kastrieren, sie mit fast rituellen „cor-
tes“ verstümmeln bzw. mit Machetenhieben zerstückeln? Und wozu erst recht
ihre Frauen vergewaltigen, ihnen die Brüste abzuschneiden, ihnen statt des Fötus
einen lebenden Hahn einzusetzen und viele andere Gräueltaten mehr? Um diese
Orgien des Sadismus irgendwie deuten zu können, scheint es nahezuliegen, eine
Querverbindung zwischen der politisch–ökonomischen Realität des Landes und
der psychischen Struktur seiner Bevölkerung zu suchen, und hier bietet sich
natürlich das für Lateinamerika so typische Phänomen des „Machismo“ als eine
der möglichen Erklärungshilfen an. Wir wollen also im folgenden versuchen,
innerhalb der kolumbianischen Familienstruktur Faktoren ausfindig zu machen,
die aggressive oder sadistische Tendenzen begünstigen könnten, wie sie u. a. für
die spezifische Ausprägung der Violencia verantwortlich waren. Denn so sehr
wir uns der Gefahr bewusst sind, die Violencia bloß aufgrund psychologischer
Theorien deuten zu wollen und ihre Ursachen in den Verantwortungsbereich des
einzelnen – pervertierten, sadistischen oder sonstwie „gestörten“ – Individuums
abzuschieben, weil dadurch die eigentlichen sozialen und ökonomischen Wur-
zeln des Problems verschleiert würden, so sind wir doch der Ansicht, dass eine
sozialpsychologische Analyse (eine Analyse also, die allgemeine Tendenzen in
der psychischen Struktur einer Bevölkerungsgruppe untersucht) sehr wohl wert-
volle Aufschlüsse geben könnte über bisher noch zu wenig beachtete Aspekte
des Phänomens „Violencia“. Denn seit Freud ist es zur allgemein anerkannten
und in vielfachen Experimenten bewiesenen Erkenntnis geworden, dass die
Persönlichkeitsstruktur eines Menschen vor allem durch seine frühkindlichen
Erfahrungen geprägt wird; und diese Erfahrungen sammelt er nun einmal haupt-
7 Insbesondere GALTUNG (1975), PEREYRA (1974), ARENDT (1970) und, speziell auf latein-
amerikanische Verhältnisse bezogen, BARREIRO (19763).
Page 4
4
sächlich innerhalb der Familie. Diese wiederum ist nicht nur kleinste Organisa-
tionsform und Keimzelle der sie umgebenden und aus ihr erwachsenden Gesell-
schaft, sondern wird gleichzeitig auch entscheidend von den dort gültigen Nor-
men geprägt. Die familiären Beziehungen sind also einerseits Reflex der in der
Gesellschaft herrschenden Werte und Machtstrukturen, andererseits dienen sie
zugleich deren Reproduktion und Stabilisierung. So wenn z.B. Olga, eine ehe-
malige Nonne, zur Situation der Frauen bzw. zum Männlichkeitsklischee in
Kolumbien erklärt:
Für mich besteht eine enge Verbindung zwischen der Repression eines Volkes
und der Unterdrückung der Frau.
Und wenn ein Mann den Entschluß gefaßt hat, sich im Kampf für die Befreiung
eines Volkes zu engagieren, dann muß er sich selbst als Mann in Frage stellen und
sehr an sich arbeiten. (LÖW 1982: 65)
Es scheint also so etwas wie eine Parallelität, eine Homologie zwischen Fami-
lien- und Gesellschaftsstruktur zu geben.8 Oder, wie ARDILA et al. es ausdrü-
cken:
Las formas de educación culturalmente aceptables, serán por lo tanto una fuente
importantísima en la aparición de determinadas realidades socio-culturales; natu-
ralmente, la relación es mutua. (1971: 12)
Und sie formulieren anschließend die Fragestellung, der auch wir im Folgenden
nachgehen wollen:
Hay ciertas formas de educación y crianza que son más aceptables y más amplia-
mente difundidas que otras. ¿Cuáles son tales formas en nuestro medio, y cuáles
pueden ser las posibles implicaciones de ellas? ¿Cuáles son en la realidad los ras-
gos de personalidad ‘modales’ (que presentan una frecuencia mayor)? ¿Cómo va-
rían entre los diferentes estratos sociales y entre los diferentes grupos regionales?
(ibid.)
Bei der Betrachtung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern bzw. der
Familienstruktur in Kolumbien springen vor allem folgende Charakteristika ins
Auge:
1. Frustration und Schuldgefühle im sexuellen Bereich;
2. Unechtheit und Isolation in den intimen Beziehungen;
3. traditionelle Rollenverteilung und patriarchalische Familienstruktur;
4. Gewalt in der Kindererziehung und latente Vaterkonflikte;
8 Cf. MANOTAS: „La estructura familiar es muy similar a la estructura social y constituye su
núcleo.“ (1972: 57)
Page 5
5
5. überdurchschnittlicher Anteil an vaterlosen Familien;
6. problematische Mutter–Sohn–Beziehungen und Donjuanismo.
Alle diese Faktoren stehen sowohl mit dem Problem des Machismo als auch mit
dem der Violencia in Zusammenhang, wobei sich herausstellen wird, dass einige
dieser Symptome sozusagen „unterirdisch“ miteinander verbunden sind, also
Ausdruck ein- und desselben, komplexen Phänomens und daher in Wirklichkeit
nicht scharf zu trennen sind.
Als Grundlage für die Darstellung dieser sechs Punkte sollen uns nun nicht nur
statistische Erhebungen sowie sozialpsychologische Untersuchungsergebnisse –
soweit diese überhaupt vorliegen – dienen, sondern auch und insbesondere lite-
rarische Werke zeitgenössischer kolumbianischer Autoren, weil uns scheint,
dass die Sensibilität des Künstlers vielleicht am besten imstande ist, sich in die
intimen Probleme der Menschen seines Landes einzufühlen und ihnen zu adä-
quater Darstellung zu verhelfen,9 wobei man natürlich nicht in den Fehler verfal-
len darf, die literarischen Zeugnisse mit der in ihnen verarbeiteten Wirklichkeit
zu verwechseln, und wir sind uns dieses Qualitätsunterschiedes durchaus be-
wusst. Aber wenn wir mit GOLDMANN (19722: 30) die Beziehung des authenti-
schen literarischen Kunstwerks zum Kollektivbewusstsein als „Strukturhomolo-
gie“ betrachten, wobei das literarische Werk die Weltsicht der jeweils
dominanten sozialen Gruppe auf einer viel weiter fortgeschrittenen Kohärenz-
stufe ausdrückt, so erscheint es durchaus gerechtfertigt, gerade mangels gesi-
cherter soziologischer Daten auch literarische Werke als Basis für unsere Über-
legungen heranzuziehen. Um nun dem Zusammenhang zwischen Violencia und
Machismo nachzugehen, stützen wir uns auf einige von uns untersuchte Werke
der sog. „Violencia–Literatur“ (cf. PFEIFFER 1984b), und es zeigt sich, dass
praktisch in allen analysierten Romanen auch die familiäre und sexuelle Prob-
lematik eine große Rolle spielt. So scheinen z. B. die auffallende Häufigkeit von
Vaterkonflikten, das vorherrschende Klima von Aggression bzw. Isolation im
erotischen Bereich sowie die zahllosen Beispiele von vaterlos aufgewachsenen
Kindern bzw. problematischen Mutter–Sohn–Beziehungen auf eine mehr oder
minder direkte Beziehung zwischen dem Problem des Machismo und dem der
Violencia hinzuweisen, wobei wiederum, und das kann gar nicht häufig genug
9 Zu demselben Eindruck gelangt auch GILHODES: „Si les spécialistes des sciences sociales,
les juristes, les psychiatres [...] se sont penchés sur les problèmes que soulève la Violencia,
avec plus ou moins de bonheur, notons que les meilleurs témoignages que nous en possé-
dions relèvent plutôt de la littérature, du chant, de la peinture, du cinéma ou du théâtre.“
(1976: 71)
Page 6
6
gesagt werden, diese stets vor dem Hintergrund der tiefgreifenden sozialen,
politischen und ökonomischen Probleme gesehen werden müssen, die letztlich
erst dazu führten, dass diese im kollektiven Unterbewusstsein schwelenden Kon-
flikte virulent wurden und in manifeste Gewalttätigkeiten umschlugen. Wie
Oquist treffend ausführt, können die soziokulturellen Spezifika eines Volkes
nicht als alleiniger Erklärungsgrund für dessen Bereitschaft zur Gewaltanwen-
dung ausreichen, da
...social violence is to be found within all racial and cultural groups given all of
the collective psychological variations that are to be found within them. Germans,
North Americans, and the British have all been violent given different social con-
flicts and peaceful in other structural conditions. [...] Any group that one can men-
tion has resorted to violence in the past and may do so in the present or in the fu-
ture, given certain structural circumstances. The interesting questions then, are the
social conflicts that underlie group antagonisms and the factors that condition
their becoming violent. (OQUIST 1980: 148)
Was nun den ersten von uns genannten Punkt betrifft, so wird von einigen Sozi-
ologen ein mehr oder minder direkter Zusammenhang zwischen sexueller Rest-
riktion und Frustration und der Violencia hergestellt; so heißt es z.B. bei BAI-
LEY:
...generations of sexual frustration and guilt fostered by fanatical Catholic belief,
especially in rural areas, found a political excuse for outlet and ran amok. (1967:
570)
Auch das Wort „machismo“ fällt in diesem Zusammenhang:
There is undoubtedly great sexual tension in large areas of Colombian society and
the assertion of ‘machismo’ was certainly not absent in the psychological makeup
of many bandits and guerrillas. (ibid.: 571)
Es ist aber bezeichnend, dass dieser kurze Hinweis auf die sexuelle Problematik
wieder von einem – liberaleren? – Ausländer stammt;10 die einheimischen Auto-
ren erwähnen das Problem entweder überhaupt nicht oder doch sehr schamhaft
und versteckt (cf. GUZMÁN CAMPOS et al. 19778, Bd. I: 283f.). Offensichtlich
scheint die restriktive Erziehung so weit zu gehen, dass sie sogar die wissen-
schaftliche Analyse derartiger Themen zu unterbinden imstande ist. Eine Aus-
nahme in dieser Beziehung stellt lediglich die bereits erwähnte Studie Ardilas
dar, die sich allerdings nur mit den Folgen der Violencia im erotischen Bereich
beschäftigt und deren ursächliche Verknüpfung (vorläufig?) beiseite lässt. So
spricht er etwa von „temores, agresión y pesimismo en el área erótica“ (ARDILA
10 Auch sonstige uns bekannte Untersuchungen hiezu stammen hauptsächlich von Nordame-
rikanern, so z. B. DIX (1967) und WILLIAMSON (1965).
Page 7
7
et al. 1971: 76), einer „tendencia a la negación de la figura masculina [...] dismi-
nuyendo la relación de tipo erótico, y aumentando (probablemente) la relación
de tipo edípica“ (ibid.: 75), sowie von „elementos profundamente culpígenos,
unidos a los factores depresivos“ (ibid.: 73) und einer „frustración de las necesi-
dades afectivas“ (ibid.: 54). Ansonsten scheint die einzige Sorge kolumbiani-
scher Forscher darin zu bestehen, welche Konsequenzen die Violencia auf den
Zusammenhalt der Familie – deren vorheriges Funktionieren für sie offensicht-
lich außer Zweifel steht – mit sich brachte. So befassen sich etwa GUZMÁN
CAMPOS et al. ausführlich mit der „quiebra de las instituciones fundamentales“
(19778, Bd. I: 239ff.), darunter auch der der Familie, wobei hier bezeichnender-
weise nur die Eltern–Kind–Beziehungen, nicht aber das Verhältnis zwischen
Mann und Frau zur Debatte stehen. In diesem Zusammenhang ist es äußerst
aufschlussreich, sich die Schilderung der vorher bestehenden, „intakten“ Famili-
enstruktur vor Augen zu führen:
La socialización normal dependía del ejemplo y del castigo de los padres, perso-
nas honradas y trabajadoras por lo general, que trataban de imponer las normas de
su grupo. (19778, Bd. I: 281, Hervorhebungen von mir)
Abgesehen davon, dass hier wiederum nie von den Beziehungen der Ehepartner
die Rede ist, deren sexueller Charakter also rundweg geleugnet und verdrängt
wird,11 und beide Partner lediglich in ihrer sozialen Funktion als Vater bzw.
(ehrenhafte!) Mutter aufscheinen, ist auch die Selbstverständlichkeit auffallend,
mit der von (physischen?) Strafen gesprochen wird, die als etwas völlig Natürli-
ches, ja sogar Erstrebenswertes hingestellt werden. Weiters scheint gerade in
diesem lapidaren Zitat das völlige Fehlen affektiver Bindungen zu den Kindern
durch, die offensichtlich als reine Erziehungsobjekte und zukünftige Arbeits-
kräfte betrachtet werden und die es daher gilt, möglichst früh in die geltenden
Werte der umgebenden Gesellschaft einzugewöhnen. Gerade diese Verbindung
von emotionaler Kühle, ja innerer Ablehnung, und autoritärem Erziehungsstil ist
aber nach Erkenntnissen der modernen Psychologie in besonderem Maße dazu
angetan, einen Typus hervorzubringen, der durch ein extrem hohes Maß an Au-
toaggressivität sowie Schüchternheit und gleichzeitig Streitsüchtigkeit gegen-
über Freunden, also Gleichgestellten, gekennzeichnet ist (cf. BECKER 1964 und
STAPF et al. 1972). Wenn ferner ARDILA et al. davon sprechen, dass „la aplica-
11 Dies würde wiederum übereinstimmen mit Forschungsergebnissen von ARDILA et al.,
wonach die von der Violencia betroffenen Versuchspersonen dazu neigten, die sexuelle
Natur von Beziehungen zwischen Mann und Frau zu leugnen und sie entweder als Ver-
hältnis Mutter–Sohn oder aber als Aggressionshandlungen umzuinterpretieren (1971: 35,
75).
Page 8
8
ción de castigos físicos conlleva al desarrollo de una personalidad agresiva (el
sujeto aprende que la agresión es una forma de conducta aceptable), a un tipo de
sujetos dispuestos a transgredir las normas morales tan pronto tengan la oportu-
nidad y consideren que no serán descubiertos“ (1971: 11f.), dann erscheint ein
Zusammenhang zwischen dem in der kolumbianischen Gesellschaft sozial aner-
kannten, restriktiven Erziehungssystem und der Violencia zumindest einleuch-
tend. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Bemerkung von Fried-
rich Hacker, in der er beschreibt, wie sich die in gewaltsamer, autoritärer
Erziehung angestaute Frustration und Aggression schließlich nicht gegen deren
Verursacher, also die Eltern richtet, von denen das Kind ja physisch und psy-
chisch abhängig ist, deren Verhalten es somit imitiert und deren Normen es
schließlich internalisiert, sondern entweder nach außen gegen Unterlegene bis
Gleichgestellte zum Ausbruch kommt oder aber nach innen in autodestruktive
Haltungen umschlägt:
Wut und Verzweiflung des Individuums wegen des von ihm von oben rücksichts-
los abverlangten Triebverzichts richten sich dann nicht mehr gegen die hierarchi-
schen Höheren im natürlich notwendigen und notwendig natürlichen Über- und
Unterordnungsverhältnis, sondern gegen Gleichrangige, Untergeordnete und
schließlich oft gegen sich selbst. Unerträglich gewordene Gehorsamspflicht führt
zu Selbsthaß und Selbstverachtung, zu Depression und neurotischen Fluchthand-
lungen oder zu aktiver Nachahmung und Wiederholung des passiv erduldeten
Ordnungsschemas. Gerechtfertigte Gewalt verführt zur Kopie sowohl der Recht-
fertigung wie der Gewalt. (HACKER 1973: 190)
Die Parallele zur ablenkenden Ventilfunktion der Violencia, wie wir sie in
PFEIFFER 1984b (31f., 57) beschrieben haben, ist augenscheinlich, denn auch im
politischen und ökonomischen Bereich finden wir hier das Phänomen vor, dass
aufgestaute, großteils (zum psychischen Selbstschutz) unbewusste Aggressionen
nicht an den Verursachern von sozialer Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Ohn-
macht, sondern im Gegenteil an davon genauso betroffenen unschuldigen Op-
fern ausgelassen werden, die eben das Unglück haben, zum anderen politischen
Lager zu gehören12, und daher von der Rechtfertigungsmaschinerie der Herr-
schenden als erlaubte Objekte der Aggression hingestellt werden.
Andererseits aber ist gerade die Gewalt, die Väter gegen die eigenen Kinder
ausüben, wiederum als Ausdruck eines stellvertretenden Abreagierens von ak-
12 Vgl. etwa Luis López de Mesa: „all the nations of the earth have shown cruelty as horrible
and destructive as ours [..]. But I find in our ethical Situation an element and a refinement
of horror unknown in the world, because the cruelty was applied, not to adversaries or pos-
sible rivals, but to brothers, equal in Situation, or even more humble and innocent.“ (in: El
Tiempo, 30. 9. 1962, englisch zitiert in BAILEY 1967: 563.)
Page 9
9
kumulierten Gefühlen der Wut und Ohnmacht – die ihrerseits ihren Ursprung
sowohl in der eigenen Kindheit als auch in den Zwängen des auf Ungleichheit
der individuellen Verwirklichungschancen basierenden Gesellschaftssystems
haben –, an Schwächeren innerhalb des eigenen, gerade in seiner engen Um-
grenzung um so uneingeschränkteren Machtbereichs zu werten; hier schließt
sich einer der Kreisläufe der Gewalt. Die in Kolumbien so häufige Gewaltan-
wendung gegenüber Kindern erscheint so einerseits als Folge struktureller Ge-
walt innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft, als letzte Stufe der Hackord-
nung gegen das schwächste und wehrloseste Glied der Kette, andererseits aber
als neue Keimzelle, gewissermaßen als Vorstufe und erstes Symptom der Be-
reitschaft des Individuums zur Gewaltanwendung, die naturgemäß dort zuerst
sichtbar wird, wo der Gewaltausübende aus seiner Funktion als Träger einer
sozial definierten Rolle (Vater) die Berechtigung, ja Verpflichtung zur Anwen-
dung von Gewalt im Namen einer gesellschaftlich anerkannten Aufgabe (Erzie-
hungsfunktion) ableiten zu können glaubt. Denn die Eltern wenden die Gewalt
ja „nur zum Besten des Kindes“ an, um aus ihm ein „ordentliches“, arbeitsames
und gut eingefügtes Mitglied der Gesellschaft zu machen. Eben denselben
Rechtfertigungsmechanismus finden wir auch im Zuge der Violencia, wo durch
die Idealisierung und Verabsolutierung der eigenen ideologischen Position sich
der Einzelne geradezu berufen sieht, den politischen Gegner – der zu diesem
Zweck gehörig verteufelt und zum Inbegriff des Abartigen gestempelt wird – im
Namen einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe auszurotten. Dies ist die Prob-
lematik eines jeden „Heiligen Krieges“, im Namen welcher Ideale auch immer
er geführt werden mag.
Zum anderen kann man die Gewalt gegen die eigenen Kinder, die sich ja in der
Violencia steigert zur Gewalt gegen alles, was mit Geburt und Zeugung zu tun
hat, auch werten als Ausdruck einer zutiefst depressiven und autodestruktiven
Tendenz;13 man hat in diesem Zusammenhang des Öfteren von einem den Ko-
lumbianern eigentümlichen Todestrieb gesprochen.14 Indem man dem eigenen
13 Dass Abtreibung, Kindesmord und Suizid Ausdruck ein und derselben, depressiven Ten-
denz sind, kann man etwa an aus der kolumbianischen Geschichte bekannten, simultan und
unter denselben soziokulturellen Bedingungen stattfindenden, kollektiven Erscheinungen
ablesen, wie sie etwa bei der indianischen Urbevölkerung unter dem Eindruck ihrer völli-
gen Dekulturierung und Entwurzelung durch die spanischen Eroberer des 16. Jahrhunderts
zu verzeichnen sind (cf. MESCHKAT et al. 1980: 37).
14 So z. B. BAILEY 1967: 570: „The other [theory], based on the guerrilla-bandit principle of
‘no dejar ni la semilla’, posits a death wish on the part of the entire Colombian populati-
on“, wobei die andere Theorie, nämlich die der Selbstbehauptung durch Vernichtung ande-
Page 10
10
Ebenbild Gewalt antut, zerstört man in Wirklichkeit das Kind in sich selbst,
kämpft gegen die eigenen, zutiefst mit Schuldgefühlen beladenen Triebe, die seit
der Kindheit verborgen im Unterbewusstsein schlummern und die der Erwach-
sene, gerade durch die Ähnlichkeit seines Kindes u. U. bedrohlich in sich hoch-
kommen, dadurch aber seine psychische Stabilität gefährdet fühlt; mit der Züch-
tigung des Kindes bestraft er eigentlich sein eigenes, verdrängtes „Es“. Oft ist
dahinter kaschiert auch eine spiegelbildliche Umkehr des unterbewussten Hasses
gegen den eigenen Vater zu entdecken,15 wie ja überhaupt viele Erscheinungen
der Violencia als noch nicht zu Bewusstsein gekommener bzw. ins Unterbe-
wusste abgedrängter, quasi präpubertärer Vaterkonflikt zu deuten sind (cf.
PFEIFFER 1984b: 66f.).
Denn wie in der präpubertären Phase die Beziehung des Sohnes zum Vater zwi-
schen Bewunderung und Ablehnung, Identifikation und Eifersucht schwankt, so
ist auch die Beziehung des abhängigen Bauern zum patriarchalischen Hacenda-
do – und gerade in der Haciendastruktur findet ja die patriarchalische Familien-
struktur ihre Fortsetzung und Entsprechung auf höherer Ebene – eine zwiespäl-
tige. Die objektiv bestehende soziale Ungerechtigkeit,16 die totale Abhängigkeit
der „aparceros“, „arrendatarios“, „peones“ und „cosecheros“17 von ihrem „amo“
in allen essentiellen Lebensbereichen wie Nahrung und Wohnung18 konnten
durch das paternalistisch verklärte Haciendasystem, durch die Aura des unei-
rer samt deren Fortpflanzungschancen, mindestens ebenso plausibel ist (cf. ARENDT 1970:
35 und 61ff., WERTHAM 1971: 7).
15 Dies kommt z. B. in El día señalado (MEJÍA VALLEJO 1964) besonders deutlich zum Aus-
druck.
16 Hiezu nur einige Zahlen und Fakten: 1957 verfügten 0,9% der landwirtschaftlichen
Betriebe über 40,4% der nutzbaren Fläche, während 70,5% unter 10 Ha blieben und damit
nur 6,9% der Fläche ausmachten. Daneben aber gab es auch über eine Million Peones, die
überhaupt kein eigenes Land besaßen und völlig von der Gunst der Großgrundbesitzer
abhingen, die ihnen eventuell kleine Parzellen verpachteten oder sie saisonweise als Tage-
löhner aufnahmen. (cf. MONTAÑA CUELLAR 19773: 222 und SMITH 1967: 37)
17 Zur Terminologie siehe MESCHKAT et al. 1980: 79f.
18 Das Haus und die kleine Parzelle, die den Pächtern vom Großgrundbesitzer – zumeist auf
unfruchtbarem Gelände – zur Verfügung gestellt wurden, mussten durch eine gewisse An-
zahl von Arbeitstagen auf der Hacienda, bzw. durch die Ablieferung eines bestimmten Tei-
les der Ernte abgedient werden, wobei das Limit meist so hoch gesteckt wurde, dass dem
Bauern selbst nicht mehr genug zum Leben blieb; er musste also eine neue Verschuldung
bei seinem Dienstherrn eingehen, so dass er sein Leben lang in der Schuld des Hacendero
blieb und seinen Nachkommen nur eben diese Abhängigkeit vererben konnte.
Page 11
11
gennützigen Wohltäters, mit der sich die Feudalherren umgaben,19 zunächst
jahrhundertelang erfolgreich aus dem Bewusstsein der Ausgebeuteten verdrängt,
ja sogar in treue Untergebenheit bis kindliche Anhänglichkeit der Campesinos
umgemünzt werden, die ihrem Hacendero als von Gott bestellter, väterlicher
Figur nur Dankbarkeit und Ergebenheit zu schulden glaubten.20 So unterbleibt
auch in der ersten Phase der Violencia – trotz der beklemmenden, aus diesem
objektiv bestehenden Machtgefälle angestauten Gefühle von Ohnmacht, von
Ausgeliefertsein und Ausweglosigkeit – die normalerweise zu erwartende Auf-
lehnung gegen die Verursacher der eigenen sozialen Benachteiligung, ja es ist
sogar so etwas wie ein ängstliches Sich–Anklammern an deren Macht zu spüren,
eine Suche nach väterlichem Schutz, wenn sich etwa die landlosen Peones in der
liberalen Guerilla der Llanos begeistert und bedingungslos dem Kommando
ihres Hacendero unterstellen und mit Hingabe seine Person, seinen Besitz mehr
als alle abstrakten Parteiideale verteidigen, letztlich also das, was die Ursache
ihrer eigenen, miserablen ökonomischen Situation ausmacht.21 Doch das erken-
19 Auf Regierungsebene entspricht diesem Verhalten das Spiel „Yo sólo trato de ayudar“, das
bei MANOTAS folgendermaßen beschrieben wird:
Consiste en ofrecer ayuda, pero al mismo tiempo que se desea ayudar, hay el deseo de no
hacerlo, lo que, naturalmente, conduce a que se efectúe una labor que deje mucho que
desear, debido precisamente a la existencia de este conflicto. [...] Este juego es importante
porque, de existir en forma desmedida en una nación como la nuestra, marcará su destino
y la mantendrá atada al subdesarrollo. [..] El juego puede ser descrito en la forma si-
guiente: la entidad gubernamental que se encuentra envuelta en este juego decide crear una
organización con el fin de ayudar, ya sea a la clase campesina, niñez abandonada, obrera,
etc. Después de cierto tiempo de funcionamiento se podrá observar que dicha institución
no ha obtenido los propósitos para los cuales fue creada. [...] la situación se deteriora to-
talmente, produciéndose entonces sentimientos de incapacidad y la culpa consiguiente en
todos los jugadores. Todo esto hace que el conglomerado al que ha tratado de ayudársele se
desespere y grite: “Por favor, tengan consideración con nosotros”, ante lo cual la institución
responde: “Pero si nosotros solo tratábamos de ayudar”. El desenlace es la ingratitud o el
resentimiento de parte de quienes no alcanzaron el beneficio y ahora la entidad guberna-
mental puede muy bien hacer recaer en ellos sus propios errores. (1972: 91f.)
20 Diese starke Identifikation mit den Werten der Machthaber geht über die konkrete Person
des Hacendero hinaus und überträgt sich auf die von ihm repräsentierte politische Partei,
sei es nun die Konservative oder die Liberale; cf. BAILEY 1967: 573: „the peasant mass
had, over a Century and a half, been drawn into a political struggle, with which they identi-
fied strongly and even viciously, but which was in fact completely irrelevant as far as their
interests as a group were concerned.“
21 Cf. MONTAÑA CUELLAR: „‘Odios heredados’, [...] más que ideas, se transmiten de genera-
ción en generación por los partidos tradicionales [...]. Por ello se matan entre sí campesi-
nos, artesanos, obreros, siervos y esclavos, a quienes nada diferencia y todo une, luchando
no contra sus propios enemigos sino contra ‘los enemigos de sus enemigos’.“ (19773: 80)
Page 12
12
nen sie in diesem Stadium noch nicht, ja wehren sich selbst mit allen Kräften
gegen diese Einsicht, die ihre heile Welt mit ihrer „gottgewollten“, fixen Rol-
lenverteilung – die immerhin ein gewisses Gefühl an Geborgenheit und Sicher-
heit vermittelt – mit einem Male zerschlagen und sie der Ungewissheit des Auf–
sich–selbst–gestellt–Seins ausliefern würde. Denn wie der geprügelte Sohn sei-
nen Vater hasst und doch zugleich bewundert und liebt, ja lieben muss, weil er
sonst seine eigene Identität verlieren würde, so verehren die Peones ihren Herrn
als Verkörperung der Macht, die ihnen selbst abgeht. Und wie der erwachsene
Sohn unter dem Wiederholungszwang steht, anderen (wie seiner Frau und sei-
nen Kindern) das antun zu müssen, worunter er selbst einst gelitten hat, so verü-
ben in der Violencia die aus ihrer Machtlosigkeit entlassenen Bauern unter dem
Schutz und mit der Rechtfertigungsgewalt, die von ihren patriarchalischen Füh-
rern ausgeht, schreckliche und sinnlose Gewalttaten an ihresgleichen, weil eben
die Vaterfigur des Hacendero, des Politikers unantastbar, tabu ist und sie sich
daher einen außenstehenden Sündenbock für ihre undefinierbare Wut suchen
müssen. Und es dauert lange, bis nach jahrelangem stellvertretendem Abreagie-
ren von aufgestauten Aggressionen der eigentliche Konflikt, nämlich der Gegen-
satz zwischen oben und unten, Ausbeutern und Ausgebeuteten, überhaupt ins
Bewusstsein dringen kann. Dies geschieht hauptsächlich durch das Aufbrechen
der engen, quasi–familiären Schranken der jeweiligen Hacienda bzw. des iso-
lierten Dorfes im Zuge der Kampfhandlungen und die dadurch gewonnene Er-
fahrung, dass einen mehr Gemeinsamkeiten mit den Leidensgenossen der ande-
ren als mit dem Großgrundbesitzer der „eigenen“ Partei verbinden (cf.
MESCHKAT et al. 1980: 126ff.). Die Parallele zur Pubertät mit ihrem Bewusst-
werden des Vaterkonflikts, mit dem Ausbrechen des Heranwachsenden aus der
Enge der familiären Bindungen hin zur „peer–group“, zur Gruppe der Gleichalt-
rigen mit ähnlichen Interessen und Problemen, liegt nahe. Und so folgt auch auf
die rein destruktive und Dampf ablassende Gewalt der Violencia eine neue Ent-
wicklungsstufe, nämlich die der sozialrevolutionären Guerilla, die nun zielge-
richtet gegen jene Personen oder Institutionen kämpft, die als Verursacher der
eigenen Macht- und Rechtlosigkeit identifiziert wurden, wobei bezeichnender-
weise mit dem Bewusstsein dieser Zusammenhänge auch der für die Violencia
so typische, irrationale Sadismus allmählich nachlässt; er hat nun seine Funktion
als Ventil für allzu lange aufgestaute und verdrängte Aggressionen verloren, der
Konflikt bewegt sich von der Ebene des wild um sich schlagenden kindlichen
Trotzverhaltens auf eine höhere Stufe, nämlich die der pubertären Rebellion
gegen die Autorität der Eltern.
Page 13
13
Nun scheint also diese Theorie des versteckten Vaterkonflikts schon einige As-
pekte des Phänomens Violencia zu erhellen, wäre nicht auch noch in der Gueril-
la – in der doch eigentlich die Auflehnung gegen die allmächtige Vaterfigur
Gestalt annimmt – so etwas wie eine heimliche Suche nach dem wahren Vater
zu beobachten, die sich etwa in der bedingungslosen Anerkennung der Autorität
der Guerillaführer niederschlägt; eine Erscheinung, die sich übrigens durch die
gesamte Geschichte Kolumbiens und, wenn man will, Lateinamerikas zieht und
die unter der Bezeichnung „Caudillismo“ bekannt ist. Angefangen von Bolívar,
dem „Vater der Nation“, über die populäre Führerfigur Jorge Eliécer Gaitáns22
bis hin zum Diktator Rojas Pinilla und dem Padre Camilo Torres, allerorten ist
diese Suche nach dem – verlorenen oder nie besessenen – idealen Vater durch-
zuspüren.23 Und wenn man sich dann vergegenwärtigt, dass unter den 700.000
Kindern, die jährlich in Kolumbien geboren werden, 219.000 sind, von denen
nicht einmal der Name des Vaters bekannt ist,24 – hinzuzuzählen wären natürlich
noch die vielen Fälle, in denen der Vater seine Familie noch vor oder bald nach
der Geburt eines Kindes verlässt25 – dann kann man sich vielleicht annähernd
die Tragweite dieses Problems vergegenwärtigen; die Bezeichnung „vaterlose
Gesellschaft“ dürfte also für Kolumbien nicht unzutreffend sein.26 Dass dieses
Fehlen des Vaters, bzw. die Suche nach einem Vaterersatz, einem männlichen
Identifikationsmodell, einen guten Nährboden für jegliche Art von Fanatismus,
radikale Ideologien, Caudillismo und Diktatur darstellt, braucht wohl nicht ei-
gens hervorgehoben zu werden. Wenn man weiter die Literatur auf Beispiele hin
durchforstet, so sieht man sich mit der Erscheinung konfrontiert, dass in den uns
bekannten Werken mit verblüffender Regelmäßigkeit „vaterlose“ Individuen als
Ausübende von Gewalt auftauchen. Sei es der illegitime Sohn des Dorfkaziken,
22 Dessen Ermordung übrigens 1948 den ausschlaggebenden Anstoß zur Entfesselung der
Violencia gegeben hatte!
23 MANOTAS spricht davon, dass diese idealisierte Vaterfigur in allen Präsidenten des Landes
repräsentiert sei: „[L]a figura del presidente envuelve muchos de los aspectos idealizados
por cada uno de los miembros de la sociedad, correspondiendo entonces a la figura ideali-
zada por la parte Infantil de los ciudadanos, es decir, la figura representativa del Padre. [...]
El presidente es adornado con todos los atributos reales y supuestos, divinos y humanos; es
la concepción del Padre todopoderoso visto por el niño.“ (1972: 65f.)
24 Das heißt, täglich werden in Kolumbien etwa 600 Kinder geboren, deren Väter nicht be-
kannt sind. Diese Zahlen wurden vom Instituto Colombiano de Bienestar Familiar in einem
Radiointerview bekanntgegeben (zitiert in Lateinamerika anders, 17/18 [1982], S. 85).
25 Welche Mechanismen hinter dieser häufig zu beobachtenden Flucht des Vaters stehen,
darauf werden wir noch zurückkommen.
26 Vgl. hierzu LÓPEZ TAMES, besonders 2.3. „Soledad de padre“ (1975: 104–117).
Page 14
14
Anacarsis, in El Cristo de espaldas (CABALLERO CALDERÓN 1952), sei es der
junge Gallero in El día señalado (MEJÍA VALLEJO 1964) oder der gedemütigte
Bastard Basilio Fuentes in El campo y el fuego (AIRÓ 1971), überall treten uns
diese Figuren entgegen, die eigentlich ununterbrochen auf der Suche nach dem
Vater bzw. einem Ersatzvater sind, entweder um Rache an ihm zu nehmen, oder
um Bestätigung ihrer selbst zu erlangen. Und noch etwas fällt auf, was in engem
Zusammenhang mit dem Thema Vaterlosigkeit steht, nämlich die Problematik
der Mutter–Sohn–Beziehungen. Es scheinen die Wurzeln des sog. „Vaterkon-
flikts“ noch viel tiefer in die früheste Kindheit, in die präödipale Phase zurück-
zureichen, in der die Auseinandersetzung mit dem Vater noch gar nicht begon-
nen haben kann, weil die Beziehung zu ihm in diesem Entwicklungsstadium
noch nicht konfliktiv ist. Es geht vielmehr um die Nichtexistenz des Vaters zum
Zeitpunkt, da er als Identifikationsfigur bzw. auch Objekt der Eifersucht und
Aggression für die psychische Entwicklung des Kindes vonnöten wäre, und es
geht andererseits um die Tatsache, dass die symbiotische Mutter–Sohn–
Beziehung sich durch dieses Fehlen der männlichen Bezugsperson nicht recht-
zeitig lösen kann und über Gebühr fortgesetzt wird. Wie wir sehen, handelt es
sich also um so etwas wie einen „Pseudo–Vaterkonflikt“, weil es ein Konflikt
mit einem Vater ist, der als Konfliktpartner gar nicht anwesend und greifbar ist.
Man könnte nun, in Fortführung des begonnenen Gedankenganges, sagen, dass
der eigentliche, die psychosoziale Struktur der kolumbianischen Gesellschaft
prägende Konflikt in Wahrheit ein verkappter Mutterkomplex ist, der sich nach
außen als Pseudo–Vaterkonflikt präsentiert. Dies deshalb, weil die Beziehung
des Sohnes zu seiner Mutter ja nicht nur eine auf der präödipalen Stufe stehen-
gebliebene, tendenziell inzestuöse ist, sondern weil die Mutter in der unvollstän-
digen Familie gleichzeitig auch als Ersatzvater fungiert; daher könnte man die
mit sexuellen Schuldgefühlen gepaarte, ohnmächtige Autoaggression, die plötz-
lich in unkontrollierte, orgiastische Gewalt gegen Wehrlose umschlägt, auch als
Auflehnung gegen eine als übermächtig empfundene Mutterfigur interpretiert
werden, von der sich der Sohn völlig beschlagnahmt, ja absorbiert fühlt. Um
diesem Sog entgehen zu können, unternimmt er nun verzweifelte Ausbruchsver-
suche, die sich vor allem gegen das andere Geschlecht, gegen alles Weibliche
richten, in dem er symbolisch die eigene Mutter, die Quelle seiner Ohnmacht,
vernichtet. Dies wäre ein anderer Anhaltspunkt, um die hohe Quote an extrem
perversen Gewaltverbrechen vor allem an schwangeren Frauen, Müttern und
Kindern während der Violencia zu erklären, eine, wie mir scheint, plausiblere
Page 15
15
Erklärung als die reine Sexualtheorie, wie sie etwa WILLIAMSON (1965) und DIX
(1967) vertreten,27 die der katholisch geprägten Monogamie und dem darin ent-
haltenen Frustrationspotential die alleinige Schuld an sexuellem Sadismus geben
wollen. Dennoch gibt es auch hier einen Zusammenhang, der nicht übersehen
werden darf: Die enge Bindung des Sohnes an seine Mutter über die ödipale
Phase hinaus verhindert letztlich, dass der Heranwachsende stabile Beziehungen
zu anderen Frauen eingehen kann, weil der erotische Bereich bereits von der
eigenen Mutter besetzt und mit Tabus belegt ist.28 Dies erscheint mir wesentlich
für ein Verständnis der tiefen Schuldgefühle, mit denen in Kolumbien jegliche
Äußerung der Sexualität behaftet ist; viel wesentlicher jedenfalls als die Moral-
vorschriften der Katholischen Kirche, über die sich ärmere wie reichere Bevöl-
kerungsschichten des Landes seit eh und je hinweggesetzt haben; ihnen könnte
im höchsten Falle ein Verstärkungs- und Potentierungseffekt zukommen. Aber
weit mehr als die Schuldgefühle einer abstrakten „Mutter Kirche“ gegenüber
dürften wohl die Schuldgefühle gegenüber der eigenen Mutter wiegen, deren
Stelle beim Eingehen einer sexuellen Beziehung von einer anderen Frau okku-
piert werden soll. Und hier kommen wir schon dem eigentlichen Problem des
Machismo auf die Spur, denn die Folge dieses zugrundeliegenden Mutterkon-
fliktes ist entweder ein willenloses Verharren im psychischen Abhängigkeits-
verhältnis von der dominanten Mutterfigur, wie wir es etwa bei Roberto Asís in
La mala hora (GARCÍA MÁRQUEZ 1962/197613) beobachten können, oder aber
das typische Verhalten des „macho“, der aus Angst vor der alles verschlingen-
den und erdrückenden, seinen Willen lähmenden mütterlichen Umarmung ent-
weder zum abweisenden Frauenfeind (wie der Alcalde in La mala hora, Epa-
minondas in La calle 10 [ZAPATA OLIVELLA o.J.] oder Leal in El campo y el
fuego) oder zum glänzenden Frauenheld29 wird, der sich durch lose, schnell
27 Vgl. auch die Kritik an ihren Theorien bei OQUIST (1980: 141f.).
28 Dieses „Erwachsenenspiel“ wird z. B. von MANOTAS „Hombre sometido“ benannt und
folgendermaßen beschrieben: „En este juego participan individuos cuya relación con la
madre no ha logrado ser satisfactoriamente resuelta, por lo tanto, asumen cierto rol de pica-
flores [...]. Lo que llama aquí la atención es que la unión o boda, o sea la autentica intimi-
dad casi nunca se efectúa, pues generalmente la ruptura sobreviene antes. [...] El juego
consiste en buscar la mujer con el fin de entablar una relación sadomasoquista con ella, ya
que esta es percibida como dominante y castradora, siendo esto producto de conflictos no
resueltos en etapas infantiles del desarrollo.“ (1972: 124f.)
29 Auch für dieses Verhalten des Macho gibt es in der Violencia–Literatur zahlreiche Beispie-
le, so z. B. im Cristo de espaldas (CABALLERO CALDERÓN 1952) Anacarsis, Don Roque
und Pío Quinto, in La mala hora (GARCÍA MÁRQUEZ 1962/197613) der Richter Arcadio,
Don Sabas und die „turbulenten“ Asís, in El día señalado (MEJÍA VALLEJO 1964) die ju-
Page 16
16
wechselnde Beziehungen zu einer Vielzahl von Frauen seine Unabhängigkeit
stets neu bestätigen will. Indem er andere Frauen erobert, besitzt und sofort
wieder verlässt, bevor die Bindung zu intim wird, nimmt er in Wirklichkeit Ra-
che an seiner eigenen Mutter. Diese tiefenpsychologischen Zusammenhänge des
Donjuanismo kommen vielleicht in der folgenden Beschreibung von MANOTAS
noch nicht so deutlich zum Ausdruck, klingen aber jedenfalls zumindest indirekt
an:
El juego consiste en que Don Juan necesita de la mujer, para poder asegurarse de
que en realidad sí es un macho, la existencia de su odio al sexo femenino queda
evidenciada cuando después de que ellas se le han rendido, Don Juan las abando-
na una tras otra, pues para él las mujeres no son más que instrumento para ser uti-
lizado cuando se le necesita, ¡y vaya! si hay tal necesidad cuando se trata de afir-
mar una hombría de la cual se duda.
OBJETIVO: Venganza, odio hacia el otro sexo.
VENTAJA PSICOLOGICA INTERNA: Liberación de agresión
VENTAJA PSICOLOGICA EXTERNA: Evita el reconocimiento de inseguridad
sexual y temor a la Intimidad (1972: 140f.)30
Während der Violencia musste der aggressive Charakter dieses in Wirklichkeit
frauenfeindlichen Donjuanismo nicht länger verborgen werden und macht sich
ungehindert in Vergewaltigungen, Folterungen und Leichenschändung Luft. Im
Normalfall der „intakten“ Familie hingegen äußert sich die latente Frauenfeind-
lichkeit in dem für den bäuerlichen Sektor Kolumbiens so typischen Zurückzie-
hen des Mannes auf seine exakt definierte Rolle als patriarchalisches Familien-
oberhaupt, in der von der Gesellschaft sanktionierten – subjektiv als
Abwehrmechanismus fungierenden – Ausübung von Gewalt gegen Frau und
Kinder (womit sich ein fataler Kreislauf wieder schließt), sowie in Unechtheit
und tiefer Isolation selbst in den intimen Beziehungen, die jedoch mehr in einem
Erfüllen traditionell festgelegter Rollenerwartungen als in einem wirklichen
Einbringen der eigenen Persönlichkeit bestehen; die Angst vor dem Erkannt-
und Durchschautwerden und somit Ausgeliefertsein an eine potentiell dominante
gendliche Hauptfigur selbst, sowie sein Vater, Don Heraclio, Pedro Canales und Sargento
Mataya.
30 Die beiden „Spiele“ „Hombre sometido“ und „Don Juan“ weisen viele strukturelle Ge-
meinsamkeiten auf. Der Unterschied besteht darin, dass sich der Hombre sometido seiner
Männlichkeit im Wesentlichen sicher ist, während Don Juan sie sich stets neu bestätigen
muss. (cf. MANOTAS 1972: 124)
Page 17
17
weibliche Figur scheint hier überall durch, und die tatsächliche Flucht aus dieser
bedrohlichen Situation ist nur letzte Konsequenz daraus.31
Damit wären wir bei einem weiteren wichtigen Punkt angelangt, in dem Zu-
sammenhänge zwischen Violencia und Machismo, zwischen Familienstruktur
und Bereitschaft zur Gewaltausübung sichtbar werden: der patriarchalischen,
strengen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern und innerhalb der Fami-
lie. Denn die kolumbianische Familie ist durch eine positionale Kommunikati-
onsstruktur im Sinne BERNSTEINS (1970) gekennzeichnet, in der die Beziehun-
gen zwischen den verschiedenen Rollenträgern durch von vornherein
feststehende und relativ invariante Normen von außen her geregelt sind, ohne
dass das einzelne Familienmitglied auf diese Rollenverteilung Einfluss nehmen
kann. Die Entscheidungen in diesem geschlossenen Kommunikationssystem
laufen unter Berufung auf Positionen, auf den Status der jeweiligen Person ab;
dies birgt verständlicherweise wiederum ein großes Potential an latenter Gewalt
in sich. Die Parallele zur statischen, geschlossenen Gesellschaftsstruktur in Ko-
lumbien, in der die Position und damit Selbstverwirklichungschance des einzel-
nen bereits von Geburt an relativ starr festgelegt sind und durch Eigeninitiative
praktisch nicht mehr verändert werden können,32 drängt sich geradezu auf. Und
hier können nun auch die Theorien der neueren Gewalt- und Konfliktforschung
– wenn auch begrenzt und modifiziert – Anwendung finden; sie gehen aus von
der Unterscheidung zwischen personaler, direkter Gewalt und struktureller,
indirekter Gewalt.33 Letztere wird definiert als Gefüge sozialer Beziehungen, in
dem ein Teil der Gesellschaft seine Bedürfnisse auf Kosten anderer Gesell-
schaftsgruppen oder Klassen befriedigen kann und in dem diese Ungleichheit
der Entfaltungsmöglichkeiten auch institutionalisiert (in den Strukturen veran-
31 Vgl. das Verhalten des Richters in La mala hora (GARCÍA MÁRQUEZ 1962/197613) bzw.
Don Heraclios und seines Sohnes in El día señalado (MEJÍA VALLEJO 1964).
32 Cf. GUZMÁN CAMPOS et al. 81977, Bd. I: 415: „Durante casi toda su historia, Colombia
estuvo sujeta al tipo de estructura social [...] ‘cerrada’, es decir, basada en diferencias de
grupo o de familia prácticamente hereditarias.“
33 Dieser Unterschied kommt etwa in einem Vergleich deutlich zum Ausdruck, den Jorge
Eliécer RUIZ zwischen den erkennbaren Ursachen der Bürgerkriege des 19. Jahrhunderts
und der diffusen Undurchschaubarkeit der die Violencia auslösenden Situation zieht:
„...aquella violencia tenía fines muy específicos y por lo tanto una aparente e inmediata
justificación. (Hablo de justificación en el sentido de explicación). Pero los móviles de esta
violencia [...], de la de ahora, son tan polifacéticos, tan gaseosos, o están tan encarnados en
la trama de nuestra vida social, que el cinismo político, la expoliación económica, la tortu-
ra y el sadismo [...] parecen el producto de potencias siniestras y desconocidas.“ („Prólo-
go“ zu LANDAZÁBAL REYES 1975: 13).
Page 18
18
kert) und sozial anerkannt ist.34 Dabei ist das Maß an – vorgeblicher oder tat-
sächlicher – Legitimität der herrschenden Schichten, bzw. der gesamtgesell-
schaftliche Konsens über das zugrundeliegende Regel- und Wertesystem dafür
ausschlaggebend, ob dieses System stabil bleibt, d. h. die in ihm Benachteiligten
ihre Position akzeptieren; damit würde das Zutagetreten der systeminhärenten
Gewalt zumindest unwahrscheinlich. Wird dieser Legitimitätsanspruch, der u.a.
durch religiöse, moralische oder ideologische Werte untermauert werden kann,
jedoch aus irgendeinem Grunde in Zweifel gezogen, so droht das System insta-
bil zu werden, da nun die akute Gefahr besteht, dass sich die unterprivilegierten
Gruppen gegen die nunmehr in Frage gestellte, weil ihrer Rechtfertigungsbasis
beraubte Autorität auflehnen. Um dem zuvorzukommen, müssen die Machtha-
ber allmählich auf immer repressivere Methoden zurückgreifen, um den bloßen
Weiterbestand des für sie vorteilhaften Systems zu garantieren. Damit findet
jedoch der Umschwung vom bisher latenten zum manifesten Gewaltpotential
statt; das System ist gezwungen, sein wahres Gesicht zu zeigen, was seinerseits
der Gegenseite die Rechtfertigungsbasis zu geben scheint, zur Beseitigung der
strukturellen Gewalt wiederum gewaltsame Mittel einzusetzen. Die Lawine von
Gewalt und Gegengewalt ist unaufhaltsam ins Rollen gekommen und gewinnt
mit der Zeit ihre Eigendynamik, die nur mehr schwer zu stoppen ist.
Nun ist aber die kolumbianische Violencia eben dadurch gekennzeichnet, dass
dieser „Normalfall“ des gegenseitigen Sich–Aufschaukelns von Gewalt und
Gegengewalt, Unterdrückung und Revolution auf einer bestimmten Stufe ste-
ckenbleibt,35 denn durch die bereits beschriebenen Identifikationsmechanismen
kommt es gar nicht zum Infragestellen des Legitimitätsanspruches der Herr-
schenden, der für die Besitzlosen zunächst unantastbar bleibt. Und so führt ein
bereits erdrückend gewordenes Maß an struktureller Gewalt durch die bisher
fraglose Einordnung in als schicksalhaft unabwendbar empfundene, letztlich
undurchschaubare Mechanismen und durch die Tabuisierung der Personen, die
an deren Schalthebeln sitzen, schließlich zur explosionsartigen Entladung von
34 RUIZ identifiziert diese ungerechten Strukturen sehr wohl als Zustand von Gewalt, wenn er
fragt: „¿Cómo no pensar que estamos en el centro de la violencia si, en 1960, el 54% de la
población rural recibía solamente el 22,7% del ingreso del sector agrícola; y si el 1,84% de
la misma población recibía el 16% del ingreso del mismo sector? ¿Como puede exigirse
ecuanimidad y ponderación a una población en que más del 35% no ha salido nunca del
analfabetismo o ha vuelto a caer en el?“ (ibid.: 14)
35 MONTAÑA CUÉLLAR spricht etwa von einem „embrionario proceso hacia la conciencia de
clase“ (19773: 166).
Page 19
19
überbordenden Emotionen, um deren Herkunft und Ziel man nicht weiß, ja gar
nicht wissen will, um nicht in eine Identitätskrise zu geraten.
Um nun auf die Parallele zur familiären Situation zurückzukommen: Auch hier
erfährt das Kind ein ungeheures Maß an institutionalisierter, scheinbar gerecht-
fertigter Gewalt gerade von den Personen, mit denen es sich aber identifizieren
muss. Wenn es nun durch äußere Umstände wie etwa in der Violencia dazu
kommt, dass eine gewisse Schwelle überschritten wird, von der an der auszuhal-
tende Druck unerträglich wird, so richten sich die angestauten Ohnmachtsgefüh-
le wahl- und ziellos gegen alle erreichbaren Ersatzpersonen, vor allem wieder
Angehörige des weiblichen Geschlechts, anstatt den eigentlich dahinter verbor-
genen Konflikt mit der eigenen Mutter, dessen Bewusstwerdung und Aufarbei-
tung eben durch solche ablenkenden Ersatzhandlungen hinausgeschoben wird,
auszutragen.
Und dies ist eigentlich der Mechanismus der Violencia schlechthin: Indem man
seine ohnmächtige Wut über einengende Verhältnisse an Unschuldigen auslässt,
trägt man unbewusst eben zur Stabilisierung dieser Bedingungen bei, deren
quälende Umklammerung einen in Wirklichkeit ein masochistisches Bedürfnis
suchen lässt, das seinerseits wieder Resultat dieser Konstellation ist und das
zusätzlich von denen geschürt wird, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung
des status quo haben. Der circulus vitiosus ist perfekt, und in der Tat steckt in
der kolumbianischen Violencia etwas Zirkelhaftes, Unentrinnbares, dem – wie
ich in PFEIFFER 1984b (v.a. Kap. 4) beschrieben habe – ein fatalistisches Welt-
bild bzw. im literarischen Bereich eine geschlossene, zyklische Struktur der
Romane entspricht. Doch wurde dort auch gezeigt, wie gerade durch die
Schockwirkung der noch nie dagewesenen Exzesse an Perversion und Sadismus
in der Violencia dieser scheinbar unabänderliche Kreislauf abrupt durchbrochen
wird. Die bis zum Äußersten gesteigerte Violencia gewinnt eine (auch für ihre
Urheber) unvorhersehbare Eigendynamik und zerschlägt die alten Strukturen,
deren Festigung sie zunächst zu dienen schien und zumindest in der Vorstellung
derer, die sie in ihrem eigenen Interesse von oben her angezettelt hatten, auch
dienen sollte. Doch dieser Erschütterung konnte das bereits obsolet gewordene
System nicht standhalten, und die Fassade des wohlwollenden Paternalismus
beginnt rasch abzubröckeln, so dass die dahinter verdeckte Institutionalisierung
der sozialen Ungerechtigkeit plötzlich für jedermann sichtbar nackt und unge-
schminkt zum Vorschein kommt. Diese nun unübersehbar gewordene Offenle-
gung der wahren Konfliktstrukturen gibt dem bereits aktivierten Gewaltpotential
eine neue Richtung: Es fällt auf die zurück, die es bisher zu ihrem eigenen Vor-
teil geschürt hatten; die zuvor einheitliche, feudalistische Struktur der ländlichen
Page 20
20
kolumbianischen Gesellschaft zerfällt in antagonistische Gruppen und Klassen,
die reaktionäre Violencia entwickelt sich dialektisch weiter zur revolutionären
Guerilla.
Parallel dazu sind auch in der bisher geschlossenen kolumbianischen Familien-
struktur unübersehbare Auflösungserscheinungen zu beobachten, nicht zuletzt
bedingt durch die Zersplitterung vieler Familien im Zuge der Violencia, durch
die Migrationsbewegungen und die damit einhergehende Verstädterung, sprich
Lockerung der Moralvorstellungen, aber auch das Aufbrechen der allzu engen
Familienschranken, wie sie im isolierten, von der Umwelt abgeschnittenen Ran-
cho zwangsläufig unvermeidlich waren, durch zunehmende Kontaktmöglichkei-
ten mit Schicksals- und Leidensgenossen, die ebenfalls durch die Violencia in
die Slums der übervölkerten Vorstädte verschlagen worden waren. Interessan-
terweise schlägt sich diese Tendenz auch in der literarischen Struktur später
erscheinender Violencia–Romane nieder, in denen eine fortschreitende Zersplit-
terung und Atomisierung sowohl der Konfiguration als auch der Handlung zu
verzeichnen ist (cf. ibid.) und in denen auch in zunehmendem Maße familiäre
und erotische Probleme thematisiert werden, deren Zusammenhängen mit Fakto-
ren der Violencia offenbar nun erst spürbar und artikulierbar wird. Während z.
B. in Viento seco (CAICEDO 1963), Tierra asolada (PONCE DE LEÓN 1954) und
La calle 10 (ZAPATA OLIVELLA o.J., um 1960) noch durchwegs intakte, ideali-
sierte Familienverhältnisse aufscheinen, die durch ein blindwütendes Schicksal
von außen her gewaltsam zerstört werden, beginnt die Problematik der eroti-
schen Beziehungen und ihre subtile Verknüpfung mit der Tiefenstruktur der
Violencia in La mala hora (GARCÍA MÁRQUEZ 1962/197613) unüberhörbar an-
zuklingen und erreicht in El día señalado (MEJÍA VALLEJO 1964) den bisher
unübertroffenen Höhepunkt, sowohl was die tiefenpsychologische Auslotung
des Themas als auch die nicht mehr deutlicher hervorkehrbare, enge Relation
zwischen individueller Aggression und kollektiver Gewalt betrifft. In keinem
anderen Werk werden die vielschichtigen Dimensionen des Problems, angefan-
gen von der ambivalenten Mutter–Sohn–Beziehung und der alles überschatten-
den Suche nach dem zugleich geliebten und gehassten Vater über gewisse ma-
chistische Elemente in der Guerilla und im Militär bis hin zum patriarchalischen
Gottesbild des konservativen Katholizismus so eindringlich und in ihrer ganzen
komplexen Verkettung aufgezeigt. El campo y el fuego (AIRÓ 1971) mit seiner
gänzlich aufgelösten literarischen Struktur stellt schließlich den rückblickenden
Epilog, einen eposhaft abgeklärten Abgesang auf die bereits unwiederbringlich
verlorene Idylle der patriarchalischen Familien- und Feudalstruktur dar.
Page 21
21
Mit diesem Ausflug in die Literatur kann für uns das Thema Machismo und
Violencia keineswegs abgetan sein, und wir wollen auch keinerlei Anspruch
erheben, es in seiner vollen Tiefe und Vielschichtigkeit ausgeschöpft zu haben;
unsere Absicht war vielmehr, einige Gedanken zu einer Annäherung an diesen
sehr schwer zu erfassenden Fragenkomplex beizutragen, um dem nicht ganz
geradlinigen Zusammenhang zwischen Machismo und Violencia – die wir hier
als zeitlich relativ genau umrissenes, spezifisches Phänomen der kolumbiani-
schen Geschichte verstehen – auf die Spur zu kommen. Gewiss sind machisti-
sche Elemente auch in der heutigen kolumbianischen Gesellschaft noch präsent,
selbst die marxistische Guerilla (und gerade sie) ist nicht frei von ihnen. Es sind
aber immerhin Ansätze zu beobachten, die dem Problem im Zuge der doch all-
mählich, gegen alle Widerstände stattfindenden Modernisierung der kolumbiani-
schen Gesellschaft eine neue Orientierung zu geben scheinen. Es bleibt abzu-
warten, inwieweit sich diese Tendenzen gegen das archaische Beharrungs-
vermögen des feudalen Systems durchzusetzen vermögen und in welche
Richtung die Entwicklung schließlich gehen wird. Ob den Anzeichen einer all-
mählich weiter fortschreitenden Emanzipation im weitesten Sinne des Wortes
eine Chance gegeben werden kann oder ob nicht doch eine weitere Brutalisie-
rung und Radikalisierung der gesellschaftlichen Antagonismen bevorsteht, das
kann heute mit Sicherheit niemand sagen. Zu befürchten bleibt unter den gege-
benen Umständen, dass erstere nicht oder nur unter dem Opfer der zweiteren
stattfinden kann, wodurch wiederum die Aussicht auf eine Gesellschaftsord-
nung, in der Konflikte mit friedlichen Mitteln ausgetragen werden können, auf
ein Minimum schrumpft, denn die gewaltsame Beseitigung der Ursachen der
Gewalt ist und bleibt ein Paradox, das bisher nahezu alle bewaffneten Revoluti-
onen zum Scheitern verurteilt hat, weil durch den Einsatz gewaltsamer Mittel
zum Erreichen eines gerechten, gewaltfreien Gesellschaftssystems letzten Endes
die Mittel eingeübt werden und nicht die Ziele. Wie in der Erziehung, die das
Kind mit gewaltsamen Methoden zum Gewaltverzicht zwingen will, wird hier-
durch die Gewalt als erlaubtes Mittel zur Durchsetzung gewisser Ziele (die nur
einer entsprechenden Legitimierung bedürfen) sanktioniert und damit perpetu-
iert. „Eine“ (wie wir hinzufügen möchten: für Kolumbien derzeit noch utopi-
sche) „Möglichkeit, das zu verhindern, besteht natürlich darin“, meint hiezu
GALTUNG, „hierarchische Kampforganisationen von vornherein auszuschließen
und den Kampf mit gewaltlosen, nicht–hierarchischen Guerillaorganisationen zu
führen, so dass die Mittel eine virtuelle Vorwegnahme der egalitären Ziele
sind.“ (1975: 15) Ob dies in Kolumbien jemals gelingen kann, hängt jedoch
nicht zuletzt auch davon ab, ob das Problem des Machismo, das mit dem der
Page 22
22
Violencia in engem Zusammenhang zu sehen ist, in nächster Zukunft ins kollek-
tive Bewusstsein und damit unter Kontrolle gebracht werden kann.