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Prof. Heinrich Bortis Wirtschaftsgeschichte VI. Englische Vorherrschaft
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VI. Die englische Vorherrschaft um 1850
Provisorischer Text
1. England als erste Industrienation ....................................................................................... 1
1.1. Die Folgen der industriellen Revolution ......................................................................... 1
1.2. Demographischen, ökonomische und soziale Merkmale Grossbritanniens um 1850 ..... 4
1.2.1. Bevölkerungsentwicklung ........................................................................................ 4
1.2.2. Im wirtschaftlichen Bereich verändert sich die relative Bedeutung von
Landwirtschaft, Dienstleistungen und Industrie, inklusive Manufakturen ........................ 4
1.2.3. Soziale Konsequenzen der industriellen Revolution (vor allem England) .............. 7
2. Der Rückstand Europas und der Welt ............................................................................. 13
2.1. Ländervergleich (Frankreich und England, England und Indien) ................................. 13
2.2. Frankreich und England ................................................................................................ 14
2.2.1 Der Aussenhandel ................................................................................................... 14
2.2.2 Das Steuersystem .................................................................................................... 15
2.2.3. Schlechte Rohstoffausstattung Frankreichs ........................................................... 15
2.2.4. Die einmal erreichte englische Überlegenheit verstärkte sich kumulativ .............. 15
2.2.5. Frankreich ist lange ein eigentlicher Agrarstaat geblieben .................................... 16
3. England und Indien ............................................................................................................ 17
3.1. Die ursprünglichen englisch-indischen Handelsbeziehungen ....................................... 17
3.2. Der Einfluss der industriellen Revolution in England auf die indischen Verhältnisse . 20
(Asselain 1991, Kapitel I, mit Ergänzungen)
1. England als erste Industrienation
1.1. Die Folgen der industriellen Revolution
Das Jahr 1850 bildete den Höhepunkt der englischen Dominanz in Europa und in der Welt.
Zeugnis dieser Überlegenheit war eine grosse Ausstellung von Maschinen und Industrieanla-
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gen, die 1851 im Londoner Quartier Crystal Palace stattfand; England galt damals als die
Werkstatt der Welt; man konnte sich nicht vorstellen, dass ein Industrieprodukt anderswo als
in England hergestellt werden konnte; noch etwa um 1955 sagte ein Schweizer (Walliser)
Mechaniker stolz von seinem Schraubenschlüssel: es ist ein „Engländer“, das Beste, das es
gibt!
[Die weltbeherrschende Stellung Englands leitete die fast absolute europäische Domina-
tion ein, vor allem getragen vom Britischen Imperium, Deutschland und Frankreich, die bis
zum Ersten Weltkrieg 1914 dauerte; Russland und Japan spielten auch ein wichtige Rolle;
zwei weitere Grossmächte, das Osmanische Reich und Österreich-Ungarn, waren auf dem
langsamen Abstieg begriffen und beide gingen 1918/19 unter. - In der Zwischenkriegszeit
traten die USA neben die Vormachtstellung Europas, immer noch bestehend aus dem Briti-
schen Imperium, Deutschland und Frankreich. - Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA
und die Sowjetunion bis 1990 dominiert, dann waren die Vereinigten Staaten bis zur Wirt-
schaftskrise von 2007/08 kurz alleinige Weltmacht. Jetzt scheint sich eine multipolare Welt-
ordnung mit verschiedenen Machtblöcken herauszubilden: China, Indien, Brasilien (plus Ar-
gentinien und Mexiko und somit Lateinamerika, USA (eventuell plus Kanada) und eventuell
Eurasien (Europa und Russland); dazu könnten hinzukommen: der Mittlere Osten und Nord-
afrika unter Führung der Türkei. Japan und Indonesien können sich bestimmten Blöcken an-
schliessen.]
Die Bedeutung der englischen Wirtschaft auf Weltebene stand um 1850 in keinem Ver-
hältnis zur Grösse des Landes: 8% der europäischen Bevölkerung und 2% der Bodenfläche
Europas.
Der Baumwollverbrauch in England war drei Mal höher als in den drei nächstbedeuten-
den „Textilnationen“ zusammengenommen: Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn.
Kohlenproduktion: 50.2 Mio. Tonnen im Jahre 1850 in England; 15,3 Mio. Tonnen für
Frankreich, Deutschland und Belgien zusammengenommen.
Eisen: England erbringt mehr als die Hälfte der Weltproduktion. Englische Eisenexporte
übertreffen die Produktion Frankreichs, Deutschlands, Österreichs und Belgiens zusammen-
genommen.
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Von zentraler Bedeutung ist die Struktur des Aussenhandels, die, erstens, den externen
Entwicklungsmechanismus andeutet; auch angedeutet wird, zweitens, die langsam entstehen-
de weltwirtschaftliche Arbeitsteilung: England wird immer mehr Industrieland, überseeische
Gebiete werden Primärgüterproduzenten (Rohstoffe, Energieträger, landwirtschaftliche Pro-
dukte).
Englische Handelsbilanz 1825:
Importe Exporte
Rohstoffe 64% 4%
Manufakturprodukte 9% 85%
1825: GB fühlt sich zu diesem Zeitpunkt stark genug, um das Exportverbot für Maschi-
nen aufzuheben! Dieses Verbot wurde zum Schutz einheimischer Technologie eingeführt, um
zu verhindern, dass andere Länder Maschinen produzieren, was ihre Industrialisierung be-
schleunigt hätte. Auch bestand die Gefahr, dass andere Länder eventuell Maschinen nach
England exportiert hätten.
1846: Abschaffung der „Korngesetze“ (Corn Laws), die die englische Landwirtschaft
schützten: die Zölle wurden automatisch angehoben, sobald im Inland die Preise sanken, also
Überproduktion bestand. Mit der Abschaffung der Corn Laws wollte England die entstehende
neue Weltwirtschaftsordnung stärken: England würde immer mehr Industrieprodukte produ-
zieren und zum Teil exportieren und im Gegenzug vermehrt landwirtschaftliche Produkte
(und Rohstoffe) importieren.
1849: Abschaffung der Navigationsakte (alle Güter, die von England importiert und ex-
portiert wurden, mussten von englischen Schiffen transportiert werden). Die Navigationsakte
sicherte England ein Quasi-Monopol für den Seehandel.
England konnte sich diese Abschaffung leisten, denn 1850 betrug der englische Anteil an
der Welttonnage 60%! Die nächst grösste Flotte, die französische, war fünf Mal kleiner.
(In diesem Zusammenhang kann man eine allgemeine Regel festhalten: wirtschaftlich
schwache Länder mit hohen Durchschnittskosten für ihre Produkte tendieren zum Protektio-
nismus, wirtschaftliche starke Länder (niedrige Durchschnittskosten) propagieren dagegen
Freihandel.)
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[Die heutige Weltwirtschaftsordnung und die Grossmächte, die diese durchsetzen, zwingt
vielfach schwachen Ländern den Freihandel auf, der damit die Handelspolitik des wirtschaft-
lich Stärkeren wird. Die Industrie der schwachen Länder wird an die Wand gedrängt und den
starken Ländern geht es immer besser. So entstehen immer grössere Reichtumsunterschiede
zwischen Ländern und Regionen. In den schwachen Ländern gehen die Steuereinnahmen zu-
rück, Budgetdefizite entstehen und die Verschuldung steigt (gegenwärtiges Beispiel Südeuro-
pa). Allerdings wird in einer allgemeinen Krisensituation auch in wirtschaftlich starken Län-
dern wie Deutschland die Verschuldung zunehmen.]
1.2. Demographischen, ökonomische und soziale Merkmale Gross-britanniens um 1850
(diese Merkmale sind typisch für alle Länder, die sich industrialisieren.)
1.2.1. Bevölkerungsentwicklung
Die demographische Transformation findet in GB etwa ab 1750 statt:
* GB hat 1851 um die 21 Mio. Einwohner (ohne Irland); das bedeutet eine Verdreifa-
chung seit 1750!
* Der Geburtenüberschuss beträgt 1851 gute 2%:
3,6% (Geburtenrate) ÷ ~1,5% Sterberate
* Nach der industriellen Revolution setzt eine rasche Urbanisierung ein:
Im Jahre 1780 lebten 20% der Bevölkerung in Städten mit mehr als 5000 Einwoh-
nern; 1841 waren es bereits 60% der Bevölkerung!
1.2.2. Im wirtschaftlichen Bereich verändert sich die relative Bedeutung von Landwirtschaft, Dienstleistungen und Industrie, inklusive Manufak-turen
* Landwirtschaft
1851 nur noch 22% der aktiven Bevölkerung arbeiten in diesem Sektor; vor der industri-
ellen Revolution (1770) waren es 70-80 und mehr %, je nach Land.
* Dienstleistungssektor
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Wichtig: um 1840 herum stellen allein Dienstboten (Mägde, Knechte, Butler) 12 – 15%
der Arbeitsbevölkerung dar.
Problem: Der Industriesektor vermag das rasch wachsende Arbeitskräfteangebot nicht zu
absorbieren. Der Dienstleistungssektor dient als Auffangbecken.
[Heute werden auch in hoch entwickelten Industrieländern, z.B. in den USA, im Dienst-
leistungssektor z.T. schlecht bezahlte Arbeitsplätze geschaffen. Damit verminderte sich die
Arbeitslosigkeit, aber die Zahl der ‚working poor‘ nimmt zu: Leute, die arbeiten, aber das
Existenzminimum nicht erreichen und deshalb von Sozialhilfe abhängig sind. Allerdings muss
man auch sagen, dass heute im Dienstleistungssektor sehr viele hochwertige Arbeitsplätze
geschaffen werden (z.B. Banken und Versicherungen, Informatik - Software, Tourismus).]
*Manufakturen & Handwerk
Hier herrschen um 1850 weiterhin traditionelle Produktionsmethoden vor, z.B. bei der
Verarbeitung von HOLZ und LEDER, in der BANKBRANHCE sowie in bestimmten Berei-
chen der Konsumgüterherstellung (z.B. Bäckereien).
* Industrie (Fabrik)
Die Fabrik steht für den modernen Sektor; zwei Bereiche dominieren absolut:
1) Metallindustrie
- Eisenindustrie (Metallindustrie)
- Maschinenindustrie (Metallverarbeitung)
2) Textilindustrie
- Spinnen
- Weben
[Diese beiden Industriebereiche machen also um 1850 herum die Stärke Englands aus.
Bis zum Ersten Weltkrieg (1914) hat England versucht, seine Vorherrschaft in Metall- und
Textilindustrie zu erhalten und hat so den Anschluss an neu aufkommende Industrien teilwei-
se verpasst, z.B. Chemische Industrie (hier wurden Deutschland und die Schweiz führen) und
Automobilindustrie (neben den USA (Ford) übernahm hier Frankreich (Peugeot) die Führung
in Europa bis 1914).]
1) In der Metallindustrie waren um 1850 nur 6% der Industriearbeiter in der Eisenindustrie,
die Grundlage ist für die weit wichtigere Maschinenindustrie (20% der Industriearbeiter).
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Die „Produktions-Explosion“ in der Roh-Eisen-Produktion in England ist ein wichtiges
Indiz für das Faktum der Industriellen Revolution [natürlich, wenn man Indexzahlen für die
Weltproduktion von Eisen und anderen Gütern betrachtet, wie das einige Autoren tun, hat
scheinbar keine Industrielle Revolution stattgefunden; das ist aber eine völlig falsche Betrach-
tungsweise!].
In tausend Tonnen: ~1760: 20 – 26, 1788: 61, 1806: 235, 1830: 630, 1850: 2250 (2,25
Mio. Tonnen); d.h. die Eisenproduktion war in England um 1850 herum hundert Mal grösser
als um 1760!
2) Textilindustrie
Hier waren um 1850 herum 60% der Industriearbeiter beschäftigt.
Entwicklungsindikator: Importe an Rohbaumwolle in 1000 Tonnen (auch ein Indikator
für die Explosion der Industrieproduktion in England):
1770: 1,5, 1800: 24, 1825: 76, 1850: 267
* In der wirtschaftlichen Entwicklung Englands bis 1914 haben die Exporte eine besondere
Bedeutung. Die Wirksamkeit des Exportmultiplikators ist deutlich ersichtlich (Anstieg der
Exportquote: X/Q).
1770, also gerade vor der Industriellen Revolution betrug die Exportquote X/Q etwa 8%;
dann Anstieg bis zu den Revolutionskriegen (1790-1815). Die Exporte wirken als Entwick-
lungsmotor (ein Anstieg der Exportquote X/Q bedeutet, dass die Wachstumsrate der Exporte
(X) grösser ist als die Wachstumsrate des Sozialprodukts (Q)!).
Von 1800-15: starker Rückgang von X/Q (Napoleon verhängt die Kontinentalsperre:
keine englischen Industrieprodukte dürfen nach dem europäischen Kontinent exportiert wer-
den! Das gibt den kontinentaleuropäischen Ländern eine Verschnaufpause und ermöglicht
Industrialisierungsanfänge auf dem Kontinent, weil die englische Konkurrenz ausgeschaltet
ist! Russland hielt sich nicht voll an die Kontinentalsperre; dies bildete den Hauptgrund für
den Russlandfeldzug Napoleons 1812.)
Der Rückgang der ausländischen Nachfrage (die englischen Exporte (X) gehen zurück)
wird aber kompensiert durch steigende Staatsnachfrage in England (die Staatsausgaben G
steigen stark an): Waffenproduktion, auch Waffenlieferungen an Verbündete. [Nach dem
Friedensschluss 1815 (Wiener Kongress) gehen die Staatsausgaben (Waffenproduktion) stark
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zurück. Dies löst eine schwere Krise aus (Rückgang des Sozialproduktes Q und der Beschäf-
tigung N; die Arbeitslosigkeit steigt an. Arbeiterunruhen und Arbeiterversammlung kommen
zustande - von besonderer Wichtigkeit ist Peterloo 1819!]
Wichtig: 1831 betrug die Exportquote X/Q 7%, lag also unter dem Stand von 1770
(8%)! (Die Wirkung der Kontinentalsperre muss dramatisch gewesen sein, denn gleichzeitig
(ab etwa 1810) nahmen die Textilexporte nach Indien sehr stark zu!)
1851 war die Exportquote X/Q wieder auf 12%.
Dann erfolgte ein ständiger Anstieg von X/Q bis 1914: Die Exporte waren Entwick-
lungsmotor. Die Wachstumsrate der Exporte überstieg die Wachstumsrate des Sozialprodukts
(gX > gQ). Der externe Entwicklungsmechanismus mit dem Exportmultiplikator war wirksam!
Jedoch war die Struktur der Exporte sehr einseitig: 80% der Exporte entfielen nämlich
auf (1) Maschinen und Werkzeuge sowie auf (2) Textilien, die beiden Motoren der industriel-
len Revolution. Diese einseitige Ausrichtung der Exporte hat dann nach dem Ersten Weltkrieg
zu einer ständigen Schwächung der englischen Aussenhandelsposition geführt. Dafür gab es
zwei Hauptgründe. Einmal, musste England nicht wirklich um Märkte kämpfen, wie z.B.
Deutschland und die Schweiz, weil es in seinen Kolonien und abhängigen Gebieten gesicherte
Absatzmärkte hatte. Zweitens, hatte England den Anschluss an moderne Entwicklungen
(Chemie, Automobilherstellung) zum Teil weitgehend verloren. England hatte sich zu stark
auf seine traditionellen Stärken abgestützt.
1.2.3. Soziale Konsequenzen der industriellen Revolution (vor allem Eng-land)
* Im 19. Jh. bildet sich in England eine bestimmte soziale Struktur heraus, die eng mit der
politischen Struktur verbunden war
1) Grundbesitzer, vorwiegend Adel und traditionelle Grossbürger; Angehörige der
Anglikanischen Hochkirche; aber auch im Finanzbereich in der City of London täti-
ge Bürger und Angehörige des Kleinadels (Gentlemanly Capitalism, Cain and Hop-
kins). Politisch gehören diese sozialen Gruppen den Tories (Konservative) an. Die
Tories sind sozusagen die Partei des Ancien Régime.
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2) Kapitalisten, kleinere, mittlere und grössere Industrielle: Fabrikbesitzer (Industrie-
bürger), auch Ingenieure und fortschrittliche Bürger im allgemeinen (Bildungsbür-
gertum). Diese sozialen Gruppierungen gehören in der Regel den Whigs an (Libera-
le). Die Whigs sind die Partei des Fortschritts, vor allem des wirtschaftlichen und
wissenschaftlichen Fortschritts.
3) Arbeiter, sind vorwiegend unqualifiziert (Anhängsel der Maschine!); lange ange-
führt von Intellektuellen, die aus bürgerlichen Kreisen stammten; von zentraler Be-
deutung war die Fabian Society, aus der 1906 die Labour Party entstand.
Die Klassifikation ist eine Vereinfachung:
- Es gibt qualifizierte Arbeiter, z.B. Handwerker, die zum Teil selbständig sind
- Auch gibt es bürgerliche Grundbesitzer, wenige adelige Fabrikbesitzer und Bankiers
- Bürger (vor allem Grossbürger) und Adelige sind Staatsbeamte, Offiziere und poli-
tisch tätige (Parlamentarier, Mayors - Bürgermeister - Stadtpräsidenten)
Entwicklungstendenzen:
- Langfristig gewinnt das Bürgertum auf Kosten des Adels immer mehr an Bedeutung.
Industrieprofite werden gegenüber den Landrenten immer wichtiger, vor allem nach
der Abschaffung der Getreidezölle (Korngesetze) im Jahre 1846 (die Landwirtschaft
wird zum Teil der Industrie geopfert, eine allgemeine Tendenz in hochentwickelten
Industrienationen).
- Jedoch bleibt der Landbesitz zentral für den sozialen Status. Für die Bürger bedeutet
der Erwerb von Land einen sozialen Aufstieg in Richtung Adel.
[Das englische Parteienschema hat sich mit Variationen allmählich auch auf dem europä-
ischen Kontinent herausgebildet. So bildeten sich in der Schweiz die Parteien der Freisinni-
gen-Radikalen-Liberalen, der Katholisch-Konservativen (jetzt Christlich-demokratische
Volkspartei) und der Sozialdemokraten heraus. Nach dem Ersten Weltkrieg sind zu den (re-
formerischen) Sozialdemokraten die (revolutionären) Kommunisten hinzugekommen. Mit
dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und der Sowjetunion hat sich die europäi-
sche Parteienlandschaft gewandelt. So sind mit dem Einsetzen von krisenhaften Erscheinun-
gen in Europa die Rechtsparteien erstarkt, z.B. in der Schweiz die Schweizerische Volkspartei
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(SVP). Die Sozialdemokraten sind vor allem in Deutschland und England eher bürgerliche
Parteien geworden.]
* Die Lage der Arbeiter ist im England des 19. Jh. prekär, vor allem in der ersten Jahrhun-
derthälfte:
Wieso?
1) Arbeitslosigkeit ist permanent vorhanden, schwankt mit der Konjunkturbewegungen
(Kondratiev- und Juglarzyklen)
Gründe dafür:
a) Das Bevölkerungswachstum führt zu steigendem Arbeitsangebot.
b) Am wichtigsten sind Schwankungen der effektiven Nachfrage im Zusammen-
hang mit dem internen oder externen Entwicklungs-Mechanismus; zwar gibt es
keine Zahlen, aber man weiss, dass in heutigen Entwicklungsländern die Ar-
beitslosigkeit im Durchschnitt 20-40% (und mehr!) beträgt. Das Internationale
Arbeitsamt schätzt, dass weltweit von 3 Milliarden Arbeitsfähigen etwa eine
Milliarde unfreiwillig unterbeschäftigt oder total arbeitslos ist.
[ILO World Employment Report 1998-99 (from Wikipedia):
GENEVA (ILO News) - The number of unemployed and underemployed work-
ers around the world has never been higher and will grow by millions more be-
fore the end of the year as a result of the financial crisis in Asia and other parts
of the world, says the International Labour Office (ILO) in its latest World Em-
ployment Report * issued today in Geneva [September 24, 1998].
“The global employment situation is grim, and getting grimmer,” says Mr.
Michel Hansenne, Director General of the ILO. “The world financial crisis has
put immense pressure on globalization, and we fear that many governments
may begin turning their backs on much needed economic reforms. But globali-
zation per se is not the problem.”
Noting that beyond the current financial turmoil, many countries are suffering
from long-term employment problems that can be solved only through the
combined action of governments, trade unions and employer organizations, Mr.
Hansenne says: “Among measures to increase competitiveness, growth and em-
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ployment in a globalizing world economy, the critical role of a high-quality,
educated and skilled workforce must gain more prominence.”
Among the highlights of the World Employment Report:
Some one billion workers – one third of the world’s labour force – remain
unemployed or underemployed, a figure that is largely unchanged from
ILO estimates contained in its World Employment Report 1996-97]
Vermutlich hat sich die Arbeitslosensituation in der Krise, die 2007/08 einge-
setzt hat, noch verschärft.
c) Strukturveränderungen im Zusammenhang mit dem technischen Fortschritt.
Beispiel: Um 1790 steigen die Löhne für Weber auf 15 sh./Woche. Grund:
Fortschritte in der Spinntechnik führen zu einem hohen Garnangebot. Es
kommt zu einem Mangel an Webern.
Ab 1790 setzt sich der mechanische Webstuhl rasch durch. Die Löhne für We-
ber sinken auf 6 sh./Woche um 1800 und gehören fortan zu den niedrigsten.
Viele Weber wurden arbeitslos, freigesetzt durch technischen Fortschritt.
2) Die Arbeitslosigkeit drückt auf die Reallöhne, vor allem im landwirtschaftlichen
Sektor: hier sanken die Löhne (Nominallöhne) um die 25% zwischen 1815 und
1850.
Allgemein blieb der durchschnittliche Reallohn zwischen 1750 – 1820 etwa gleich.
Von 1820-50 war jedoch eine durchschnittliche Zunahme von 2% p.a. zu verzeich-
nen. 1820 war die Zeit eines Kondratiev-Abschwungs. Die Arbeitslosigkeit nahm
zweifellos zu; wahrscheinlich gewährleistete das verfügbare Einkommen in vielen
Fällen nicht einmal das physische Überleben (es gab ab 1815 Hungeraufstände -
1819 Peterloo!). Für die Beschäftigten stiegen jedoch die Reallöhne w (w = wG / p):
Die Preise für lebensnotwendige Konsumgüter (p) sanken in der Krise schneller als
die Geldlöhne (wG)! [Dieses Phänomen konnte man auch in der Weltwirtschaftskrise
der 1930er Jahre beobachten. Maynard Keynes erwähnt es in seiner General Theory
of Employment, Interest and Money ausdrücklich. Er sagt, dass die steigenden Real-
löhne Resultat der Arbeitslosigkeit und der rückläufigen effektiven Nachfrage seien
und dass nicht die höheren Reallöhne (w) Ursache für die Arbeitslosigkeit seien. Der
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gleiche empirische Sachverhalt kann also unterschiedlich interpretiert werden. Des-
halb ist die Theorie primär und grundlegend, nicht die Empirie.]
3) Allerdings verstärken sich die Lohndifferenzen, vor allem zwischen qualifizierten
und unqualifizierten Arbeitern. Alle Ungleichheitsindikatoren weisen eine zuneh-
mende Tendenz auf: z.B. 10% der Arbeiter mit dem höchsten Einkommen erhalten
28% der Gesamtlohneinkommen 1827, 34% der Gesamtlohneinkommen 1851.
4) Frauenstundenlöhne betragen 35 – 40% der Männerlöhne.
Kinderlöhne belaufen sich auf 2% der Männerlöhne.
Allerdings hatten Frauen und vor allem Kinder leichtere Arbeiten auszuführen.
Die Lage der Arbeiter wird weiter verschärft durch:
5) Lange Arbeitszeiten, bis zu 15 – 18 Stunden.
6) Zunehmende Risiken wegen konjunktureller und struktureller Arbeitslosigkeit.
7) Sehr schlechte hygienische Verhältnisse in den Industriestädten, z.B. wegen teilwei-
se fehlenden Abwasserkanälen. In Liverpool betrug die Sterblichkeitsrate um 1840-
50 etwa 40% p.a., die Geburtenrate ungefähr 30% p.a.
D.h., die Grossstädte vermögen ihr Bevölkerung nicht zu erneuern und sind auf den
Zustrom von Landbewohnern angewiesen. Die prekäre Lage der Arbeiter führte zur
Schaffung des
Armenhaussystems:
Problem: Trotz Frauen- und Kinderarbeit hängt ein bedeutender Teil der Bevölkerung
von Armenunterstützung ab, weil die Löhne die Existenz nicht sichern. Es wird deshalb er-
gänzend zum Lohn eine Armenunterstützung bezahlt: Der Staat definiert einen Mindestlohn
und bezahlt die Differenz zwischen tatsächlich bezahltem Lohn und Mindestlohn. Dieses Sys-
tem bewirkt, dass die Löhne auf ein sehr niedriges Niveau sinken, sogar gegen Null tendieren!
Das ermöglicht es den Unternehmern die Exporte zu steigern, weil die Preise für Exportgüter
sehr niedrig werden. Trotzdem können die Unternehmer wegen den sehr niedrigen Löhnen
hohe Gewinne erzielen. [Daniel Defoe hatte um 1720 herum dieses Vorgehen als unsinnig
bezeichnet: sehr niedrige Löhne führen dazu, dass im Inland produzierte Güter zu Niedrigst-
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preisen auf den Weltmärkten verschleudert werden. Die Unternehmer werden zwar reich, aber
die Arbeiter verelenden, meinte Daniel Defoe. Heute geschieht Ähnliches in bestimmten
Transitionsländern wie China, Indonesien, Indien und anderen.]
Für die Arbeiter war dieses System ausserordentlich entwürdigend: Sie arbeiteten hart,
bezogen äusserst niedrige Löhne, die ihre Existenz und die ihrer Familien nicht sicherten, und
wurden so von Sozialhilfe abhängig, wurden also zu „working poor“ [die heute auch wieder
zunehmen]. Die Arbeitsdisziplin der working poor liess nach. Deshalb wurden die Arbeiter
und ihre Familien in ein Armenhaus eingewiesen. Die Disziplin wurde durch strikte Ordnung
aufrechterhalten, wie in einer Kaserne: Am Abend mussten die Arbeitstruppen einrücken, am
Morgen früh wieder ausrücken. (Charles Dickens beschreibt in seinem Oliver Twist das Leben
im Armenhaussystem).
Das Armenhaussystem wurde1723 eingeführt und 1834 aufgehoben. Es wurde ersetzt
durch das Arbeitsrecht, das allmählich aufgrund der Berichte von Fabrikinspektoren einge-
richtet wurde. Die Fabrik- und Sozialgesetze waren eine Art Selbstschutz der Gesellschaft,
um die übermässige Ausnutzung der Arbeiter zu verhindern (Polanyi 1977/1944, p. 112).
Die prekäre Lage der Arbeiter in England hat sich mit der Industrialisierung auf den eu-
ropäischen Kontinent übertragen. Dadurch ist die Arbeiterfrage oder die Soziale Frage ent-
standen, mit der sich nicht nur die Politik und die Sozialwissenschaften auseinandergesetzt
haben, sondern auch die Kirchen. So hat sich die Katholische Kirche seit der Mitte des 19. Jh.
mit der Sozialen Frage beschäftigt. Papst Leo XIII. hat dann 1891 in der Enzyklika „Rerum
Novarum“ [Die neuen Verhältnisse] offiziell zur Arbeiterfrage Stellung bezogen. In England
war die sozialphilosophische Strömung des Sozialen Liberalismus wichtig, die unter anderen
von L.T. Hobhouse vertreten wurde. Hobhouse stellte die Frage nach den sozialen Grundla-
gen, die es allen Mitgliedern einer Gesellschaft ermöglichen würden ein „refined and noble
life“ (Alfred Marshall) zu führen. Maynard Keynes (1883-1946) ist als Student in den Jahren
1902-1906 von Hobhouse u.a. stark beeinflusst worden. Sein Leben lang war Keynes auf der
Suche nach einer Alternative zum traditionellen Liberalismus, realisiert durch den Kapitalis-
mus (keine Staatseingriffe in die Wirtschaft), und dem Sozialismus (durch den Sowjetkom-
munismus verwirklicht). In seinen Schriften hat er die Sozialphilosophie des Sozialen Libera-
lismus ausgebaut und zusammen mit dem italienischen Ökonomen Piero Sraffa die Grundla-
gen für das theoretische System der Klassisch-Keynesianischen Politischen Ökonomie gelegt.
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Dieses Theoriensystem bildet eine Alternative zur neoliberalen Neoklassik und zur Politi-
schen Ökonomie des Sozialismus.
2. Der Rückstand Europas und der Welt Um 1850 kommt ein einziges kontinentaleuropäisches Land an England heran: Belgien, das
durch die Textilmanufakturen im Mittelalter die erste „Industrieregion“ Europas war (Brügge,
Gent!). Frankreich und die Schweiz liegen weiter zurück, noch mehr Deutschland, noch vor-
wiegend Agrarland. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstreckt sich der Industri-
alisierungsprozess auf weite Teile Europas. Die Schweiz hat sich sehr gut in die europäische
Maschinenbautradition eingefügt. Gründe: Das Söldnerwesen hat zur Aneignung von techni-
schem Know-how geführt. Die Gründung der ETH Zürich 1855, die dichte und ausgewogene
Bildungs- und Ausbildungsstruktur (ETH - universitäres Niveau (Konzeption), Technische
Hochschulen (Prototypen), Handwerk (qualitativ sehr hoch stehende Produktion); kaufmänni-
sche Schule; Wirtschaftsgymnasien; wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultäten). So
ist die Schweiz durch Spitzenqualität zu einer der führenden Exportnationen für hochwertige
Produkte geworden.
2.1. Ländervergleich (Frankreich und England, England und Indien)
Der Genfer Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch erarbeitete einen sehr aufschlussreichen Ver-
gleich betreffend das Industrialisierungsniveaus in europäischen Ländern um 1840 anhand
von grundlegenden Kennziffern, die Basisgüter betreffen. [Es handelt sich um Indexzahlen,
deren Berechnung einen gigantischen Arbeitsaufwand erforderte!]
1) Pro-Kopf-
Verbrauch an
Rohbaumwolle
(Textilindustrie)
2) Pro-Kopf-
Produktion an Eisen
(Metall- und
Maschinenindustrie)
Pro-Kopf-Produktion
an Kohle (Energie,
Transport)
Landwirtschaftliche
Arbeitsproduktivität
QL/NL
GB 100 100 100 100
Frankreich 20 (1880) 25 (1890) 10 (1900) 70 (1910)
Deutschland 10 (1910) 10 (1880) 10 (1880) 45 (1890)
Russland 5 (1965) 5 (1935) 5 (1950) 40
Italien 5 5 25
Die Zahlen in Klammern geben das Jahr an, in dem das englische Niveau von 1840 er-
reicht wurde. Die Korrelation zwischen den einzelnen Reihen ist bemerkenswert. Dies deutet
Komplementaritäten zwischen den Sektoren an, wie sie für den sozialen Produktionsprozess
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typisch sind (in modernen monetären Produktionswirtschaften dominiert die Komplementari-
tät, nicht die Substitution, wie die neoklassische Theorie postuliert).
2.2. Frankreich und England
Um 1750 herum war es keineswegs sicher, ob die industrielle Revolution in Frankreich oder
in England einsetzen würde. Vier wichtige Faktoren haben England den entscheidenden Vor-
sprung verschafft:
2.2.1 Der Aussenhandel
England dominierte im 18. Jh. die Weltmärkte, d.h. vor allem die Märkte in seinen Kolonien,
vor allem Indien, der abhängigen Gebiete, z.B. Südamerika, aber auch die europäischen
Märkte. Seine Exporterfolge führten zu einer entscheidenden Steigerung der effektiven Nach-
frage.
Die Exporte von Industrieprodukten (XI) stellten den Entwicklungsmotor dar (externer
Beschäftigungs- und Entwicklungsmechanismus).
Ein wichtiges Mittel zur Sicherung dieser Exporterfolge war die englische Kriegsflotte.
Diese schützte die Seewege, die Handelsstützpunkte und damit der Handelsflotte; Handels-
stützpunkte waren besonders wichtig: hier wurden die Schiffsbesatzungen mit Lebensmitteln
und Trinkwasser versorgt; die Schiffe wurden entladen und neu geladen.
Nun war die englische Kriegsflotte immer viel stärker als die französische. Das war aus-
schlaggebend für die englische Seeherrschaft.
Der Hauptgrund war, dass England als Insel keine starke Landarmee brauchte, um sich
zu verteidigen; England konnte sich deshalb auf die Flotte konzentrieren.
Frankreich als Landmacht musste in erster Linie eine starke Landarmee unterhalten, um
Angriffskriege zu führen oder um sich zu verteidigen. Für die Flotte blieben immer zu wenig
Mittel übrig.
* Den entscheidenden Umschwung zugunsten Englands brachte der Siebenjährige Krieg,
1756-63 (England und Preussen gegen Österreich-Russland-Frankreich). Die Kriegsschau-
plätze befinden sich in:
- Europa; Österreich muss Schlesien an Preussen abtreten und in
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- Übersee; Frankreich verliert Nordamerika (Mississippibecken und Quebec) sowie
Indien an England.
Damit gingen für Frankreich wertvolle Absatzmärkte verloren.
Die Napoleonischen Kriege (1800-15) haben die französische Aussenhandelsposition
weiter verschlechtert. Der französische Aussenhandel war nach diesen Kriegen regelrecht
amputiert.
2.2.2 Das Steuersystem
Die Steuererhebung (direkte und indirekte Steuern) war in England besser organisiert als in
Frankreich.
Die Steuererhebung in England beruht auf Gesetzen, ist institutionalisiert, und damit un-
abhängig von Personen.
Die Steuererhebung in Frankreich ist personengebunden; Steuereintreiber ziehen direkte
und indirekte Steuern ein; die persönliche Bereicherung ist normal; dieses personengebundene
Steuersystem ist Teil des absolutistisch-feudalen Privilegiensystems. Das Amt des Steuerein-
treibers ist begehrt. Um es zu erhalten mussten hohe Summen an den Staat bezahlt werden.
2.2.3. Schlechte Rohstoffausstattung Frankreichs
Vor allem was die Kohle angeht, war Frankreich schlecht ausgestattet, und die Kohle war die
Basis der Dampfenergie, der weitaus wichtigsten Energiequelle in den Anfängen der Industri-
alisierung und im 19. Jahrhundert! Deshalb musste Frankreich Kohle importieren, was mit
hohen Transportkosten verbunden war; die Folge war eine Verteuerung von Industrieproduk-
ten.
2.2.4. Die einmal erreichte englische Überlegenheit verstärkte sich kumu-lativ
Die englische Konkurrenz behinderte die industrielle Entwicklung Frankreichs. Das Gesetz
der Massenproduktion (Skalenerträge) war wirksam: wenn mehr produziert werden kann,
sinken die Durchschnittskosten. Die Produktion wird kapitalintensiver; die Fixkosten (Kapi-
talkosten) steigen und die (variablen) Arbeitskosten (Lohnkosten) sinken. Um die Durch-
schnittskosten zu senken, müssen allerdings die Absatzmengen sehr hoch sein, damit die Fix-
kosten auf möglichst viele Produkteinheiten überwälzt werden können.
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Steigende Skalenerträgen führen damit zu einem Prozess der kumulativen Verursachung;
immer grössere Ungleichgewichte entstehen, wenn zwei Länder mit ungleichem Entwick-
lungsniveau Freihandel aufnehmen. Das stärkere Land (England) kann seine Industrieexporte
steigern. Dadurch sinken die Durchschnittskosten für seine Exportprodukte und es wird noch
wettbewerbsfähiger. Die französische Industrie dagegen wird an die Wand gedrängt. Wegen
rückläufigem Absatz steigen die Durchschnittskosten und die Preise. Die Wettbewerbsfähig-
keit sinkt.
Frankreich hat mit England dreimal ein Freihandelsabkommen abgeschlossen: 1786,
1815 und 1860. In den Jahren 1786 und 1860 handelte Frankreich freiwillig, 1815 wurde es
vermutlich zum Freihandel gezwungen. Jedenfalls öffnete Frankreich in allen drei Fällen sei-
ne Grenzen für englische Produkte. Alle drei Male wurden bedeutende Teile der französi-
schen Industrie ruiniert.
Das Freihandelsabkommen von 1786 hatte in Frankreich besonders verheerende Auswir-
kungen. Die bereits bestehende Krise vertiefte sich und die Arbeitslosigkeit nahm zu; beides
war sehr wahrscheinlich ein unmittelbarer Grund für die französische Revolution von 1789.
Die Revolution wäre natürlich auch ohne Krise und Arbeitslosigkeit zustande gekommen;
aber das Freihandelsabkommen von 1786 hat wahrscheinlich dazu beigetragen, dass sie gera-
de 1789 einsetzte.
Eine Möglichkeit, der Krise entgegenzuwirken wären höhere Staatsausgaben gewesen.
So war der Zusammenhang zwischen Krieg und verbesserter Wirtschaftslage seit langem be-
kannt. Dazu gibt es eine kleine Anekdote: Im Verlaufe des Jahres 1788 haben Minister und
Berater den französischen König Louis XVI auf die schlechte Wirtschaftslage, zunehmende
Arbeitslosigkeit und Bettelei hingewiesen. Der König soll dazu bemerkt haben: „Je ne peux
quand même pas commencer une guerre pour donner du travail et du pain au peuple“.
2.2.5. Frankreich ist lange ein eigentlicher Agrarstaat geblieben
Der interne Entwicklungsmechanismus hat immer die zentrale Rolle gespielt: wichtig waren
die Staatsausgaben und die Interaktion zwischen Industrie und Landwirtschaft. Dies impli-
ziert, dass in Frankreich der externe Entwicklungsmechanismus nie die wesentliche Position
eingenommen hat. (Siehe auch Kapitel VIII.)
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So war der Weg frei für England als erste Industrienation (siehe auch Abschnitt V.2).
3. England und Indien Die englische Domination hat zeitweise die Industrialisierung der Vereinigten Staaten behin-
dert. Indien jedoch erlitt wegen der industriellen Domination Englands einen schweren Rück-
schlag in seiner industriellen Aktivität – eine regelrechte Deindustrialisierung.
Dies war verbunden mit einer Umkehr der Handelströme zwischen England und Indien,
auf die wir weiter unten zu sprechen kommen.
Sicher eines der besten Bücher über die kolonialen Beziehungen zwischen England und
Indien ist:
Amiya Kumar Bagchi: Colonialism and Indian Economy, New Delhi and Oxford et
al. (Oxford University Press) 2011; first impression 2010
3.1. Die ursprünglichen englisch-indischen Handelsbeziehungen
In Alt-Indien vor der englischer Herrschaft dominieren die ländlichen Aktivitäten. Die Dörfer
sind weitgehend autark; es bestehen erbliche Nutzungsrechte am Land, die von Zeit zu Zeit
von den Dorfbehörden je nach Familiengrösse neu aufgeteilt werden. Die Handwerker produ-
zieren für den lokalen Bedarf.
In den Städten leben weniger als 10% der Bevölkerung. Sie waren ökonomisch dennoch
bedeutsam als Residenzen der Prinzen und als Wallfahrtsorte. Für die Bedürfnisse der Prinzen
und für religiöse Zwecke wurde eine künstlerisch sehr hoch stehende handwerkliche Luxus-
produktion erbracht.
Im 18. Jh. führen Kriege zu einer weitgehenden Verarmung. Es waren Bürgerkriege und
Kriege gegen die Franzosen und vor allem gegen die Engländer, die den Gegensatz zwischen
Hindus und Moslems geschickt ausnutzten.
Gleichzeitig floriert der Aussenhandel; vor allem besteht eine rege Exporttätigkeit. Indien
exportiert Agrarprodukte, auch Farbstoffe wie Indigo (indigoblau), sowie Luxusprodukte wie
Elfenbein, Parfums und verschiedene hochwertige Manufakturprodukte, wie z.B. Möbel aus
Edelhölzern.
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Schon Ende des 17. Jahrhunderts erreicht der Export von Textilien einen Höhepunkt und
behält seine Bedeutung während des ganzen 18. Jahrhunderts bei.
Noch 1785 importiert Liverpool wertmässig fünf Mal mehr indische Textilien als Roh-
baumwolle, die zur inländischen Verarbeitung bestimmt ist.
Schliesslich exportiert Indien auch Schiffe.
Aber der Grossteil der Aussenhandelsprofite fällt nicht Indien, sondern der Englischen
Ostindienkompanie zu; diese erhebt auch Abgaben auf dem indischen Binnenhandel (Binnen-
zölle werden wieder eingeführt!) und reserviert sich das Salz- und Tabakmonopol. Ein Teil
der Gewinne wird in Form von Steuern an die englische Regierung abgeführt. Dies ermög-
licht in England zusätzliche Staatsausgaben, die sich belebend auf die Wirtschaft auswirken
(zusätzliche Arbeitsplätze können geschaffen werden.
Die englische Herrschaft erstreckte sich auch auf den Agrarsektor. Bis zum 18. Jahrhun-
dert bestand eine reichhaltige Agrarstruktur, aber das Kollektiveigentum der Dorfgemein-
schaften dominierte in den meisten Provinzen. Die Dorfbehörden verpachteten den Boden
dauernd an die Familien; die Bodennutzung war erblich; von Zeit zu Zeit wurde aber der Bo-
den neu verteilt, um ihn der Grösse der Familien anzupassen. Wichtig: der Boden war Ge-
meineigentum und als solcher unveräusserlich (unverkaufbar); hier bestehen Parallelen
zum Germanischen Recht.
Das Gemeineigentum wurde nun durch den Permanent Settlement Act 1793 aufgeho-
ben.
Dadurch veränderte sich die Rolle der Zamindars, grundlegend. Die Zamindars waren
ursprünglich Steuereintreiber, aber zeitlich begrenzt. Die Engländer machten sie zu dauern-
den Privateigentümern des Bodens, die den Engländern steuerpflichtig waren.
Das Zamindarsystem implizierte eine radikale Veränderung der sozialen Strukturen des
ländlichen Indien: Die Bauern wurden zu Pächtern, die an die Grundherren (Zamindars)
schwerste Abgaben zu leisten hatten (in absoluten Grössen oder in relativen Ernteanteilen).
So wurden die relativ wohlhabenden indischen Bauern zu einem elenden und ausgebeuteten
Landproletariat.
Dieses System hatte für die englische Administration zwei Vorteile:
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1) Die Englische Regierung konnte auf regelmässige Steuereinkommen rechnen, ver-
bunden mit einem Minimum von Eingriffen seitens der Engländer in Indien.
2) Es wurde eine dominierende soziale Klasse geschaffen, die Zamindari, die direkt
von den Kolonialherren abhängig war und so leicht zu kontrollieren war.
Zum Permanent Settlement Act eine Textstelle aus Michael Edwardes: Illustrierte Ge-
schichte Indiens, Zürich (Ex Libris) 1961; engl. Orig. 1960, p. 255:
„[Die bedeutungsvollste, aber unglückseligste Tat des englischen Governeurs in In-
dien, Lord Cornwallis,] war die ‚dauernde Verpachtung’ (permanent settlement) von
Land in Bengalen, Bihar und Benares 1793 [...]. Er suchte nach einer Lösung des Steuer-
problems [für England!] und sah die einzige Möglichkeit in einem stabilen Grundbesitz,
der im Falle einer Verschuldung eingezogen werden konnte [wenn ein Zamindar die
Steuern an die englische Verwaltung nicht bezahlen konnte, bedeutete das den Konkurs
und die Ersetzung durch einen anderen Zamindar]. Auf diese Weise brach - wegen einer
wahrscheinlich vorübergehenden Geldknappheit - die ganze indische Tradition eines er-
blichen, unveräusserlichen Landbesitzes zusammen. Einer der Kommentare über diese
Regelung verdient es, zitiert zu werden [John Capper, englischer Schriftsteller]:
‚In seinem Bemühen, in Bengalen eine feste Grundsteuer einer stabilen und einträg-
lichen Basis einzuführen, beging Cornwallis einen der grössten Fehler, der je in der Ge-
schichte gemacht worden ist, und zugleich ein grosses Unrecht. Er schuf damit ein Sys-
tem, nach dem das Besitzrecht am gesamten Boden Bengalens in die Hände von Zamin-
dars oder erblichen Grundherren gelegt wurde, und das nicht nur für ein Jahr oder zehn
Jahre, sondern für immer. Sie waren bisher Steuereinnehmer gewesen und standen so
zwischen der Regierung und den Dorfbesitzern und Bauern, aber dass sie dadurch ein
Anrecht auf das Land, das die Steuern einbrachte, erworben hätten, war eine Utopie, die
nur in der Einbildung dieses sonst sehr liebenswerten Gentleman [Lord Cornwallis] be-
stand. Dieses System, das durch einen Federstrich eine neue Klasse von Grundeigentü-
mern schuf, schien jedoch, wo wertlos und ungerecht es auch war, eine sichere Steuer-
grundlage zu bieten, und die Verantwortlichen in England liessen sich täuschen und ga-
ben ihre Einwilligung dazu, so dass 20 Millionen kleiner Landbesitzer ihre Rechte verlo-
ren und völlig machtlos auf Gnade oder Ungnade einer Handvoll Wucherern ausgeliefert
waren’[John Capper].
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Unter Cornwallis blieben die höheren Verwaltungsposten den Europäern vorbehal-
ten. Aber diese Europäisierung hielt auch noch an, als die Notwendigkeit dafür schon
lange nicht mehr bestand. Den Indern war es jetzt nicht mehr wie früher möglich, an der
ausländischen Verwaltung mitzuwirken, und es entstand eine neue Kaste: die der weissen
Herren, und umgekehrt glich sich die fremde Herrschaft nicht mehr, wie noch bei den
Moguls [islamische Invasoren aus Zentralasien; die Mogulherrschaft in Indien bestand
von 1526-1858], an die politische und soziale Struktur Indiens an. Ausserdem suchte
Cornwallis das Rechtswesen zu reorganisieren, und die englische Rechtsprechung wurde
sogar auf das hinduistische Gesetz angewandt. Der Erfolg war eine Flut von Prozessen
mit professionellen Denunzianten und Zeugen“(Edwardes 1961, p. 255).
Wie kann man die Entscheidung von Cornwallis betreffend den Permanent Settlement
Act erklären? Vielleicht am besten so: Nach der Industriellen Revolution und der überragen-
den Stellung, die sie England verschaffte, begannen sich die Engländer, dann die Europäer
und etwas später die Amerikaner als etwas Einzigartiges zu betrachten (Eurozentrismus). Die
ganze Welt sollte europäisiert, später amerikanisiert werden. Was für England (Europa, USA)
gut war, war es auch für die übrige Welt. Das war schon zur Zeit von Cornwallis (Ende des
18. Jh.) Ideologie und ist es heute noch viel mehr. Aber heute kommt die westliche Dominanz
in Wirtschaft, Politik und auch intellektuell (Wirtschafts- und Sozialtheorie: Domination der
neoliberalen Doktrin) langsam zu einem Ende. Eine neue, nicht mehr vom Westen dominierte
Weltordnung bahnt sich an.
3.2. Der Einfluss der industriellen Revolution in England auf die in-dischen Verhältnisse
Die Industrielle Revolution in England führte zu einer Umkehrung der Handelsströme mit
Indien: Bis zur Industriellen Revolution hatte Indien hauptsächlich Fertigprodukte nach Eng-
land exportiert. Nach der Industriellen Revolution hat England immer mehr Fertigprodukte
nach Indien ausgeführt und von dort Rohmaterialen, vor allem Baumwolle importiert.
Die Industrielle Revolution führt vorerst zu einer Importsubstitution in England: bisher
importierte Produkte werden durch einheimische (im Inland produzierte) ersetzt. In einem
ersten Schritt erfordert dies einen Schutz der einheimischen englischen Produktion.
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Schon im Verlaufe des 18. Jahrhunderts werden indische Textilien mit hohen Zöllen be-
legt (40-60 %!), die erst 1846 aufgehoben werden, in einem Zeitpunkt, in dem die englische
Domination ihren Zenit erreicht hatte. England produzierte nun viel billiger als Indien. Der
Hauptgrund war der dramatische Anstieg der Arbeitsproduktivität (Q/N), verursacht durch die
industrielle Revolution. Englische Industrieprodukte waren preislich weltweit unschlagbar.
Selbst die indischen Handwerker, die zu niedrigsten Löhnen hochwertige Produkte herstell-
ten, hatten keine Chance. (Zudem durfte das von England kolonisierte Indien keine nennens-
werten (Aussen-)Zölle erheben, um seine Produktion zu schützen! Auf der anderen Seite hat
die Englische Ostindienkompanie in Indien Binnenzölle eingeführt, um ihre Einnahmen zu
steigern und um zusätzliche Gelder nach London überweisen zu können.)
England beginnt nun, vor allem nach den Napoleonischen Kriegen, Textilien nach Indien
zu exportieren. Die englischen Exporte nach Indien (XEI) waren um 1800 noch fast Null.
Dann aber wurden 1820 bereits12 Millionen Meter Tuch nach Indien exportiert, 45 Millionen
Meter Tuch 1830; nach 1857 explodierten die Exporte: 900 Millionen Meter Tuch 1870!
Der Grund war der folgende: Bis 1857 kontrollierte die Englische Ostindienkompanie
Indien, dies mit starker Unterstützung des englischen Staates. 1857 fand in Indien ein Auf-
stand statt, der von den modern ausgerüsteten englischen Truppen niedergeschlagen wurde.
Indien wurde nun als schönstes Juwel der englischen Krone direkt dem englischen Staat un-
terstellt. Indien wurde 1858 Vize-Königtum und die englische Königin Viktoria wurde Kaise-
rin des Britischen Imperiums.
Weil die indischen Handwerkstextilien von besserer Qualität sind, können sie anfänglich
noch der englischen Konkurrenz widerstehen; sogar einige Exporte nach England sind mög-
lich. Allmählich gehen jedoch die indischen Textilien gegenüber den englischen Industriepro-
dukten unter. Um die indische Textilproduktion einzuschränken, hat die englische Indienver-
waltung den indischen Handwerkern sogar noch Produktionsquoten vorgeschrieben!
England führt nun von Indien immer mehr Baumwolle ein, verarbeitet diese in GB
und führt Fertigprodukte nach Indien aus. Koloniale Wirtschaftsbeziehungen entwickeln
sich. Das ist von grösster Bedeutung für die neue Weltwirtschaftsordnung, die sich um
1850 herum anbahnt. Der Norden industrialisiert sich, der Süden wird Lieferant von Primär-
gütern (Rohstoffe, Energieträger, landwirtschaftliche Produkte). Das Nord-Süd-Problem
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entsteht: der reiche Norden und der arme Süden. Es ist diese Weltwirtschaftsordnung, die ge-
rade jetzt in Frage gestellt wird.
Diese Entwicklungen treffen zuerst die indischen Textil-Exportindustrien, dann allmäh-
lich alle handwerklichen Aktivitäten, zuerst in den Städten, dann auf dem Land. So erlebte
Indien im Verlaufe des 19. Jahrhunderts einen regelrechten Deindustrialisierungsprozess:
Die bereits bestehenden Manufakturen bildeten sich zurück und eine mögliche industrielle
Entwicklung wurde abgeblockt. Diese Entwicklung wurde verstärkt dadurch, dass die Eng-
länder den Indern Freihandel aufzwangen: Auf englische Importe durften in Indien nur sym-
bolische Zölle erhoben werden (~3%).
So wurde die englische Kolonisierung ein zentraler Grund für die schlechte Ausgangsla-
ge Indiens nach der Unabhängigkeit 1947.
Dazu sagen einige indische Ökonomen und Wirtschafthistoriker: Entwicklung und Un-
terentwicklung sind zwei Seiten derselben Medaille.
Dieser Ausspruch muss in einem weiteren Zusammenhang gesehen werden: Indien stand
während 2000 Jahren (etwa 300 v.Chr. bis 1700) im Zentrum der Weltwirtschaft, und Benga-
len war die reichste Region. Die Engländer haben Indien, vor allem Bengalen, innerhalb we-
niger Jahrzehnte in ein Armenhaus verwandelt. Man schätzt, dass auch heute noch um die
80% der indischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze sind. Die unfreiwillige Arbeitslo-
sigkeit wird seit der Unabhängigkeit (1947) auf etwa 30% geschätzt.