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Versprecher: „Wolker bis heitig“ und andere Versprecher Südwestrundfunk SWR 2 Wissen – Manuskriptdienst Autorin: Sabine Stahl Sendung vom 3.4. 2009 Wiederholung vom 2.7.2009 Cut 1: Piepton: „Es ist genull nau Uhr!“ Sprecherin: Na, haben Sie gestutzt? Irgendwas stimmt doch hier nicht! Sprecherin: Zwei vertauschte Silben um genau Null Uhr - ein echter Versprecher. Und das im Radio, vor großem Publikum, wie peinlich! Der bekannteste Wissenschaftler, der sich mit diesem Phänomen beschäftigte, sah es als Ausdruck von verdrängten Konflikten an. In „Freud'schen Versprechern“ kämen diese verbal „zum Vorschwein“. Sprachwissenschaftler hingegen ziehen daraus Rückschlüsse auf die Arbeitsweise unseres Gehirns. Cut 2: (Helen Leuninger): Sie sind Schaltfehler im System, gleichzeitig aber kommt es natürlich gelegentlich zu fantastischen Wortneuschöpfungen wie „die Zuchthauszitronen“ statt „Zuchtzitronen“ oder „Gewächshauszitronen“, aber auch so etwas wie „Manchmal schlafe ich abends so sehr, dass ich nicht einfrieren kann“ oder „Männer können immer noch trinken, wenn sie was gefahren haben“. Wir haben auch so was wie „superlässiger Rentner für Gartenarbeiten gesucht“, statt zuverlässiger Rentner, das war ein Verhörer, der dann irgendwann niedergeschrieben wurde, ne: superlässig, zuverlässig sind formal ähnlich. Helen Leuninger ist Professorin am Institut für Kognitive Linguistik der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Dort kann sie sich aus einem riesigen Fundus bedienen: Die über 8000 Beispiele zählende „Frankfurter 1
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Versprecher als Forschungsgegenstand

Mar 27, 2023

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Page 1: Versprecher als Forschungsgegenstand

Versprecher: „Wolker bis heitig“ und andere Versprecher

SüdwestrundfunkSWR 2 Wissen – Manuskriptdienst

Autorin: Sabine Stahl

Sendung vom 3.4. 2009Wiederholung vom 2.7.2009

Cut 1: Piepton: „Es ist genull nau Uhr!“ Sprecherin: Na, haben Sie gestutzt? Irgendwas stimmt doch hier nicht!

Sprecherin:

Zwei vertauschte Silben um genau Null Uhr - ein echterVersprecher. Und das im Radio, vor großem Publikum, wiepeinlich! Der bekannteste Wissenschaftler, der sich mit diesem Phänomenbeschäftigte, sah es als Ausdruck von verdrängten Konfliktenan. In „Freud'schen Versprechern“ kämen diese verbal „zumVorschwein“. Sprachwissenschaftler hingegen ziehen darausRückschlüsse auf die Arbeitsweise unseres Gehirns.

Cut 2: (Helen Leuninger): Sie sind Schaltfehler im System, gleichzeitig aber kommt esnatürlich gelegentlich zu fantastischen Wortneuschöpfungen wie„die Zuchthauszitronen“ statt „Zuchtzitronen“ oder„Gewächshauszitronen“, aber auch so etwas wie „Manchmal schlafeich abends so sehr, dass ich nicht einfrieren kann“ oder„Männer können immer noch trinken, wenn sie was gefahrenhaben“. Wir haben auch so was wie „superlässiger Rentner fürGartenarbeiten gesucht“, statt zuverlässiger Rentner, das warein Verhörer, der dann irgendwann niedergeschrieben wurde, ne:superlässig, zuverlässig sind formal ähnlich.

Helen Leuninger ist Professorin am Institut für KognitiveLinguistik der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität inFrankfurt am Main. Dort kann sie sich aus einem riesigen Fundusbedienen: Die über 8000 Beispiele zählende „Frankfurter

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Versprechersammlung“ gehört zu den größten derartigenSammlungen in Deutschland. An ihnen studieren Linguisten, wieunser Gehirn arbeitet, wenn wir sprechen. Und das ist für sievergleichbar mit einem sehr effizienten Computer.

Da sieht man, dass unser Sprachplanungssystem extrem schnellarbeitet, man muss sich ja einfach mal klarmachen, dass wiretwa 30.000 Wörter in unserem aktiven Wortschatz haben, 250.000etwa passiv. Im Millisekundenbereich muss man eins bis fünfWörter aus diesem aktiven Wortschatz auswählen, da können Siesich vorstellen, eigentlich wie fehlerfrei das ganze Systemist.

Überraschenderweise rutscht uns - statistisch gesehen - nuretwa alle 1000 Wörter ein Versprecher heraus. Das ist wenigangesichts des prall gefüllten Speichers unseres Wortschatzesund der rasenden Geschwindigkeit, in der das Sprachsystemarbeitet.

Eigentlich ist es also eher ein Wunder, dass uns nicht nochmehr Fehlgriffe passieren. Schließlich ist der Prozess derSprachplanung äußerst komplex: Am Anfang steht die Absicht, etwas Bestimmtes sagen zu wollen.Dafür greift das Gehirn auf das feste Gerüst der Grammatikzurück. In diese Form passt es jene Wörter ein, die esblitzschnell aus Zehntausenden auswählt. Nach einer internenKontrolle wird diese Auswahl dann über 100 Muskeln an Zunge undStimmbänder weitergegeben. Und so sprudeln schließlich Sätze -lautlich richtig artikuliert - über unsere Lippen. In jeder Phase dieses komplizierten Ablaufes entstehen ganztypische Versprecher, die von Sprachwissenschaftlern inbestimmte Gruppen eingeteilt werden. Denn so wie wir nachRegeln sprechen, versprechen wir uns auch nach Regeln. Da gibt es das Vertauschen und den Platzwechsel von einzelnenLauten: Zitator: Du Saukramer - statt „du Grausamer“... Sprecherin: Dann die sogenannten Vorklänge, also die Vorwegnahme vonVokalen:

Zitator: Ich lasse Sie stockbrieflich verfolgen!

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Sprecherin: Oder von Konsonanten: Zitator: Sappelschlepper ... Sprecherin: Es gibt „Nachklänge“, bei denen ein Wortbestandteil mitgezogenwird: Zitator: Ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs aufzustoßen...

Sprecherin: oder auch die „Substitution“, also das Ersetzen von ganzenBegriffen: Zitator: Wes Brot ich ess, dess' Lob ich trink...

Für Helen Leuninger sind sogenannte Kontaminationen – dasVerschmelzen von Redewendungen und Wörtern – besondersaufschlussreich:

Wenn Sie so etwas hören wie „mein Schautzi“, als Kosewort fürSchatzi und Schnauzi, oder so was hören wie “da bin ich ausallen Socken gefallen“ aus „da bin ich aus allen Wolkengefallen“ und „da war ich von den Socken“, da sehen Sie richtiggut das Funktionieren dieses Ablaufs der Sprachplanung. Fürdas, was ich sagen will, also ich war baff, oder einenKosenamen, stehen zwei Ausdrücke zur Verfügung, diebedeutungsverwandt sind, und der Fehler ist, dass das Systemsich nicht für einen der beiden entscheiden kann, beide werdenaktiviert, es gibt so Aktivierungsmuster im Gehirn, und dasSystem kann sich nicht entscheiden.

Das Gehirn bedient sich hier also aus der „Schublade“, wo Worteund Redewendungen ihrer Bedeutung nach gespeichert sind. Da sie,bildlich gesprochen, sehr nahe beieinander liegen, greift essich manchmal zwei auf einmal – diese Zugriffe sind alsdynamischer neuronaler Vorgang im Sprachzentrum beiHirnstrommessungen sichtbar. Obwohl nun gleichzeitig zwei Begriffe bzw. Redewendungen zurVerfügung stehen, wird der Redefluss aber nicht wirklichgestört oder gar unterbrochen. Hirn und Zunge sind in Fahrt –was also tut das System in dieser verzwickten Situation?

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Es kann nicht wirklich bis zum Schluss alles mitschleppen, alsoes kann nicht am Schluss sagen, ich bin aus allen Socken Wolkengefallen war ich baff. Es muss sich entscheiden. Und dannbildet es diesen Kompromiss. Das kann auf der Wortebene seinwie Socken Wolken, das kann aber auch mitten ins Wort reingehenwie Schautzi für Schatzi und Schnauzi, und sogar in sowas wie„stiehste“, aus Stimmt und Siehste, wo man sieht, dass einganzer kurzer Satz auch noch aufgebrochen werden kann. Unddiese Art von Versprechern belegen besonders gut, wie mächtigund perfekt eigentlich unser Sprachplanungssystem ist. Es mussaus diesem, um mit Karl Valentin zu sprechen, „unreinen Mist“was machen, und tut es auf ungeheuer elegante Art und Weise,und fast immer grammatisch korrekt. Und das ist fantastisch.

Beispiel: Der berühmte Lapsus des ehemaligen bayerischenMinisterpräsidenten Edmund Stoiber. Er findet sich mittlerweile– wie viele andere Versprecher – auch im Internet, etwa unterradiopannen.de: Regie bitte Zuspiel Stoiber holen (aus Radiopannen,Reporterglück 3/3: „Dann bedarf es nur noch eines kleinenSprühens sozusagen in die gludernde Lot, in die gludernde Flut,dass wir das schaffen können...“

Helen Leuninger vergleicht so ein verbales Stolpern mit deransteckenden Wirkung eines Virus. Er entfaltet seine Wirkung,wenn der Sprachcomputer instabil geworden ist. Dann gerät derSprecher ins Stocken, er beschäftigt sich viel zu lange mit demFehler, verhaspelt sich und schafft es nicht mehr, diebeabsichtigte Information in Worte zu fassen. Kurz: Sein Systemist überlastet. Regie: Stoiber/Ende: „...und deswegen - in die lodernde Flut,wenn ich das sagen darf...“ (ausblenden)

Doch selbst in einer solchen Fehlerschleife funktionieren immernoch zwei wesentliche Kontrollmechanismen, die uns von Kindheit aneingebrannt sind: Die allermeisten Versprecher gehorchenunseren grammatischen Gesetzen. Und: Sie sind richtig betontund folgen dem uns eigenen Sprachrhythmus, auch wenn Worte wie„gludernde Lot“ keinen Sinn ergeben. Das menschliche Gehirn kennt aber noch einen drittenMechanismus, und der ist für viele Wissenschaftler derinteressanteste: die lexikalische Kontrolle. Dabei werden die

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aus Versprechern entstandenen Formen durch existierende Wörterersetzt. So entsteht aus der „gludernden Lot“ die „loderndeFlut“ - zwei Wörter, die es gibt, die aber so verbunden keinenverständlichen Inhalt transportieren. Helen Leuninger hatnatürlich auch noch ein Beispiel parat: nämlich „buddhistischesStandesamt“ - statt „Statistisches Bundesamt“...

Da werden ja auch Laute vertauscht, aber dann guckt unserinterner Sprachcomputer noch mal: Kann ich da noch sinnvolleWörter bauen, und dann entsteht „buddhistisches Standesamt“.Oder so was wie „durch die Kutsche latschen“ statt „durch dieKüche latschen“. Es wäre ja eigentlich „durch die Kütsche“entstanden, aber das Sprachsystem sagt sich: Lieber möchte ichdoch n richtiges Wort haben und passt das noch an. Also wirhaben eine Vertauschung oder es werden Laute erfasst, und dannwird noch mal in den inneren Wortschatz geschaut. Super!

Vom Sinn der Versprecher fasziniert ist auch der Sprach- undMotivationspsychologe Arnold Langenmayr. Er war bis zu seinerEmeritierung 2008 Professor im FachbereichBildungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen undhat ein Lehrbuch über Sprachpsychologie veröffentlicht. Anders als die neurowissenschaftlich orientierte HelenLeuninger schreibt er Versprechern allerdings noch eine ganzandere Dimension zu:Arnold Langenmayr:

Sprachliche Fehlleistungen sind ein Kompromiss zwischenbewussten und unbewussten Anteilen in einer Person, Freud würdevielleicht auch sagen, zwischen Ich, Es, und Über-Ich, wobeiIch immer der bewusste Anteil ist. Es immer der unbewusste undÜber-Ich mal bewusst, mal unbewusst. Und wenn jemand unbewussteine ganz bestimmte Tendenz hat, die er aber eigentlich nichtzum Ausdruck bringen will oder kann, weil er sie selbst nichtweiß, dann könnte es passieren, dass ihm die reinrutscht inseine Äußerung, d.h. dass die bewusste Äußerung, die er plant,verfälscht wird durch die unbewussten Anteile.

Der Volksmund kennt solche Äußerungen als „Freud'scheVersprecher“. Der Begründer der Psychoanalyse sah sie als das Resultat einesKonflikts zwischen zwei Absichten an. Die Hauptabsicht beimSprechen betrifft den korrekten sprachlichen Ausdruck eines

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bestimmten Inhalts. In den Fehlleistungen aber, so Freud,verschaffe sich eine andere, mit ihr konkurrierende, nichtbeabsichtigte Intention Ausdruck. Die – zunächst einmal ganz allgemeinen – Voraussetzungen dafür,dass das Unbewusste derart zuschlagen kann, liegen demzufolgenicht bloß im Gehirn, das mit der Fülle des Wortschatzes undder Geschwindigkeit des Sprachsystems nicht mehr zurecht kommt.Auch nicht darin, dass ein Sprecher bei einem Vortrag odereiner Pressekonferenz aufgeregter oder ängstlicher ist, alswenn er mit einem Kumpel in der Kneipe sitzt. Sie sind in dermomentanen Verfassung, in der Biografie und derPersönlichkeitsstruktur des Einzelnen begründet.

Arnold Langenmayr:

Dass jeder von uns irgendwo bestimmte Tendenzen zuVerdrängungen hat, ist selbstverständlich. Und dass der einedas mehr oder weniger hat – also ich will mich jetzt nicht überEdmund Stoiber ausbreiten, aber es gibt schon Personen, dierelativ stärker zu Versprechern neigen, weil sie ganzoffensichtlich etwas mehr unter Zwängen, unter Druck agierenals andere. - Das halte ich eigentlich für eine Binsenwahrheit.

Motivationspsychologen geht es um die Befindlichkeit einesSprechers und die ihm innewohnenden „störenden Tendenzen“ - sonannte es Freud. Ein Beispiel dafür wären Aggressionen. Wennsie sich in sprachlichen Fehlleistungen Ausdruck verschaffen,können sie Botschaften beinhalten, die mit der geplantenAussage kollidieren:

Der Betreffende muss das abwehren, sonst würde es nichttabuisiert sein, und das, was er sagt, und wo er sichverspricht, muss trotzdem irgendwo nah genug sein an dem, waser eigentlich sagen möchte, damit ein Versprecher zustandekommt. Wenn das ganz weit weg ist sprachlich, dann würde es zukeinem Versprecher kommen.-- Beispiel wäre ja: Lieber RolandKotz - Koch, von der Frau Merkel, was ja wirklich einwunderschöner Versprecher ist...

Nach Sigmund Freud entspricht nicht nur das absichtliche,sondern auch das unbeabsichtigte Verdrehen von Namen einerSchmähung. Versprecher werden so gesehen zum entlarvenden Indiz

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der Innenwelt der Sprecher und zu einer Botschaft für dieZuhörer. - Ein anderer verräterischer „Lapsus linguae“ ging ebenfallsdurch die Presse. Zitator: Der Kollege Lambsdorff hat eben gerade gesagt, dassselbstverständlich die FDP bei einem guten Koalitionsklima, wiewir es haben, wenn wir pfleglich miteinander untergehen –miteinander umgehen, entsprechend bereit ist zu sagen: Lasstuns hier zusammenwirken.

So Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl, zitiert in der Wochenzeitung„Die Zeit“ im März 1989. Riecht das nicht geradezu nach einemtypisch Freud'schen Versprecher? Nein, sagt die Linguistin Helen Leuninger, und hält dagegen,dass sich solche Fehlleistungen auf die Ordnungsprinzipienunseres sprachlichen Lexikons zurückführen lassen. AllesWeitere, also ein psychisches Motiv, sei reine Spekulation undInterpretation:

Helen Leuninger:

Das kann ich behaupten, ich kann das auch lassen, denn dieMehrzahl solcher Versprecher haben mit der Organisation unseresinneren Wortschatzes zu tun, da ist warm - kalt nah beieinandergespeichert, tot - lebendig, ein - aus, und auch umgehen unduntergehen, und es ist einfach zu ner Fehlaktivierung gekommen,die wir ständig finden, wo wir nicht so was vermuten würden.

Die unterschiedlichen Positionen des MotivationspsychologenArnold Langenmayr und der Psycholinguistin Helen Leuninger gehen auf eine alteAuseinandersetzung zurück. 1895 veröffentlichten die Österreicher Rudolf Meringer und CarlMayer, der eine Sprachwissenschaftler, der andere Neurologe,eine „psychologisch-linguistische Studie“ über das Versprechenund Verlesen. Sie hatten insgesamt 4400 Versprecherzusammengetragen und klassifizierten die Versprechertypen schonso, wie Linguisten es heute noch tun. Dabei betonten sie.

Man muss sich hüten, den Sprechfehler als etwas Pathologischesaufzufassen. Beim Sprechfehler versagt nur die Aufmerksamkeit,die Maschine läuft ohne Wächter, sich selbst überlassen.

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Sigmund Freud aber hütete sich nicht. In seinem Buch„Psychopathologie des Alltagslebens“ aus dem Jahr 1904 wandteer sich dem Phänomen des Versprechens zu und bediente sichausgiebig aus der Meringer-Mayerschen Sammlung. Der Analytikernegierte deren Forschungsergebnisse nicht, bewertete sieallerdings als viel zu einseitig. Versprecher, so Freud, ließensich nicht allein auf die „Kontaktwirkung von Lauten undWorten“ reduzieren. Normalerweise schreibe der Sprecher einen Versprecher zwar demZufall oder seiner Unaufmerksamkeit zu. In Wirklichkeit aberspiegelten sich darin seelische Vorgänge wider. Freud ging esdaher nicht bloß um einzelne sinnvolle Wörter, sondern um denSinn und die Bedeutung, die eine Aussage durch die Versprecherbekommt. Über 50 Beispiele listete er auf. Zum großen Teil bekam er sievon Bekannten und Kollegen erzählt – so wie dieses, dasverdeutlichen sollte, dass Versprecher oft einem „Selbstverrat“gleichkommen:

Zitator: Ein junges Mädchen sollte einem ihr unsympathischen jungenManne verlobt werden. Um die beiden jungen Leute einander näherzu bringen, verabredeten deren Eltern eine Zusammenkunft, derauch Braut und Bräutigam in spe beiwohnten. Das junge Mädchenbesaß Selbstüberwindung genug, ihren Freier, der sich sehrgalant gegen sie benahm, ihre Abneigung nicht bemerken zulassen. Doch auf die Frage ihrer Mutter, wie ihr der junge Manngefiele, antwortete sie höflich: „Gut. Er ist sehrliebenswidrig!“

Sprecherin: Auch wenn Freud die linguistischen Erklärungen nichtanzweifelte, stellten sie für ihn bloß den, wie er schrieb:„vorgebildeten Mechanismus dar, dessen sich ein fernergelegenes psychisches Motiv bequemerweise bedient“. Doch die Freud'schen Interpretationen und Analysen veranlasstenden Linguisten Rudolf Meringer zu einer erbosten Replik.

Zitator:

Ein Versprechen ist nur dann zu erklären, wenn ich die Seeledes Mannes, der sich versprochen hat, kenne. Es ist aber

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unmöglich, aus einem Versprecher die Seele des Mannes kennen zulernen, denn hier werden einzelnen Treffern sehr vieleFehlschüsse gegenüberstehen. Ich kann mir wohl vorstellen, undich habe es oft erlebt, dass ein Mann im Versprechen etwassagt, was durchaus nicht seine Meinung ist, so dass er selberdarüber erschrickt. Gegen diese Verwertung meiner Gedanken, wiesie Herr Freud beliebt hat, protestiere ich auf dasenergischste.

Sprecherin:

Sigmund Freud zeigte sich jedoch unbeirrt. In seinen„Vorlesungen zur Psychoanalyse“ 1917 bekräftigte er nocheinmal: Sprachliche Fehlleistungen sind verdichteter verbalerAusdruck von Bewertungen, verborgenen Wünschen, Konflikten undAbwehrmechanismen.

Cut 13 (AL):

Ein Kollege von mir geht in die Fachbereichsratssitzung rein,wo es drum geht, die finanziellen Mittel für das nächste Jahrzu verteilen. Er legt als erstes ein Papier auf den Tisch, woer genau geplant hat, wer wie viel Geld bekommen soll. Und wenwird’s überraschen: Er hat für sich selbst am meisten geplant.Die Kollegen sind etwas entsetzt, kritisieren ihn, und er sagt:„Aber liebe Kollegen, das ist ganz gerecht, genau aus diesemGrund hab ich Ihnen doch diesen Anschlag gemacht.“ Er wolltesagen „Vorschlag“, das war der bewusste Anteil, der unbewusstewar Anschlag, denn er wollte eigentlich die Kollegen über denTisch ziehen, und beides hat sich dann irgendwo in „wollte ichIhnen diesen Anschlag machen“ verdichtet.

Sprecherin:

Das klingt einleuchtend. Aber sind psychische Motive immerMitverursacher von Versprechern? Und wenn ja, wie ließe sichdas beweisen?

Arnold Langenmayr:

Man kann nicht alle Versprecher unbedingt psychoanalytischinterpretieren, muss man auch nicht, sondern die Fehlleistungkommt zustande durch ein Faktorengefüge. Aber man kann nicht

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leugnen, dass bei einem Großteil von Versprechern unbewussteMotivation eine Rolle spielt. Wenn das Thema Sexualitätbesprochen wird, tauchen Versprecher häufiger auf, d.h.Sexualität ist ein sehr tabuisiertes Thema immer noch inunserer Gesellschaft, und deshalb versprechen sich Personen daleichter. Aber es ist in der Tat schwierig, das empirischsauber zu überprüfen. Sprecherin: Arnold Langenmayr weiß um den hypothetischen Charakter solcherAussagen: Zum einen wird ein Vorwissen über den Sprechervorausgesetzt, zum anderen genügt es heutigenwissenschaftlichen Ansprüchen nicht, wie Freud einfach nurBeispiele zu nennen, die anscheinend für sich selber sprechen.

Zitator:

Frau F. erzählt über ihre erste Stunde in einem Sprachkurs: „Esist ganz interessant, der Lehrer ist ein netter jungerEngländer. Er hat mir gleich bei der ersten Stunde durch dieBluse - korrigiert sich: durch die Blume - zu verstehengegeben, dass er mir lieber Einzelunterricht erteilen möchte.“

Sprecherin:

Wie also sind die Thesen der Psychologen und Psychoanalytikerüberprüfbar? Sie können einen Sprecher ja nicht nach seiner unbewussten Motivationfragen – die ist ihm schließlich selber nicht bewusst. Auch istes für sie – ebenso wie für die Linguisten – schwierig, eineUntersuchungssituation zu schaffen und einfach darauf zu warten,dass sich eine Person verspricht. Arnold Langenmayr verweistjedoch auf eine, wie er sagt, „saubere wissenschaftlicheMethode“, mit der sprachliche Fehlleistungen im Experimentherbeigeführt werden können. Die aktuellsten Untersuchungen dazuführten Psychologen Ende der 1990er Jahre in Bonn und Anfang 2000in Hamburg durch.

Arnold Langenmayr: Das funktioniert folgendermaßen: Sie konfrontieren jemanden mitgeschriebenen Wortpaaren, wo immer die Anfangsbuchstaben derersten und zweiten Worte sich ähneln. Also machen wir einBeispiel: Sie haben immer zuerst „St“ und dann „R“. Also das

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erste Wortpaar könnte lauten: „Stern-Rot“, das zweite Wortpaar„Stahl-Ross“, dann ein drittes Wortpaar und dann ein viertes...

Sprecherin:

Die Versuchspersonen sollen die drei ersten Wortpaare leiselesen: „Stern-Rot, Stahl-Ross, Stell-Rad“. Beim vierten dagegenertönt ein Signal, dass sie dieses laut vorlesen sollen. Dochjetzt sind die Anfangsbuchstaben vertauscht – auf dem Blattsteht das sinnlose Wortpaar „Rink-Steich“. Was nun passiert,ist absehbar:

Arnold Langenmayr: Der Betreffende ist schon auf St-R irgendwo eingestellt, undbeim vierten Wortpaar wird er verleitet, das beizubehalten,aber es ist genau nicht richtig. Und wenn er sich jetztverspricht, dann ergibt das sogar noch einen Sinn, nämlich„stinkreich“.

Sprecherin:

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Stinken und Reichtum aber sind aus psychoanalytischer Sichtsogenannte anale Begriffe, und mit einer Vielzahl genau solcherWortpaare sollten in dieser Untersuchung psychischeMotivationen „überführt werden“.

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Arnold Langenmayr:

Sie wissen, dass die Psychoanalytiker die Zwangsneurose inVerbindung bringen mit der sog. analen Phase, in der das Kindzum ersten Mal Macht, Geltung, Widerstand, Aggression entdeckt,das ist so das Alter zwischen 2 und 4, Freud redet von deranalen Phase, in der die Sauberkeitserziehung eine große Rollespielt. Wenn man jetzt Wortpaare nimmt, die etwas mit diesemBereich zu tun haben, also bei „stinkreich“ wäre das der Fall,dann müssten sich eigentlich Zwangsneurotiker mehr versprechenals normale Personen. Und sie müssten sich wiederum mehrversprechen als bei Wortpaaren, die keine analen Inhalte haben. Sprecherin:

Das Ergebnis der Untersuchung lautete unter anderem, dass bei Zwangsneurotikern tatsächlich mehr Versprecher bei analen Wortpaaren auftauchten als bei normalen Personen. Und dass sie länger brauchten, um diese Worte über ihre Lippen zu bringen.

Arnold Langenmayr:

D.h. also ein ziemlich eindeutiger Beleg dafür, dass an derFreud'schen Fehlleistungstheorie etwas dran ist.

Sprecherin:

Andere Untersuchungen ergaben, dass sich Personen nach derLektüre von Texten aggressiver und erotischer Natur – also mittabuisiertem Inhalt – häufiger versprachen, als wenn sie einenneutralen Text gelesen hatten. Darüber hinaus fielen nach derLektüre des erotischen Textes signifikant mehr erotische, nachder Lektüre des aggressiven Textes mehr aggressive Versprecher.In einer Studie des Psychologischen Instituts der UniversitätHamburg von 2002 heißt es ...

Zitator:

... in aller Zurückhaltung formuliert, dass nicht alleinphonetische Eigenheiten von Wörtern dafür verantwortlich sind,wenn man sich bei ihnen verspricht. Es hängt auch vompsychischen Zustand des sich Versprechenden ab, nämlich davon,was ihn gerade beschäftigt, und genau dies sagt in

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allgemeinster Formulierung Freuds Theorie der Fehlleistungenaus.

Sprecherin:

Was Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in seinem Innerenwirklich beschäftigte, schien klar, als er sich über dasInternet ausließ und unerwartet von „Austausch- undInformationskontrolle“ sprach – äh, – sollte heißen: Kanäle. -Kontrolle statt Kanäle?! Aha! Entlarvt! Ein Teil des Publikumsreagierte prompt mit spöttischem Gelächter und höhnischenKommentaren. Auf solche Reaktionen von Zuhörern verwies auch schon Freud:Man könne schließlich nicht übergehen, dass MenschenVersprecher verstünden und sich oft so verhielten, als ob siederen Sinn durchschauen würden. In der „Psychopathologie des Alltags“ schrieb er:

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Zitator:

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Die Heiterkeit und der Hohn, die solches Fehlgehen der Rede im entscheidenden Moment mit Gewissheit hervorrufen, zeugen gegen die angeblich allgemein zugelassene Konvention, ein Versprechensei ein Lapsus linguae und psychologisch bedeutungslos. Regie: Zuspiel Archiv-Nr. W115983 /004 (Stgt) (bitte Cut in der Länge von 0’20 einblenden, nicht nur diesen Satz!) Helmut Kohl:“... Das war ganz gewiss keine Freud'sche Fehlleistung!“

Arnold Langenmayr: Die Umgebung lacht, und alle sagen: Aha, ein Freud'scher Versprecher, der Betreffende sagt es vielleicht sogar selbst, da ist mir jetzt aber ein Freud'scher Versprecher passiert, aber wenn Sie ihn dann darauf festnageln, dann ist das Interessante, dass er dann nicht mehr mitspielt, dann würde er ganz schnell sagen, nein, nein, das war ja wirklich nur ein Versprecher. Dann kommen linguistische Erklärungen: Eigentlich hatte das zuvor kommen sollen und das kam dann hinterher und da hab ich zwei Elemente vertauscht. Und das ist ein Indiz dafür, dass eigentlichdoch was dahinter ist, sonst müsste man sich nicht so dagegen wehren. Sprecherin:

Doch wann, bei welcher Wortwahl und in welchem Zusammenhanggilt ein Versprecher als „Freud'sch“ und verfänglich? Wo fängtdie Interpretation an und wo hört sie auf? Können sichSprachwissenschaft und Sprachpsychologie überhaupt treffen? -Während Arnold Langenmayr erfreut berichtet, dass sich immermehr Linguisten der psychologischen Sichtweise öffnen, bleibtHelen Leuninger bei ihrer Auffassung...

Helen Leuninger:

Also „da muss ich mit meiner Frau nochmal drüber schlafen“,sagte mal jemand bei einer Wortmeldung nach einem Vortrag, dashat außer mir niemand bemerkt, also da muss ich mit meiner Fraunochmal drüber reden und da muss ich nochmal drüber schlafen.Da wird man doch denken: Oh Gott, was da alles transportiertwird, welche unbewussten Motive... – nö, hat niemand bemerkt,

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haben alle implizit korrigiert, vielleicht waren sie auch nursehr höflich...

Sprecherin:

Wissenschaftlich lässt sich tatsächlich kaum untersuchen, obder Sprecher während seiner Rede insgeheim romantisch-erotischen Sehnsüchten nachhing, oder ob sich bloß sein Gehirnvergaloppierte und einen Versprecher ohne tieferen Sinnhinterließ. Untersuchen aber lässt sich das Korrekturverhalten vonSprechern und Hörern. Dabei zeigt sich, dass Versprecher seltenvon anderen korrigiert werden. Sogenannte Fremdkorrekturen sindnämlich von geringer sozialer Akzeptanz und werden vomBetroffenen oft als Kritik an seiner Person empfunden. Es zeigtsich aber auch, dass höchstens 50 Prozent aller Versprecher vonden Sprechern selbst korrigiert werden. Die anderen fallenüberhaupt nicht auf: Das Gehirn ergänzt und korrigiert Sätzenämlich automatisch. Eigentlich, und das ist das fantastischeFazit, verstehen wir also sowieso meistens, was Sache ist! In diesem Sinne:

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Zitator:

Danke - und Tschüß fürs Zuhören! Auf Morgen – bis Wiedersehen! * * * * * Literaturliste und Links: www.radiopannen.de, Rubrik „Reporterglück“ Serotonin: „Es ist genull nau Uhr“, CD, Der Hörverlag, 2008 Frankfurter Versprechersammlung online: http://uni-frankfurt.de/fb/fb10/KogLi/Lehrstuhl_Leuninger/Psycholinguistik/Versprecher/Versprecherkorpus.html Leuninger, Helen: „Reden ist Schweigen, Silber ist Gold“. Ammann Verlag Zürich 1993/ dtv 1998 (vergriffen) Leuninger, H.: „Danke und tschüß fürs Mitnehmen“, dtv 1998 (vergriffen) Werner, Christoph/ Langenmayr, Arnold: „Der Traum und die Fehlleistungen“, Vandenhoeck und Ruprecht, 2005 Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, S. Fischer Verlag

Friederici, Angela D.: „Passt das Verb zum Nomen?“Wie der Mensch Sprache versteht

In: Forschung & Lehre 6/10, S. 398-399.

S. 398:

„Einen Schlüssel dafür lieferte der französische Arzt undAnthropologe Paul Broca (1824 bis 1880). Er beschrieb einenPatienten, der nur noch eine einzige Silbe sprechen konnte -die Silbe „tan“. Dessen Gehirn wurde nach seinem Todkonserviert und viele Jahre später im Computertomographenuntersucht: Ein Schlaganfall hatte zu einer großflächigen Verletzung desNervengewebes geführt, in der dritten Stirnhirnwindung. DieseRegion wird deshalb heute als „Broca-Areal“ oder „motorischesSprachzentrum“ bezeichnet. Das „Broca-Areal“ besteht aus zweiRegionen, die die Nummer 44 und 45 tragen“.

„Der deutsche Neuroanatom Korbinian Brodmann (1868 bis 1918)hatte die sechs Schichten der Großhirnrinde auf ihre

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Zellstruktur (Zytoarchitektonik) hin untersucht und gemäß derunterschiedlichen Zellstruktur mit verschiedenen Nummerngekennzeichnet“.

Carl Wernicke (1848 bis 1905), ein Neurologe aus Breslau,beschrieb einige Jahre nach Broca eine Reihe von Patienten, diezwar flüssig sprachen, aber dabei keinen Sinn produzierten.Diese Patienten verstanden auch nicht, was man ihnen sagte. DieAnweisung, aufzustehen und zur Tür zu gehen, begriffen sienicht. Die Obduktion dieser Patienten ergab später, dass sieHirnverletzungen in den Regionen 41, 42 und 22 hatten, die manin der Folge als Wernicke-Areal oder auch „sensorischesSprachzentrum“ bezeichnete.

Patienten mit Läsionen im Broca-Areal machen, das wissen wirheute, nicht nur Grammatikfehler beim Sprechen, sondern auchihr Verständnis leidet, wenn die thematischen Rollen (wer tutwem was) ausschließlich grammatikalisch zugewiesen werdenkönnen, wie z.B. in dem Satz:„Den Mann fotografiert die Frau“.

Patienten mit Verletzungen im Wernicke-Areal, die primäreDefizite beim Sprachverstehen zeigen, sind auch auffallend inder Produktion, da die von ihnen produzierten Sätze keinen Sinnzu machen scheinen. Die Teile ihrer Sätze passen nichtzusammen. Aufgrund solcher Studien, die an vielen Laboren derWelt durchgeführt wurden, kam man zu einer neuen Aufteilung derSprachregionen im Gehirn: Das Broca-Areal galt nun als Sitz derGrammatik und das Wernicke-Areal als der Ort, wo das Lexikon,also die Bedeutung der Wörter, liegt.Sprachverstehen umfasst beides:Wir müssen sowohl die Grammatik als auch die Inhalte dereinzelnen Wörter verarbeiten. Es ist ein großer Unterschied, obes heißt: „Der Mann bringt die Frau um“ oder „Den Mann bringtdie Frau um“. Darüber hinaus ist auch die Prosodie, dieSatzmelodie, ganz wichtig: „Der Mann sagt, die Frau kann nicht Auto fahren“. Wenn ich nurdas Komma an eine andere Stelle setze, ändert sich dieSatzmelodie und damit die gesamte Bedeutung: „Der Mann, sagtdie Frau, kann nicht Auto fahren“.

Welche Prozesse laufen im Gehirn ab und in welcher Reihenfolge?

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Ende des vergangenen Jahrhunderts ergab sich mit neuenMessmethoden die Möglichkeit, das Verhältnis von Sprache undGehirn am gesunden Menschen zu untersuchen, und zwar sowohl wasden Ort im Gehirn betrifft, an dem die Prozesse stattfinden,als auch was deren zeitlichen Verlauf angeht. Bezüglich desZeitverlaufs der einzelnen Verabreitungsschritte beim Verstehengesprochener Sprache gilt Folgendes:Zunächst muss auf einer akustisch-phonetischen Ebene daseigentliche Hören und die Analyse der Sprachlaute stattfinden.Dann verarbeiten wir als Erstes die syntaktische Struktur, dasheißt wir segmentieren den Sprachinput in syntaktischeEinheiten (Phrasen). Diese Erkenntnis widerstrebt uns, dennrein intuitiv haben wir den Eindruck, unser Gehirn analysiertzunächst die Bedeutung von Wörtern und nicht ihrenstrukturellen Zusammenhang. Dennoch ist es so. Wenn das Gehirnzum Beispiel ein Wort ein Wort verarbeitet wie „weil“, dannweiß es, dass es sich um den Anfang eines Nebensatzes handelnmuss, bei dem das Verb am Ende steht. Erst in einem nächstenSchritt prüft das Gehirn dann, ob die inhaltliche Verknüpfungstimmt: Passt das Verb zum Nomen? Es analysiert parallel auchdie grammatischen Relationen: Ist das Nomen der Agent derHandlung oder jemand, dem etwas passiert? In einer letztenPhase müssen die Bedeutung und die syntaktischen Informationenintegriert werden, um den Verstehensprozess abschließen zukönnen. Diese Prozesse sind alle in der linken Hirnhälfteverankert.In der rechten Hirnhälfte wird die Satzmelodie, das heißt dieProsodie verarbeitet – diese betrifft sowohl das Betoneneinzelner wichtiger Wörter im Satz als auch die akustischeAbgrenzung von einzelnen Phrasen im Satz, analog der Kommas inder Schriftsprache. Und schließlich müssen all dieseInformationen aus beiden Hemisphären zusammenkommen, um dasakustische Sprachverstehen sicherzustellen.Da diese Prozesse an verschiedenen Stellen im Gehirn unddarüber hinaus in Millisekunden ablaufen, braucht man sehrpräzise Messmethoden. Um zu prüfen, welche Hirnregioneninvolviert sind, eignet sich die funktionelleMagnetresonanztomographie (fMRT). Für die Erfassung deszeitlichen Ablaufs der einzelnen Prozesse und derenZusammenspiel eignet sich die Methode der ereigniskorreliertenHirnpotentiale, wie sie mit der Elektroenzephalographie (EEG)gemessen werden.

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Um zu untersuchen, wo Bedeutung und Syntax im Hirn verarbeitetwerden, präsentieren wir den Versuchspersonen richtige Sätze,aber auch solche, die semantisch „entstellt“ wurden. Dann hörensie nicht „Der König wurde ermordet“, sondern „Der Honig wurdeermordet“. Man kann die Beispiele auch grammatikalischentstellen: „Der Graf wurde im ermordet“ – nach der Präposition„im“ fehlt ein Nomen. Dabei sehen wir uns im fMRT und im EEGan, wie das Gehirn auf die Fehler reagiert.Das Broca-Areal als Grammatikzentrum wird bei diesen kleinengrammatischen Fehlern selbst nicht aktiv, wohl aber eineRegion, das frontale Operculum, zusammen mit dem anteriorenAnteil des oberen Temporallappens. Was die semantischenNetzwerke angeht, so können wir auf der Basis vieler Studiensagen, dass dazu Areale im oberen Temporallappen, vor allem dermittlere Teil, gehören, aber auch das Brodmann-Areal 45 iminferioren Frontalgyrus. Im posterioren Anteil desTemporallappens finden wir eine Region, die sowohl für dieSemantik als auch für die Syntax zuständig zu sein scheint. Daskönnte also ein Gebiet sein, in dem diese beiden Informationenintegriert werden.Die zeitlichen Messungen belegen den Ablauf derSprachverarbeitungssprosse. Zuerst wird der syntaktische Aufbauanalysiert, nach 120 Millisekunden, erst nach 400 Millisekundenbeschäftigt sich das Gehirn mit der Semantik, den Inhalten.Nach 600 Millisekunden finden wir eine weitere Funktion, welchedie Integration der beiden Schritte anzeigt. Diese Aktivitätist über die posterioren Anteile des Gehirns verteilt.Für was ist dann das Broca-Areal zuständig? Wir wissen, dassPatienten mit Verletzungen in diesem Bereich besondereSchwierigkeiten mit komplexen grammatikalischen Sätzen haben.Daraus könnte man schließen, dass diese Region zuständig istfür die Verarbeitung von syntaktisch nicht ganz einfachenSätzen.Die Messungen im fMRT zeigten, dass die Aktivität des Broca-Areals sich systematisch mit der Komplexität derSatzkonstruktion erhöht. Die Broca-Region ist also der Ort, andem komplexe Sätze verarbeitet werden.

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