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Verschiedene Wege zur Wahrheitvon Dr. Johannes Heinrichs
Eine historisch überholte Fehde
In der Abschlussrede eines 19-jährigen Abitu-rienten heißt es:
„So können wir vielleicht dieÜberreichung der Reifezeugnisse so
deuten,dass wir die Zeichen der Zeit verstanden hättenund gerüstet
wären, an der Bewältigung derAufgaben unserer Zeit mitzuarbeiten:
an einerTechnik, die nicht das Goldene Kalb derMenschheit ist, an
einer Naturwissenschaft, diesich ihrer Grenzen bewusst ist, an
einer Reli-gion, die weitherzig genug ist, die Leistungendes
Menschen anzuerkennen. Denn was warschädlicher in der Geschichte
und was überflüs-siger als das seit Galilei bestehende
Katz-und-Maus-Spiel zwischen Religion und Naturwis-senschaft?“
Nehmen wir für einen Moment die Begriffe „Re-ligion“ und
„Glaube“ als gleichbedeutend, dannist diese Aussage zentral und
aktuell für unserThema.
Erweisen sich Glaube und Wissenschaftnicht gleichermaßen als
unvernünftig,wenn sie sich gegenseitig befehden?
Zum Beispiel auf der einen Seite ein fundamen-talistisches
Bibelverständnis, das die Evolu-tionstheorie nicht zu integrieren
vermag? Aufder anderen Seite ein Wissenschaftsfundamen-talismus von
der Art eines Richard Dawkins (Der
Gotteswahn, dt. 2007) der meint, mit sehr be-grenzten
wissenschaftlichen Methoden Inhaltedes religiösen Glaubens ad
absurdum führen zukönnen? Fehlt nicht auf beiden Seiten
gleicher-maßen der Sinn für eine ganzheitliche Vernunft?Für eine
Vernunft, die wissenschaftlich und gläu-big zugleich sein
könnte?
Gegensätze von Kapitalismus bedingt?
Dies ist in der Tat die Position des zitierten Ab-iturienten.
Ich selbst war dieser „Klugschwät-zer“, und zwar anno 1962! Aber
dies ist heute,um gleich frei heraus zu sprechen, noch immermeine
Position – wenngleich in verwandelterForm. Denn dazwischen liegen
nicht nur aufmeiner Seite Jahrzehnte
ununterbrochenerphilosophisch-theologischer sowie
sozialwis-senschaftlicher Studien und ebenso viele Jahr-zehnte
spiritueller Übungen, Erfahrungen undEntscheidungen. Nicht gerade
minder rasanthat die Welt sich seitdem verändert. Der
„Fort-schrittstaumel“, den der Abiturient damals schonso benannte
und beinahe überwunden glaubte,hat sich nach dem Wegfall der
atomaren Bedro-hung eher noch gesteigert. Er wurde vielleichterst
jetzt, durch die Weltwirtschaftskrise seitHerbst 2008, „nachhaltig“
gebremst.
Hängt es mit diesem wissenschaftlich-tech-nisch geleiteten, doch
vom Standpunkt einerganzheitlichen Vernunft ziemlich
unvernünftigenFortschrittstaumel zusammen, dass auch die al-
ten Gegensätze von Wissenschaft und Glaubeweiterbestehen? Wir
dürfen dabei nicht verges-sen, dass der Kapitalismus (mein Thema in
dervorigen Ausgabe der „Lebensträume“) sich
alletechnisch-wissenschaftlichen Fortschritte alssein eigenes
Verdienst zuschreibt. Die Identifi-zierung beider geht so weit,
dass viele Men-schen sich einen
technisch-zivilisatorischenFortschritt der Menschheit ohne das
kapitalisti-sche System nicht einmal denken können. KarlMarx hat zu
dieser Identifizierung beider sogarbeigetragen, als er im Manifest
der Kommunis-tischen Partei von 1848 die kapitalistische
Bour-goisie als die fortschrittlichste Klasse rühmte,welche die
Weltgeschichte bisher gesehen ha-be:
„Die Bourgoisie hat in ihrer kaum hundertjähri-gen
Klassenherrschaft massenhaftere und ko-lossalere Produktionskräfte
geschaffen als allevergangenen Generationen zusammen. Unter-jochung
der Naturkräfte, Maschinerie, Anwen-dung der Chemie auf Industrie
und Ackerbau,Dampfschifffahrt, Eisenbahnen, elektrische
Te-legraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile,Schiffbarmachung der
Flüsse, ganze aus demBoden hervorgestampfte Bevölkerungen –welch
früheres Jahrhundert ahnte, dass solcheProduktionskräfte im Schoß
der menschlichenArbeit schlummerten?“
Nur der Schluss des Zitierten lässt durchblicken,dass der vom
Fortschritt Begeisterte nicht demKapital , sondern der menschlichen
Arbeit dieseungeheuren Kräfte zuschrieb. Oder will diesergrößte
Kritiker des Kapitalismus sagen, dasswenigstens im Anfang die
kapitalistische Orga-nisation der menschlichen Arbeit diese
ge-schichtlich einmalige Effizienz schuf?
Lassen wir diese Frage hier offen. Inzwischenhaben wir eine
zweite, elektrische, und einenoch in vollem Gang befindliche dritte
industriel-le Revolution, die elektronische, erlebt, über diewir
immer noch allen Grund zu staunen haben.
Richard Dawkins
Marx/ Engels
Es gibt nur eine Menschheit, und damit auch nur eine Religion.
(Ajja)
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Untergrabung einer ganzheitlichen VernunftZurück zu der Frage:
Hängt die noch immer vor-handene Kluft von Glauben und
Wissenschaftnicht zum guten Teil mit diesem
ungebrochenenFortschrittstaumel zusammen, von
dessen„Nachhaltigkeit“ sich der Abiturient von 1962wirklich noch
keine Vorstellung machen konnte?Ich denke, dass dies in der Tat der
Fall ist, undzwar um so mehr, als der technisch-wissen-schaftliche
Fortschritt durch das kapitalistischeVorzeichen verfremdet, das
heißt seinen eige-nen Trägern entfremdet war: Er war nicht
eineSache des sich kollektiv und gemeinsam selbstentfaltenden
Menschen, sondern blieb eineKlassenveranstaltung: Die meisten
Beteiligtendienten diesem Fortschritt „in der Furcht desHerrn“
(G.W. F. Hegel, im berühmten Abschnitt„Herr und Knecht“ seiner
Phänomenologie desGeistes), wobei die Herren nicht, wie im
Frühka-pitalismus persönlich identifizierbar zu bleibenbrauchen. Es
genügt die Herrschaft immer an-onymer werdender Systemzwänge.
DieseSelbstentfremdung betrifft nicht allein die aus-führenden
Techniker, sondern gleichermaßendie an den wissenschaftlichen
Grundlagen Ar-beitenden, die Wissenschaftler.
Unter solchen Verhältnissen ist an dieKultivierung einer
ganzheitlichen
wissenschaftlichen Vernunft kaum zudenken. Jeder hat vielmehr
seine Rolle alsRädchen in einem Wissenschaftssystem zu
spielen, das unter finanziellen,wirtschaftlichen Zwängen
steht.
In den Naturwissenschaften sind es direkt dieMechanismen der
Wissenschaftsförderungdurch Drittmittel bzw. (in den USA vor
allem)
durchaus die „Erstmittel“ der Industrie. Kurz, ichsehe in dem
anhaltenden technologischen Fort-schrittstaumel unter
kapitalistischem Vorzei-chen vielfältige Gründe, warum
Wissenschaftkeineswegs mit ganzheitlicher Vernunft
zu-sammenfällt.
Herrschaftszüge der Wissenschaft
Zeigt nicht deshalb die Wissenschaft soviele Herrschafts-Züge,
durch die z.B.
zahlreiche Projekte einer ganzheitlichenVernunft abgewiesen,
unterdrückt und
lächerlich gemacht werden?
Nehmen wir – alles im Bereich der Naturwis-senschaft – die
Dramen um Niklas Tesla und sei-ne Erfindungen, um Wilhelm Reich und
ViktorSchauberger, um Fritz-Albert Popp und um Ru-pert Sheldrake
und manche andere als Beispie-le – um von der ältesten menschlichen
Wissen-schaft, jener Verbindung aus
Langzeiterfahrung,mathematisch-astronomischer Berechnung
undlogischer Kombinatorik menschlicher Archety-pen hier schamvoll
zu schweigen, weil dies eingroßes Kapitel der
Wissenschaftsgeschichte fürsich ist, mit viel Licht und
Schatten.
Ich zähle zu jenen gegenwärtigen Namen auchden zweifellos
genialen Physiker, Chemiker undMathematiker Peter Plichta, an
dessen erstenbeiden Bänden „Das Primzahlkreuz“ (1991)
ichredigierend beteiligt sein durfte. Hier ist nichteinmal
irgendeine Nähe zum Spirituellen, gar
Esoterischen, wie bei den Vorgenannten das,was die Fach-Leute
zurückschrecken lässt, son-dern einmal die autobiografische
Enthüllung,wie wenig sich große Teile des bestallten
Er-kenntnisbeamtentums um Wahrheit scheren,wenn es um andere
Vorteile geht; ferner einfachder Anspruch eines aufs Ganze
dringenden An-satzes, der vor keiner Frage nach dem
Warumzurückschreckt wie bei der üblichen, akade-misch dressierten
wissenschaftlichen Vernunft– die eigentlich, nach dem
SprachgebrauchKants und Hegels gar keine Vernunft mehr ist,sondern
nur noch der berechnende Verstand.
Verstand und Vernunft bei Kant
Kant definiert in seiner Kritik der reinen Vernunft
• den Verstand als Vermögen der begrenztenBegriffe,
• Vernunft aber als Vermögen der „Einheit derVerstandesregeln
unter Prinzipien“ (B 359-363)sowie das Vermögen der regulierenden,
unbe-dingten Ideen wie Gott, Freiheit und Unsterb-lichkeit (B
671ff).
Vernunft ist das menschliche „Vernehmungs-vermögen“ (vgl. Kluge:
Etymologisches Wörter-buch), das sich durch unbegrenzte
Offenheitauszeichnet, obwohl es aus dem ganz punk-tuellen Vermögen
zur Selbstreflexion hervor-geht, das den Menschen auszeichnet.
Philoso-phie verstehe ich von daher als die
methodischdisziplinierte Entfaltung dieses Reflexionsver-mögens.
Der Besitz dieses sich selbst spiegeln-
G.W.F. Hegel
Wilhelm Reich/ Viktor Schauberger
Fritz Albert Popp/ Rupert Sheldrake
Immanuel Kant
Versuche erst, dein "Ich" zu erkennen. Danach kannst du über die
Welt nachdenken. (Ajja)
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den Spiegels aller Dinge (als Bewusstseinsge-halte) ist es, was
die Philosophie vor allen ob-jektgerichteten Naturwissenschaften
auszeich-net. Wer meint, Philosophie könne diesen nurdie Schleppe
nachtragen wie einst der Theolo-gie, hat nicht begriffen (selbst
wenn er sich zurphilosophischen Zunft zählt), dass sie ein
ganzeigenes Licht trägt, eine ganz eigentümlicheund
unverwechselbare Erkenntnisquelle hat. Ihrist aufgegeben, die
Hüterin einer ganzheitlichenVernunft zu sein.
Die Lage der Geistes-wissenschaften
In den Geisteswissenschaften gestaltet sich dieLage noch
dramatischer als in den Naturwis-senschaften. Die
Sprachwissenschaften, diePsychologie und die Sozial- oder
Handlungswis-senschaften mussten sich sicherlich von
ihrerMutterdisziplin, der Philosophie, emanzipierenund mit ihren
jeweiligen empirischen Methodenje für sich ausbilden. Doch bei
dieser Differen-zierung ging weitgehend die Integration in
ge-meinsamen, begrifflich-logischen Grundlagenverloren – was früher
einmal in der „Philosophi-schen Fakultät“ gewährleistet sein
sollte. DieEmanzipation geschah vor noch nicht einmal100
Jahren.
Statt dass um so intensiver an einererneuerten Logik der
Reflexion
(dies die Bedeutung von „transzendentalerLogik“ im Sinne Kants)
gearbeitet wurde,
entgleiste gerade in Deutschland, dem unbestrittenen Zentrum der
neueren
europäischen Philosophie, die streng begriffliche Arbeit und
wurde
einerseits zum bloßen Historisieren, somit die Philosophie zur
bloß
philologischen Beschäftigung mit ihren früheren Texten.
Anderseits geriet sie zu einem halb mystischenGeraune, dem die
(freilich noch nicht abgeklär-te) begriffliche Klarheit und Strenge
der deut-schen Idealisten im Gefolge Kants, also vor al-lem Fichte,
Schelling und Hegel, fehlte. Ichschreibe dies als Verfasser einer
philosophi-schen Semiotik (Sinnprozesslehre), zu welcherauch der
Sinnprozess Mystik gehört. Doch wen-de ich mich energisch gegen die
Verwechslungund Verwischung der Ebenen von Wissenschaft,Kunst und
Mystik.
Der endgültige Zusammen-bruch des ganzheitlichendeutschen
Idealismus
Vom „Zusammenbruch des deutschen Idea-lismus“ hatte man schon
bald nach Hegels Tod(1831) gesprochen, als noch der
Hegelianismus„rechter“ (religiös-konvervativer) wie
„linker“(atheistischer und sozialistischer) Prägung dasgesamte
europäische Geistesleben intellektuellbeherrschte. De facto
herrschte jedoch gar nichtmehr der Intellekt, sondern die immer
schnellermarschierende industrielle Revolution einer-seits und die
sich gegen den philosophisch-freien Geist (mochte dieser noch so
frisch undfromm sein) stemmende kirchlich-politischeRestauration
anderseits.
Durch diese unheilige Allianz wurde der
philoso-phisch-geisteswissenschaftliche Geist inDeutschland und
Europa im fortschreitenden19. Jahrhundert zermalmt! Den deutschen
Ide-alisten wäre eine Entgegensetzung von Glaubeund Vernunft völlig
fremd gewesen. Ihr mehroder minder gemeinsames Bestreben war
esgewesen, das Vernunft-, d.h. Logosgemäße imüberlieferten
religiösen (vorzugsweise christ-lichen) Glauben zu erkennen und vom
bloß „po-sitiv Religiösen“, geschweige denn Abergläubi-schen, zu
sondern.
Der Zusammenbruch des deutschen Idealismuswurde jedoch erst
perfekt durch die Auflösungder akademischen Philosophie in
Philosophie-geschichte einerseits und anderseits der Auf-fassung
von Philosophie in Halbpoesie undHalbmystik, wie sie sich vor allem
beim führen-den Philosophen der Weimarer Republik, beiMartin
Heidegger, ereignete. Dagegen fallenandere große und achtsame Namen
wie ErnstCassirer, Paul Tillich, Karl Jaspers in dieser Hin-sicht
kaum ins Gewicht, zumal Heidegger zu-
nächst die politische „Bewegung“ auf seinerSeite hatte –
merkwürdigerweise, ja sehr merk-würdigerweise sogar den Zeitgeist
noch nachdem Zweiten Weltkrieg.
Begriffswirrwarr am Beispiel „Diskurstheorie“Die Folge dieser
geistesgeschichtlichen Ent-wicklung: Der Begriffswirrwarr, der
heute in denGeisteswissenschaften herrscht, ist für
einenNaturwissenschaftler gar nicht vorstellbar.Wenn man
diesbezüglich Zuflucht etwa bei demtonangebenden Kopf seit der
68-er Bewegungsucht, bei Jürgen Habermas, wird man bitterenttäuscht
werden. (Vgl. dazu meinen „OffenenBrief an Jürgen Habermas“, im
Anfang meinesBuches Handlungen, auch im Internet unter die-sen
Stichworten.)
Es nimmt nicht Wunder, dass nachOrientierung suchende Menschen
sich eher– von den jüngsten, die Augen öffnenden
Vorfällen abgesehen - in Richtung Ratzingerund traditionellem
religiösem Glaubenflüchten als in Richtung philosophische
Aufklärung.
Denn in ihren gegenwärtigen akademischenVertretern bietet diese
so genannte philosophi-sche Aufklärung bloß dünne,
abgestandeneLuft, nicht die frische und klare Brise ganzheit-licher
Vernunft. Man hantiert z.B. mit einem dop-pelten Begriff von
Diskurs: einmal in dem um-fassenden Sinn des französischen und
engli-schen discours(e): Rede überhaupt. Dann aberJohann Gottlieb
Fichte/ Friedrich Wilhelm Josef Schelling
Karl Jaspers
Wir kommen aus dem Licht und werden auch wieder zumLicht
zurückkehren. Das ist der Prozess. Das ist der Weg. (Ajja)
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in dem normativen und anspruchsvollen Sinnvon Diskurs als
rationaler Argumentation. Bei-des ist wahrhaftig nicht dasselbe.
Doch vomletzteren leiht man sich das wissenschaftlicheAnsehen, vom
ersteren den modischen, mondä-nen Sound. Das Ganze nennt man
Diskurstheo-rie, gar Diskursethik, z.B. des Politischen.
Woran es liegt, dass nicht beachtet wird, wor-auf ich (und
Andere auf ihre Weise) schon einDutzend mal hingewiesen habe, darf
der Leserdreimal raten:
Ein akademischer Diskurs der Argumente, derVoraussetzung dafür
wäre, dass diese Argu-mente gehört würden, existiert eben nicht.
Nurder modisch-politische Diskurs existiert. In ihmfinden
folgerichtig die Modebewussten oderGünstlinge der Mode(schöpfer)
Gehör.
Wenn echte Verstandesargumente (außerhistorischen Analysen)
unter solchen
Bedingungen schon kaum Chancen haben,
so liegen die Chancen für eineganzheitliche Vernunft im
derzeitigen
pseudo-geisteswissenschaftlichen„Diskurs“ etwa bei Null.
M. E. ist das diskursive (argumentative) Niveauder derzeitigen
Mainstream-Philosophie so nie-drig wie seit Jahrhunderten nicht.
Peter Sloter-dijk, Habermas` publizistischer Gegenspieler,liefert
mit seinen literarischen Assoziationsket-ten nicht gerade den
Gegenbeweis. Wohl gibtes zahlreiche, durchaus wertvolle
philosophie-historische Monographien und Sammlungen,die heute als
Philosophie betrachtet werden.Das ist um so verwunderlicher, als
die 68-er-Be-wegung eine ausgesprochen philosophisch-po-litische
war.
Seit langem hatte Philosophie nicht mehr sovielChancen, ins
politische und alltägliche Lebengestaltend einzugreifen. Doch die
Philosophieder Frankfurter Schule zehrte vom alten Erbe.(Lehrreich
dazu die Schrift von F. Engels: LudwigFeuerbach und der Ausgang der
klassischendeutschen Philosophie, in: Marx/Engels: Ausge-wählte
Schriften II.) Konstruktiv-systematischeWeiterentwicklungen fehlten
ebenso wie einkonstruktiver, nicht bloß negativ-kritischer
De-mokratie- und Gesellschaftsentwurf.
Man muss im akademischen Bereich voneinem Verfall der
ganzheitlichen Vernunft
sprechen.
Ist diese in die Theosophie ausgewandert? DieAntwort auf diese
berechtigte Frage würdeganz neue Betrachtungen erfordern. Die
Theo-sophie H.P. Blavatkys, A. Baileys und der Agni-Yoga-Lehre des
russischen Ehepaars Roerichenthält viel philosophischen Stoff, der
eine zünf-tig-akademische Aufbereitung erfordern wür-de, ähnlich
wie die seriöse Astrologie.
Eine Esoterik dagegen, die gering vomganzheitlich-vernünftigen
Denken denkt
und auf neue Weise Glaube und Liebegegen das Denken ausspielt,
verfehlt ihreeigentliche Aufgabe für das Wassermann-Zeitalter, das
(auch) ein Denk-Zeitalter ist.
Mit einer neuerlichen Entgegensetzung vonGlaube und Liebe gegen
die große Aufgabe desMenschen, selbst zu erkennen, gewinnt
dieesoterische Strömung auch nicht genügendKraft gegenüber den sie
bekämpfenden alten„Glaubens“-Mächten. Sie setzt dann nur einneues
Fürwahrhalten aus zweiter Hand gegendas alte – statt aus der
Einheit von Erfahrungund Denken zu schöpfen, der einzigen
Autorität,die im Wassermann-Zeitalter Bestand habenwird.
Selbst wenn uns erleuchtete Meisterhelfen sollten (was ich sehr
hoffe), liegtihre Autorität einzig im Selbsterfahrenen
und Selbstgedachten, ein riesiger,entscheidender Unterschied zum
Fische-
Zeitalter.
Untergrabung der Geistes-wissenschaften
durchstaats-kirchen-rechtlichePrivilegienBevor ich auf den
eigentlichen Glauben im Ver-hältnis zu Wissenschaft zu sprechen
komme,
Peter Sloterdijk
Jürgen Habermas
H.P. Blavatsky/ Alice Bailey
Buch, herausgegeben von peter Neuner im Herder-Verlag, ISBN
3451021951
Entferne die Dualität von "gut und schlecht", und der Verstand
wird friedvoll sein. (Sri Brahmam)
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möchte ich auf die zusätzliche Schwächung undUntergrabung der
Freiheit der Geisteswissen-schaften durch die für eine echt
pluralistischeGesellschaft unrechtmäßigen Privilegien
derchristlichen Kirchen an den Universitäten einge-hen (um von den
Schulen und Kindergärten hierzu schweigen). Infolge des Konkordats
zwi-schen Hitler und dem Vatikan von 1933, das in-zwischen und
viele Einzelkonkordate der Länderabgelöst und durch entsprechende
Verträge mitden evangelischen Landeskirchen „gerecht“ er-gänzt
wurde, genießen die beiden großen Kon-fessionen (dazu neuerdings in
wachsendemMaße die Jüdische Gemeinde sowie konse-quenterweise nun
auch Vertreter des Islams)Privilegien an unseren Universitäten, die
wis-senschafts- wie verfassungstheoretisch in kei-ner Weise zu
rechtfertigen sind.
Zu rechtfertigen wären Religionswissenschaft-liche Fakultäten,
an denen auch über diese Kon-fessionen informiert würde – nicht
aber diemilliardenschwere Ausstattung fast all unsererUniversitäten
mit mindestens zwei konfessio-nellen Fakultäten, an denen die
künftigen Kon-fessionsdiener ausgebildet werden, zudem
inWissenschaften, die nach neuzeitlichem Wis-senschaftsverständnis
gar keine Wissenschaf-ten sein können, nachdem sie sich selbst
als„Glaubenswissenschaften“ verstehen.
Man muss sich einmal überlegen, wasdiese (von konservativen
Verfassungsrechtlern mit der christlichenTradition Europas
gerechtfertigte)Bevorzugung der Kirchen für das
universitäre und intellektuelle Leben einesGemeinwesens
bedeutet!
Es geht mir in keiner Weise um antireligiöse Po-lemik, sondern
um die Bedeutung sauber defi-nierter Geisteswissenschaften für
unser Ge-meinwesen. Der Sinn für das, was Wissen-schaft ist und
sein könnte, ist entweder ganzoder gar nicht sauber entwickelt.
Dieser Sinn wird nicht zuletzt durch die mächti-ge Gegenwart von
Pseudo-Geisteswissen-schaften mitten in der staatlich
finanziertenWissenschaft gründlich korrumpiert. Der Kopfdes zum
Himmel stinkenden gesamtgesell-schaftlichen Fisches hat sowohl eine
spirituelleSeite (die Letztwerte des Gemeinwesens) wieeine
wissenschaftliche Seite (als Teil der kultu-rellen Werte), um in
diesem Zusammenhang Po-litik und Wirtschaft einmal außen vor zu
lassen.
Es ist fatal für das Gemeinwesen, wenn man esals unabänderbare
Gegebenheit hinnimmt,dass sich Wissenschaften und ihr Personal
inder geisteswissenschaftlichen Forschung ehereinem
kirchen-politischen Gemauschel verdan-ken als der großartigen Idee
der Universität,das heißt des freien Diskurses auf
allgemeinverbindlichen Grundlagen und Einsichten.
Philosophie und Geisteswissenschaften, diedarin ständig
Abstriche machen müssen, weilaufgrund historischer Privilegien
ständig Glau-bensansprüche dazwischen treten, über dienicht mehr
diskutiert werden kann, geben sichselbst auf. Kein Wunder, dass die
Maßstäbe fürwissenschaftlichen Diskurs in allen
geisteswis-senschaftlichen Disziplinen so leicht verlorengehen
können, wie es umrissen wurde.
Glaube
Wir kommen endlich zum Glauben. Wenn es ei-ne Konkurrenz
zwischen Glaube und Vernunftgäbe, müsste der Glaube in solchen
Zeiten desdürftigen Vernunftgebrauchs (im Unterschied
zum ausgeprägten, rechnenden und beredtenVerstandesgebrauch!)
Hochkonjunktur haben.Doch was soll eigentlich unter „Glaube“
ver-standen werden, da hier sicher nicht von Kir-cheneintritten
oder –austritten die Rede ist?
1. Für-wahr-halten einer religiösen Lehre, dieman zwar nicht
selbst einsieht, die man jedochaufgrund der (im weiteren Sinn
verstandenen)kirchlichen Autorität akzeptiert? Zweifellos wur-de
der religiöse, besonders der christliche Glau-be, jahrtausendelang
meist so verstanden.Doch wir sehen, dass es sich im Grunde um
ei-nen Autoritätsglauben handelt:
Ich akzeptiere Wahrheiten, weil die Autorität sielehrt.
Vorausgesetzt ist dabei der Glaube an die-se Autorität der
„heiligen Kirche“. Ihr vertraueich. Wenn solcher Glaube etwas
Religiösesgegenüber anderem Autoritätsglauben hat,dann nicht allein
wegen der Inhalte, die meinezeitliche und ewige Existenz betreffen,
sondernweil die Kirche selbst als heilige Gemeinschafterlebt oder
selbst geglaubt wird. Ähnlich glaubtein Kind seinen Eltern, weil es
sie als stark undfast „allwissend“ erlebt.
2. Gegenüber solchem Glauben als Fürwahrhal-ten dessen, was ich
selbst nicht einsehe, beton-te Luther die Komponente des Vertrauens
aufGott. Die kirchliche Vermittlung solchen Vertrau-ens blieb bei
diesem vielleicht stark mystisch,also selbst erlebenden Reformator
ausgeblen-det. Nach evangelischer Lehre ist es allein die-se
vertrauende Selbstauslieferung des Gläubi-gen an Gott, die den
Menschen „rechtfertigt“.
3. Nun geht uns Heutigen, an Wissenschaft undVernunft
Geschulten, das Wort „Gott“ nichtmehr so kindlich über die Lippen,
vor allem,nachdem so unendlich viel Missbrauch mit die-sem Wort
getrieben wurde. Ein Theologe wieder oben schon erwähnte, 1933 in
die USA aus-gewanderte Paul Tillich bestimmt Religion
als„Verhältnis zu dem, was uns unbedingt angeht“(Systematische
Theologie in 3 Bänden, engl. Ori-ginal 1963) und Glaube als ein
mutiges Festhal-ten an den diesbezüglich erkannten
„ultimatevalues“. Eine andere Schrift Tillichs heißt Mutzum Sein
(Courage to be).
Dieser „Mut zum Sein“, die grundlegende Da-seinsbejahung und das
Festhalten an den eige-nen diesbezüglichen Einsichten und
Werterfah-rungen kann sinnvoll der Glaube eines Men-schen genannt
werden, wie vorsichtig oder un-
Martin Luther
Paul Tillich
Die Einzelseele verliert ihre Existenz als Individuumdurch
richtiges Handeln und Wissen. (Ajja)
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vorsichtig auch immer dieser sich inhaltlich aus-artikulieren,
in den wechselnden Herausforde-rungen des Lebens ausbuchstabieren
mag.
Wir sind mit diesem dritten Glaubensbegriff na-türlich weit von
Glauben als Fürwahrhalten auf-grund einer auf irgendwelchen Gründen
akzep-tierten Autorität entfernt, auch von dem nochrecht kindlich
und zugleich patriarchalisch ge-prägten Gottesvertrauen Luthers. Es
sollen hiergar nicht die Gegensätze betont werden. Dochbei näherem
Hinsehen laufen für ein modernes,selbstreflektiertes Bewusstsein
die beiden er-sten Bedeutungen von Glauben in den drittenzusammen.
Auch Glauben als Stehen zur eige-nen Göttlichkeit ist nicht allein
(als egoistisch zudiffamierende) Selbstbejahung, sondern
darinzugleich Bejahung der Ganzheit des Seins undseines Sinnes,
meinetwegen der „Schöpfung“(wenn man dieses Wort nicht auf die
traditionel-le Dualität von Schöpfer und Geschöpf oder
auf„Schöpfung aus dem Nichts“ festlegt). Andersgesprochen:
Glaube kann nur Selbstbejahung inBejahung des Anderen sowie
Selbstbejahung vom Anderen auch vomgöttlichen Anderen her,
sein.
Glaube in dem Sinn ist kein bloß selbstbezoge-ner Monolog,
sondern Selbstbezug-im-Fremd-bezug, ein dialogisches Geschehen.
(Eine aus-führlichere Darlegung dieses Glaubens-Ver-ständnisses
durch den Verfasser findet sich imWörterbuch der
Religionspsychologie, hg. vonS. R. Dunde, Gütersloh 1993, Artikel
Glau-be/Zweifel.) Dies führt zu einem vierten Aspekt:
4. Glaube kann auch Anerkennung von „Offen-barung“ und
Festhalten an dieser sein. Ich willjetzt nicht über große
geschichtliche Offenba-rungserlebnisse und deren schriftliche
Fixierungdiskutieren, wie sie den drei so genannten
Of-fenbarungsreligionen gemeinsam sind. Allzuleicht führt die
Bindung und Verpflichtung vielerMenschen, die selbst keine
Offenbarung erlebthaben, auf den ersten, autoritätsgeprägten
Of-fenbarungsbegriff zurück, der geistesgeschicht-lich überholt
ist. Früher wurde der Glaube als„übernatürliche Erkenntnis“
deklariert. Das warweitgehend autoritärer Missbrauch. Allerdingsist
es die Natur des menschlichen Geistes,„übernatürlich“ zu sein. Ich
meine hier die selbsterlebte Offenbarung: besondere
Wert-Erfahrun-gen bis hin zu mystischen Erlebnissen und Be-gegnung
mit (körperlichen oder außerkörper-
lichen) Gestalten des Heiligen, die sich nicht al-le Tage
wiederholen. Solche Offenbarungen gibtes offenbar. Wir brauchen
nicht an sie zu glau-ben. Wohl sollten wir das Zeugnis solcher
Men-schen ernst nehmen, die „glaubhaft“ von sol-chen Erlebnissen
sprechen. Und gegebenen-falls unsere eigenen Erlebnisse ernst
nehmen,das heißt mit Treue zu uns selbst und mit Dank-barkeit
gegenüber dem Erfahrenen am bleiben-den Gehalt (nicht an der
vergänglichen undmeist unwesentlichen Form) dieser
Erlebnissefesthalten.
Die Kultur des zwischenmenschlichen„Glaubens“, der kritische
Prüfung
einschließt, ist aufgrund von zu vielerfahrungsfremden
Autoritätsglauben,
bei uns unterentwickelt.
Eine Alltagsform solcher Offenbarung sind intu-itive Einsichten:
plötzliche Erkenntnisse und Ah-nungen, für die wir keine rationalen
Gründe ha-ben. Der Glaube an das Göttliche und damit anuns selbst
schließt ein, dass wir dergleichenernst nehmen, im Zweifelsfall
prüfen und dies-bezügliche Erfahrungen sorgfältig beachtenund
erinnern.
Hier wie schon beim Glaubensbegriff 2 spieltdie Zeitstruktur des
Glaubens, das Durchhaltenund Festhalten an einmal Erkanntem und
Ge-schenktem, eine entscheidende Rolle. Der Um-gang mit der Zeit
ist Umgang mit uns selbst alszeitlicher Wesen.
Nietzsches GlaubeDer furiose „Atheist“ Friedrich Nietzsche
mussetwas ganz Ähnliches wie hier, besonders un-
ter 3., dargelegt unter Glauben verstehen, wenner seiner
historistisch „gebildeten“ (nur nochhistorisch-philologisch
sammelnden) Zeit ent-gegenschleudert:
„Zu weit hinein flog ich in die Zukunft: einGrauen überflog
mich. Und als ich um mich
sah, siehe! Da war die Zeit mein einzigerZeitgenosse. Da floh
ich rückwärts,
heimwärts – und immer eilender: so kamich zu euch, ihr
Gegenwärtigen, und ins Land der Bildung. (…)
Alles Umheimliche der Zukunft, und was jeverflogenen Vögeln
Schauder machte,
ist wahrlich heimlicher und wirklicher nochals eure
‚Wirklichkeit‘. Denn so sprecht ihr:‚Wirkliche sind wir ganz, und
ohne Glaubenund Aberglauben‘: also brüstet ihr euch –
ach, auch noch ohne Brüste!
Ja, wie solltet ihr glauben können, ihrBuntgesprenkelten! – die
ihr Gemälde seid
von allem, was je geglaubt wurde!Wandelnde Widerlegungen seid
ihr des
Glaubens selber, und aller GedankenGliederbrechen.
Unglaubwürdige:
also heiße ich euch, ihr Wirklichen! AlleZeiten schätzen
widereinander in eurenGeistern; und aller Zeiten Träume und
Geschwätz waren wirklicher noch, als euer Wachsein ist!
Unfruchtbare seid ihr: darum fehlt es euchan Glauben. Aber wer
schaffen musste,
der hatte auch immer seine Wahr-Träume und Sternzeichen – und
glaubte
an Glauben!“
Glaube und Wissenschaft
Hat es überhaupt Sinn, einen solchen aufge-klärten Begriff von
Glauben mit Wissenschaftund Vernunft zu konfrontieren?
Keineswegs,was die beiden letzten Formen oder Stufen desGlaubens
angeht. Konfrontieren ließen sicheinst Glaube und Wissenschaft nur
als verschie-dene Formen des Fürwahrhaltens.
Es ist aber klar, dass der so verstandene Glau-be von einem
wissenschaftlichen Standpunktzu einem bloßen Vermuten und einem
Erkennt-nis-Ersatz degradiert werden muss. Das ist je-doch ein
(wenn auch von vielen „Gläubigen“
Friedrich Nietzsche
(Empfehlung: Osho-Buch “Ein Gott, der tanzen kann”,ISBN
978-3-936360-86-8
Hinter dem Unendlichen gibt es nichts, das erkannt werden
könnte.(Premananda)
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14 Lebens|t|räume 04/09
selbstverschuldetes) ganz unwissenschaftli-ches Missverstehen
des Glaubens in der drittenund vierten Bedeutung.
Auf der anderen Seite kann kein Glaubender imSinne der
grundlegenden Selbst- und Wertbeja-hung sich vernünftigerweise
gegen wissen-schaftliche Erkenntnis sperren – vorausgesetzt,sie ist
tatsächlich Erkenntnis und nicht rationa-listische Anmaßung und
Reduktion von Erkennt-nis.
„Keine Religion ist höher als die Wahrheit“(H.P. Blavatsky).
Ich verstehe nicht, welche Probleme es zwi-schen Glauben im
dargelegten Sinn und Wis-senschaft für einen aufgeklärten Menschen
ge-ben könnte. Es kann sich nur um traditionellüberkommene
Missverständnisse und Selbst-missverständnisse auf beiden Seiten
handeln.
Glauben und VernunftWenn wir „Vernunft“ nicht rationalistisch
ver-kürzt verstehen, sind die Formen des Glaubensim dargelegten
Sinne selbst Formen von Ver-nunft, freilich einer dialogischen
Vernunft, fürwelche die Botschaften des personal oder me-dial
Anderen eine mögliche Rolle spielen. Aller-dings haben die Worte
„Glauben“ und „Ver-nunft“ auch dies gemeinsam: Sie sind beide
un-säglich missbraucht worden. Vom Glauben wardiesbezüglich vorhin
die Rede. Von der Vernunftkann man nur sagen, dass dieses
menschlicheVernehmungsvermögen der unendlichen Offen-heit im
Zeitalter des Rationalismus gerade beiständiger Betonung von
„Vernunft/raison /rea-son“ für bloßen Verstandesgebrauch
verkürztwurde. Diese Verkürzung setzt sich, wie ausge-führt, in
unseren Wissenschaften fort. Deshalbnoch ein kurzes Schlusswort
zu:
Wissenschaft und Vernunft(Um eine Spiritualität desDenkens)
In der alten, mittelalterlich-scholastisch gepräg-ten
Philosophie wurde diese, die Philosophie,als „scientia universalis“
gegenüber den Einzel-wissenschaften, den „scientiae
particulares“,bezeichnet. Genauer galt Philosophie als „scien-tia
universalis naturali ratione comparata“: als
Universalwissenschaft aufgrund natürlicherVernunft, im
Unterschied zur Theologie, die sichauf „übernatürliche Vernunft“
stütze („scientiauniversalis supranaturali ratione comparata“).Auf
die Fragwürdigkeit, ja Unhaltbarkeit dieserletzten Definition soll
es hier nicht nochmals an-kommen, sondern auf Philosophie als
Sachwal-terin einer ganzheitlichen Vernunft.
Alle Wissenschaft, sofern sie nicht allein einuntergeordnetes
Geschäft des berechnendenund klassifizierenden Verstandes
darstellt, er-hält einen philosophischen, d.h. aufs Ganze ge-henden
Einschlag. Wir sehen dies deutlich beiallen großen
Naturwissenschaftlern, besondersden epochemachenden Physikern, des
2O.Jahrhunderts. Die Frage ist immer, ob sich Na-turwissenschaftler
in willkürlichen Anmutungenund Weltanschauungsbildungen
ergehen.
Bei den Großen ist das nicht der Fall, weil sie ge-nügendes
Problembewusstsein mitbringen,meist auch beilaufend eine gewisse
philosophi-sche Ausbildung genossen haben. Einsteins
Re-lativitätstheorien sind beispielsweise ohne das„Einatmen“
Kantischer Ideen über Raum undZeit kaum denkbar.
Auf den nachgeordneten Rängen der Naturwis-senschaftler gibt es
dagegen zahlreiche Gegen-beispiele für philosophischen
Dilettantismusohne genügendes Problembewusstsein – mö-gen sie auch
als angesehene Festredner vomMax-Planck-Institut kommen, die etwa
mitQuantenphysik die Gesellschaft strukturierenwollen.
Auch die rasche Gleichschaltung von Physik und Mystik, unter
Überspringung, weil Unkenntnisabendländischer Philosophie, etwa
bei
Fritjof Capra (Das Tao der Physik;Wendezeit), leisten der
wirklichen
Begegnung von Denken und Spiritualitätm.E. keinen besonderen
Dienst.
Eine solche Begegnung findet nur statt, wenneine echte
Spiritualität des Denkens entwickeltwird: wenn die „Anstrengung des
Begriffes“zum „Gottesdienst des vernünftigen Denkens“wird (Hegel).
Meines Erachtens kann das Me-dium des wissenschaftlichen Begriffes,
ähnlichwie das des dichterischen Wortes, bei hinrei-chender
Intensität und Ehrfurcht tatsächlichselbst zum Medium mystischer
oder quasi-mys-tischer Erfahrung werden.
Solche Intensität des Denkens istkeineswegs dem Philosophen
vorbehalten.
Sie geschieht auch in den Wissenschaften da,wo die begrenzten
Begriffsbildungen durch dieganzheitliche Vernunft und ihre Ideen in
Fragegestellt und dynamisiert werden. „Ganzheitli-che Vernunft“
meint keineswegs etwas Unge-fähres, wozu der Ausdruck
„ganzheitlich“ oftmissbraucht wird. Ganzheitlichkeit bedeutet
dieumfassende, möglichst selbst geordnete Be-rücksichtigung aller
Relationen, die bei einemBegriff bzw. einem Phänomen zu
berücksichti-gen sind.
Es ist allein diese ganzheitliche Vernünftigkeit,die aus den
bekannten „Fachidioten“, die ihredarüberhinausgehende Unkenntnis
durch Fana-tismus kompensieren, aus funktionierenden
Er-kenntnisbeamten, denen es eigentlich um ihrregelmäßiges Gehalt
und ihr soziales Prestige,nicht um Erkenntnis als solche geht, auf
einmaloffene, gläubige Denker machen kann, aus po-tentiellen
Inquisitoren mit den oben erwähntenOpfern hingebungsvolle und faire
Wahrheitssu-cher.
FazitWissenschaft, Glaube und Vernunftbeschreiben Wege zur
Wahrheit, die
verschieden sind, aber nur vordergründigkonkurrieren. Wenn man
„konkurrieren“
von Wegen überhaupt sagen kann.
• Wissenschaften sind begrenzte „Settings“oder Disziplinen, die
nur durch ganzheitliche Ver-nunft Anschluss an das Ganze der
Wirklichkeitgewinnen.
• Glaube ist – im Unterschied zu vielen Formendes
Autoritätsglaubens - Mut zum Sein, Wert-bejahung des Ganzen,
Selbstbejahung vom Un-bedingten und Göttlichen her.
• Vernunft ist das Vermögen des Menschen zumUnbedingten (zum
göttlichen Logos). Freilich:„Wir suchen überall das Unbedingte und
findenimmer nur Dinge“ (Novalis, Blüthenstaub 1) –womit sich der
Kreis zur Wissenschaft schließt.
„Denn was war schädlicher in derGeschichte und was überflüssiger
als dasseit Galilei bestehende Katz-und-Maus-
Spiel zwischen Religion und
Das Gewahrsein des jetzigen Momentsist das Großartigste, was es
gibt. (Ajja)
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15Lebens|t|räume 04/09
Naturwissenschaft?“ Die historischenReligionen brauchen wir
vielleicht nicht
mehr. Doch den Glauben im besagten Sinn.
Schon Goethe meinte, in einer fortgeschrittenenHumanität sei die
Religion, eben der Glaube imdargelegten Sinn, inklusive enthalten,
ohne derpopulären Form zu bedürfen:
„Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion. Wer
jene beiden
nicht besitzt, der habe Religion.“
Doch war und ist das nicht heute noch zu elitärgedacht? Bedürfen
die „einfachen Menschen“nicht weiterhin der irgendwie verbindlichen
Leh-re über „das, was sie unbedingt angeht“ sowieder Riten des
Ausdrucks für das, was sie im Le-ben und Sterben, im Lieben und
Grenzeziehen,bewegt? Nicht allein die einfachen Menschen,sondern
die menschliche Gemeinschaft als gan-ze wird dieser Lehre und
Ausdrucksformen be-dürfen – jedoch auf einem neuen Niveau
derAufklärung und Freiheit, jenseits, nicht diesseitsjenes
aufgeklärten und personalisierten Glau-bensbegriffs.
Doch dies, also künftige Formen von „Gemein-schaft der Menschen
im Freien“, wie es im BuchI Ging (Figur 13) heißt, jenseits
autoritärer Dog-matik, jenseits der überholten Zwillingsbrüdervon
Theismus und Atheismus (die beide dasGöttliche verdinglichen), das
wäre ein eigenesThema.
Johannes Heinrichs,
geb. 1942, zählt schon jetzt zu den herausragenden
systematischenPhilosophen der Neuzeit. Als wichtige Neuerung in der
Philosophie giltseine Entdeckung des „Periodensystems der
Handlungsarten“, das dieHandlungen nach ihren Intentionen
unterscheidet und systematisiert.
Mit seiner Reflexionstheorie menschlicher Sinnvollzüge und
sozialerSysteme steht er auf den Schultern der deutschen Idealisten
Hegel,
Kant und Fichte. – Er doziert nicht, sondern besticht in der
Einfachheit der Darstellung sinnfäl-liger Zusammenhänge.
Info: www.johannesheinrichs.dewww.netz-vier.de,
www.stenobooks.com
Zur Öko-Problematikstellt er fest: "Naturwissenschaft-liche
Einzelerkennt-nisse helfen unsnicht weiter, diese scheinbar
ausweglose Situation zu än-dern."
Das ist die Antwort: Die heute anstehen-de politische
Erneu-erung muss fundiertsein in einer Revolu-tion der Gesinnun-gen
und Vorstel-lungs-arten!
"Die schleichende Demo-kratie-verdrossen-heit wird bei Genuss
des Mani-festes zur Demokra-tie-begeisterung,die nach Praxis
ver-langt."
In dieser Real-Uto-pie bietet er eineeinfache Lösung an,wie die
Demokratie wiederfunktionsfähig ge-macht werden könn-te. Dieses
Buch kön-nen Sie demnächstals Paperback erhalten:ISBN
978-954-449-321-9
Hierin beschreibt er dieWelt des sich der-zeit offensichtlich zu
To-de siegenden Kapi-talismus.
Seine Bücher sind Wegweiser fürfreie Menschen,nicht für blind
derObrigkeit folgende.Er zwingt zum Nachdenken:
Siehe: www.johannesheinrichs.de. Auslieferung der Bücher über:
GVA, Postfach 2021, 37010 Göttingen, Tel. 0551-487177, Fax:
0551-41392.
Johann Wolfgang von Goethe
Wer da auch immer nach Erleuchtung suchen mag, der muss
verschwinden. Das ist Erleuchtung. (Sri Brahmam)