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Unzureichende kommunale Finanzausstattung als Ausdruck einer
Krise des Finanzausgleichssystems?
Zum aktuellen Konflikt um die institutionelle Ausgestaltung
des
Kommunalen Finanzausgleichs in Nordrhein-Westfalen
Thomas Döring
Gliederung
1 Einführung in die Problemstellung: Kommunale Selbstverwaltung
und angemessene Finanzausstattung als Streitthema zwischen Land und
Kommunen
2 Grundlegende institutionelle Gestaltungsprinzipien eines
Finanzausgleichssystems aus finanzwissenschaftlicher Sicht
2.1 Zum ökonomischen Grundverständnis des Finanzausgleichs: Der
Vorrang
von Effizienz- vor Verteilungsfragen
2.2 Zielsetzungen und Besonderheiten des Finanzausgleichs auf
kommunaler
Ebene
3 Ökonomische Bewertung der Forderung nach institutioneller
Absicherung einer kommunalen Mindestfinanzausstattung
3.1 Zur Zweckmäßigkeit einer kommunalen
Mindestfinanzausstattung
3.2 Gleichrangigkeit der Aufgaben von Land und Kommunen
3.3 Selbstverwaltungsgarantie und objektive Bestimmung des
kommunalen
Finanzierungsbedarfs
3.4 Verfahrensorientierte Ansätze einer kommunalen
Finanzausstattung
4 Angemessenheit der Berücksichtigung von Soziallasten und
mögliche Neutralisie-rungseffekte im Rahmen des
nordrhein-westfälischen Finanzausgleichs
4.1 Ökonomische Beurteilung der bestehenden Erfassung
räumlich
divergierender kommunaler Soziallasten
4.2 Bewertung der Ausgestaltung des Kreisfinanzausgleichs
5 Alternative Maßnahmen zur Reduzierung kommunaler
Finanzierungsprobleme
Literatur
Fachhochschule Kärnten – Forschungszentrum für Interregionale
Studien und Internationales Ma-
nagement (isma), Europastraße 4, A-9524 Villach
(Technologiepark), Tel.: +43-5-90500-1238, Fax: -1210, eMail:
[email protected].
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1 Einführung in die Problemstellung: Kommunale Selbstverwaltung
und
angemessene Finanzausstattung als Streitthema zwischen Land und
Kommunen
Die über den kommunalen Finanzausgleich gewährte finanzielle
Ausstattung für Städte und
Gemeinden stellt in Nordrhein-Westfalen – wie auch in anderen
Bundesländern – ein perma-
nentes Streitthema zwischen Land und Kommunen dar.1 Seinen
aktuellen Höhepunkt hat die-
ser Konflikt durch die seit Ende 2008 laufende
Verfassungsbeschwerde beim Verfassungsge-
richtshof für das Land Nordrhein-Westfalen erreicht, die vom
Kreis Recklinghausen und sei-
nen zehn kreisangehörigen Städten gegen das Gesetz zur Regelung
der Zuweisungen des
Landes an die Gemeinden und Gemeindeverbände im Haushaltsjahr
2008 (Gemeindefinanzie-
rungsgesetz – GFG 2008) eingereicht wurde.2 Den Anlass für die
Verfassungsbeschwerde
bildet die prekäre Finanzsituation der genannten Kommunen, die
im Vergleich zu den übrigen
Kreisen und Gemeinden des Landes Nordrhein-Westfalen durch eine
unterdurchschnittliche
Steuerkraft (2008: 68,5 %), deutlich über dem Durchschnitt
liegenden Pro-Kopf-Ausgaben
insbesondere im Sozialbereich (2008: 456,8 Euro im Vergleich zu
369,7 Euro) sowie weit
überdurchschnittlichen Kassenkrediten pro Kopf (2008: 1659,6
Euro im Vergleich zu 351,2
Euro) gekennzeichnet ist. Mit der Verfassungsbeschwerde
verbindet sich vor diesem Hinter-
grund der Vorwurf, dass das GFG 2008 die Vorschriften der
Landesverfassung über das
Recht der kommunalen Selbstverwaltung insofern verletze, wie die
über den kommunalen
Finanzausgleich bereitgestellten Zuweisungen nicht zu einer
Überwindung der krisenhaften
Haushaltsituation des Kreises Recklinghausen und seiner Städte
beitragen.
Die institutionelle Grundlage für die Ausgestaltung des
kommunalen Finanzausgleichs in
Nordrhein-Westfalen liefern die Regeln der Landesverfassung, die
– neben dem Verweis auf
das kommunale Selbstverwaltungsrecht (Art. 78 Abs. 1 LV) – den
Landesgesetzgeber zur
Durchführung eines entsprechenden Finanzausgleichs verpflichten.
In Art. 79 LV heißt es
hierzu im Wortlaut: „Die Gemeinden haben zur Erfüllung ihrer
Aufgaben das Recht auf Er-
schließung eigener Steuerquellen. Das Land ist verpflichtet,
diesem Anspruch bei der Gesetz-
gebung Rechnung zu tragen und im Rahmen seiner finanziellen
Leistungsfähigkeit einen
übergemeindlichen Finanzausgleich zu gewährleisten.“ Die
Konkretisierung dieser allgemei-
nen verfassungsrechtlichen Vorgabe erfolgt in Gestalt des
Gemeindefinanzierungsgesetztes
(GFG), welches für das jeweilige Haushaltsjahr die finanziellen
Zuweisungen des Landes an
die Kommunen festlegt. Die genannten
landesverfassungsrechtlichen Regelungen in Verbin-
dung mit dem jeweiligen Gemeindefinanzierungsgesetz bilden somit
gemeinsam den norma-
tiven Rahmen („rules of the game“) zu Bestimmung der
finanziellen Ausstattung der Kom-
munen des Landes. In Anbetracht dessen zielt die aktuelle
Verfassungsbeschwerde nicht al-
lein auf das GFG 2008, sondern zugleich auch auf die
finanzverfassungsrechtlichen Regeln
als solche. Dies drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass die
Kritik am GFG 2008 mit der For-
derung nach einer verfassungsrechtlichen Absicherung einer
„aufgabenangemessenen Finanz-
ausstattung“ bzw. einer „finanziellen Mindestausstattung“ von
Städten und Gemeinden ver-
knüpft ist, um die sowohl in der Landesverfassung als auch im
Grundgesetzt verankerte
kommunale Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 GG)
zukünftig besser gewährleisten zu
können.
Im bestehenden föderativen System setzt die Garantie der
kommunalen Selbstverwaltung ein
hinreichendes Maß an dezentraler Finanzautonomie voraus. Die
Bewältigung der den Kom-
munen im Rahmen der föderalen Zuständigkeitsverteilung
zugewiesenen Aufgaben ist ohne
eine entsprechende Ausstattung mit finanziellen Mitteln nicht
möglich. Diese grundlegende
1 Siehe hierzu etwa Anton/Diemert (2008, S. 46ff.) oder
Städtetag Nordrhein-Westfalen (2009). 2 Siehe Begründung der
Verfassungsbeschwerde mit Schriftsatz vom 19.12.2008 im
verfassungsge-
richtlichen Verfahren VerfGH 32/08.
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Einsicht spiegelt sich bereits in Art. 28 Abs. 2 GG, wonach den
Gemeinden und Gemeinde-
verbänden das Recht gewährleistet sein muss, „alle
Angelegenheiten der örtlichen Gemein-
schaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu
regeln“. Und weiter heißt es:
„Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfasst auch die
Grundlagen der finanziellen Ei-
genverantwortung“. Dieser im Rahmen der Grundgesetzänderung von
19943 hinzugefügte
Satz stellt nicht allein die verfassungsrechtliche Grundlage für
die Zuweisung eigener Steuer-
hoheiten an die kommunale Ebene durch den Bundesgesetzgeber dar.
Er ist zugleich auch die
grundgesetzliche Basis einer garantierten (vertikalen) Zuweisung
von finanziellen Mitteln
eines jeweiligen Landes an seine Kommunen und bildet damit den
rechtlichen Bezugspunkt
für die auf Landesebene bestehenden kommunalen
Finanzausgleichssysteme4, deren je kon-
krete Ausgestaltung der föderalen Finanzautonomie der einzelnen
Länder und damit der je-
weiligen Landesgesetzgebung überlassen bleibt.5
Die im Grundgesetz festgeschriebene kommunale
Selbstverwaltungsgarantie enthält somit
lediglich eine allgemeine Rahmenvorgabe als Verpflichtung der
Länder, für eine angemessene
Finanzausstattung der Kommunen zu sorgen. Jenseits dessen
besteht ein mehr oder weniger
großer Gestaltungsspielraum bezüglich der konkreten
Ausgestaltung der Finanzbeziehungen
zwischen Land und Kommunen. Zwar enthält Art. 28 Abs. 2 GG zum
einen eine zunächst
weit gefasste Definition des zu finanzierenden Aufgabenkatalogs
im Rahmen kommunaler
Selbstverwaltung, wenn von „allen Angelegenheiten der örtlichen
Gemeinschaft“ die Rede
ist. Der Zusatz „im Rahmen der Gesetze“ beinhaltet hier jedoch
bereits eine erhebliche Ein-
schränkung und macht deutlich, dass es weder eine Garantie
bestimmter kommunaler Aufga-
ben noch eine Bestandsgarantie für die einzelne Kommune gibt.
Zum anderen lässt Art. 28
Abs. 2 GG aber ebenso offen, in welcher Art und Weise der
Vorgabe nach „finanzieller Ei-
genverantwortung“ und damit dem Recht auf kommunale Finanzhoheit
Rechnung zu tragen
ist. Zusätzliche Hinweise enthalten hier die Ausführungen in
Art. 106 Abs. 7 Satz 1 und 2
GG, wonach die Kommunen an den Gemeinschaftssteuereinnahmen
eines jeweiligen Landes
zu beteiligen sind (obligatorischer Steuerverbund) bzw. zudem –
freiwillig – an den Landes-
steuereinnahmen beteiligt werden können (fakulativer
Steuerverbund). Danach haben die
Länder zwar keine Wahl, ein kommunales Finanzausgleichssystem
(Steuerverbund) einzu-
richten, es steht ihnen jedoch frei, in welcher Form dies
geschieht. Damit ist grundgesetzlich
im Wesentlichen lediglich das „Ob“ einer finanzpolitischen
Verantwortung der Länder für die
Finanzen der Kommunen geregelt. Das „Wie“ bleibt demgegenüber
nach den grundgesetzli-
chen Bestimmungen offen. Es obliegt damit den Ländern im Rahmen
eigener Regeln die
grundgesetzliche Ausstattungsgarantie entsprechend zu
konkretisieren. Ob dies überwiegend
durch die Eröffnung eigener Einnahmequellen – was ökonomisch die
vorrangige Lösung wä-
re6 – oder überwiegend durch (allgemeine oder spezielle)
Finanzzuweisungen an die Kom-
munen erfolgt, liegt in der Gestaltungsfreiheit der Länder.7
Aus ökonomischer Sicht verbindet sich mit der grundgesetzlich
vorgegebenen „finanziellen
Eigenverantwortung“ schließlich ein weiterer Aspekt: So sind
zwar als ausgleichsrelevant
anzusehende Lücken in der Finanzausstattung durch einen vom Land
organisierten kommuna-
3 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27.10.1994, BGBl..
I. 3146. 4 Siehe hierzu etwa Meffert/Müller (2008). Siehe ebenso
Reding (1995) oder auch Schwarz (1997). 5 Siehe hierzu
stellvertretend Schwarz (1997). Bei Meffert/Müller (2008, S. 7)
heißt es hierzu: „Dem-
nach ist es Aufgabe der Länder, in ihren Verfassungen die
grundgesetzliche Ausstattungsgarantie zu konkretisieren. Auf welche
Weise dies geschieht, ob überwiegend durch die Eröffnung eigener
Ein-nahmequellen für die Kommunen oder vorrangig durch staatliche
Finanzzuweisungen, ist den Län-dern weitgehend freigestellt“.
6 Siehe hierzu etwa Zimmermann (2009, S. 108ff.). 7 Siehe zu
diesen Feststellungen auch Henneke (2002, S. 146) sowie Schwarz
(1997, S. 25).
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len Finanzausgleich zu kompensieren. Soweit eine unzureichende
Finanzausstattung jedoch
das Ergebnis autonomer kommunaler Haushaltsentscheidungen ist,
sind die damit verbunde-
nen negativen Folgen jedoch ausschließlich von den für diese
Entscheidungen verantwortli-
chen Kommunen zu tragen. Der Grundsatz der „finanziellen
Eigenverantwortung“ als Be-
standteil der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie enthält somit
nicht allein einen durch
das Land zu deckenden Anspruch auf angemessene
Finanzausstattung. Er fordert zugleich
verantwortungsbewusste Entscheidungen bezogen auf das Ausgaben-
und Einnahmeverhalten
auf der kommunalen Ebene, was nicht zuletzt die Überwälzung von
Haushaltsdefiziten ver-
bietet, die aufgrund unzureichender Wirtschaftlichkeit und
mangelnder Effizienz des kommu-
nalen Verwaltungshandelns entstanden sind.8
Die Interpretationsbedürftigkeit der dargestellten rechtlichen
Grundsätze zur kommunalen
Selbstverwaltung, aber auch die Entwicklung der öffentlichen
Haushalte in den zurückliegen-
den Jahren, die nicht zuletzt auf allen staatlichen Ebenen
(Bund, Länder, Kommunen) durch
steigende Defizite gekennzeichnet war, haben immer wieder zu
Streitigkeiten um die Ange-
messenheit der kommunalen Finanzausstattung geführt. Während die
Kommunen wiederholt
ihre geringe Finanzausstattung beklagten, um dabei das jeweilige
Land sowie den Bund dafür
allein verantwortlich zu machen, weisen Bund und Länder diese
Vorwürfe in aller Regel als
unzutreffend zurück. Vor diesem Hintergrund ist auch die
aktuelle Verfassungsbeschwerde
gegen das Gesetz zur Regelung der Zuweisungen des Landes
Nordrhein-Westfalen an die
Gemeinden und Gemeindeverbände im Haushaltsjahr 2008 (GFG 2008)
einzuordnen. Im
Kern hat die Begründung der Verfassungsbeschwerde mit
Schriftsatz vom 19.12.2008 im ver-
fassungsgerichtlichen Verfahren VerfGH 32/08 und die zu ihrer
Untermauerung angefertigten
finanzwissenschaftlichen Gutachten9 die drei folgenden Punkte
zum Gegenstand:
Es bestehe eine Situation der „strukturellen Unterfinanzierung“
der öffentlichen Haus-halte auf der kommunalen Ebene (Gemeinden und
Gemeindeverbände), die durch die
Ausgestaltung des kommunalen Finanzausgleichs keine angemessene
Korrektur erfah-
re. Es wird bemängelt, dass die über das GFG 2008 vom Land zur
Verfügung gestellte
Finanzmasse nicht ausreichend sei, um eine im Rahmen der
kommunalen Selbstver-
waltungsgarantie angemessene Aufgabenerfüllung zu
gewährleisten.
Darüber hinaus seien die auf der kommunalen Ebene bestehenden
Belastungen der öf-fentlichen Haushalte aufgrund steigender
Sozialausgaben angesichts einer nicht hin-
reichenden Bedarfsmessung innerhalb des kommunalen
Finanzausgleichs nur unzurei-
chend berücksichtigt worden.
Schließlich wird bemängelt, dass die Ausgestaltung des
kommunalen Finanzaus-gleichs mit seinem bestehenden
Schlüsselzuweisungssystem zu einer Benachteiligung
insbesondere jener Kreise führe, die durch hohe Sonderbedarfe
gekennzeichnet sind.
Dies gilt als ein systematischer Mangel, der durch das besondere
Zusammenspiel von
Gemeinde- und Kreisfinanzausgleich – hervorgerufen werde
Das Schwergewicht der Verfassungsbeschwerde – nicht zuletzt
gemessen an den quantitati-
ven Ausführungen in Beschwerdeschrift und
finanzwissenschaftlichen Gutachten – liegt dabei
auf der zuerst genannten These, die von einer durch das GFG 2008
bewirkten finanziellen
Unterausstattung der kommunalen Ebene in Relation zu den zu
erfüllenden Aufgaben aus-
8 Siehe grundsätzlich zu den negativen Anreizwirkungen im
kommunalen Finanzausgleich auch
Büttner (2002) und (2003) sowie Baretti (2002). Siehe für eine
vergleichbare Argumentation aus rechtswissenschaftlicher Sicht
Henneke (2002, S. 146).
9 Siehe Junkernheinrich et al (2009), Junkerheinrich/Micosatt
(2009) sowie Junkerheinrich/Micosatt /Blome (2009).
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geht. Im Vergleich dazu erfahren die beiden anderen Thesen eine
deutlich geringere Auf-
merksamkeit.10 Anknüpfend an die so vorgenommene
Schwerpunktsetzung der Beschwerde-
führer wird auch im vorliegenden Beitrag das Augenmerk primär
auf einer (kritischen) Dis-
kussion der „Unterfinanzierungsthese“ und der mit ihr –
zumindest implizit – verknüpften
Forderung nach einer (verfassungsrechtlich abzusichernden)
kommunalen Mindestfinanzaus-
stattung gelegt (Kapitel 3), zumal diese Fragestellung über
Nordrhein-Westfalen hinaus auch
für alle anderen Bundesländer von Bedeutung ist. Demgegenüber
nachrangig wird die Frage
einer unzureichenden Berücksichtigung von insbesondere im
Sozialbereich bestehenden Son-
derbedarfen diskutiert (Kapitel 4), da es sich hier um eine
landesspezifische Ausgestaltungs-
komponente des kommunalen Finanzausgleichs handelt. Diesen
Überlegungen vorangestellt
ist eine Betrachtung der grundlegenden Ziele und
Gestaltungsprinzipien eines Finanzaus-
gleichssystems aus finanzwissenschaftlicher Sicht (Kapitel
2).
2 Grundlegende institutionelle Gestaltungsprinzipien eines
Finanzausgleichsystems
aus finanzwissenschaftlicher Sicht
Eine aufgabenangemessene Finanzausstattung bildet innerhalb
eines föderal organisierten
Gemeinwesens die notwendige Voraussetzung für die Erfüllung
öffentlicher Aufgaben. Dies
gilt nicht allein mit Blick auf die kommunale Ebene, dies gilt
ebenso bezogen auf die Ebenen
von Bund und Ländern. Die Angemessenheit einer Finanzausstattung
kann dabei nicht losge-
löst von der Aufgaben- und Ausgabenverteilung bewertet werden.
Aus ökonomischer Sicht
umfasst ein Finanzausgleichssystem daher immer die Gesamtheit an
Regelungen, welche die
Verteilung von Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen zwischen den
Ebenen eines föderativen
Staates mit seinen Gebietskörperschaften (Bund, Länder,
Kommunen) zum Gegenstand ha-
ben. Ein Finanzausgleichssystem beinhaltet damit zum einen mehr
als nur die Verteilung fi-
nanzieller Mittel, da es auch die Zuordnung öffentlicher
Aufgaben regelt. Zum anderen ver-
bindet sich mit einem solchen System keine finanzielle
Gleichstellung aller Ebenen oder ein-
zelner Gebietskörperschaften. Vielmehr sollen die Einnahmen an
jene Ausgaben angeglichen
werden, die ihrerseits aus der Erfüllung bestimmter vorgegebener
Aufgaben resultieren. Die
Gestaltung der Finanzausgleichsbeziehungen steht damit in einem
grundlegenden Spannungs-
verhältnis zwischen der Effizienz des staatlichen
Leistungsangebots einerseits und vertikalen
wie horizontalen Ausgleichszielen andererseits.11
2.1 Zum ökonomischen Grundverständnis des Finanzausgleichs: Der
Vorrang von
Effizienz- vor Verteilungsfragen
Aus Sicht der ökonomischen Theorie des Fiskalföderalismus steht
die Lösung eines Optimie-
rungsproblems im Mittelpunkt der Gestaltung eines
Finanzausgleichssystems. Es geht dabei
um die Frage, wie öffentliche Aufgaben und finanzielle Mittel
auf verschiedene Staatsebenen
aufgeteilt werden sollten, damit eine angemessen Bereitstellung
staatlicher Leistungen ge-
währleistet ist.12 Erst auf dieser Grundlage lassen sich
konkrete Finanzausgleichsbeziehungen
– etwa zwischen Land und Kommunen – innerhalb eines bestehenden
föderalen Systems be-
urteilen. Zu diesem Zweck werden bestimmte Gestaltungsgrundsätze
formuliert, die in erster
Linie allokationstheoretischer Natur sind.13 Bezogen auf die
Aufgabenzuordnung sollte eine
10 So sind in der Begründung der Verfassungsbeschwerde von 76
Seiten allein 55 Seiten der Unterfi-
nanzierungsthese gewidmet. 11 Siehe hierzu auch
Dickertmann/Gelbhaar (1996) oder auch Zimmermann (1983). Siehe für
eine
Zusammenfassung der ökonomischen Sicht auf den Finanzausgleich
auch Döring (2005). 12 Siehe grundlegend zur
Fiskalföderalismustheorie Musgrave (1959), Pennock (1959), Oates
(1972)
sowie Breton/Scott (1978. Siehe für neuere Beiträge Weingast
(2009) oder auch Oates (2005. 13 Siehe als Überblick Kirsch (1984),
Postlep (1993) oder auch Wildasin (1996).
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Zuständigkeitsverteilung unter Effizienzaspekten dabei
bekanntermaßen so erfolgen, dass eine
räumliche Koinzidenz von Entscheidern, Nutznießern und
Kostenträgern des öffentlichen
Güterangebots besteht. Streut der Nutzen staatlicher Leistungen
in Abhängigkeit von den
Bürgerpräferenzen räumlich unterschiedlich stark, ist eine
effiziente Versorgung im Sinne
von auf die Wünsche der Bürger abgestimmter öffentlicher
Leistungen nur dann zu erwarten,
wenn die Zuständigkeitsverteilung sich am Grundsatz der
institutionellen Kongruenz orien-
tiert.14 Eine Erfüllung dieses Grundsatzes spricht in vielen
Bereichen der staatlichen Leis-
tungsbereitstellung für eine weitgehend dezentrale
Angebotsplanung, die im Ergebnis zu einer
räumlich divergierenden Versorgung mit öffentlichen Gütern
führt. Zugespitzt ließe sich auch
formulieren, dass der Vorteil eines Finanzausgleichssystems aus
ökonomischer Sicht nicht in
der Herstellung gleichwertiger oder gar einheitlicher
Lebensverhältnisse besteht, sondern in
der Betonung vorhandener Unterschiede zwischen
Gebietskörperschaften, die unter Effizienz-
aspekten zugelassen und nicht vorschnell durch eine zu stark auf
Verteilungs- und Gerechtig-
keitsziele ausgerichtete Ausgestaltung des Finanzausgleichs
nivelliert werden sollten.
Neben der angemessenen Aufgabenverteilung stellt sich in jedem
Finanzausgleichssystem
auch die Frage nach der zweckmäßigen institutionellen Zuordnung
von Ausgaben und Ein-
nahmen. Aus Sicht der Theorie des Fiskalföderalismus ist eine
umfassende Verwirklichung
der Effizienzvorteile eines föderalen Systems nur dann zu
erwarten, wenn auch bezogen auf
die Ausgestaltung der fiskalischen Beziehungen zwischen Bund,
Ländern und Kommunen
bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Um die aus allokativen
Gründen wünschenswerte
politische Selbst- und Eigenverantwortung – die sich nicht
zuletzt auch in der kommunalen
Selbstverwaltungsgarantie spiegelt – zu stärken, gilt eine
Orientierung der Ausgabenzuord-
nung an der Verteilung der Aufgaben als zweckmäßig. Eine
entsprechende Ausgabenzuord-
nung wird mit der Realisierung des Prinzips der Konnexität
gleichgesetzt.15 Nordrhein-
Westfalen hat mit der Änderung von Art. 78 Abs. 3 LV und mit dem
Konnexitätsausfüh-
rungsgesetz vom 22. Juni 200416 den Übergang zum dualistischen
Modell der Finanzverfas-
sung vollzogen.17 Danach verlangt die Auferlegung bestimmter
zusätzlicher Aufgaben für die
Kommunen, dass das Land gleichzeitig auch eine Entscheidung über
die Finanzierung der
Kosten trifft, um eine angemessen Finanzausstattung der Kommunen
zu gewährleiten. Unter
anderen auf diese Regelung ist es zurückzuführen, dass die
gesamten Zuweisungen des Lan-
des an die Kommunen in der jüngeren Vergangenheit stark
angestiegen sind.18
Die unter Effizienzaspekten geforderte Selbstverantwortung
dezentraler Gebietskörperschaf-
ten (Kommunen, Länder) setzt zudem voraus, dass zusätzlich zur
Aufgaben- und Ausgaben-
autonomie auch eine größtmögliche Einnahme- bzw. Steuerautonomie
auf den verschiedenen
Staatsebenen besteht. Eine hohe finanzielle Selbstverantwortung
wird somit als Grundlage
einer möglichst effizienten Aufgabenerfüllung angesehen. Bezogen
auf die Finanzierung
kommunaler Aufgaben folgt daraus, dass die Zuweisungen aus dem
kommunalen Finanzaus-
gleich aus ökonomischer Sicht einen subsidiären Charakter
besitzen, d.h. sie fungieren ledig-
14 Siehe Olson (1969) oder auch Blankart (2006). Siehe hierzu
auch Döring (2001, S. 41ff.). 15 Siehe zum Konnexitätsprinzip und
seinen verschiedenen Varianten Geske (1999) oder auch Döring
(2004). Siehe darüber hinaus auch Müller/Meffert (2006). 16 GV.
NRW, Ausgabe 2004, Nr. 23, S. 359-374. 17 Im Unterschied zum
dualistischen Modell wird im monistischen Modell den Kommunen
lediglich
eine quantitativ ausreichende Finanzausstattung für den
Gesamtbestand ihrer Aufgaben gewährt. Siehe hierzu Meffert/Müller
(2008, S. 8). Bis zur Änderung von Art. 78 Abs. 3 LV galt in
Nord-rhein-Westfalen das Konnexitätsprinzip bereits als gewahrt,
wenn den Kommunen im kommunalen Finanzausgleich ohne konkreten
Aufgabenbezug allgemeine Mittel zur Verfügung gestellt wurden.
18 So hat sich etwa die Finanzausstattung, die das Land den
Kommunen insgesamt in den Jahren 2000 bis 2008 zur Verfügung
gestellt hat, deutlich positiver entwickelt (+ 17,2 %) als die
Steuereinnah-men des Landes (+ 11,4 %) oder die gesamten
Landeseinnahmen (+ 13,5 %).
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lich als Ergänzung der originären Einnahmequellen.19 Vor allem
die Realisierung des institu-
tionellen Kongruenzprinzips erfordert hierbei eine weitgehende
Ausschöpfung der Finanzie-
rungsmöglichkeiten aus Entgelten (Erwerbseinkünfte, Gebühren,
Beiträge) und eigenen Steu-
ern (Gewerbesteuer, Grundsteuer, örtliche Aufwand- und
Verbrauchsteuern), um die Effizi-
enzvorteile einer dezentralen Aufgabenerfüllung umfassend zum
Tragen zu bringen.
2.2 Zielsetzungen und Besonderheiten des Finanzausgleichs auf
kommunaler Ebene
Der kommunale Finanzausgleich ist eingebettet in das gesamte
Regelwerk des Finanzausg-
leichssystems im Sinne einer funktionsfähigen Aufgaben-,
Ausgaben- und Einnahmevertei-
lung. Aus finanzwissenschaftlicher Sicht sind dabei primär die
beiden folgenden Funktionen
zu erfüllen:
Eine zentrale Aufgabe des kommunalen Finanzausgleichs besteht in
der Erfüllung der fiskalischen Funktion, die auf eine Sicherung
bzw. Aufstockung der kommunalen Fi-
nanzkraft in ihrer Gesamtheit ausgerichtet ist. Wesentliche
Zielsetzung ist dabei, die
„Finanzquellen der Kommunen [zu] ergänzen und subsidiär die
Finanzmasse der Ge-
samtheit der Kommunen so auf[zu]stocken, dass die finanzielle
Möglichkeit zu eigen-
verantwortlicher sachgerechter […] Verwaltungstätigkeit gegeben
ist“.20
Eine weitere zentrale Aufgabe des kommunalen Finanzausgleichs
stellt die Erfüllung der redistributiven Funktion dar, die darin
besteht, teilweise deutlich ausgeprägte hori-
zontale Steuerkraftunterschiede zwischen den Kommunen zu
mindern.21 Dabei ist
hervorzuheben, dass ausschließlich interkommunal bestehende
strukturbedingte fiska-
lische Disparitäten ausgeglichen werden sollen, nicht jedoch
solche Unterschiede zwi-
schen den Kommunen, die auf autonom zu verantwortende (und damit
eigene finanz-
politische) Entscheidungen zurückzuführen sind.
Unter besonderer Berücksichtigung der beiden zentralen Aufgaben
– der fiskalischen und der
redistributiven Funktion – enthält der kommunale Finanzausgleich
insofern eine vertikale
Komponente, als er die Finanzmittelverteilung zwischen der
jeweiligen Landesebene und den
Kommunen eines Landes in ihrer Gesamtheit steuern soll. Darin
spiegelt sich der Sachverhalt,
dass in Deutschland die Kommunen nicht in hinreichendem Maße mit
eigenen Einnahmequel-
len ausgestattet sind (Stichwort: „fiscal gap“) und daher
systembedingt ein permanenter Be-
darf für Zuweisungen seitens des Landes besteht.22 Daneben wirkt
der kommunale Finanz-
ausgleich auch horizontal ausgleichend im Hinblick auf die
angemessene Finanzausstattung
der Kommunen im Verhältnis untereinander. Insgesamt soll auf
diese Weise ein möglichst
gleichmäßiges Niveau öffentlicher Leistungen in den Kommunen
eines Landes gesichert wer-
den. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der durch den
Finanzausgleich bewirkte
Ausgleich zwischen Finanzkraft und Finanzbedarf nicht
nivellierend sein sollte.23 Diesbezüg-
lich kann vor allem auf zwei grundlegende Fehlanreize verwiesen
werden: Zum einen verbin-
det sich mit jedem Transfer- bzw. Zuweisungssystem – so auch mit
dem kommunalen Fi-
19 Siehe hierzu etwa Zimmermann (2009, S. 115ff.). 20 Vgl.
Henneke (2002, S. 146). Siehe hierzu ebenso Reding (1995, S. 534)
oder auch Schwarz (1997,
S. 25), der feststellt, dass der „als Komplementärsystem zu den
originären Einnahmen anzusehende Gemeindefinanzausgleich […] die
kommunale Finanzmasse insgesamt aufstocken“ soll.
21 Vgl. Schwarz (1997, S. 25). Siehe auch Henneke (2002, S.
146). 22 Allerdings stellt Zimmermann (2009, S. 224) in diesem
Zusammenhang auch fest: „Wenn der
Zweck lediglich darin besteht, der Gemeindeebene insgesamt
genügend Mittel zur Verfügung zu stellen, d.h. eine fiskalische
Lücke zu vermeiden, so sollte dies an sich überhaupt nicht durch
Zu-weisungen, sondern durch vermehrte Einnahmen ‚aus eigenen
Quellen‘ geschehen“.
23 Vgl. Schwarz (1997, S. 26). Siehe hierzu auch Reding (1995,
S. 539f.).
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nanzausgleich – der Effekt, das notwendige realwirtschaftliche
Anpassungen in Gebietskör-
perschaften (Kommunen) mit wirtschaftlichen Strukturproblemen
hinausgezögert werden
(„Moral-hazard-Problem“). Zum anderen lassen sich
Transfersysteme auch als eine Art „Bail-
out-Zusage“ interpretieren, d.h. Gebietskörperschaften mit einer
defizitären Haushaltspolitik
haben aufgrund in Aussicht stehender Transfers einen nur
geringen Anreiz zur Haushaltskon-
solidierung mit der Folge, dass Anstrengungen zur Ausweitung der
eigenen Steuer- und Ein-
nahmekraft nicht im notwendigen Umfang erfolgen. Sowohl die
beiden zuletzt genannten
Punkte als auch die weiten oben genannten allgemeinen
Gestaltungsprinzipien eines Finan-
zausgleichssystems sind bei einer Bewertung der Forderung nach
institutioneller Absicherung
einer kommunalen Mindestfinanzausstattung zu
berücksichtigen.
3 Ökonomische Bewertung der Forderung nach institutioneller
Absicherung einer
kommunalen Mindestfinanzausstattung
Das Streitthema um eine angemessene Finanzausstattung der
Kommunen hat sich über
Nordrhein-Westfalen hinaus zu einem Dauerbrenner in der
finanzpolitischen Auseinanderset-
zung zwischen Landes- und Kommunalebene entwickelt.24 Bei dem
aus kommunaler Sicht
häufig formulierten Vorwurf einer nur unzureichenden
Finanzausstattung steht dabei nicht
allein die aufgrund geringerer Haushaltsmittel sinkende Lebens-
und Standortqualität auf lo-
kaler Ebene im Vordergrund. In einer den kommunalen Aufgaben
nicht angemessenen Fi-
nanzausstattung wird vielmehr eine Gefährdung des
grundgesetzlich verankerten Rechts auf
kommunale Selbstverwaltung gesehen. Angesichts dessen kann nicht
überraschen, dass auch
mit Blick auf die Verfassungsbeschwerde in Nordrhein-Westfalen
dieser Entwicklung von
Seiten der Kommunen mit der Forderung nach einer
institutionellen Absicherung der finanzi-
ellen Mindestausstattung sowohl im Rahmen der Landesverfassung
als auch bezogen auf den
kommunalen Finanzausgleichs begegnet wurde. Inwieweit das
bisherige Fehlen einer solchen
Absicherung als ein grundlegendes Defizit des bestehenden
institutionellen Regelwerks und
damit als Ursache der krisenhaften Entwicklung der
Kommunalfinanzen in Nordrhein-
Westfalen zu bewerten ist, bedarf aus ökonomischer Sicht jedoch
einer genaueren Prüfung.
3.1 Zur Zweckmäßigkeit einer kommunalen
Mindestfinanzausstattung
Auseinandersetzungen um die Mittelverteilung zwischen den
föderativen Ebenen sind kei-
neswegs neu. Aus Sicht der Finanzwissenschaft wurden diese in
der Vergangenheit allerdings
vornehmlich bezogen auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern
betrachtet.25 Grundsätz-
lich sind die dabei gewonnen Erkenntnisse aber auch auf das
Verhältnis zwischen Ländern
und ihren Kommunen übertragbar. Vor diesem Hintergrund soll hier
zunächst die Zweckmä-
ßigkeit einer kommunalen Mindestfinanzausstattung in Abwägung
mit dem Finanzierungsbe-
darf staatlicher Aufgaben näher betrachtet werden. Aus
ökonomischer Sicht ist eine solche
Abwägung zwingend erforderlich, weil nur auf diese Weise die
Opportunitätskosten einer
kommunalen Mindestfinanzausstattung aufgezeigt werden können.
Damit eng verknüpft ist
die Beantwortung der Frage, wie der Ausgabenbedarf von Land und
Kommunen objektiv be-
stimmen werden kann. In diesem Zusammenhang werden aus
rechtswissenschaftlicher Sicht
häufig auch sogenannte prozedurale Lösungen zur Absicherung der
kommunalen Finanzaus-
24 Siehe zu den nachfolgenden Ausführungen auch Döring (2007).
25 Siehe hierzu bereits das Gutachten zur Einnahmenverteilung
zwischen Bund und Ländern der so-
genannten Tröger-Kommission aus dem Jahr 1966, das hinsichtlich
der Charakterisierung der Prob-leme im Bereich der vertikalen
Finanzverteilung sowie der diesbezüglich seitens der Wissenschaft
verfügbaren Problemlösungsmöglichkeiten nichts an Aktualität
verloren hat. Siehe Kommission für die Finanzreform (1966).
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9
stattung (z.B. in Form des Modells einer
Finanzverteilungskommission) vorgeschlagen, auf
die an späterer Stelle noch ausführlicher eingegangen
wird.26
Für eine ökonomisch angemessene Bewertung von Fragen der
vertikalen Finanzverteilung ist
von der grundlegenden Annahme auszugehen, dass eine „angemessene
Finanzausstattung“ die
notwendige Voraussetzung für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben
auf jeder staatlichen Ebe-
ne (und jeder einzelnen Gebietskörperschaft) in einem
föderativen System ist und somit –
neben der Ebene der Kommunen – auch für die Ebene von Bund und
Ländern gilt. Die Forde-
rung als solche kann nicht ausschließlich für die Kommunen
erhoben werden. Sie zeigt insbe-
sondere unter den gegenwärtigen Bedingungen, in denen gewachsene
(Ausgaben-)Ansprüche
auf allen Ebenen des föderativen Systems aufgrund faktisch
rückläufiger Einnahmen und da-
mit allgemein knapper Finanzmittel nicht mehr vollständig
befriedigt werden können, keinen
Ausweg aus dem allseits bestehenden staatlichen
Finanzierungsdilemma.
Aus rechtswissenschaftlicher Sicht wird der Vorschlag zugunsten
eines verfassungsrechtli-
chen Schutzes der kommunalen Finanzausstattung häufig von der
Kernthese geleitet, dass
kommunale Selbstverwaltung eine „unantastbare
Mindestfinanzausstattung“ voraussetzt, die
landesseitig garantiert werden müsse.27 Entsprechend seien in
Zeiten knapper Mittel finanziel-
le Kürzungen nur für einen „Randbereich“ der kommunalen
Zuständigkeiten zulässig. Aus
dieser Annahme wird die Forderung nach einer rechtlichen
Absicherung der Mindestfinanz-
ausstattung abgeleitet. Anderenfalls könnten und würden die
Länder durch Mittelkürzungen
den „unantastbaren Kernbestand“ der kommunalen Selbstverwaltung
verletzen und so die
grundgesetzlich gesicherte kommunale Selbstverwaltung
beeinträchtigen. Vor diesem Hinter-
grund sind die nachfolgenden Ausführungen auf eine ökonomische
Kritik der Forderung nach
einer garantierten kommunalen Mindestfinanzausstattung
ausgerichtet.
Geht man davon aus, dass die landesinterne Organisation
staatlicher und kommunaler Aufga-
ben zentraler Bestandteil der Eigenständigkeit und damit der
Finanzautonomie der Länder ist,
beinhaltet die Forderung nach einer kommunalen
Mindestfinanzausstattung aus ökonomischer
Sicht eine Vorabverteilung von Mitteln an die kommunalen
Aufgabenbereiche. Im Ergebnis
bedeutet dies aber eine Herabstufung in der Wertigkeit der
Landesaufgaben, da diese aus dem
Residuum – nach Vorwegabzug der kommunalen Mindestausstattung –
finanziert werden
müssten.28 Einer derart der politischen Entscheidungsfindung
entzogenen Vorabverteilung
von Mitteln an die Kommunen ist jedoch nur begrenzt mit
ökonomischen Überlegungen in
Einklang zu bringen. Dies gilt zum einen unter einer
politökonomischen Perspektive, die zwar
institutionelle Bindungen in der Verteilung und Verwendung von
staatlichen Finanzmitteln
aufgrund eines latenten Misstrauens gegenüber dem
Entscheidungsverhalten politischer Ak-
teure befürwortet29, deren einseitige Anwendung (hier: nur
bezogen auf den Landesgesetzge-
ber) aber für wenig zweckmäßig zu erachten ist. Dies gilt zum
anderen aber auch unter der
allgemeinen Perspektive einer dynamischen Allokationseffizienz
in der Verwendung öffentli-
cher Mittel.30 Denn unter der realistischen Annahme von sich im
Zeitablauf verändernden
26 Siehe hierzu die Ausführungen im Teilkapitel 3.4 des
vorliegenden Beitrags. 27 Siehe hierzu stellvertretend
Schoch/Wieland (2004). 28 Vor diesem Hintergrund kann nicht
überraschen, dass es parallel zur Diskussion um eine aufgaben-
angemessene kommunale Finanzausstattung auch eine solche um die
„Voraussetzungen einer auf-gabenadäquaten Finanzausstattung der
Länder“ gibt. Siehe hierzu Bofinger et al. (2008).
29 Für eine grundlegende Darstellung politökonomischer Ansätze
und deren Anwendung auf den Bereich der öffentlichen
Finanzwirtschaft siehe Blankart (2006).
30 Siehe Musgrave et al. (1994, S. 211f.), die auf eine
notwendige Berücksichtigung von unter anderen der „Dynamik der
ökonomischen Entwicklung“, der „Entwicklung von Nutzen- und
Kostenprofi-len im Zeitablauf“ oder auch der „zukünftigen Nachfrage
nach [...] Leistungen“ verweisen.
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10
Bürgerpräferenzen in der Nachfrage nach öffentlichen Leistungen,
aber auch unter der Erfah-
rung sich stetig wandelnder ökonomischer Rahmenbedingungen und
damit verbindender Ge-
wichtsverschiebungen in den Aufgabenbündeln von Bund, Ländern
und Kommunen kann
eine wie auch immer geartete Vorfestlegung bezüglich der
Verwendung der verfügbaren Res-
sourcen nur als suboptimal bewertet werden. Daraus folgt
zugleich, dass die Kommunen kei-
nen Anspruch auf eine einmal erreichte Finanzmittelausstattung
bezogen auf die Struktur des
kommunalen Finanzausgleichs geltend machen können. Weder können
die Kommunen ge-
genüber dem Land einen solchen Anspruch einfordern, noch
verfügen die Länder im Verhält-
nis zum Bund über ein Recht auf den Erhalt eines einmal
erreichten finanziellen Status quo.
3.2 Gleichrangigkeit der Aufgaben von Land und Kommunen
Mit der zuletzt getroffenen Feststellung im Einklang steht die
Einschätzung, dass die Ausei-
nandersetzung um die relativen Gewichte einzelner staatlicher
Aufgabenbereiche zu den ori-
ginären Aufgaben der Politik zu rechnen ist. Sie muss die
Verantwortung für stärkere und
schwächere Gewichtungen einzelner Politikfelder übernehmen und
diese Verantwortung ge-
gebenenfalls (nach Ablauf der Wahlperiode) auch wieder abgeben.
D.h. es ist die Aufgabe des
Gesetzgebers, die erforderlichen komplexen Einschätzungen,
Beurteilungen und Bewertungen
vorzunehmen und den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem er auf
veränderte Rahmenbedingun-
gen, neue Erkenntnisse und gewandelte Präferenzen bei der
Regelung der vertikalen Finanz-
mittelverteilung reagiert. Dies gilt umso mehr, wie es neben dem
kommunalen Selbstverwal-
tungsrecht noch zahlreiche andere, gleichwertige „Rechtsgüter“
zu schützen bzw. bereitzustel-
len gilt (Innere Sicherheit, Bildung, Justiz etc.), so dass der
den Kommunen verfügbare finan-
zielle Spielraum für die Erfüllung von Selbstverwaltungsaufgaben
– insbesondere in einer
Situation sehr knapper finanzieller Möglichkeiten (des Landes) –
über die geltenden rechtli-
chen Bestimmungen hinaus nicht in normierter Form vorgegeben
sein kann.
Bei einem gegebenen Volumen an zu verteilenden Finanzmitteln und
einer faktischen Vorab-
reservierung von Mitteln für kommunale Zwecke könnte der
Landesgesetzgeber seine politi-
sche Entscheidung nur durch Schulden31, zusätzliche Einnahmen
und/oder überproportionale
Einsparungen in anderen landespolitischen Politikfeldern
umsetzen. Zugleich würde das Land
auch weiterhin als „Letztversicherer“ für den Fall (extremer)
fiskalischer „Schieflagen“ auf
der kommunalen Ebene in Anspruch genommen werden. Dies kann
jedoch – bei Finanzierung
staatlicher und kommunaler Ausgaben aus nur einem Einnahmetopf –
kaum ernsthaft ge-
wünscht sein. Die Fragwürdigkeit dieses Vorschlags wird
deutlich, wenn man – in einer Art
Gedankenexperiment – von dem entgegengesetzten Fall ausgeht,
dass mittels einer verfas-
sungsrechtlichen Regelung aus den Einnahmen von Land und
Kommunen vorab ein Mittelan-
teil für staatliche Zwecke, so etwa für den Bereich der Inneren
Sicherheit, für Familienpolitik,
für Bildungs- oder Hochschulpolitik (als Länderkompetenzen),
entnommen wird. Dies würde
zwangsläufig zu einem relativ geringeren Gewicht kommunaler
Belange führen. Angesichts
dessen kann die Forderung nach einer kommunalen
Mindestfinanzausstattung als ein Versuch
bewertet werden, den bestehenden Politik- und
Parlamentsvorbehalt in der Gestaltung des
kommunalen Finanzausgleichs außer Kraft zu setzen und durch
einen Vorrang der Kommu-
nen gegenüber dem Landtag zu ersetzen.
31 Mit Blick auf die Schuldenfinanzierung von Landesaufgaben
gilt es dabei zudem zu berücksichti-
gen, dass das Land angesichts der neuen verfassungsrechtlichen
Verschuldungsgrenzen (Stichwort: Schuldenbremse) zukünftig noch
weniger in der Lage sein wird, etwaige Mehrbedarfe oder
Minder-einnahmen durch Kreditaufnahme zu finanzieren. Siehe
grundsätzlich zu den im Rahmen der Fö-deralismusreform II
beschlossenen neuen Schuldenregeln die Beiträge von
Kremer/Stegarescu (2009) sowie Feld/Schnellenbach (2009).
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11
Darüber hinaus ist aus ökonomischer Sicht eine Definition von
kommunaler Selbstverwal-
tung, der zufolge Selbstverwaltung nur durch Verausgabung von
Finanzmitteln gewährleistet
ist, in Zeiten knapper öffentlicher Mittel als nicht sachadäquat
einzustufen. Im Gegensatz da-
zu und aus der Perspektive einer auf den Staat angewendeten
Innovationsökonomik32 könnte
kommunale Selbstverwaltung vielmehr gerade auch als Instrument
zu einem kreativen Um-
gang mit knappen Mitteln genutzt werden.33 Vor diesem
Hintergrund sollte sich eine moderne
kommunale (Selbst-)Verwaltung dem bestehenden Trend zur
Privatisierung, Deregulierung
und Konsolidierung nicht entziehen.34
Schließlich ist drittens davon auszugehen, dass in einer
Gesamtschau von Land und Kommu-
nen die verfassungsrechtliche Absicherung einer kommunalen
Mindestfinanzausstattung
nichts anderes bedeutet als eine einseitige Verbesserung der
kommunalen Haushaltsposition,
während diejenige des Landes sich verschlechtert. Hierzu wurde
bereits von anderen Autoren
angemerkt: „Aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung folgt
indessen nicht, dass den
Gemeinden und Gemeindeverbänden ein bestimmter und gleich
bleibender Bestand an Fi-
nanzmitteln zur Erfüllung ihrer Aufgaben garantiert ist.
Vielmehr kann die Frage der Ange-
messenheit der kommunalen Finanzausstattung wegen der
Gleichrangigkeit der Aufgaben von
Bund, Ländern und Kommunen nur unter gleichzeitiger
Berücksichtigung der übrigen im Fi-
nanzverbund zusammengeschlossenen Körperschaften und ihrer
Aufgaben und Belange be-
antwortet werden“.35
In der Summe der genannten Argumente kann festgehalten werden,
dass der Inhalt der Ge-
währleistung einer aufgabenangemessenen Finanzausstattung nicht
allein aus Sicht der kom-
munalen Ebene bestimmt werden kann. Vielmehr ist grundlegend von
einer Gleichrangigkeit
der Aufgaben und Ausgaben von Land und Kommunen auszugehen.36
Diese Feststellung
steht in enger Verbindung mit dem Problem, dass aus
finanzwissenschaftlicher Sicht eine ob-
jektive Bestimmung der Ausgabenbedarfe von Land und Kommunen –
und damit indirekt
auch eine Abwägung von deren Dringlichkeit – faktisch nicht
möglich ist.
32 Siehe hierzu etwa Blancke (2003, S. 31ff.). Siehe auch
Feld/Schnellenbach (2004, S. 259ff.). 33 Mit anderen Worten
ausgedrückt, stellt die ständige Forderung nach „mehr Geld“ zur
Bereitstel-
lung von in Quantität und Qualität interkommunal identischer
(bzw. standardisierter) Leistungen nur eine Seite der Medaille dar.
So verweisen auch Anton/Diemert (2009, S. 46) auf „die Gefahren,
die sich durch diese Standardisierung für die kommunale
Selbstverwaltungshoheit ergeben“.
34 Zwar ist diesbezüglich mit Blick auf die gegen das GFG 2008
Beschwerde führenden Städte des Kreises Recklinghausen
festzustellen, dass in der Vergangenheit Privatisierungs- ebenso
wie Konso-lidierungsanstrengungen unternommen wurden. Eine
zusammenfassende Darstellung von entspre-chenden Maßnahmen mit
Blick auf die Kommunen des Kreises Recklinghausen findet sich in
Junkernheinrich et al. (2009, S. 82ff.). Erstens ist jedoch offen,
inwieweit hierbei die bestehenden Potenziale bereits hinreichend
ausgeschöpft wurden. Zweitens ist zu kritisieren, dass ein Teil
dieser Maßnahmen lediglich der kurzfristigen Einnahmeerzielung
unter Vernachlässigung der sich daraus langfristig für die
kommunalen Haushalte ergebenden fiskalischen Belastungen diente.
Siehe hierzu im Detail Döring et al. (2010, S. 110).
35 Vgl. Henneke (2000, S. 323). Mit ähnlichem Wortlaut hat
bereits der Verfassungsgerichtshof des Landes Rheinland-Pfalz in
einem Urteil vom 5. Dezember 1977 zur kommunalen Finanzhoheit und
der Aufwendungen für den übertragenen Wirkungskreis festgestellt,
dass infolge der „Einbettung der gemeindlichen Finanzhoheit in ein
Gesamtgefüge des Lasten- und Finanzausgleichs [...] die Frage der
Angemessenheit der kommunalen Finanzausstattung jeweils nur unter
gleichzeitiger Be-rücksichtigung der übrigen im Finanzverbund
zusammengeschlossenen Körperschaften und ihrer Aufgaben und Belange
beantwortet werden“ kann (VGH 2/74). Siehe auch die Entscheidung
des Verfassungsgerichtshofs Nordrhein-Westfalen vom 9. Juli 1998
(VerfGH 16/96, 7/97).
36 Siehe hierzu auch Hardt/Schmidt (1998, S. 49ff.), die in
ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis kommen, dass „kommunale Aufgaben
mit Landesaufgaben ebenso wenig vergleichbar sind wie Landes- mit
Bundesaufgaben“.
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12
3.3 Selbstverwaltungsgarantie und objektive Bestimmung des
kommunalen
Finanzierungsbedarfs
3.3.1 Notwendige Ausgaben und zwingende Ausgabenbedarfe
Die fehlende Möglichkeit zur Abwägung der Vorrangigkeit von
Ausgabenbedarfen von Land
und Kommunen macht deutlich, dass die Forderung nach einer
Mindestfinanzausstattung der
jeweiligen Kommunen eines Landes auch rein technisch zu
erheblichen Umsetzungsproble-
men führen würde. Der bisweilen in der juristischen Literatur
diesbezüglich zu findende Ver-
weis auf die Rolle der Finanzwissenschaft bei der
Operationalisierung des „Konzeptes“ einer
den kommunalen Aufgaben angemessenen Finanzausstattung ist
lediglich ein Kunstgriff, um
die Tatsache zu verschleiern, dass aus ökonomischer Sicht eine
exakte Konkretisierung nicht
möglich ist.37 Die notwendige Voraussetzung für eine
entsprechende technische Umsetzung
wäre, dass als zwingend anzusehende kommunale Ausgabenbedarfe
bzw. als notwendig zu
bewertende kommunale Aufgaben und Ausgaben objektiv
identifiziert werden könnten. Eine
objektive Quantifizierung solcher „Bedarfe“, „notwendigen
Aufgaben und Ausgaben“ etc. ist
bislang jedoch nicht gelungen und wird absehbar auch in Zukunft
nicht gelingen. Alle bis
dato unternommenen Versuche, in diesem Bereich zu methodisch
belastbaren Ergebnissen zu
gelangen, sind fehlgeschlagen, weil die jeweilige
Erforderlichkeits- und Dringlichkeitsbewer-
tung nicht finanzwissenschaftlich geleistet werden kann.
Inwieweit die ökonomische Finanz-
ausgleichsforschung hier zukünftig – und sei es auch nur in Form
einer Annäherung an eine
solche Quantifizierung – zu neuen und für die
Finanzausgleichspraxis verwertbaren Untersu-
chungsergebnissen gelangt, bleibt bezogen auf den aktuellen
Stand des Wissens in diesem
Bereich abzuwarten.38
Als exemplarisch für dieses Bewertungsdilemma kann die
Umsatzsteuerverteilung zwischen
Bund und Ländern gelten. Es hat sich dabei in einer Reihe von
finanzwissenschaftlichen Gut-
achten und Publikationen gezeigt, dass die Kategorie der
„notwendigen Ausgaben“ (im über-
tragenen Sinne: die Mindestfinanzausstattung) nicht hinreichend
konkretisiert oder gar quanti-
fiziert werden kann. Der Methodenstreit dauert seit den 1970er
Jahren an und ist letztlich kei-
nen Schritt weitergekommen.39 Aus eben diesem Grund hat auch das
„Maßstäbegesetz“ zum
bundesstaatlichen Finanzausgleich keine über das Grundgesetz
hinausgehende Konkretisie-
rung vornehmen können. Der aus rechtswissenschaftlicher Sicht in
diesem Zusammenhang
formulierte Vorschlag, das Modell des „Maßstäbegesetzes“ auf den
kommunalen Finanzaus-
gleich zu übertragen40, um auf diese Weise zu inhaltlichen
Entscheidungsvorgaben bei der
Bestimmung der den Kommunen zuzuwenden Finanzmittel zu gelangen,
muss vor diesem
Hintergrund als wenig hilfreich bewertet werden. Im Rahmen der
ökonomischen Finanzaus-
gleichsforschung gilt vielmehr uneingeschränkt die Erkenntnis,
dass eine Algorithmisierung
oder Schematisierung der vertikalen Finanzmittelverteilung nicht
gelingen kann. Weiterhin
sind auch die „Begriffe ‚aufgabenangemessene Finanzausstattung‘
und ‚Mindestausstattung‘
[…] empirisch nicht quantifizierbar. Die Ausgabenintensität
hängt ab von der Effizienz der
Aufgabenerfüllung, und im Ländervergleich sind die kommunalen
Finanzausstattungen auf
37 Siehe für entsprechende Verweise in juristischen Beiträgen
zum Thema wiederum Schoch/Wieland
(2004). In einer eher kritischen Sicht siehe hierzu ebenso
Dombert (2006, S. 1139f.). 38 Siehe hierzu etwa die verschiedenen
internationalen Beiträge in Kim/Lotz (2007). 39 Siehe hierzu
Sachverständigenkommission zur Vorklärung finanzwissenschaftlicher
Fragen für
künftige Neufestlegungen der Umsatzsteueranteile (1981). Siehe
auch Wolf (1982, S. 251ff.), Wis-senschaftlicher Beirat beim
Bundesministerium der Finanzen (1996), Peffekoven (1999),
Wissen-schaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen
(2000) oder auch Institut für Weltwirt-schaft: (2001). Siehe für
eine Zusammenfassung der Diskussion Döring (2001, S. 251ff.).
40 Siehe hierzu etwa Dombert (2006, S. 1142) mit weiteren
Literaturnachweisen.
-
13
Grund von Unterschieden in der Aufgabenverteilung zwischen Land
und Gemeinden kaum zu
vergleichen“.41
Dieses Problem lässt sich auch nicht dadurch umgehen, dass „auf
in der Betriebswirtschafts-
lehre entwickelte Verfahren zu den Normkosten der
Produkterstellung“42 Bezug genommen
wird. Eine Bedarfsermittlung mittels der Verwendung
entsprechender Kostensätze würde es
erforderlich machen, die Aufgaben einer jeden Gemeinde exakt zu
definieren und die mit der
Erfüllung dieser Aufgaben verbundenen Kosten zu ermitteln. Dazu
wäre im Vorfeld eine poli-
tische Festlegung entsprechender Ausstattungsstandards
erforderlich, was jedoch dem Grund-
gedanken der kommunalen Selbstverwaltung zuwider laufen würde:
„Den unterschiedlichen
örtlichen Verhältnissen und den politischen Entscheidungen vor
Ort könnte dabei nicht Rech-
nung getragen werden“.43 Oder anders ausgedrückt: Bei einer
originären, an objektiven Maß-
stäben wie den Normkosten ausgerichteten Bedarfsermittlung
„müssten im ersten Schritt die
Aufgaben der einzelnen Kommunen sowie das notwendige Maß der
Aufgabenerfüllung fest-
gelegt werden. Im zweiten Schritt wären dann die mittleren
Kosten der Aufgabenerfüllung je
Aufgabeneinheit (z.B. Kosten pro Meter Kreisstraße) zu
ermitteln. Durch Multiplikation der
beiden Größen würden die Kosten der Aufgabenwahrnehmung jedes
einzelnen Aufgabenbe-
reichs berechnet. Der Finanzbedarf einer Kommune ergäbe sich
dann aus der Summe der
Kosten der Einzelbereiche. Entsprechend würde sich der gesamte
Finanzbedarf der kommuna-
len Ebene aus der Summe der Bedarfe der einzelnen kommunalen
Gebietskörperschaften zu-
sammensetzen. Der Vorteil einer originären Bedarfsermittlung
läge darin, dass der Finanzbe-
darf der kommunalen Ebene unabhängig von der finanziellen Lage
des Landes und den zur
Verfügung stehenden Mitteln bestimmt würde […] Gegen eine
originäre, aufgabenbezogene
Bedarfsermittlung spricht jedoch zum einen, dass sie im
eklatanten Widerspruch zum kom-
munalen Selbstverwaltungsrecht steht. Zum anderen ist die
Ermittlung von effizienten (nicht
von tatsächlichen) Kostensätzen kaum möglich. Schließlich wäre
das Verfahren reichlich
kompliziert“.44
Aufgrund dieser Problemlage sind die meisten
Finanzausgleichssysteme daher einnahme-
orientiert. In diesem Zusammenhang stellen die im Rahmen einer
vergleichenden Analyse
von Landes- und Kommunalhaushalten häufig verwendeten Parameter
(Finanzierungssaldo,
Schuldenstand, Zinsbelastung etc.) lediglich Hilfskonstrukte
dar, auf die zwar angesichts feh-
lender Alternativen zurückgegriffen wird, die aber aufgrund
ihrer „Behelfsmäßigkeit“ immer
wieder zwischen Land und Kommunen kontrovers diskutiert werden.
Auch führt eine auf-
wendige Dokumentation von überdurchschnittlichen Kassenkrediten,
wachsenden Schulden-
ständen, relativer Steuerschwäche, ansteigenden Erhaltungs- und
Sozialausgaben – gepaart
mit entsprechenden Verweisen auf Vermögensveräußerungen und
Konsolidierungsbemühun-
gen – der Kommunen lediglich zu einer Verschiebung des
Grundproblems einer objektiven
Bedarfsbestimmung, ohne es jedoch methodisch angemessen zu
lösen. Aus finanzwissen-
schaftlicher Sicht mangelt es hier an umfassenden (und damit
geeigneteren) Indikatoren zur
41 Vgl. Seitz (2007, S. 100). 42 Vgl. Junkernheinrich et al.
(2009, S. 39). Die weitergehende Feststellung, dass die Anwendung
die-
ser Verfahren „überall, nur im öffentlichen Bereich nicht
möglich sei“ in das „Feld persistenter Fehleinschätzungen“ gehöre
(ebenda), ignoriert jedoch die Besonderheiten des öffentlichen
Sektors im Allgemeinen sowie den Kerngehalt der kommunalen
Selbstverwaltung im Besonderen.
43 Vgl. Bundesministerium der Finanzen (2003). Siehe hierzu auch
Meffert/Müller (2008, S. 10f.). 44 Vgl. Scherf (2003, S. 13), der
zudem anmerkt, dass dieses Verfahren „seine Vorzüge schnell
verlie-
ren [würde], wollte man sich aus diesem Grund auf nur wenige
Aufgabenbereiche beschränken“. Darüber hinaus bliebe strittig, ob
angesichts der festgestellten Gleichrangigkeit der öffentlichen
Aufgabenerfüllung von Land und Kommunen tatsächlich auf eine
Berücksichtigung der finanziel-len Leistungsfähigkeit des Landes
bei der vertikalen Einnahmeverteilung verzichtet werden könnte.
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14
Bestimmung der jeweiligen Finanzlage von Land und Kommunen.45
Zweckmäßig wären sol-
che Indikatoren, die auf empirisch nachgewiesenen Zusammenhängen
zwischen bestimmten
sozioökonomischen Strukturdaten und den Ausgaben von
Gebietskörperschaften beruhen.
Entsprechende Studien liegen bislang jedoch nur in begrenzter
Zahl und – was entscheidend
ist – nur im Bezug auf einzelne kommunale Aufgabenbereiche
vor.46 Ebenfalls lediglich
Hilfskonstrukte bilden die im Rahmen des Finanzausgleichs in der
Vergangenheit entwickel-
ten Verteilungsgrundsätze (z.B. der so genannte
Gleichmäßigkeits- bzw. Symmetriegrund-
satz47 im Verhältnis von Land und Kommunen) oder
Verteilungsverfahren (z.B. das De-
ckungsquoten- oder Deckungslückenverfahren sowie das
Ausgabenquotenverfahren im Rah-
men der Umsatzsteuerverteilung zwischen Bund und Ländern48).
Letztlich führen jedoch auch
diese Ansätze zu keiner nachhaltigen Lösung des zugrunde
liegenden Problems: Unabhängig
davon, welche Indikatoren, Grundsätze oder Verfahren praktisch
zur Anwendung kommen,
muss in jedem Fall vorab eine politisch normative Einigung
zwischen den betroffenen Akteu-
ren (Land und Kommunen) darüber herbeigeführt werden, welche
Kenngrößen oder Verfah-
rensregeln zum Einsatz kommen sollen.
Vor dem Hintergrund der fehlenden Möglichkeit, den Finanzbedarf
nach objektiven Kriterien
nachrechenbar exakt zu bestimmen, muss auch die von Seiten
einzelner Rechtswissenschaft-
ler vorgetragene These als fraglich gelten, dass die
Finanzausstattung einer Kommune den
Anforderungen von Art. 28 Abs. 2 GG dann nicht genügt, wenn
nicht wenigstens 5 % oder
auch 10 % der insgesamt zur Verfügung stehenden Finanzmitteln
für freiwillige Selbstverwal-
tungsaufgaben verwendet werden können.49 Für solche
Quotenmodelle zur Bestimmung der
kommunalen Finanzausstattung gibt es aus ökonomischer Sicht
weder eine sachliche noch
eine methodische Rechtfertigung. Zwar ist mit der
finanzwissenschaftlichen Theorie des op-
timalen Budgets – übertragen auf ein föderativ strukturiertes
Gemeinwesen – die normative
Aussage verbunden, dass das Budget einer Gebietskörperschaft
oder einer Gruppe von Ge-
bietskörperschaften (z.B. das der Kommunen) ausgabenseitig so
lange ausgeweitet werden
sollte, wie der Grenznutzen der Aufgabenerfüllung höher ist als
die Grenzkosten der verrin-
gerten Möglichkeit einer alternativen Bedarfsdeckung durch eine
andere Ebene (z.B. der des
Landes). Unter Anwendung dieses Opportunitätskostenkalküls wäre
eine optimale Einnahme-
verteilung zwischen Land und Kommunen dann realisiert, wenn
Grenznutzen und Grenzkos-
ten der Aufgabenerfüllung auf allen Ebenen ausgeglichen
sind.
Die Umsetzung dieser marginalanalytischen Herangehensweise
scheitert jedoch in der Praxis
nicht – wie bisweilen behauptet50 – am damit verbundenen
erheblichen Informationsbedarf.
Vielmehr führt die konsequente Anwendung der Theorie des
optimalen Budgets zu der
Schlussfolgerung, dass unter der (realistischen) Bedingung
unterschiedlicher Mittelverwen-
dungspräferenzen auf den verschiedenen
Gebietskörperschaftsebenen (d.h. zwischen Land
und Kommunen) ein eindeutiges (optimales)
Finanzverteilungsmuster nicht mehr abgeleitet
45 Siehe stellvertretend für diese Feststellung Schwarting
(2006, S. 130). 46 Siehe für die Ermittlung entsprechender
Indikatoren in ausgewählten Bereichen der kommunalen
Aufgabenerfüllung Baretti/Langmantel (2002, S. 5ff.). Siehe auch
Büttner et al. (2008, S. 92ff.), Baretti (2000, S. 5ff.) sowie
Parsche et al. (1998, S. 31ff.).
47 Siehe zur Erläuterung diese Grundsatzes
Junkernheinrich/Micosatt (1998, S. 13ff.). 48 Siehe zur Erläuterung
der beiden genannten Grundsätze einschließlich der damit
verbundenen
Probleme Wolf (1982, S. 251ff.). Siehe hierzu auch
Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministe-rium der Finanzen
(1996, S. 21ff.) sowie Döring (2001, S. 251f.).
49 Siehe Schoch/Wieland (1995, S. 81f.) oder auch Schoch (1997,
S. 353f.). Siehe zum Quotierungs-modell auch die Ausführungen bei
Henneke (2000, S. 323).
50 Siehe für diese Einschätzung etwa Junkernheinrich (2003).
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15
werden kann. Ein entsprechendes Ergebnis kann vielmehr nur auf
dem Weg einer politischen
Einigung bzw. Verhandlungslösung erzielt werden.51
Aus den genannten Gründen ist das Konzept einer „kommunalen
Mindestfinanzausstattung“
aus finanzwissenschaftlicher Sicht materiell nicht
operationalisierbar. In Anbetracht dessen
kann es nicht überraschen, dass bereits der Bayrische
Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil
vom 28. November 2007 (VerfGH 60, 184) zu dem Ergebnis kommt,
dass keine Aussage da-
rüber möglich ist, wann „der kommunale Finanzausgleich
sachgerecht ist. Eine solche Aussa-
ge ist nämlich untrennbar mit politischen Wertungen verbunden.
So entscheidet z.B. die
Kommune selbstverantwortlich über die Höhe von Umlagen, über die
zumutbare Höhe der
Hebesätze bei den Kommunalsteuern, über die Erschließung
weiterer Einnahmequellen und
über mögliche Einsparpotenziale bei der Aufgabenwahrnehmung.
Deshalb gibt es […] keinen
wissenschaftlich messbaren objektiven Finanzbedarf der
Kommunen“.52 Die mangelnden
Möglichkeiten einer objektiven Quantifizierung des kommunalen
Finanzbedarfs bedeutet al-
lerdings keineswegs, dass innerhalb der Finanzwissenschaft nicht
dennoch versucht wurde,
bestimmte (weitere) Kriterien für die Ermittlung einer
unzureichenden Ausstattung der kom-
munalen Ebene mit finanziellen Mitteln zu definieren. Danach
kann das Recht auf kommuna-
le Selbstverwaltung dann als verletzt gelten, wenn die folgenden
fünf Punkte vorligen53:
Die Einnahmepotenziale in Gestalt der originär vorhandenen
Steuer- und Finanzkraft einer Kommune sind ausgeschöpft.
Sämtliche Einsparpotenziale der Kommunen im Rahmen der
Aufgabenerfüllung wur-den vollständig ausgeschöpft.
Die Kommunen sind – jenseits der Wahrnehmung freiwilliger
Aufgaben – nicht mehr in der Lage, mit den zur Verfügung stehenden
Finanzmitteln die Pflichtaufgaben bzw.
die übertragenen Aufgaben zu finanzieren.
Das Land hat zusätzliche Aufgaben an die Kommunen übertragen
ohne für eine ent-sprechende zusätzliche Finanzausstattung zu
sorgen.
Das Land hat keine ausreichend starke horizontale Umverteilung
zwischen den Kom-munen vorgenommen.
Auch wenn diese Prüfkriterien aus ökonomischer Sicht
ausschließlich kumulativ anzuwenden
sind, soll nachfolgend auf eine genauere Betrachtung der beiden
zuletzt genannten Punkte
verzichtet werden. Zum einen bezieht sich das Argument der
Gewährleistung einer ausrei-
chend starken horizontalen Umverteilung auf die Ausgestaltung
der interkommunalen Vertei-
lungsrelationen im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs und
liegt damit nicht im Fo-
kus der hier im Zentrum stehenden vertikalen
Finanzmittelverteilung zwischen Landes- und
Kommunalebene.54 Zum anderen wurde bezogen auf die Übertragung
von zusätzlichen Auf-
51 Siehe hierzu grundlegend Samuelson (1955, S. 350ff.). Siehe
auch Mackscheidt (1973). In diesen
Kontext ist auch die Aussage von Münstermann (2003, S. 134)
einzuordnen: „Wer sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, einer
gewissen Scheinrationalität das Wort zu reden, muss akzeptieren,
dass es dabei [der vertikalen Finanzmittelverteilung – T.D.] einen
deutlichen Primat der Politik gibt“.
52 Vgl. Bayerischer Landtag (2009, S. 9). 53 Siehe hierzu auch
Döring (2010, S. 254). 54 Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage,
inwieweit es sowohl bezogen auf die fiskalische als auch die
redistributive Funktion des kommunalen Finanzausgleichs
zweckmäßig ist, einerseits die zur Verfü-gung stehende
Finanzausgleichsmasse durch die Einführung einer
Finanzausgleichsumlage zu er-höhen und auf diese Weise andererseits
abundante (finanzstarke) Gemeinden in den Prozess der
Finanzausstattung finanzschwacher Gemeinden mit einzubeziehen.
Siehe hierzu auch Büttner et al. (2008, S. 90) oder Lenk/Rudolph
(2003, S. 6).
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16
gaben und damit verbundenen Ausgaben auf die Kommunen mit dem
Übergang zum dualisti-
schen Modell der Finanzverfassung durch die Implementierung des
strikten Konnexitäts-
grundsatzes in der nordrhein-westfälischen Landesverfassung
(Art. 78 Abs. 3 LV) ein rechtli-
cher Schutz der kommunalen Ebene vor der Wahrnehmung von solchen
neuen Aufgaben in-
stitutionalisiert, für deren Erfüllung keine hinreichende
Mittelausstattung seitens des Landes
zur Verfügung gestellt wird. Vor diesem Hintergrund sind die
weiteren Überlegungen auf die
drei erstgenannten Punkte konzentriert, wobei zunächst der Frage
nachgegangen werden soll,
inwieweit die (Nicht-)Erfüllung freiwilliger Aufgaben aus
finanzwissenschaftlicher Sicht ein
notwendiges Kriterium für die Gewährleistung kommunaler
Selbstverwaltung darstellt.
3.3.2 Erfüllung pflichtiger und freiwilliger Aufgaben
Im Rahmen der Kritik am bestehenden kommunalen
Finanzausgleichssystem in Nordrhein-
Westfalen wird als vermeintlicher Beleg für die Behauptung einer
strukturellen Unterfinanzie-
rung der Kommunen unter anderen darauf verwiesen, dass Gemeinden
und Gemeindeverbän-
de „über keinerlei Mittel zur Erfüllung freiwilliger Aufgaben
mehr verfügen“ (Seite 22 der
Begründung der Verfassungsbeschwerde). Damit verbindet sich die
grundsätzliche Frage, ob
– und wenn ja – bis zu welchem Grad die Erfüllung freiwilliger
Aufgaben einen ökonomisch
sinnvollen Maßstab für eine unzureichende Finanzausstattung von
Kommunen darstellen
kann. Die Unterscheidung zwischen gemeindlichen Pflichtaufgaben
und freiwillig zu erfül-
lenden Gemeindeaufgaben stellt eine für den deutschen
Rechtsbereich spezifische Differen-
zierung von kommunalen Aufgaben dar, die jedoch weder in allen
Bundesländern Anwen-
dung findet55, noch eine originär ökonomische Unterscheidung
darstellt. Wird jedoch zu-
nächst der rechtswissenschaftlichen Klassifizierung gefolgt,
lassen sich nach dem unter-
schiedlichen Grad der Pflichtigkeit drei Aufgabentypen
unterscheiden56:
Freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben – Bei diesen Aufgaben
können die Kommunen über das „Ob“ und das „Wie“ der
Aufgabenerfüllung entscheiden (z.B. Sportförde-
rung, Theater, Orchester, etc.).
Pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben – In diesen
Aufgabenbereichen, zu denen Berei-che wie Schulbau,
Gemeindestraßen, Abwasserbeseitigung oder auch Wasserversor-
gung zählen, müssen die Gemeinden ein Angebot bereitstellen,
wobei das „Wie“ je-
doch weitgehend offen ist.
Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung – Bei diesen Aufgaben
(z.B. Feuerschutz, örtliche Ordnungsbehörde) bestimmt das Gesetz
den Umfang des Weisungsrechts, das
in der Regel jedoch beschränkt ist.
Anknüpfend an diese Typisierung von Gemeindeaufgaben steht zwar
außer Frage, dass die
Erfüllung freiwilliger Aufgaben allein schon definitionsgemäß
den größten Autonomiespiel-
raum beinhaltet, auch wenn selbst diese Beschränkungen
unterliegen.57 Demgegenüber ent-
halten aber auch die weisungsfreien ebenso wie die
weisungsgebundenen Pflichtaufgaben
unter dem Aspekt der kommunalen Finanzautonomie
Gestaltungsfreiheiten, die im Rahmen
der kommunalen Selbstverwaltung entsprechend genutzt werden
können. Betrifft dies im Fall
55 Siehe hierzu stellvertretend Henneke (2008, S. 64ff.). 56
Siehe zu den nachfolgenden Ausführungen Zimmermann (2009, S.
105f.). Siehe darüber hinaus
auch Postlep (1993) ebenso wie Schmidt-Eichstaedt (1983). 57 So
bestehen in Deutschland eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen
(z.B. Sportförderungsge-
setz, Spielplatzverordnung etc.), die „eine gewisse Normierung
der Aufgabenerfüllung nicht nur im Bereich der pflichtigen
kommunalen Aufgabenerfüllung bewirken, sondern sogar auch bei den
ei-genverantwortlichen kommunalen Aufgaben“ (Postlep 1993, S.
207).
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17
der pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben sowohl die Gestaltung
aufgabenbezogener Zweck-
als auch Verwaltungsausgaben, kann die Kommune im Fall der
weisungsgebundenen Pflicht-
aufgaben auf die Höhe der damit verbundenen Verwaltungsausgaben
(maßgeblich) Einfluss
nehmen. Wenn die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben damit
auch über den höchsten
Grad an kommunaler Gestaltungsfreiheit verfügen, stellen diese
jedoch nicht den alleinigen
Gradmesser für die Realisierung kommunaler Selbstverwaltung dar.
Aus ökonomischer Sicht
steht hier vielmehr der Aspekt der kommunalen Finanzautonomie im
Vordergrund, die – be-
zogen auf die Höhe von Zweck- und Verwaltungsausgaben – für den
Bereich der weisungs-
freien Pflichtaufgaben in vollem Umfang und für den Bereich der
weisungsgebundenen Auf-
gaben zumindest mit Blick auf die Gestaltung der
Verwaltungsausgaben gewährleistet ist.58
Zudem kann die Unterscheidung zwischen pflichtigen und
freiwilligen Aufgaben – und damit
ihre Relevanz als Prüfkriterien für die Gewährleistung
kommunaler Selbstverwaltung – auch
noch in anderer Hinsicht kritisch hinterfragt werden. Wird der
Theorie des Fiskalföderalismus
gefolgt, lassen sich staatliche Leistungen lediglich anhand
ihres räumlichen Nutzenstreukrei-
ses in nationale, regionale und lokale öffentliche Güter
unterteilen.59 Unter Effizienzaspekten
ist dabei einzig von Bedeutung, dass auf der kommunalen Ebene
die Bereitstellung jener öf-
fentlicher Güter erfolgt, die durch eine lokale Heterogenität
der Präferenzen und damit einen
räumlich stark beschränkten Nutzenstreukreis gekennzeichnet
sind. Eine Verwirklichung des
Prinzips der institutionellen Kongruenz setzt hierbei voraus,
dass sich die Zuständigkeit für
die Aufgabenerfüllung am Kreis der Nutznießer ausrichtet und
diese gleichzeitig zu deren
Finanzierung herangezogen werden. Diesbezüglich kann jedoch als
nachrangig bewertet wer-
den, ob die Bereitstellung lokaler öffentlicher Güter
freiwillig, halb-freiwillig oder weitge-
hend pflichtig erfolgt. Mit Blick auf die Praxis ist vielmehr
festzustellen, dass das Prinzip der
institutionellen Kongruenz in weit größerer Zahl im Bereich der
pflichtigen Selbstverwal-
tungsaufgaben als erfüllt gelten kann (z.B. im Bereich der
kommunalen Ver- und Entsor-
gungsleistungen aufgrund der weitgehenden Äquivalenzfinanzierung
dieser Leistungen), wäh-
rend im Bereich der freiwilligen Gemeindeaufgaben dies weit
weniger der Fall ist (z.B. bei
der Sport- und Kulturförderung aufgrund der fast vollständigen
Finanzierung aus allgemeinen
Deckungsmitteln ohne Äquivalenzcharakter).
Vor dem Hintergrund der zurückliegenden Ausführungen kann nicht
überraschen, dass es
keine aktuellen finanzwissenschaftlichen Studien gibt, in denen
eine quantitative Erfassung
der Anteile von freiwilligen und pflichtigen
Selbstverwaltungsaufgaben bezogen auf das ge-
samte kommunale Aufgabenbündel und die damit verbundenen
Ausgaben erfolgt.60 Entspre-
chend gibt es aus ökonomischer Sicht keinen quantitativen
Anhaltspunkt dafür, ob ein be-
stimmter Anteil – und wenn ja welcher – an freiwilliger
Aufgabenerfüllung hinsichtlich der
Gewährleistung kommunaler Selbstverwaltung als „bedenklich“
anzusehen ist. Somit entzieht
sich auch die als Kritik am bestehenden kommunalen
Finanzausgleich in Nordrhein-
Westfalen getroffene Aussage, dass der „Anteil für freiwillige
Leistungen […] bei den Be-
58 Siehe für die kommunalen Gestaltungsmöglichkeiten mit Blick
auf Zweck- und Verwaltungsausga-
ben auch Döring (2004) ebenso wie Döring/Stahl (1999). 59 Siehe
zu diesen für die Theorie des Fiskalföderalismus grundlegenden
Überlegungen stellvertretend
Postlep (1993, S. 40ff. und S. 61ff.). 60 Die letzte
Untersuchung dieser Art stammt aus dem Jahr 1982 und enthält
lediglich eine grobe
Schätzung der Anteile von freiwilligen Aufgaben (17 %),
weisungsfreien Pflichtaufgaben (43 %) und weisungsgebundenen
Pflichtaufgaben (12 %). Bei dieser Schätzung konnten zudem 28 % der
insgesamt von einer Kommune zu erfüllenden Aufgaben keiner der
genannten drei Kategorien zu-geordnet werden (darunter
beispielsweise solche Bereiche wie „Allgemeine Finanzwirtschaft“).
Sie-he Postlep (1987, S. 65ff.). Es ist davon auszugehen, dass die
seinerzeit ermittelten Anteilssätze we-der repräsentativ für die
aktuelle Situation auf der Kommunalebene sind, noch dass diesen ein
normativer Gehalt im Sinne eines selbstveraltungsadäquaten
Mindestanteils beizumessen ist.
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18
schwerdeführern nur noch zwischen 9 % und 14,2 % der
Gesamtausgaben“ liegt (Begründung
der Verfassungsbeschwerde, S. 22), einer validen Bewertung durch
finanzwissenschaftliche
Erkenntnisse oder Methoden. D.h. solche oder ähnliche
Prozentwerte liefern keinerlei Beitrag
zur Beantwortung der Frage, ob die Finanzausstattung von
Kommunen als (un-)angemessen
bewertet werden kann. Oder mit anderen Worten: „Nicht anzunehmen
ist, dass die finanzielle
Mindestausstattung gleichsam automatisch als unterschritten
gilt, wenn die Gemeinden weni-
ger als 5 – 10 % ihrer Mittel für die Erfüllung freiwilliger
Selbstverwaltungsaufgaben ver-
wenden kann. Denn es fällt in die Entscheidungskompetenz der
Gemeinden, sich in Zeiten
knapper Einnahmen bei der Erfüllung der freiwilligen
Selbstverwaltungsaufgaben Beschrän-
kungen aufzuerlegen und weniger als 5 % ihrer Mittel dafür
aufzuwenden, ohne dass ihre fi-
nanzielle Mindestausstattung gefährdet wäre“.61 Der Verweis auf
die in Zeiten finanzieller
Engpässe vorzunehmenden Einschränkungen bei der Erfüllung
freiwilliger Leistungen ist
zudem als Hinweis auf das Konsolidierungspotenzial der
kommunalen Haushalte in diesem
Bereich zu verstehen, was aus ökonomischer Sicht unumstritten
ist.62 Zwar mag dabei offen
sein, bis zu welcher Grenze eine dauerhafte Reduktion zu
erfolgen hat. Es gibt jedoch – der
dargelegten Logik des Fiskalföderalismus folgend – kein
plausibles finanzwissenschaftliches
Argument, welches dagegen spricht, dass zu Zwecken der
Haushaltskonsolidierung kurz- bis
mittelfristig weitgehend oder gar vollständig auf die
Bereitstellung freiwilliger Leistungsan-
gebote verzichtet wird.
3.3.3 Realsteueranspannung und interkommunaler
Steuerwettbewerb
Neben der eingeschränkten Erfüllung freiwilliger
Selbstverwaltungsaufgaben wird die hohe
Realsteueranspannung der betroffenen Kommunen seitens der
Beschwerdeführer als ein wei-
terer Beleg für deren finanzielle Unterausstattung im Rahmen des
nordrhein-westfälischen
Finanzausgleichs ins Feld geführt. Unter Bezug auf die beiden
Realsteuern und hier insbeson-
dere mit Blick auf die Gewerbesteuer wird zudem reklamiert, dass
aufgrund „der Bedeutung
des Hebesatzniveaus für die Standortattraktivität für
Unternehmen und Abwanderungseffekte
[…] eine weitere Anhebung der Gewerbesteuerhebesätze […]
verwehrt und damit hieraus
resultierende Einnahmemöglichkeiten abgeschnitten“ sind
(Begründung der Verfassungsbe-
schwerde, S. 29).
Wird zunächst die Grundsteuer betrachtet, zeigt sich für den
Zeitraum von 1995 bis 2008 ein
stetiger Anstieg der Pro-Kopf-Einnahmen, wobei sich die
Entwicklung im Kreis Reckling-
hausen nur marginal von jener in den übrigen
nordrhein-westfälischen Kreisen unterscheidet
(siehe Abbildung 1). Auffälliger gestalten sich demgegenüber die
Werte der Pro-Kopf-
Einnahmen aus Gewerbesteuer, die für den Kreis Recklinghausen
zwar weitgehend dem Ent-
wicklungstrend auf Kreis- und Landesebene folgen, jedoch
unterhalb des Durchschnittswertes
der Kreise insgesamt liegen (siehe Abbildung 2). Bei Betrachtung
der Entwicklung der Hebe-
sätze im Zeitraum von 1995 bis 2008 ist sowohl für
Nordrhein-Westfalen insgesamt als auch
für den Kreis Recklinghausen bei der Grundsteuer ebenso wie bei
der Gewerbesteuer ein
merklicher Anstieg zu erkennen (siehe Tabelle 1). Zwar weist die
Datenlage auf eine gestie-
gene Realsteueranspannung in den zurückliegenden Jahren hin. Aus
finanzwissenschaftlicher
Sicht kann jedoch weder für die nordrhein-westfälischen Kommunen
in ihrer Gesamtheit
noch bezogen auf die Städte des Kreises Recklinghausen allein
aus diesen Daten geschlossen
61 Vgl. Henneke (2008) mit Verweis auf ein entsprechendes Urteil
des Niedersächsischen Oberverwal-
tungsgerichts (NdsVbl 2005, S. 124ff.), gegen das auch die
eingelegte Revision der Kläger erfolglos blieb. Mit der gleichen
Intention stellt auch Zimmermann (2009, S. 105) fest: „In Zeiten
knapper Kassen treten freiwillige Aufgaben allerdings, weil
aufschiebbar, zeitweilig zurück“.
62 So stellen auch Junkernheinrich et al. (2009, S. 122) fest:
„Die Reduktionsnotwendigkeit freiwilliger Aufgaben bzw. Ausgaben im
Rahmen der Haushaltskonsolidierung steht außer Zweifel“.
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werden, dass für eine weitere Steigerung der Hebesätze zur
Realisierung zusätzlicher Ein-
nahmen keinerlei Spielraum vorhanden ist und es folglich – sei
es direkt (bzw. explizit) im
Rahmen der Finanzverfassung des Landes oder sei es indirekt über
eine entsprechende Aus-
gestaltung des kommunalen Finanzausgleichs – der
institutionellen Garantie einer gemeindli-
chen Mindestfinanzausstattung bedürfe.
Abbildung 1: Grundsteuereinnahmen (A + B) in Euro pro Kopf
(1995-2008)
Quelle: IT NRW, eigene Berechnungen.
Abbildung 2: Gewerbesteuereinnahmen in Euro pro Kopf
(1995-2008)
Quelle: IT NRW, eigene Berechnungen.
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Tabelle 1: Entwicklung der durchschnittlichen Hebesätze von
Grund- und Gewerbesteuer im Kreis Recklinghausen, in den Kreisen
und den kreisfreien Städten sowie im Landesdurchschnitt
(1995-2008)
1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Kreisfreie Städte Grundsteuer A 206 220 222 224 222 224 224 224
224 224 Grundsteuer B 442 475 477 484 484 484 484 483 485 483
Gewerbesteuer 445 452 452 452 453 453 452 452 452 451 Kreise
Grundsteuer A 187 200 202 203 214 215 216 219 220 220 Grundsteuer B
308 344 348 354 385 387 392 396 397 398 Gewerbesteuer 380 397 399
402 413 414 415 416 417 417 Kreis Recklinghausen Grundsteuer A 182
211 214 216 218 213 217 217 219 219 Grundsteuer B 384 443 446 447
447 448 450 457 459 461 Gewerbesteuer 427 441 441 445 447 447 446
453 450 454 NRW Grundsteuer A 189 202 203 205 215 216 217 219 220
220 Grundsteuer B 370 401 405 411 429 430 432 434 436 435
Gewerbesteuer 409 424 424 426 432 432 434 435 435 433
Quelle: IT NRW, eigene Darstellung.
Unter Bezug auf Ansätze zu den Wirkungen des interkommunalen
Steuerwettbewerbs trifft in
allgemeiner Form zunächst zu, dass unterschiedlich hohe
Steuerbelastungen zwischen dezent-
ralen Gebietskörperschaften (hier: Kommunen) zu
Mobilitätsreaktionen bei den Besteuerten
(hier: Unternehmen) in Gestalt der Abwanderung in eine andere
Kommune führen können. Es
wird somit davon ausgegangen, dass Gebietskörperschaften, die in
einem Wettbewerb unter-
einander stehen, versuchen werden, über ein möglichst
attraktives Angebot von öffentlichen
Leistungen und adäquaten „Steuerpreisen“ mobile
Produktionsfaktoren anzuziehen.63 Dieses
strategische Verhalten der einzelnen Kommunen führt – analog zum
Preiswettbewerb auf Gü-
termärkten – zu einer Orientierung an den Konkurrenten und
beschränkt die Möglichkeiten
von Steuererhöhungen. Gegenüber dieser zunächst allgemeinen
Feststellung zu den ökonomi-
schen Effekten des interkommunalen Steuerwettbewerbs haben
finanzwissenschaftliche Un-
tersuchungen jedoch gezeigt, dass sich die steuerpolitische
Entscheidung von Kommunen
nicht an der Gesamtheit der übrigen Kommunen, sondern vor allem
an ihren direkten Nach-
barkommunen orientiert. Damit ist die Intensität des
interkommunalen Steuerwettbewerbs
geographisch stark begrenzt mit der Folge, dass die davon
ausgehenden Wirkungen auf die
kommunale Steuerpolitik einen sehr engen räumlichen Radius
aufweisen. D.h. solange auch
im näheren Umfeld einer Gemeinde Kommunen mit hohen Steuer- bzw.
Hebesätzen anzutref-
fen sind, ist eine negativer Wettbewerbseffekt – vor allem in
Form entsprechender Abwande-
rungsbewegungen ortsansässiger Unternehmen – unwahrscheinlich
bzw. marginal.64
63 Die Grundlage für diese Überlegungen bildet die sogenannte
Fragmentierungshypothese, die auf
Brennan/Buchanan (1980) zurückgeht Siehe auch Feld (2000) sowie
Feld/Kirchgässner (2001). 64 Siehe zur empirischen Analyse
entsprechender Nachbarschaftseffekte unter anderen die Studien
von Inman (1989), Ladd (1992), Saavedra (1999) oder auch
Schaltegger (2003).
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21
Für Nordrhein-Westfalen durchgeführte empirische Analysen der
kommunalen Hebesätze
bestätigen diese Sicht.65 So belegen die
Untersuchungsergebnisse, dass die Interaktion zwi-
schen den örtlichen Hebesätzen räumlich deutlich beschränkt ist,
wobei die Wirkungen des
Steuerwettbewerbs nicht über einen Radius von 30 km hinausgehen.
Dieser Effekt gilt für alle
Kommunen in gleicher Weise, d.h. der Einfluss der Nachbarschaft
fällt für Gemeinden unter-
schiedlicher Größe jeweils identisch aus. Zudem konnte
festgestellt werden, dass auch inner-
halb des genannten Radius von 30 km mit der Entfernung der
Steuerwettbewerb zwischen den
Kommunen deutlich abnimmt. Dieser empirische Befund legt die
Schlussfolgerung nahe, dass
der Hebesatz in erster Linie ein aktives Instrument des
kommunalen Standortwettbewerbs mit
den angrenzenden Nachbarschaftsgemeinden ist, wobei auch
innerhalb dieses näheren räumli-
chen Umfelds „Spielraum in der lokalen Hebesatzpolitik
verbleibt“.66 Damit gilt aber auch im
Umkehrschluss, dass über dem Landesdurchschnitt liegende
Hebesätze, wie dies auf die
Kommunen im Kreis Recklinghausen zutrifft, nicht als Beleg dafür
gelten können, dass die
betroffenen Gemeinden über keinerlei Spielräume für weitere
Hebesatzsteigerungen verfügen.
Abbildung 3: Vergleich von Grundsteuer- und
Gewerbesteuerhebesätzen von Kreisen (Durchschnittswert) und
kreisfreien Städten in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kreis
Recklinghausen (2008)
Quelle: IT NRW, eigene Darstellung.
Um dies beurteilen zu können, ist vielmehr die Höhe der
Gewerbesteuerhebesätze der übrigen
Kommunen in der unmittelbaren Nachbarschaft von Bedeutung.
Diesbezüglich zeigt sich mit
Blick auf den Kreis Recklinghausen einschließlich der
angrenzenden Nachbarkreise und
kreisfreien Städte ein annähernd gleich hohes Niveau bei den
Realsteuerhebesätzen (siehe
Abbildung 3). Danach bewegten sich in 2008 die
durchschnittlichen Hebesätze von Grund-
und Gewerbesteuer der Recklinghäuser Städte (461 % bzw. 454 %)
auf mittlerem Niveau
65 Siehe hierzu die von Büttner (2000) durchgeführte
Untersuchung von 396 nordrhein-westfälischen
Kommunen im Zeitraum von 1977 bis 1996. Die parallel
vorgenommene Untersuchung von 1111 Kommunen in Baden-Württemberg
bestätigt dabei die für NRW gewonnenen Ergebnisse.
66 Vgl. Büttner (2000, S. 78).
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22
zwischen jenen Sätzen der Kreise Borken (381 % bzw. 403 %) und
Coesfeld (392 % bzw.
414 %) einerseits sowie der Städte Gelsenkirchen (530 % bzw. 480
%) und Bottrop (530 %
bzw. 490 %) andererseits. In Anbetracht dessen ist aus
ökonomischer Sicht davon auszuge-
hen, dass sehr wohl die Möglichkeit zu weiteren
Hebesatzsteigerungen besteht, ohne dass es
zwangsläufig zu entsprechenden Abwanderungseffekten kommt.
Tabelle 2: Bedeutung unternehmensbezogener Standortfaktoren
Standortfaktor Bewertung Standortfaktor Bewertung
Höhe der Arbeitskosten 1,7 Nähe zu Beschaffungsmärkten/
Zulieferern/Dienstleistern 2,0
Höhe der Gewerbemieten 2,2 Nähe zu Dienstleistern
(z.B. Handwerkern) 2,2
Höhe der Grundstückspreise 2,3 Verfügbarkeit von
qualifizierten Arbeitskräften 1,3
Höhe der Baukosten 2,6 Nähe zu Hochschulen und
Forschungseinrichtungen 2,1
Höhe von Ver- und
Entsorgungsgebühren 2,7
Ausstattung mit Schulen und
Berufsschulen 2,3
Höhe des
Gewerbesteuerhebesatzes 2,8 Weiterbildungsangebote 2,5
Abgabenpolitik der Gemeinde 2,8 Wohnraumangebot 2,3
Ausbau und Erhalt
des Straßennetzes 1,5
Naherholungsgebiete,
landschaftliche Attraktivität 2,5
Verfügbarkeit von Gewerbeflächen 1,7 Kulturelles Angebot 2,6
Parkraum für
Kunden- und Lieferverkehr 2,2 Günstige Wohnraummieten 2,6
Überregionale
Verkehrsanbindung (Luft) 2,3
Zusammenarbeit mir Unternehmen
und Behörden aller Ebenen 1,6
Überregionale
Verkehrsanbindung (Schiene) 2,5 Wirtschaftsförderung 1,8
Öffentliches
Personennahverkehrsnetz 2,6 Standortmarketing 2,2
Nähe zu
Absatzmärkten/Kunden 1,7
Räumliche Nähe zu
öffentlichen Einrichtungen 2,6
Der Befragung zugrundeliegende Bewertungsskala: 1 = sehr wichtig
bis 5 = eher unwichtig.
Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
Neben dem Argument der drohenden Abwanderungseffekte kann auch
die Befürchtung eines
steuerinduzierten Verlustes an Standortattraktivität unter
Verweis auf regionalökonomische
Untersuchungen zur unternehmerischen Standortwahl zurückgewiesen
werden. So zeigt etwa
eine empirische Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft
Köln67 zur Relevanz von 28 aus-
gewählten Standortfaktoren, die auf einer Skala von „sehr
wichtig“ (1,0) bis „eher unwichtig“
(5,0) von 103 bundesweit befragten
Wirtschaftsförderungsgesellschaften zu bewerten waren,
dass die „Höhe des Gewerbesteuerhebesatzes“ ebenso wie die
„Abgabenpolitik der Gemein-
de“ mit einem Wert von jeweils 2,8 auf dem letzten Rang
eingestuft wurden (siehe Tabelle 2).
Als besonders relevant für die Standortentscheidung von
Unternehmen werden demgegenüber
Standortfaktoren wie etwa die „Verfügbarkeit von qualifizierten
Arbeitskräften“ (1,3), der
„Ausbau und Erhalt des Straßennetzes“ (1,5), die „Zusammenarbeit
zwischen Unternehmen
und Behörden“ (1,6), die „Verfügbarkeit von Gewerbeflächen“
(1,7), die Höhe der „Arbeits-
kosten“ (1,7) oder die „Nähe zu Absatzmärkten“ (1,7) eingestuft
– um nur die wichtigsten
Entscheidungsdeterminanten zu nennen. Komplementär hierzu
durchgeführte Befragungen
67 Siehe hierzu ausführlich die Studie vom Institut der
deutschen Wirtschaft (2003).
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von Unternehmen bestätigten die genannten Befunde.68 Vor dem
Hintergrund dieser Ergeb-
nisse ist nicht davon auszugehen, dass eine (weitere) Erhöhung
der Grund- oder Gewerbe-
steuerhebesätze zu einer massiven Beeinträchtigung der
Standortattraktivität führen würde.
3.3.4 Ausschöpfung anderweitiger Einnahmepotenziale
Neben einer verbesserten Nutzung der vorhandenen Spielräume zur
Anhebung der Realsteu-
erhebesätze ist vor einer Änderung der Finanzverfassung oder
einer verstärkten Alimentie-
rung über den Finanzausgleich des Weiteren danach zu fragen,
inwieweit – dem Grundsatz
der institutionellen Kongruenz folgend – die vorhandenen
Potenziale für eine Steigerung der
kommunalen Gebühreneinnahmen ebenso wie für eine Erhöhung der
örtlichen Aufwand- und
Verbrauchsteuern bereits erschöpfend genutzt wurden. Wird dabei
zunächst der Blick auf die
Gebühren- und sonstigen Entgelteinnahmen gerichtet, ist zunächst
festz