Unterrichtskonzepte zum Schriftspracherwerb für Schülerinnen und Schüler des Förderschwerpunktes Geistige Entwicklung – Eine empirische Untersuchung an ausgewählten Förderschulen im Regierungsbezirk Düsseldorf Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung, dem Landesprüfungsamt für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen vorgelegt von: Julia Ippendorf und Nora Schaffner Köln, den 22. November 2009 Gutachter: Prof. Dr. Norbert Heinen Seminar für die Pädagogik und Rehabilitation bei Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung an der Universität zu Köln 1
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Unterrichtskonzepte zum Schriftspracherwerb für ... Schaffner,Ippendorf... · Günther anders organisiert als mündliche Äußerungen. In der geschriebenen Sprache werden mit Leerzeichen,
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Unterrichtskonzepte zum Schriftspracherwerb
für Schülerinnen und Schüler
des Förderschwerpunktes
Geistige Entwicklung – Eine empirische Untersuchung
an ausgewählten Förderschulen
im Regierungsbezirk Düsseldorf
Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung, dem Landesprüfungsamt für Erste Staatsprüfungen für Lehrämter an Schulen vorgelegt von:
Julia Ippendorf und Nora SchaffnerKöln, den 22. November 2009Gutachter: Prof. Dr. Norbert HeinenSeminar für die Pädagogik und Rehabilitation bei Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung an der Universität zu Köln
analytisch- synthetische Verfahren genannt), wie sie u. a. von Menzel vertreten wurden gelantgen
zunehmend an Bedeutung. Hier werden ganz bewusst die spezifischen Vorteile des ganzheitlichen
und des synthetischen Verfahrens aufgenommen, um die Nachteile einseitiger methodischer
Orientierung zu vermeiden. Diese Methode bildet einen Kompromiss zwischen Ganzheitlichen und
synthetischen Verfahren, denn sowohl Analyse als auch Synthese finden von Beginn an in enger
Verknüpfung statt (vgl. Hauck von den Driesch 2003, 75).
Analytisch- synthetische Verfahren gehen von ganzen Wörtern aus, analysieren diese jedoch
unmittelbar in ihre einzelnen Elemente von Sprache und Schrift und fügen diese in der Synthese
schließlich wieder zusammen (vgl. Topsch 2005, 49). In einer Vorstufe wird zunächst eine
Redeeinheit in seine Wörter zergliedert. Hierbei ist es wichtig, dass die gesprochene Sprache in
einen für den Lernenden sinnvollen situativen Kontext bezogen ist. In der folgenden Stufe, der
Analyse wird das gesprochene Wort in seine Laute zerlegt, welchen dann Buchstaben zugeordnet
werden. In der letzten Stufe wird versucht das Wort Buchstabe für Buchstabe zu schreiben (vgl.
Hauck- von den Driesch 2003, 75).
„Methodenintegrierende Leselernverfahren“ (Schenk 2001, 96) wollen den Zugang zur
Schriftsprache in einer anspruchsvolleren und variationsreicheren Weise eröffnen. Sie wollen das
Kind zu einem frühzeitigen, selbstständigen, flexiblen und möglichst kreativen Umgang mit
geschriebener Sprache führen. So haben sich diese „Methodenintegrierenden Leselernverfahren“ in
den Fibeln der letzten Jahre durchgesetzt. Lehrgänge nach streng analytisch- synthetischen
Verfahren sind nach dem Schlüsselwortverfahren aufgebaut, das heißt, es werden nur Wörter
ganzheitlich angeboten, deren Buchstaben und Laute bereits bekannt sind, so dass sie visuell,
auditiv und sprechmotorisch analysiert und synthetisiert werden (vgl. Hauck- von den Driesch
2003, 76 und „Lesen mit Lo“, Kapitel 3.3.3.1)
4.2.2.2. Aktuelle Konzepte des Schriftspracherwerbs
In den letzten Jahrzehnten haben sich in der Schriftspracherwerbsdidaktik wichtige Veränderungen
vollzogen, wie beispielsweise eine stärkere Orientierung an der gesprochenen Sprache und eine
stärkere Verbindung des Lesen- und Schreibenlernens zu einem integrierten
Schriftspracherwerbsprozess. So setzte sich ab Mitte der Achtzigerjahre eine Integration der
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Lehrgänge zum Lesen- und Schreibenlernen durch, die wesentlich mitbestimmt wurde durch die
Tatsache, dass die Druckschrift als Anfangsschrift für das Lesen- und Schreibenlernen akzeptiert
und später sowohl gefördert, als auch gefordert wurde (vgl. Topsch 2005, 64). Auch wird versucht,
die Sichtweisen und Strategien des lernenden Kindes mehr in den Blickpunkt zu stellen und diese
zu verstehen (Hauck- von den Driesch 2004, 77). Doch weiterhin gibt es verschiedene Ansätze für
den Anfangsunterricht. In den letzten Jahren hat nach Schründer- Lenzen eine Annäherung
zwischen eher lehrgangs- und den eher lernwegsbezogenen Unterrichtskonzepten stattgefunden. So
sehen auf der einen Seite die Vertreter fibelorientierter Lehrgänge heute die Notwendigkeit einer
Öffnung des Unterrichts. Sie bieten Material an, dass explizit für Phasen differenzierenden
Unterrichts vorgesehen ist. Auch der Aufbau der Fibeln ist heute nicht mehr vollständig linear, da
nach der Einführung der Buchstaben heute Lesetexte unterschiedlicher Schwierigkeitsstufen
angeboten werden. Insofern ist es hier angebracht von „halboffenen“ Lehrgängen (vgl. Schründer-
Lenzen 2007, 106) zu sprechen.
Auf der anderen Seite gibt es die Verfechter „offener“ Unterrichtsmethoden wie Brügelmann,
Brinkmann, Ballhorn (vgl. ebd., 105). Sie kritisieren, dass der Einsatz eines systematischen
Lehrgangs oder einer Fibel den Lehrstoff in einzelnen Schritten aufbereitet und zu wenig auf die
individuellen Bedürfnisse des Schülers eingeht (vgl. Sassenroth 2003, 107).
Halboffene Lehrgänge
Lesen und Schreiben lernen mit einer Fibel
Als „Fibel“ wird auch heute noch das erste (Lese-) Buch der Schulkinder bezeichnet, obwohl sich
die heutigen Leselehrgänge von der ursprünglichen Fibel weit entfernt haben. Dabei spiegelt die
über 400 jährige Geschichte der Fibel die unterschiedlichen Leselehrverfahren und die wechselnden
Erziehungsstile wieder (vgl. Ulrich 2005, 100). Die heutigen Fibeln basieren auf
methodenintegrierten Leselehrverfahren, indem Laute und Buchstaben immer in einem sinnvollen
Ganzen eingeführt werden.
Heutige Fibellehrgänge verfügen neben dem Leitmedium, der Fibel über weitere Materialien, wie
Lesematerialien, Schreiübungshefte und Informations- und Demonstrationsmaterial für Lehrer. Die
in den verschiedenen Begleitmaterialien angebotenen Übungen fördern sowohl eine optische, eine
akustische als auch eine schreibmotorische Erarbeitung der Schriftsprache. Hierdurch wird aber
nach Schründer- Lenzen noch keine „Öffnung“ von Unterricht vollzogen. Vielmehr wird in
Fibellehrgängen besonders in der ersten Phase des Unterrichts eine gezielte Hilfestellung für die
Erfassung des alphabetischen Prinzips der Schriftsprache als notwendige Voraussetzung gesehen.
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Damit soll für alle Schüler ein gemeinsames Fundament geschaffen werden, auf dem sowohl
differenzierende, als auch offenere Phasen aufbauen können (vgl. Schründer- Lenzen 2007, 107).
Charakteristisch für die Fibellehrgänge ist dabei ihr weitgehend linearer Aufbau. Alle Materialien
laufen in ihrer optischen und inhaltlichen Gestaltung synchron. Die in der Fibel vorgegebene
Reihenfolge der Buchstabenanordnung bzw. der Wortbestand ist in dieser Anordnung auch in den
Begleitmaterialien zu finden. Durch das Prinzip die Schriftsprache Buchstabe für Buchstabe
einzuführen, ist ein Aufbau vom Leichten zum Schweren gegeben. Fibellehrgänge verbinden dabei
von Anfang an sowohl den Lese-, als auch Schreiblernprozess miteinander, denn das, was in der
Fibel gelesen wird ist immer auch Schreibaufgabe in den Schreiblehrgängen.
Offene Unterrichtsmethoden
Spracherfahrungsansatz
Der Spracherfahrungsansatz bezieht sich auf die von Downing Mitte der 80er Jahre entwickelte
Theorie der kognitiven Klarheit. Demnach gewinnen Kinder die Einsicht in die alphabetische
Struktur unserer Schrift nur dann, wenn sie den Lerngegenstand Schrift aktiv konstruieren. Nur so
kann es zu der notwendigen gedanklichen Klarheit in Bezug auf Funktion und Aufbau der Schrift
gelangen (vgl. Schründer- Lenzen 2007, 145). Wie der Begriff andeutet, basiert der
Spracherfahrungsansatz auf den unterschiedlichen Vorerfahrungen der Schüler mit und über
Sprache und Schrift. Aufgrund dieser häufig sehr unterschiedlichen Vorraussetzungen und
Vorkenntnisse einzelner Schüler, ergibt sich zwangsläufig die Forderung nach einem differenzierten
Unterricht. Die vielfältigen, motivierenden Lernmaterialien und Lernanlässe, die den Schülern
bereitgestellt werden, sollen ihnen individuelle Zugänge zur Schriftsprache eröffnen. Es soll jedoch
gewährleistet sein, dass sie ihrem Leistungsstand entsprechend neue Erfahrungen gewinnen können,
die ihnen neuen Lernzuwachs und neue Lernfortschritte ermöglichen. Nach Scheerer- Neumann ist
die lexikalische und damit inhaltliche Freiheit das wichtigste Element des
Spracherfahrungsansatzes, denn die Schüler sollen das Lesen und Schreiben anhand möglichst
eigener Wörter und Texte erlernen (vgl. Sassenroth 2003, 118).
Die unterschiedlichen Beispiele, Anregungen und Einzelmaßnahmen des Spracherfahrungsansatzes,
lassen sich zwar in ihrer Mehrzahl dem analytisch- synthetischen Verfahren zuordnen, da sie sich
aber nicht darauf beschränken, kann dieser Ansatz als „methodenübergreifender Ansatz“ verstanden
werden (vgl. Topsch 2005, 65). Befürworter des Spracherfahrungsansatzes sehen den
Schriftspracherwerb als eigenaktiven Entdeckungsprozess der nicht linear verläuft, sondern in
Sprüngen und mit Plateaus. Deswegen kritisieren sie den Einsatz eines systematischen Lehrgangs
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oder einer Fibel, denn dieser setzt gleiche Ausgangsbedingungen der Schüler voraus und bereitet
den Lernstoff in einzelnen Lernschritten auf, die von den Schülern im „Gleichschritt“ durchlaufen
werden, dabei geht der Fibelorientierte Lehrgang zu wenig auf die individuellen Lernwege der
Schüler ein (vgl. Sassenroth 2003, 107). Brügelmann - als ein Vorreiter des
Spracherfahrungsansatzes - bezeichnet die Lehrgänge deshalb auch als „Krücken“ (Brügelmann
1989, 9) und appelliert an Lehrer sich von diesen zu befreien.
Da die Begründer des Spracherfahrungsansatzes davon ausgehen, dass das Schreiben eine
konkretere Form der Auseinandersetzug mit der Schriftsprache darstellt als das Lesen, sind im
Unterricht die Lehr- und Lernformen vorzuziehen, in denen das Kind handelnd - also produktiv -
tätig werden kann (vgl. Sassenroth 2003, 118). Ein verantwortungsvoller Unterricht soll die
jeweilige schriftsprachliche Handlungs-Fähigkeit von Schülern akzeptieren und ihre Entwicklung
fördern (vgl. Schurad 2004, 52). Das Prinzip des handelnden Unterrichts äußert sich dadurch, dass
auch schriftsprachliche Tätigkeiten immer in einen konkreten Handlungszusammenhang eingebettet
werden, z.B. beim Erstellen von Briefen, Einladungen, Rezepten, Gebrauchsanweisungen, etc.
Diese Handlungsbezogenheit ist auch bzw. gerade zur Stärkung der Lese- und Schreibmotivation
von (geistig-) behinderten Schülern wichtig. So taucht der Begriff „Spracherfahrungsansatz“
zunehmend auch im sonderpädagogischen Bereich und auch im Bereich der Erwachsenenbildung
auf (vgl. Topsch 2005, 68).
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3. Schriftspracherwerb an der Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung
3.1 Kulturtechniken an der Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung
Schrift begegnet uns in unterschiedlicher Form ständig. Das gesprochene und geschriebene Wort
bildet die Grundlage für Kultur und Denken einer Gesellschaft. Ohne die Kompetenzen des Lesens
und des Schreibens ist man nach Hauck- von den Driesch in seiner persönlichen und
gesellschaftlichen Entfaltung eingeschränkt (vgl. Hauck- von den Driesch 2003, 166). Durch die
Vermittlung der sog. „Kulturtechniken“ wie Lesen, Schreiben und Rechnen wird für jeden
Menschen grundlegend das Recht auf Teilhabe an menschlicher und mitmenschlicher Kultur erfüllt.
Um sich ihre Umwelt zu erschließen, ist es für Schüler deshalb von großer Bedeutung im Bereich
von Sprache möglichst hohe Kompetenzen zu erwerben (vgl. Lehrplan Deutsch der Schule mit dem
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung 2003, 147). Gerade dem Schriftspracherwerb im
Anfangsunterricht weist Hauck- von den Driesch eine wichtige Rolle zu, da dieser eine materiale
und formale Bildungsgrundlage schafft und der Lernende ein Medium für seine individuelle
Weiterentwicklung erlangt. Der Schriftspracherwerb ist demnach ein Teil der Grundlage, auf dem
sich das Kind formt und gestaltet (vgl. Hauck- von den Driesch 2003, 167). Die Möglichkeit am
Bildungsgut der Schriftsprache teilzuhaben, unterstützt bei Menschen mit geistiger Behinderung die
Selbstbestimmung und Autonomie und kann nach Hauck- von den Driesch einen Beitrag zu einer
selbstständigen Lebensführung und zu gesellschaftlicher Partizipation leisten (vgl. Hauck- von den
Driesch 2003, 166). Jeder Mensch hat das Bedürfnis teil zu haben an Kultur und an sozialen Rollen,
um sich auf seine Art sozial und kulturell einbinden zu können. Aber auch das Erreichen der
sozialen Integration ist zu einem wesentlichen Teil abhängig von der Fähigkeit mit Schriftsprache
umzugehen.
Kaum ein Thema in der Geistigbehindertenpädagogik wurde und wird so kontrovers diskutiert, wie
die Thematik „Lesen bei Geistigbehinderten“. Dabei wird die Bedeutung des Schriftspracherwerbs
für Menschen mit einer geistigen Behinderung kontrovers diskutiert.
Hierzu gibt es auf Seiten der Pädagogen und auch der Eltern unterschiedliche Standpunkte. Die
Eltern geistig behinderter Kinder sehen das Erlernen der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und
Rechnen als wichtig an. Ihrer Meinung nach soll es zum Bildungsangebot für die Schule ihrer
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Kinder gehören, da sich das geistig behinderte Kind, wie auch seine Geschwister mit Lesen und
Schreiben beschäftigen möchte und Freude daran hat.
Einige Pädagogen, wie beispielsweise Bach lehnen das Lesen und Schreiben für Schüler mit einer
geistigen Behinderung hingegen ab (vgl. Rittmeyer 93, 9). Sie legen ihr Hauptaugenmerk auf die
Vermittlung lebenspraktischer Fähigkeiten, denn sie sehen im Lesenlernen meist eine
Überforderung der Schüler, weil er die viel Zeit koste und letztlich nur Ergebnisse zeige, die keine
erkennbare Lebenshilfe bedeute. Hublow hingegen sieht die Vermittlung von Kulturtechniken als
wesentlich an. Er hält Lesen bei geistig Behinderten für möglich, sinnvoll, berechtigt und
notwendig (vgl. ebd., 9).
Nach Zielniok gibt es in dieser Diskussion verschiedene Aspekte zu berücksichtigen. Für ihn ist die
Antwort davon abhängig, welche Schüler aus der Schule mit dem Fördeschwerpunkt Geistige
Entwicklung gemeint sind (vgl. Zielniok 1984, 1). Er legt dar, dass die Lernvoraussetzungen
darüber entscheiden, ob, wann und wie der Schüler mit einer geistigen Behinderung die
Schriftsprache erlernt, welche Lernvoraussetzungen bzw. Lernmöglichkeiten bei ihm gegeben sind.
So muss bei geistig behinderten Schülern bereits die Zielsetzung auf Lesen und Schreiben
individuell angepasst werden (vgl. ebd., 1).
Aber auch für andere Autoren ist Lesen ein wichtiger Bestandteil an Schulen mit dem
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Für Rittmeyer ist Lesen ein Teil des „normalen“ Alltags.
Und diese „Normalität“ sollte Geistigbehinderten nicht vorenthalten werden, weil sie ein Stück
reale Interaktion, Lebenshilfe und Lebensbereicherung sein kann (vgl. Rittmeyer 1993, 9).
Auch kann der Verzicht auf Lesen- Schreibenlernen die Leistungsmotivation, das Anspruchsniveau
und die Anstrengungsbereitschaft des geistig behinderten Schülers beeinträchtigen, da er weiß, dass
alle Schüler diese Fertigkeiten in der Schule lernen. Durch den Verzicht auf Leseunterricht wird
ihrer Meinung nach die Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung aus der
Gesamtheit aller Schulen herausgenommen. So wird eine mögliche Integration erschwert (vgl.
Rittmeyer 1993, 11). Aus diesem Grund werden die Begriffe „Lesen“ und „Schreiben“ heute anders
definiert. Es wird ein Lesen im engeren Sinne von einem Lesen im weiteren Sinne unterschieden.
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3.2 Der erweiterte Lese- und Schreibbegriff
Lesen im engeren Sinne
Das Lesen im engeren Sinne wird verstanden als „verstehendes Aufnehmen von schriftlich fixierten
Sprachfügungen“ (Kainz 1956). Hier ist die Buchstabenschrift mit ihrer Struktur der
Lerngegenstand (vgl. Zielniok 1984, 1). Lesen im engeren Sinne ist die Art von Lesen, die Bach so
entschieden für geistig Behinderte ablehnt. Er betont, dass zunächst eine basale Erziehung zur
Selbstständigkeit, Anstelligkeit und Handgeschicklichkeit Vorrang hat. Den formalen Wert der
Kulturtechniken für die Erziehung des geistig behinderten Schülers hält er für gering und zum Teil
sogar fragwürdig (vgl. Rittmeyer 1993, 11). Für den Pädagogen Speck hingegen kann das Lesen im
engeren Sinne zwar nicht Hauptziel des Unterrichts sein, da das Lernen anderer Fähigkeiten für die
spätere Lebensbewältigung wichtiger ist. Das Einüben der Kulturtechniken hat jedoch bildende
Wirkung, wenn die Lernvorgänge im Leseunterricht der Lesefähigkeit des einzelnen Schülers
entsprechen. Der Dortmunder Sonderpädagoge Pohl hat zusammen mit U. Pohl und K. Schulte
zahlreiche Argumente aufgestellt, die aus seiner Sicht für das Lesen im engeren Sinne bei geistig
behinderten Schülern sprechen. Für ihn ist der Schreib- Leseunterricht für Schüler, die die
Voraussetzungen zum Lesen erfüllen, eine notwendige und nützliche Fortsetzung des bisherigen
Unterrichts und Schüler die die Voraussetzungen zum Lesen noch nicht erfüllen, können durch
Lese- und Schreibübungen gefördert werden. So stellt das Lesen im engeren Sinne keine
Überforderung für geistig Behinderte Schüler, sondern eine erwünschte Abwechslung dar. In den
letzten Jahren wird dem Lesenlernen eine größere Bedeutung zugemessen. Während in den 80ger
Jahren Studien zufolge ein Viertel der Schulabgänger über Textkompetenzen verfügten ist diese
Tendenz in den letzten Jahren deutlich steigend (Marx, 2007, 170).
Lesen im erweiterten Sinne
Ein erweitertes Begriffsverständnis haben Hublow/ Wohlgehagen, Oberacker (vgl. Rittmeyer 1993,
9) eingeführt. Oberacker definiert Lesen ganz allgemein als „Sinnentnahme aus optischen Zeichen“.
Für ihn zählt deshalb auch die Sinnentnahme aus Situationen, Bildern und Symbolen zum Lesen.
Zielniok unterscheidet in der Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung drei
Gruppen von Schülern hinsichtlich ihrer Lesefähigkeit. Zum einen gibt es eine geringe Zahl von
Schülern, die keinerlei Schriftbild und keinen Buchstaben als Laut erkennen können. Eine größere
Zahl, die bestimmte Namen, Aufschriften, Schilder wieder erkennen können. Und einen nicht zu
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vernachlässigen Teil von Schülern ist das Erlernen der alphabetischen Strategie möglich, so dass sie
auch (neue Schriftbilder) und fremde Texte erlesen und einfache Texte auch verstehen können (vgl.
Zielniok 1984, 1).
Auch der bayerische Lehrplan für die Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung
plädiert für einen erweiterten Lese- und Schreibbegriff. Besonders das Lesen schließt auch das
Verstehen von Körpersprache, Handlungen, Bildern, Symbolen und Signalen ein. So werden
entnommene Informationen mit der persönlichen Erlebniswelt in Beziehung gesetzt und wieder
erkannt. Schreiben im erweiterten Sinne heißt, sich auf den unterschiedlichen Ebenen in
kommunikativer Absicht auszudrücken. Der Einsatz von Körpersprache, Handlungen, Bildern,
Symbolen und Signalen ermöglicht es, sich mitzuteilen und Aussagen über sich selbst zu machen
(vgl. Lehrplan Bayern, Deutsch an der Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung
2003, 102).
Der erweiterte Lesebegriff versteht Lesen demnach als Wahrnehmen, Deuten und Verstehen von
konkreten, bildhaften, symbolhaften und abstrakten Zeichen und Signalen (Günthner, 2000, 14).
Hublow entwirft hierfür ein sechs-stufiges Entwicklungsmodell der Lesefähigkeiten, das vom
Situationslesen zum Schriftlesen die natürliche Entwicklung beschreibt. Er plädiert dafür, die
Schüler auf ihrer jeweiligen Stufe zu fördern, um eine Weiterentwicklung zu ermöglichen (Hublow,
1977, 202ff:
Situationslesen
Hierunter fällt die Deutung der Mimik, Gestik und Sprache als Ausdruck von handelnden Personen
sowie die Erfassung der Bedeutung von Gegenständen und Geräuschen. Beispielsweise die Deutung
von Gesichtsausdrücken.
Bilderlesen
Hier soll die Bedeutung aus bildlichen, zweidimensionalen, unbeweglichen und geräuschlosen
Abbildungen entnommen werden. Beispielsweise durch das Erkennen von Personen auf Fotos und
Abläufen anhand von Bilderreihen.
Bildzeichenlesen
Schematische Abbildungen, die nicht mehr der wahrgenommenen Realität entsprechen aber auch
die Bedeutung von Symbolen werden erschlossen. Hierunter fällt die Interpretation von Ampeln,
Richtungspfeilen, etc.
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Signalwortlesen
Häufig auftretende Hinweis- und Warnschilder sowie immer wiederkehrende geschriebene Worte,
wie beispielsweise Stoppschilder, Namensschilder und Logos von Markennamen wie „Coca-Cola“
werden korrekt gedeutet.
Ganzwortlesen
Beim Ganzwortlesen können oft auftretende oder häufig geübte Wörter, wie beispielsweise
Wochentage oder Namen anderer Personen, an der gesamten Wortgestalt wieder erkannt werden. So
kann ihnen Bedeutung zugeschrieben werden.
Schriftlesen
Hier kann die alphabetische Schrift durch Analyse und Synthese der Buchstaben gelesen und
verstanden werden. Einzelne oder fremde Worte, Sätze und Texte können so sinnerfassend gelesen
werden.
Insgesamt sollte allen Schülern der Förderschulen Geistige Entwicklung durch eine individuell
passende Leselehrmethode das Lesen und Schreiben ermöglicht werden. Die Entscheidung darüber,
ob wann und wie einem geistig behinderten Schüler ein sinnvoller Zugang zum Lesen eröffnet
werden kann, ist nach Hublow immer von seinen individuellen Möglichkeiten abhängig (vgl. Haug,
Keuchel, 1984, 40). Wesentlich ist die Einbeziehung zusätzlicher Lernhilfen und
Anschauungsmittel, wie beispielsweise von Lautgebärden oder Mundbildern, aber auch eine klare
Strukturierung des Inhalts ist für die meisten Schüler hilfreich. Denn aufgrund der großen
Heterogenität der Schüler der Schulen mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung ist es
wichtig, auf eine große Vielfalt an Methoden zurückgreifen zu können (vgl. Marx 2007, 171). Nach
dieser Auffassung vom Lesen geistig behinderter Schüler ergeben sich neue, sinnvolle Ansätze zum
Lesenlernen (vgl. Zielniok 1984, 1).
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3.3 Schriftspracherwerbskonzepte für die Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung
3.3.1 Alle Schüler umfassende Konzeptionen
3.3.1.1 Werner Günthner: Lesen und Schreiben an der Schule für GeistigbehinderteIn diesem 1999 erschienenen Konzept von Werner Günthner ist kein Lehrgang enthalten. Es handelt
sich vielmehr um eine Konzeption des Schriftspracherwerbs für alle Schüler der Schulen mit dem
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Grundlage ist der von Hublow u. a. vorgestellte
„erweiterte Lesebegriff“ sowie der „erweiterte Schreibbegriff“. Eine Alphabetisierung zieht
Günthner nur für Schüler in Betracht, die „voraussichtlich zur Analyse, Synthese und Sinnentnahme
aus Sätzen und Texten befähigt sind“ (Günthner 1999, 18).
Günthner schlägt vor, die Klasse für den Deutschunterricht in leistungshomogene Gruppen
einzuteilen, in die „Signal- und Ganzwortleser“ auf der einen Seite und die „Schriftleser“ auf der
anderen. Diese beiden Gruppen bilden die Elemente seiner Konzeption, denn es wird sowohl der
integrative Leseunterricht mit den vom erweiterten Lesebegriff abgeleiteten Abstufungen, als auch
der fachorientierte Lese- und Schreibunterricht für die Gruppe der Schriftleser dargestellt.
Integrativer Leseunterricht
Dieser ist am Alltag der Schule orientiert und soll in den Tagesablauf und das Unterrichtsgeschehen
eingebettet werden. Der Klassenraum soll zum Lesen und Schreiben anregend gestaltet sein und
sowohl Bücher, Zeitschriften, als auch Schreibmaterialien enthalten. Jede Tätigkeit im Unterricht,
wie beispielsweise die Kommunikation zwischen Schule und Elternhaus sollen als Lese- und
Schreibanlass genutzt werden, um den Schülern die Bedeutung von Lesen und Schreiben sichtbar
zu machen. In den Tagesablauf ist aber auch das Vorlesen und die Freiarbeit integriert Günthner
differenziert seine Übungsvorschläge, um alle Kinder mit einzubeziehen. Er orientiert sich dabei an
den Leseformen, die Hublow im Rahmen des erweiterten Lesebegriffs beschrieben hat.
Situationen lesen
Wird durch Gebärden, Gestik und Mimik angeregt und durch Übungen, wie Rollenspiele, Videos
von Alltagssituationen und Puppenspiele oder auch Ratespiele trainiert. Außerdem sollen Räume,
Gegenstände und Orte erkundet werden, akustische Signale für bestimmte Aktivitäten dargestellt,
oder Gegenständen nach Oberbegriffen sortiert werden.
Bilder lesen
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Der Stundenplan sowie Handlungsabläufe (Tagesablauf, Tätigkeiten, Einkaufsliste), werden mit
Fotos dargestellt und somit für alle Lesbar gemacht. Es können Familienbücher, Fotobücher von
Gegenständen, Personen, Orten oder Tätigkeiten mit Hilfe von Fotos hergestellt werden. Das
Bilderlesen soll durch das Lesen von Bauanleitungen und Comics, aber auch durch den Einsatz von
Bilderspielen, wie beispielsweise Memory oder Kofferpacken gefestigt werden.
Bildzeichen (Piktogramme) und Signalwörter lesen
Hier wird ein aus vier Schritten bestehendes methodisches Vorgehen vorgeschlagen:
• Schüler suchen innerhalb und außerhalb der Schule nach bestehenden Piktogrammen.
• Schüler versuchen die Bedeutung der Piktogramme zu entdecken und zu versprachlichen.
• Übungen im Klassenzimmer. Die bereits erlernten Piktogramme sollten immer im
Klassenraum zur Verfügung stehen.
• Lernerfolgskontrolle.
Übungen zu Piktogrammen: Zuordnen, Suchen, Erfinden und Sortieren von Piktogrammen, das
Erstellen eines Lesebuches, Stundenplans und Wetterplans.
Übungen zu Signalwörtern: Wort- Wort und Wort- Bild Zuordnungen, Oberbegriffe finden,
Versprachlichung der Signalwörter.
Ganzwort lesen
Die Schüler sollen sowohl den eigenen Namen, als auch die Namen der Mitschüler lesen, aber auch
Wochentage und Monate als Ganzwörter im Stundenplan erarbeiten und Sätze aus Ganzwörtern
lesen und schreiben (z.B. Willi → = Willi geht nach Hause).
Günthner schlägt vor, dass den Schülern, die sich auf der Ebene der Bildzeichen und der
Ganzwörter befinden, neben dem Lesen auch das Schreiben ermöglicht werden soll. Hierfür sollen
Bild- und Wortkarten angefertigt werden, mit denen die Schüler Sätze legen können. Alle Wörter,
die nicht bildlich dargestellt werden können, können durch Pfeile ersetzt werden, durchgestrichene
Pfeile ermöglichen die Verneinung. In diesem Zusammenhang stellt Günthner vier Funktionen des
Schreibens vor:
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1. Schreiben (auch Kritzeln) ist Teil eines Spiels
Günthner betont den Rollenspielcharakter des Schreibens und empfiehlt dieses durch die
Bereitstellung von Materialien wie Lottozettel, Briefumschläge, Einkaufszettel etc. zu unterstützen.
2. Lebenspraktischer Aspekt der Verständigung oder der Mitteilung
Eine wichtige Funktion des Schreibens ist der Mitteilungsaspekt. Dieser kann im Schulalltag durch
das Aufschreiben und Aufmalen von Informationen z.B. an die Eltern, berücksichtigt und geübt
werden.
3. Informationen zum eigenen Nutzen fixieren
Damit ist das Aufschreiben von Notizen, z.B. in den Kalender und in das Merkheft gemeint. Auch
hier ist wieder der Einsatz von Piktogrammen oder Bildern möglich.
3. Texte verfassen
Günthner hebt hervor, dass das Schreiben auch einen gestalterischen Aspekt hat. Schüler können
durch Schreibanlässe dazu angeregt werden, von ihren Erlebnissen zu berichten oder ihre Phantasie
zu Papier zu bringen. Um Schreibhemmungen zu verhindern, sollte hier allerdings nicht zu früh auf
die richtige Schreibweise geachtet werden.
Fachorientierter Lese- und Schreibunterricht
Günthner stellt die Vorgehensweise Analytisch- Synthetischer- Verfahren untergliedert vor und
beschreibt für jeden Schritt angemessenes Material und Übungen zur Ergänzung des Lehrgangs.
Analyse
Ausgangspunkt sind die abgespeicherten Ganzwörter, aus denen in einer optischen und akustischen
Analyse Buchstaben ausgegliedert, anschließend als Groß- und Kleinbuchstaben geübt und
geschrieben/ gedruckt werden. Als sinnvolle erste Buchstaben sieht Günthner die Vokale „a“, „e“,
„i“, „o“, „u“ und die leicht artikulierbaren Konsonanten „m“, „p“, „l“, „t“. Er schlägt folgende
Übungen für die optische Analyse vor:
Übungen mit Buchstabenkarten:
Wörter sollen zunächst vor den Schülern auf Karton geschrieben werden. Die einzelnen Buchstaben
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werden ausgeschnitten, um anschließend von den Schülern wieder zu einem Wort zusammenlegt zu
werden. Mit den entstandenen Buchstabenkarten können verschiedene Übungen, wie beispielsweise
das Heraussuchen verschiedener Buchstaben, oder das Zusammenlegen verschiedener Buchstaben
durchgeführt werden.
weitere Übungen:
Buchstabenposter: Einzelne Buchstaben werden aus Zeitschriften ausgeschnitten und auf Plakate
gelegt/geklebt. Außerdem soll ein Buchstabenpuzzle (Zusammenlegen von Groß- und
Kleinbuchstaben) durchgeführt werden, Styroporbuchstaben sollen geangelt und/ oder gestempelt
werden, ein Buchstabenklappbuch - mit drei Buchstaben zum Vergleich - soll hergestellt werden,
etc.
Zur Unterstützung der akustischen Analyse soll mit Hilfe von Buchstabenkarten die Laut-
Buchstaben- Zuordnung trainiert werden. Hierzu eignet sich die Übung: „Gummisprache“:
gemeinsam werden bekannte Wörter stark gedehnt ausgesprochen, so dass die verschiedenen Laute
eines langsam vorgesprochenen Wortes bestimmt werden können. Günthner empfiehlt die
einzelnen Laute im Wort zusätzlich durch die Verwendung von Lautgebärden sichtbar zu machen.
Außerdem schlägt Günthner drei Übungen speziell für das Training der Anlaute vor:
• Das Spiel: „Ich sehe was, was du nicht siehst, das fängt mit /m/ an“.
• Einen Buchstabentisch, auf dem Gegenstände gesammelt werden, die z.B. mit /m/
anfangen.
• Ein Anlautposter auf dem Bilder von Gegenständen geklebt werden, die mit dem
gleichen Anlaut beginnen.
Synthese
Synthese meint das Zusammenschleifen der einzelnen Laute zu einem Wort. Damit sollte nach dem
Erlernen der ersten Buchstaben begonnen werden. Günthner schlägt vor, die Schüler beim Erlernen
der Synthese zu unterstützen, in dem die Lehrkraft zunächst laut mitliest. Begonnen werden sollte
mit kurzen, einfachen Silben, aus denen sich einfache lauttreue Wörter bilden lassen. Zweisilbige
Wörter, wie z.B. „ma“/ „ma“ können mit den passenden Silbenkarten als Puzzle zusammengelegt
und auseinander genommen werden. Günthner schlägt vor, möglichst früh mit dem Schreiben zu
beginnen, da es die Synthese optimal unterstützen kann. Denn da die Schüler beim Schreiben
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parallel mitsprechen, üben sie so das Zusammenschleifen der Laute. Um eventuelle feinmotorische
Schwierigkeiten zu umgehen, können sowohl Schreibmaschinen (heute wohl eher Computer), als
auch Stempel verwendet werden. Unterstützend können Lautgebärden, sowie eine Reihe weiterer
Übungen auf Silbenebene eingesetzt werden. Dazu gehören beispielsweise: Buchstaben sortieren,
verbinden, zu Wörtern zusammenpuzzeln, Wortteile miteinander verbinden, aber auch die
„Synthesemaschine“ und „Wortschieber“ bei denen ein Wort Buchstabe für Buchstabe aufgedeckt
und verdeckt werden kann.
Sinnentnahme
Günthner betont die besondere Schwierigkeit der Sinnentnahme beim Lesen. Er schreibt, dass mit
bereits bekannten Wörtern gearbeitet und auf das laute, deutliche Lesen der Schüler geachtet
werden soll, da sich die Sinnentnahme seiner Meinung nach bei Leseanfängern über das gehörte
oder ausgesprochene Wort entwickelt. Er schlägt einige Übungsvorschläge speziell für das
sinnentnehmende Lesen vor. Dazu gehört die Zuordnung von Wort zu Wort (z. B. nach
Oberbegriffen oder Reimen), von Wort zu Bild und von Sätzen zu ihrer richtigen Ergänzung bzw.
Antwort.
Schreiben
Als Voraussetzungen für das Schreibenlernen ist es für Günthner wichtig, dass die Schüler über eine
verfeinerte Graphomotorik verfügen, die Form des Buchstabens abspeichern können und
Kenntnisse über die Buchstabe- Laut- Zuordnung sowie Analyse- und Synthesefähigkeiten besitzen.
Um diese zu trainieren, führt er eine Reihe Übungen vor allem zur Graphomotorik, zur
Wahrnehmung im taktilen Bereich und zur Wahrnehmung im visuellen Bereich auf. Bezogen auf
das Schreiben selbst macht er keine eigenen Übungsvorschläge, sondern empfiehlt, die Schüler so
viel wie möglich selbstständig schreiben zu lassen, ohne auf Rechtschreibung zu achten. So steht
der Mitteilungscharakter des Schreibens im Vordergrund.
Fazit
In dieser Konzeption für den Schriftsprachunterricht an Schulen mit dem Förderschwerpunkt
Geistige Entwicklung fällt auf, dass sie keine Schülergruppe ausschließt. Zudem werden je nach
Leistungsstand der Schüler eine Reihe interessanter und teilweise auch neuer Übungen vorgestellt,
die den Unterricht gut ergänzen können. Auffällig ist, dass moderne Medien, wie beispielsweise
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Talker in der Konzeption nicht auftauchen, obwohl sie gerade bei der Förderung von Schülern mit
einer schwererern Behinderung im heutigen Schulalltag allgegenwärtig sind. Auch der Einsatz von
Computern beim Verfassen von Texten wird nicht vorgeschlagen. Möglicherweise hängt das damit
zusammen, dass Günthner wesentlich mehr Übungsvorschläge zum Lesen lernen herausgearbeitet
hat, während er dem Schreiben ein deutlich kürzeres Kapitel ohne explizite Übungsvorschläge
widmet.
3.3.1.2 Programm von Ch. Haug und B. Keuchel
Christine Haug und Brigitte Keuchel stellten 1984 mit ihrem Buch „Lesen, Schreiben und Rechnen
mit geistig Behinderten“ ein Handbuch zur Didaktik der Kulturtechniken zur Verfügung.
In diesem Buch werden drei Aufbauprogramme vorgestellt. Ein Programm zum „Naiv-
Ganzheitlichen Lesen“, ein Programm, das Vorübungen zum Schreiben und Zeichnen darstellt und
ein weiteres Konzept für das „Schreiblesen“. Die in diesem Buch beschriebenen Aufbauprogramme
orientieren sich jeweils an unterschiedlichen Lehrgängen.
„CH“, „ch“, sowohl in großen- als auch in kleinen Druckbuchstaben eingeführt. Den Buchstaben:
„J“, „Q“, „V“, „X“, „Y“, „Ä“, „Ö“, „Ü“ werden keine sinnngebenden Laute zugeordnet. Sie werden
lediglich als Anlaute gelernt. Zunächst werden die Laute in einen Sinnzusammenhang gestellt,
erhalten eine Bedeutung und werden entsprechend den sechs Stufen: der Motivation, der
Orientierung, der Handlung, der bildhaften Darstellung der Handlung, der lautsprachlichen
Darstellung der Handlung und der gedanklichen Erarbeitung der Handlung vermittelt.
Auf jeder Etappe des Lernwegs sollte der Lehrer darauf achten, dass er bei keinem Schüler eine
Stufe überspringt, die dieser noch nicht durchlaufen hat. Denn diese Stufen des Lernwegs, von der
Motivation zum Gedanken sind nach Mann immer als Einheit zu sehen und nur in dieser Einheit
findet eine Entwicklung statt. Die Tätigkeiten, die Sprache und das Denken verändern sich, so dass
der Ausgangspunkt für das Lernen sprunghaft eine immer höhere Qualität erreicht (vgl. Mann 1992,
71).
Silben
Es wird von den sinnhaften Silben ausgegangen. Danach werden in allen möglichen Variationen
Konsonant- Vokal Verbindungen geübt (u. a. aus dem Lied begleitend zum Leselehrgang): „Ha“,
„Hi“, „Hu“, „Ho“, „He“. Schließlich werden auch andere Verbindungen wie „DU“, „DA“, „SO“,
„SE“, „WO“, „RO“ etc. gelernt.
Wörter
Nach dem Erlernen von Silben können Wörter erarbeitet werden
Das Lesen und Schreiben von Geschichten
53
Übungen
Laute
Nachdem die Laute in einen Sinnzusammenhang gestellt und entsprechend den sechs Stufen
(Motivation, Orientierung, Handlung, bildhafte Darstellung der Handlung, lautsprachliche
Darstellung der Handlung und gedankliche Erarbeitung der Handlung) vermittelt wurden, wird das
Zuordnen der Buchstaben zu den bedeutungstragenden Lauten geübt. Die Übungen werden auf
verschiedene Weise durchgeführt, so werden z.B. die Holz- Plastikbuchstaben den Bildkarten oder
Gebärden zugeordnet. Um dieses auch spielerisch zu gestalten werden verschiedene Spiele wie
Domino, Lotto, Memory und Quartettspiele durchgeführt. Zu jedem zu erlernenden Laut werden
sowohl Gebärden als auch Erlebnisse angeboten. Das „Erlebnis“ für den Laut: „A“, „a“ ist
beispielsweise ein Besuch beim Zahnarzt, welcher als Rollenspiel durchgeführt wird.
Silben
Beim Erlernen der Silben wird zunächst von den sinnhaften Silben ausgegangen. So werden zur
Steigerung der Motivation Silben aus dem Lied zum Lehrgang genommen und schließlich auch
andere geübt. Immer wenn die Silbe einen Sinn ergibt, werden die Assoziationen dazu geäußert z.B.
„Te“: ich trinke Tee. Die sinnhaften Silben werden in einen Erfahrungszusammenhang gestellt und
es werden Bilder dazu gemalt.
Die Lernenden können auf unterschiedliche Weise die Konsonant-Vokal-Verbindungen in einem
von der Autorin angefertigten Silbenbuch üben und machen dabei die Erfahrung dass sie Seite für
Seite lesen können und nicht raten müssen.
Auch Silbendiktate werden durchgeführt. Hier wird jeweils ein Konsonant mit den fünf
verschiedenen Vokalen verbunden, wie z.B.: „KU“, „KA“, „KI“, „KE“, „KO“.
Da das Zusammenziehen der Laute zu einer Silbe ein so komplizierter Prozess ist, wird dieser durch
sprechmotorische Übungen (Bildung der einzelnen Laute) unterstützt. Die Sprechmotorik kann
durch die bewusste Handmotorik unterstützt und aufgebaut werden (vgl. Mann 1992, 84).
Wörter
Aus unterschiedlichen Früchten, wie z.B. der „Ananas“, der „Melone“ oder der „Banane“, die die
Schüler schmecken, schälen und bezeichnen machen sie Obstsalat. Danach malen sie ihre
Erfahrungen auf und verbalisieren sie. Aus den Zeichnungen und dem entsprechenden Text entsteht
dann eine Textseite, wie beispielsweise über Klaus Erfahrungen mit der Kiwi.
Aus dem Erzählen von bedeutsamen Erlebnissen werden dann die bedeutungsvollen Wörter
ausgewählt. Zunächst werden diese gemalt, bevor sie mithilfe von Holzbuchstaben gelesen und
54
geschrieben werden. Außerdem werden die Wörter immer wieder spielend geübt anhand von
Memory, Domino, Lotto und Quartett.
Lesen und Schreiben von Geschichten
Es werden kleine Lesebücher erarbeitet. Hier werden Erlebnisse und Begebenheiten aus der Freizeit
aufgeschrieben. Es kann auch ein Bild dazu gemalt werden
Fazit
In diesem synthetisch- analytischen Leselehrgang werden die Laute von Anfang an in einen
Sinnzusammenhang gestellt und erhalten so eine Bedeutung. Wichtig ist der Autorin dabei, dass die
Tätigkeit der Lernenden immer im Vordergrund steht und sie so den Sinn im Lerngegenstand sehen.
Denn für sie bedeutet Lernen, die Menschen mit den Gegenständen zu verbinden und die
Gegenstände mit den Menschen (vgl. Mann 1992, 201).
Da dieser Lehrgang auf verschiedenen wissenschaftlichen Theorien basiert (Theorie von Vygotsky,
Galperin) und gleichzeitig mit einigen Arbeitern der Werkstatt für Menschen mit einer Behinderung
als Modellversuch durchgeführt wurde, zeigt sich hier eine enge Nähe von Praxis und
wissenschaftlich- theoretischer Reflexion. Dies zeigt, dass es in den Werkstätten viele Menschen
gibt, die gerne lernen wollen und lernen können, die jedoch bisher daran gehindert wurden. Nach
Meinung der Autorin kann derjenige, der mehr gelernt hat auch besser und qualifizierter arbeiten
(vgl. Mann 1992, 201).
3.3.3.3 Niederkrüger, Schmitz: Geistigbehinderte lernen lesen und schreiben Der Leselehrgang: „Geistigbehinderte lernen lesen und schreiben“ von Gudrun Schmitz, Rosemarie
Niederkrüger und Gisela Wrighton aus dem Jahr 1993 wurde speziell für Schulen mit dem
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung entwickelt. Der hier vorgestellte Weg ist keine
Verkleinerung oder Verlangsamung eines üblichen Lese- Schreiblehrgangs, es wird ein eigener Weg
aufgezeigt.
Da die Autorinnen davon ausgehen, dass der Leselehrgang an die jeweilige Schule, ihrem Standort,
der jeweiligen Klasse und den Schülern angepasst werden muss, ist hier kein einheitliches
Lesewerk, keine Fibel oder Lehrbuch für die Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige
Entwicklung entstanden. Dieses muss sich jeder Lehrer anhand eigener Beispiele selbst
zusammenstellen. Zusätzlich zu diesem Lehrgang empfehlen die Autorinnen außerdem als
Lautgebärden die Kochsche Fingerlesemethode.
55
Die Autorinnen gehen davon aus, dass der Schriftspracherwerb bei Kindern mit unterschiedlichen
Behinderungen über den visuellen Kanal angebahnt wird. Die gesprochene Sprache tritt ihrer
Meinung nach beim Erlernen des Lesens und Schreibens in den Hintergrund. Diese Theorie basiert
auf der Annahme, dass sich die Schüler der Vor- und Unterstufe an der Schule mit dem
Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in der Phase des „Voroperatorischen Denkens“ befinden,
in der die Entwicklung der auditiven Wahrnehmung hinter der Entwicklung der visuellen
Wahrnehmung her hinkt (vgl. Schmitz, Niederkrüger, Wrighton 1993, 19). Die Ansätze der
Entwicklung der Wahrnehmung müssen ihrer Meinung nach aufgegriffen und gefördert werden,
damit auch Schüler mit einer geistigen Behinderung eine Möglichkeit haben, die Schriftsprache zu
erlernen.
Da die Schüler mit einer geistigen Behinderung von den Autorinnen als „entwicklungsbehinderte“
Schüler angesehen werden, muss ihnen ein Unterricht angeboten werden, der ihrem
7-8 Buchstaben dazu. Lesen üben mit vorhandenen Buchstaben.
2x Lesen, keine Angabe
95
Schreibfähigkeit trainieren, in kleiner Lineatur schreiben, sinnentnehmend kleine Sätze lesen, komplexere Sätze erlesen, lautgetreues Aufschreiben
Worte 5 Einfache Wörter lesen, Texte abschreiben, Zusammenschleifen, Wortdiktate (z.B. Name), viele Ganzwörter, alle Buchstaben
Selbständig lesen, flüssiges Zusammenschleifen, 4 neue Buchstaben, Feinmotorik üben, Wörter lautgetreu aufschreiben, kleine Sätze lesen
Buch oder Zeitung sinnentneh-mend lesen, „richtig lesen“, einfache Sätze lesen, keine Angabe, sinnentnehmendes lesen
Silben und Buch-staben
8 einige Buchstaben, Silben zusammen-schleifen, Ganzwortlesen, eigenen Namen schreiben
Einige neue Buchstaben, Silbenzusammenschleifen vertiefen. Lautsynthese, neue Ganzwörter (Lernwörter) lesen, Fähigkeiten weiterentwickeln, kurze einfache Wörter erlesen, sinnentnehmendes Lesen einzelner Wörter, loslösen von Ganzwörtern, eigenen Namen schreiben, eigenständig Worte verschriften
Lesen lernen, sinnerfassen-des Lesen, Schrift erkennen, Wörter lesen und kennen, 4x Keine Angabe, kleine Sätze lesen können
7 Anlaute und einige Buchstaben, Buchstabe-Anlautbildverknüpfung, ca. 10 Buchstaben, graphomotoris
Des Lebens freuen,Anlaute hören, Signalwörter lesen, 2 weitere Buchstaben, die anderen Buchstaben festigen, gelernte Anlautbegriffe zuordnen,
6x keine Angabe, Zurechtfinden mit Piktogrammen, einfache, wichtige Wörter lesen
96
che Übungen, Piktogramme und Bilder lesen
Zusammenschleifen erlernen (3-4 Buchstaben), erste Wörter und Silben zusammenschleifen, Buchstaben ohne Hohlform schreiben, vorhandenes sichern
Die Schüler der beiden unteren Leistungsebenen (15 der insgesamt 26 Gruppen) sind noch nicht auf
der Wortebene. Sieben Gruppen davon kennen einige Buchstaben. Sie beschäftigen sich im
laufenden Schuljahr mit der Einführung neuer Buchstaben und dem Zusammenschleifen erster
Silben/Wörter. Die anderen acht Gruppen können bereits erste Silben zusammenschleifen und ihren
Namen schreiben. Ihre Zielsetzung für das Schuljahr ist die Weiterentwicklung des
Zusammenschleifens und das Lesen und Schreiben erster Wörter. Die Ziele beider Ebenen bezogen
auf das Schulende werden selten angegeben: 10 von 15 Aussagen sind ohne Angaben. Die
Aussagen, die wir bekommen haben, sind jedoch konkret formuliert. Auffällig hierbei ist, dass es
einen großen Unterschied in der Zielsetzung der „Silbenleser“ gibt. Eine Gruppe hat das Ziel
sinnentnehmend lesen zu können (auf Textebene), während eine andere einzelne Wörter erlesen
soll. Dieser Unterschied kann einerseits dadurch zustande kommen, dass wir die Einteilung der
Ebenen zu grob vorgenommen haben, auf der anderen Seite kann es sein, dass die verschiedenen
Lehrkräfte in Bezug auf die langfristigen Zielsetzungen unterschiedliche Ansichten haben. Während
einige Lehrkräfte hohe Ziele haben und die Förderung der Schüler darauf ausrichten, haben andere
Lehrkräfte nach eigener Aussage: „realistische“ Ziele, die sich sehr stark am Ist- Stand der Schüler
orientieren.
Die Schüler der fünf Gruppen auf der nächst höheren Ebene, befinden sich bereits auf der
Wortebene und haben das Ziel ihre Lesekompetenz durch das Erlernen neuer Buchstaben zu
verbessern. Auf einer weiteren Ebene gibt es drei Gruppen mit Schülern, die bereits einfache Sätze
lesen können. Ihr Ziel ist es komplexere Sätze zu lesen und das Schreiben zu üben. Es ist
erstaunlich, dass die Schüler der drei Gruppen der beiden stärksten Ebenen bereits Texte
sinnerfassend lesen können. Die Schüler aus zwei dieser Gruppen schreiben außerdem kleine
Diktate und haben für Schuljahresende das Ziel, Fragen zu Texten selbstständig zu beantworten,
wohingegen eine für die Unterstufe ungewöhnlich starke Gruppe eigenständig Texte produzieren
kann.
Von den restlichen vier Ebenen über der Wortebene wird für fast die Hälfte der Gruppen keine
97
Angabe bezogen auf das langfristige Ziel gemacht (vier von elf Gruppen). Bei allen anderen
Gruppen ist die Zielsetzung das Lesen von Büchern und Zeitungen. Die Wortlese- Gruppe, die sich
auf das Lesen von Sätzen beschränkt bildet hier eine Ausnahme.
Auffällig ist, dass auch bei den „Lesern und Schreibern“ viele Lehrkräfte keine Angaben zu den
langfristigen Zielen ihrer Schüler getroffen haben. In den beiden unteren Ebenen, in denen sich die
Schüler noch nicht mit Wörtern auseinandersetzen, werden zu zwei dritteln keine Angaben darüber
gemacht. Die Tendenz ändert sich jedoch ab der Wort- Ebene. Hier werden öfter Angaben gegeben.
Dies deckt sich mit den Ergebnissen der „Bilder- Ganzwort Leser“, wo von den Lehrkräften
ebenfalls weniger Angaben über die schwächeren Gruppen gemacht wurden. Wir schließen daraus,
dass es sich um eine generelle Tendenz der Lehrkräfte handelt, sich über die Ziele für die
schwächeren Schüler nicht so bewusst zu sein, wie bei stärkeren Schülern und sie so im Interview
ungenauer bzw. gar nicht zu formulieren. Dadurch besteht die Möglichkeit einer Benachteiligung
der schwächeren Schüler durch unfachgerechte Förderung.
Konzeptionen
Aus den angegebenen Lehrgängen und den zusätzlichen Materialien haben wir drei verschiedene
Unterrichtskonzeptionen für den Deutsch- Unterricht erstellt. Zwei Konzeptionen arbeiten mit dem
Leselehrgang: „Momel lernt lesen“, eine weitere basiert auf dem Leselehrgang: „Lesenlernen mit
Hand und Fuß“:
Anzahl der Klassen
Konzeption
4 Hauptsächlich „Momel lernt lesen“
• Vorläuferfähigkeiten: graphomotorische Übungen des „Momel“-
• Andere Programme (nicht Buchstaben üben): „Bitte lesen“
2 „Lesenlernen mit Hand und Fuß“ als Basis
• graphomotorische Übungen
• Buchstaben üben mit eigenem Material
• Programme: Lesen und Verstehen, Computer: (Budenberg, Gebärdenprogramm)
Neun von den elf untersuchten Klassen arbeiten mit dem Leselehrgang: „Momel lernt lesen“. In
einer Klasse gibt das Schulkonzept den Leselehrgang: „Lesenlernen mit Hand und Fuß“ vor, dort
werden die Buchstaben jedoch nach dem Lehrgang „Momel lernt lesen“ eingeführt. Die Konzeption
der beiden anderen Klassen basiert auf dem Lehrgang: „Lesenlernen mit Hand und Fuß“.
Es sieht so aus, als ob der Leselehrgang: „Momel lernt lesen“ im Deutschunterricht der Schulen mit
dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung eine entscheidende Rolle spielt. Dies geht auch aus
den Aussagen der Lehrkräfte über diesen Lehrgang hervor. Generell wird dieser als besonders
angemessen für die Altersklasse beschrieben. Als Positiv wird zum einen die Vorgehensweise (klare
Strukturierung, die Kleinschrittigkeit des Lehrgangs, Gebärden für Grapheme), das Material,
welches für die Altersgruppe geeignet ist und sich gut modifizieren lässt, aber auch die Motivation
des Lehrgangs (Anschaulichkeit, Handpuppe, Geschichten) hervorgehoben. Einzelne Lehrkräfte
kritisieren an diesem Leselehrgang jedoch den Fibel- Text, der ihrer Meinung nach nicht gut ist,
bemängelt wird auch, dass „Momel“ als einziger Lehrgang nicht ausreicht. Eine Lehrerin kritisiert
außerdem, dass bei der Durchführung des Lehrgangs nicht alle Schüler gleichzeitig beschäftigt sind.
Besonders hervorzuheben ist die Aussage: „Es gibt kein anderes [Programm]“ (siehe Tabelle d12 in
Anhang5).
Zusätzlich gibt es in allen Klassen Material zum Üben der Buchstaben und Vorläuferfähigkeiten. Es
werden andere Programme (entweder am Computer oder Arbeitsblätter aus anderen
Leselehrprogrammen) oder eigen erstelltes Material genutzt. Von allen Klassen wird das
99
Computerprogramm „Budenberg“ als zusätzliches, unterstützendes Material genutzt. Von den
Lehrkräften wird dieses Programm aufgrund seiner „Schlichtheit“ und „Minimalistischen
Ausführung“ als geeignet für den Einsatz an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Geistige
Entwicklung angesehen. Im folgenden Unterpunkt werden wir uns genauer mit den Materialien
auseinandersetzen.
Material
Für die Darstellung des verwendeten Zusatzmaterials haben wir die gleiche Tabellenform gewählt
wie schon bei dem Material für die „Bilder-Ganzwort-Leser“. Beim direkten Vergleich wird gut
sichtbar, wie groß die Materialspanne innerhalb der Klassen ist:
Anzahl der Klassen
Material-gruppen
Material Übungen
4 Wahrneh-mung
Kim-Spiele Konzentration, Physiomotorische Übungen, Vorübungen im Wahrnehmungsbereich, Figur-Grund-Wahrnehmung, Visu-motorische-Übungen
11 Ganzwörter Gebärdenkarten, Wort-Bild-Zuordnung, Gebärdenprogramm am Computer, Lautsprachbegleitende Gebärden, Tage, Zahlen, Monate, Namen, eigene Lernwörter, Bingo
Wortschatztraining, Sätze legen mit Ganzwörtern und Bildern, Namen nachspuren, eigenen Namen schreiben, Ganzwort-Bild/Symbol-Zuordnung, Symbolschriftkärtchen
6 Anlaute Anlauttabelle, Lautgebärden, Computer, Anlautbuchstaben+ Bilder an der Tür/ auf Poster
Anlaute finden, Anlaute hören, Phonetische Übungen als Einstieg, Wörter finden, die mit neuen Buchstaben anfangen, Anlaute zu Bildern sortieren
Buchstaben nachspuren, Prickeln, Kneten, In Sand schreiben,
100
11 Grapheme und Phoneme
Arbeitsblätter, Wochenplan, Klammerkärtchen, „Budenberg“, Spiele für Buchstaben, „Bergedorfer Kopiervorlagen“, Lautgebärden + Stationen aus dem Leselehrgang: „Lesen lernen mit Hand und Fuß“, Magnetbuchstaben, Holzbuchstaben, „Konfetti“, Konfetti- CD, Buchstaben mit Bild, Von A bis Z (Computer), Druckschriftlehrgang von „Momel“, Fühlbuchstaben, Große Papierrollen mit Buchstaben, Freiarbeitsmaterialien von „Hand und Fuß“, Buchstabenhefte, Stempel, Selbstkontrollmaterial, Norddruck
Prickeln, Kneten, In Sand schreiben, Backen, Phonetische Übungen als Einstieg, Buchstaben nachschleifen, Phonemtraining, Buchstaben schreiben, Buchstaben heraushören und schreiben, Inlautbestimmen mit Kärtchen
Jede der vier Klassen besitzt Material mit Bildern, Piktogrammen und Symbolen. Das stellt einen
106
Unterschied zur Unterstufe dar, wo weniger als die Hälfte der Klassen mit Bildern und
Piktogrammen arbeiten. Auch die Ganzwörter stellen einen deutlichen Unterschied zum
Materialfundus der Unterstufenklassen dar. Ganzwörter, die geübt werden sind wie auch schon in
der Unterstufe: Namen, Wörter aus dem Stundenplan, einige wichtige Themen-bezogene Wörter
und Ganzwörter aus den Leselehrgängen. Zusätzlich bieten die Lehrkräfte hier jedoch auch
Sachthemen- bezogene Wörter, z.B. aus den Bereichen Wetter, Feste, Jahreskreis, Städtenamen etc.
an. Außerdem gibt es Wörter aus speziellen Interessensgebieten wie der Bundesliga, Wörter aus der
Ganzwortsammlung „Leseschwänke- Brüggemann“ und es werden Satzanfänge geübt. Angesichts
dieses vielfältigen Materials sehen wir uns in unserer Schlussfolgerung aus dem letzten Unterpunkt
bestätigt, dass hier der Schwerpunkt auf der Festigung und Ausweitung des Ganzwortvokabulars
liegt.
Wie schon erwähnt, haben wir das Material für Anlaute und Buchstaben in die Materialdarstellung
der „Bilder- Ganzwortleser“ aufgenommen, wir wissen jedoch nicht genau, ob dieses Material auch
von dieser Gruppe genutzt wird. Dafür spricht, dass das Material, wie beispielsweise
Holzbuchstaben unserer Meinung nach vor allem für das Erlernen der ersten Buchstaben geeignet
ist. Dagegen spricht jedoch, dass für keine der Gruppen das Schreiben von Buchstaben von den
Lehrkräften explizit als Ziel für den Unterricht angegeben wurde (siehe Tabelle e6 in Anhang 5).
Daher vermuten wir, dass das Training der Buchstaben/Anlaute eine zusätzliche Hilfe für das Lesen
von Ganzwörtern oder für das Schreiben des eigenen Namens darstellt.
„Leser und Schreiber“
Gruppen
Die „Leser und Schreiber“ werden in drei von uns untersuchten Klassen in drei verschiedene
leistungshomogene Gruppen unterteilt, in der vierten Klasse gibt es nur ein Gruppe (siehe Tabelle
e8 in Anhang 5).
In der folgenden Tabelle teilen wir diese Gruppen in fünf verschiedene Leistungsebenen ein. Einen
Schüler, der eine eigene Leistungsgruppe bildet, haben wir bewusst nicht aufgenommen, da er aus
Migrationsgründen über mangelnde Deutschkenntnisse verfügt. Grundsätzlich wird dieser jedoch
von der Lehrkraft den „Lesern und Schreibern“ zugeordnet.
107
Anzahl der Gruppen
Gruppe (Ist- Stand) Ziel am Ende des Schuljahres
Ziel am Schulende
2 Textlesen+ Fragen dazu beantworten, selbstständiges Textschreiben, vereinfachte Ausgangsschrift, überwiegend lautgetreues Schreiben, aber Kenntnis einiger orthographischer Regeln
Satzanfänge großschreiben, Punkt am Ende des Satzes schreiben, Lernwörter richtig schreiben, Unterscheidung zwischen Verben und Nomen (Groß- und Kleinschreibung), freies Briefe schreiben
Zeitung lesen können,
Briefe verfassen und Mitteilungen schreiben (z.B. SMS, Einkaufszettel) Orientierung im Alltag durch Lesen
Kleine Lektüren lesen
1 Selbstformuliertes Schreiben von Sätzen, sinnentnehmendes lesen von kurzen einfachen Texten+ Fragen beantworten
Verbesserte Grammatik (Präpositionen und Pronomen), Verbesserung der Fähigkeit sich schriftlich auszudrücken
Im Gegensatz zur Unterstufe stellen die Materialien in der Mittelstufe teilweise die Basis der
Unterrichtskonzeption dar und nehmen deswegen einen hohen Stellenwert ein. Bezogen auf die
oben dargestellten Leistungsgruppen innerhalb der „Leser und Schreiber“ zeigt sich, dass sich die
zwei stärksten Gruppen mit Lektüren auseinandersetzen. Für diese und die weitere fortgeschrittene
Gruppe wird Material auf der Satz-, Text- und Wortebene angeboten. Alle weiteren Gruppen
befinden sich noch nicht auf Wortebene. Wir vermuten, dass für diese das Material zum Üben von
Worten, Buchstaben, Ganzwörtern und Silben verwendet wird, wobei wir Materialien zur
Feinmotorik, zu Anlauten und zu Graphemen/Phonemen als Buchstaben-Material zusammenfassen.
Es ist auffällig, dass in allen Klassen Material auf Text- und Satzebene angegeben wurde, obwohl
sich nur in drei der Klassen Gruppen auf diesem Leistungsstand befinden. Eventuell ist uns ein
Fehler bei der Zuteilung der Materialien unterlaufen, oder die Texte bzw. Sätze werden von den
Lehrkräften anders genutzt, wie z. B. zum Training des Hörverständnisses.
Nur in einer der Klassen werden Wahrnehmungsübungen durchgeführt. Möglicherweise wird in den
anderen Klassen das Training der Wahrnehmung, falls es stattfindet, nicht mehr dem
Schriftspracherwerb zugeordnet.
113
4.4.2.3 Unterrichtsziele
Lesen versus Schreiben
Die Aussagen der Lehrkräfte bezogen auf ihre Zielsetzung beim Lesen und Schreiben haben wir in
vier Kategorien eingeteilt. Für einige Lehrkräfte ist Lesen wichtiger als Schreiben, während für
andere beides gleich wichtig ist. In einigen Klassen wird mit dem Lesen bzw. dem Schreiben
begonnen und anschließend beides gleichwertig unterrichtet.
Die Lehrkräfte haben sich, mit einer Ausnahme, bei dieser Frage auf alle Schüler ihrer Klasse
bezogen. Eine Lehrkraft unterscheidet in Bezug auf die Zielsetzung zwischen den leistungsstärkeren
und -schwächeren Schülern, so dass diese Klasse in zwei Kategorien auftaucht und wir insgesamt
19 Aussagen haben.
Anzahl der Aussagen
Gruppen Begründungen
1 x Unterstufe
2x Mittelstufe (1x nur stärkere Gruppe)
Beides gleich wichtig
Schreiben: Briefe verfassen,
Lesen: sinnentnehmendes Lesen, durch Lesen wird Schreiben gefördert
Für leistungsstärkere Schüler der Mittelstufe
1x Vorstufe
7x Unterstufe
Erst mal Lesen, dann sowohl Lesen als auch Schreiben
Lesen geht erstmal besser/ hat Vorrang wegen Orientierung im Alltag, aber Zusammenschleifen ist schwierig
Schreiben ist schwieriger wegen der motorischen Leistung, erfordert sehr viel Übung, Schüler erlernen schneller Lesen, bevor sie selbst schreiben können, Schreiben kommt zeit verzögert: Schwerpunkt liegt deshalb auf Kommunikation und Freude daran, 2x Schreiben trainiert das Lesen,
2x Wichtig: eigenen Namen schreiben, Adresse schreiben
durch Lesen kommt Interesse für das Schreiben,
Ziel: Selbstständigkeit
2x Vorstufe
1x Unterstufe
Erst mal Schreiben, dann sowohl Schreiben als
Schreiben muss mehr geübt werden,
Lesen ist schwierig wegen dem Zusammenschleifen
114
auch Lesen
2x Unterstufe
3x Mittelstufe (1x nur schwächere Gruppe)
Lesen ist wichtiger
Lesen: 2 x ist Lebensnäher, wichtig zur Orientierung/ Kommunikation,
Schreiben: wird nie nutzbar, freies Schreiben ist fast unmöglich, motorisch schwierig (möglicherweise mit PC) Schreiben wird trotzdem gefördert, 2x ist nicht lebensnah/ alltagsrelevant, das Anspruchslevel ist zu hoch,
Wichtig: Eigenen Namen schreiben
„Nicht- schreiben zu können ist nicht so stigmatisiert wie nicht- Lesen zu können“
Für leistungsschwächere Schüler der Mittelstufe
Wir haben uns mit dieser Frage auseinandergesetzt, da die Zielsetzung des einzelnen Lehrers
Auswirkungen auf den Unterricht bzw. die jeweilige Unterrichtskonzeption hat. Betrachtet man alle
Stufen im Vergleich, dann wird sichtbar, dass sie unterschiedliche Schwerpunkte bezogen auf das
Lesen und Schreiben setzen.
In zwei der drei Vorstufen legen die Lehrkräfte zunächst mehr Wert auf das Schreiben, wobei sie
später beide Kulturtechniken als gleichwertig ansehen. Das Zusammenschleifen beim Lesen sehen
sie als schwierig an, aber sie legen sehr viel Wert auf das Schreiben des eigenen Namens. Da diese
Kategorie überwiegend von Vorstufenlehrern genannt wird, scheint es sich hierbei um ein
Kennzeichen der Konzeption der Schuleingangsstufe zu handeln.
Betrachtet man die Aussagen der Lehrkräfte der Unterstufe, so fällt auf, dass über die Hälfte
momentan das Lesen als wichtiger einschätzen, später das Lesen und Schreiben als gleich wichtig
ansehen. Im Gegensatz zur Vorstufe wird hier das Schreiben als schwieriger beschrieben. Auf
Grund seiner motorischen Anforderung braucht es mehr Übung als das Lesen und dadurch mehr
Zeit. In zwei weiteren Unterstufenklassen legen die Lehrkräfte mehr Wert auf das Lesen, da dieses
für die Orientierung im Alltag notwendig ist. Insgesamt sehen sie das Schreiben als weniger
Bedeutsam an, eine Ausnahme bildet das Schreiben des eigenen Namens.
Auch in der Mittelstufe gibt es drei Aussagen von Lehrkräften, die das Lesen als wichtiger ansehen.
Wir möchten eine Aussage dazu hervorheben: „Nicht- Schreiben zu können ist nicht so stigmatisiert
wie nicht- Lesen zu können“. Im Gegensatz dazu sehen zwei Lehrkräfte der Mittelstufe Lesen und
Schreiben als gleich bedeutsam an. Ihrer Meinung nach wird das Lesen durch das Schreiben
115
gefördert und bezogen auf das Schreiben wurde, anders als in den anderen Kategorien eine konkrete
Zielsetzung: „Briefe schreiben“ angegeben.
Grundsätzlich wird das Lesen als wichtiges Ziel betrachtet, da es zur besseren Orientierung in der
Umwelt dient und so die Selbstständigkeit der Schüler fördert. Das Schreiben ist nicht für alle
Lehrkräfte gleich wichtig. Was stärker gefördert wird, hängt von der jeweiligen Schulstufe ab.
Die unterschiedliche Gewichtung des Lesens und Schreibens wird also sowohl von der aktuellen
Zielsetzung der verschiedenen Schulstufen, als auch von der Einstellung der Lehrkräfte zum
Schreiben beeinflusst.
116
5. Fazit
Insgesamt sind wir mit dem Verlauf unserer Untersuchung und den daraus entnehmbaren
Ergebnissen sehr zufrieden. Besonders der persönliche Kontakt zu den Lehrkräften und die oft sehr
netten Interviews haben uns viel Freude bereitet. Die Ergebnisse unserer Untersuchung ermöglichen
uns zunächst eine Darstellung der Bedingungen des Schriftspracherwerbsunterrichts auf
verschiedenen Ebenen. Insgesamt mussten wir feststellen, dass in den von uns untersuchten Schulen
die Schrift- bzw. Bücherkultur nicht sehr ausgeprägt ist. Es gibt oft kaum oder keine außer-
unterrichtlichen Angebote zur Schriftsprache, kaum Schulbüchereien und ein geringes Angebot an
AGs. Diese Tatsache bemängeln wir, da wir es als Teil des Schriftspracherwerbs ansehen, dass sich
die Schüler auch außerhalb des Unterrichts mit der Schriftsprache auseinandersetzen.
Weiter zeigte sich, dass es in den meisten Schulen – außer in den Unterstufen - kein einheitliches
Schulkonzept gibt. Dies macht die Planung des Unterrichts sehr stark von der Kompetenz der
Lehrkraft abhängig. Da viele Kollegen fachfremd unterrichten steigt ihre Belastung durch das
Fehlen eines einheitlichen Konzeptes noch zusätzlich.
Die Effektivität des Unterrichts wird aber auch durch weitere Faktoren beeinflusst, wie
beispielsweise durch die Anzahl der Blöcke Deutschunterricht pro Woche. In den von uns
untersuchten Klassen variiert diese jedoch stark. In einigen der untersuchten Klassen mussten wir
leider feststellen, dass die für den Deutschunterricht eingeplante Zeit als zu gering zu betrachten ist.
Im Durchschnitt der untersuchten Klassen werden drei Blöcke pro Woche unterrichtet, was unserer
Vermutung nach hinter dem zeitlichen Raum den der Deutschunterricht an Grundschulen einnimmt
zurückbleibt.
Positive Auswirkung auf den Unterricht konnten wir bei der räumlichen Situation in den Klassen
feststellen, weil durch diese in der Regel ein weiterer Raum zur Differenzierung zur Verfügung
steht. Auch der durchschnittlich gute Betreuungsschlüssel und die gute Versorgung mit
Pflegekräften tragen dazu bei, dass die Lehrkräfte offenbar genügend Zeit für den Unterricht haben
auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler eingehen können.
Da wir davon ausgehen, dass die von der Lehrkraft formulierten Ziele, einerseits ihre Kompetenz
widerspiegeln und andererseits die Förderung des Schülers festlegen, interessierten uns die in den
Interviews angegebenen Zielsetzungen besonders. Diese wurden jedoch von den Lehrkräften
oftmals gar nicht angegeben oder nur ungenau formuliert. Besonders auffällig war in diesem
117
Zusammenhang, dass die Ziele für schwächere Unterstufenschüler deutlich ungenauer formuliert
wurden, als für die übrigen Schülergruppen. Das könnte damit erklärt werden, dass die Lehrkräfte
in der Förderung der leistungsstärkeren Schüler kompetenter sind und deshalb die Zielsetzung und
Förderung der Schüler besser im Blick behalten können. Ist also ein Ergebnis dieser Arbeit die
Kompetenzdiskrepanz der Lehrkräfte zwischen dem Schriftspracherwerb leistungsstarker und
leistungsschwacher Schülergruppen? Obwohl die auffälligen Unterschiede in den
Zielformulierungen dafür sprechen ist dies hier und mit unserem Material nicht abschließend
festzustellen und bedürfte einer eingehenden, weiteren Untersuchung.
Des weiteren stellt sich uns allerdings die Frage, wie genau die Ziele formuliert werden sollen.
Kann man bei einzelnen Schülern schon in der Unterstufe das Erlernen der alphabetischen Schrift
ausschließen, oder sollte man die Förderung mit möglichst vielen Angeboten auf allen Ebenen
durchführen? Hier macht u. a. der erweiterte Lese- und Schreibbegriff Sinn, welcher dazu beiträgt,
auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Schülers einzugehen.
Insgesamt ist vielen Lehrkräften das Lesen aufgrund seiner Alltagsrelevanz wichtiger als das
Schreiben. Doch sollte die Zielsetzung im Deutschunterricht an Schulen mit dem
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung nicht sowohl das Lesen, als auch das Schreiben
umfassen, anstatt diese auf den lebenspraktischen Gebrauch zu reduzieren? Lesen und auch
Schreiben hat dem lebenspraktischen Aspekt auch kulturell eine große Bedeutung. Hier besteht
unserer Meinung nach die Gefahr, dass die Schüler nicht ihren Möglichkeiten entsprechend
gefördert werden, sondern dass von der Behinderung ausgegangen wird, diese in den Mittelpunkt
gestellt und sie so aufrecht gehalten wird. Allen Schülern sollten im Deutschunterricht möglichst
viele Lernangebote gemacht werden und die Ziele sollten so formuliert werden, dass sie das
Potenzial der Schüler ausbauen und nicht von vorne herein in Frage stellen.
Ein weiterer wichtiger Teil der Unterrichtsgestaltung ist der Umgang mit der Heterogenität der
Schüler. In allen Klassen werden die Schüler zunächst in möglichst leistungshomogene
Lerngruppen unterteilt. Innerhalb dieser variiert die Arbeitsform nur wenig, es wird bevorzugt
Einzelarbeit durchgeführt. Bei einer solchen homogenen Lernsituation steht die Leistung der
Schüler im Vordergrund, der soziale Aspekt des Lernens wird jedoch benachteiligt. Es sollte unserer
Meinung nach ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Arbeitsformen hergestellt werden, so
dass die Zusammenarbeit der Schüler untereinander gefördert wird.
Die Unterrichtskonzeptionen fast aller Klassen des ersten Schulbesuchsjahres haben gemeinsam,
dass noch nicht mit dem eigentlichen Leselehrgang begonnen wird. Sie unterscheiden sich jedoch in
118
den trainierten Vorläuferfähigkeiten zum Schriftspracherwerb und somit in den angebotenen
Materialien. Hier zeigt sich ein großer Unterschied zum Deutschunterricht an der
allgemeinbildenden Grundschule, wo bereits ab der ersten Klasse der Schriftspracherwerb auf Basis
von Graphem- Phonem- Verbindungen stattfindet.
Ab dem zweiten Schulbesuchsjahr werden die Schüler in verschiedene Leistungsgruppen unterteilt,
die nach unterschiedlichen Konzeptionen unterrichtet werden. Auf der einen Seite gibt es
Schülergruppen, die sich mit Bildern und Ganzwörtern auseinandersetzen, andere Schülergruppen
beschäftigen sich hingegen mit Buchstaben. Für die Gruppe der „Bilder-Ganzwort-Leser“ finden
sich verschiedene Materialien. Diese erstrecken sich über die Bereiche: Wahrnehmungsförderung,
Feinmotorik, Bilder, Symbole, Ganzwörter und Talker. Da in den Interviews der Schwerpunkt der
Lehrkräfte auf den Schülergruppen liegt, die sich mit Buchstaben auseinandersetzen, können wir für
die Schüler, die sich mit Bildern und Ganzwörtern beschäftigen, keine eigene Unterrichtskonzeption
herausarbeiten. Es stellt sich die Frage, warum dies so ist. Haben die Lehrer überhaupt eine
Konzeption für die Schüler auf Bilder- und Ganzwortebene? Offensichtlich liegt das
Hauptaugenmerk auch bei Lehrkräften, die in Förderschulen unterrichten, auf dem „wirklichen“
Lesen und Schreiben im engeren Sinne.
Im Folgenden setzen uns mit den Konzeptionen für den Lese- und Rechtschreiberwerb auseinander.
Ein wesentliches Merkmal für die Unterrichtskonzeptionen sind die Leselehrgänge. Hier gibt es
spezifische Lehrgänge für die Förderschule. Wie wir in der Untersuchung festgestellt haben, wird in
der Unterrichtspraxis überwiegend der Lehrgang „Momel“ benutzt. Dieser arbeitet - wie andere
aktuelle Fibeln der Grundschule auch - methodenintegriert, d. h. er verbindet sowohl synthetische
als auch analytische Verfahren und führt die einzelnen Buchstaben in einem sinnvollen Ganzen ein.
Zusätzlich beinhaltet „Momel“ aber auch Lautgebärden und motivierende Elemente. Andere
Lehrgänge, wie „Lesenlernen mit Hand und Fuß“ und „Lesen mit Lo“ sind schon älter und werden
in vielen Klassen lediglich als Zusatzmaterial verwendet. In der Mittelstufe werden seltener
einheitliche Lehrgänge angeboten, hier finden sich eher individuelle Konzeptionen der Lehrkräfte.
Zusätzlich zu den Lehrgängen werden in jeder Klasse jedoch vielfältige Materialien angeboten. Der
Leselehrgang selbst bildet in der Schule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung - im
Gegensatz zur Grundschule - nur eine Grundlage, der den Unterricht strukturiert. Zum Festigen und
Üben der Unterrichtsinhalte werden viele Zusatzmaterialien angewendet. Hier finden sich
Materialien zu allen Bereichen des Schriftspracherwerbs wie beispielsweise Laute/Buchstaben,
Silben oder Wörter. Man sieht, dass das Material in der Unterrichtskonzeption einen hohen
Stellenwert einnimmt. Daraus ist abzuleiten, dass der Unterricht an Schulen mit dem
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung sich im Gegensatz zur Grundschule nicht so stark am
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Tempo des Leselehrgangs, sondern stärker an den individuellen Bedürfnissen der Schüler orientiert.
Insgesamt konnten wir ein sehr vielseitiges und in vielen Bereichen durchaus positives Bild des
Schriftspracherwerbs an Schulen mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung gewinnen.
Allerdings ist uns auch bewusst geworden, dass für viele Lehrkräfte beim Schriftspracherwerb die
lebenspraktischen Ziele im Mittelpunkt stehen.
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6.Literaturverzeichnis
Arbeitsgemeinschaft Schwäbischer Sonderschullehrer. DREHER J., PFAFFENDORF, R. (Hrsg.):