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Türkische Volksmärchen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. 2008

Apr 26, 2023

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Kostbarkeiten aus dem reichen Erzählschatz Anato-liens versammelt dieser Band, der uns in neunund-zwanzig Märchen in eine exotische Welt entführt. Wirbegleiten Prinzen und Zauberwesen auf ihre Aben-teuer, aber auch Menschen aus dem einfachen Volk,wie Keloglan, den kahlköpfigen Jungen, oder Köse,den Dünnbart, die durch List und Verstand viel errei-chen. Wir treffen auf Kamertaj, das Mondross, das dieHelden in Sekundenschnelle an den Wunschort beför-dert, oder auf den Smaragdphönix, dessen majestäti-sche Flügel sogar die Sonne verdecken können. Dochauch hierzulande Bekanntes taucht auf: seien es ver-traute Gesellen wie Fuchs und Hase in den Tiermär-chen oder ein Tischlein, das im Handumdrehen dieherrlichsten Leckereien hervorzaubern kann.In einem kenntnisreichen Nachwort erläutern die He-rausgeberinnen die Fülle der Stoffe und Motive sowieandere Besonderheiten der türkischen Volksmärchen.

Zu den Herausgeberinnen: Sevgi Agcagül wurde 1971in der Türkei geboren. Sie studierte in Mainz Turko-logie, IslamischePhilologieundRomanistikundwurdein diesen Fächern promoviert. Sie arbeitet als wissen-schaftliche Mitarbeiterin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Elisabetta Ragagnin, 1972 in Italiengeboren, studierte in Venedig Orientalistik und wurdein Mainz im Fach Turkologie promoviert. Seit 2003ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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TürkischeVolksmärchen

Ausgewählt und nacherzähltvon Sevgi Agcagül

und Elisabetta Ragagnin

Mit Illustrationenvon Elisabetta Ragagnin

Deutscher Taschenbuch Verlag

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OriginalausgabeOktober 2008

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH& Co. KG,Münchenwww.dtv.de

© Deutscher Taschenbuch Verlag, MünchenUmschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: ›Portrait of Sultan Mehmet II‹(Türkische Schule)/Bridgeman Giraudon

Gesetzt aus der Palatino 10/12,25.

Gesamtherstellung: Druckerei C.H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · isbn 978-3-423-13699-0

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Inhalt

Märchen von Prinzen,Peris und anderen Zauberwesen

Die drei Orangen-Peris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Die vierzig Prinzen und der siebenköpfigeDrache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Die Geschichte von den weinenden Granatäpfelnund den lachenden Quitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Die Geschichte vom Kristallpalast und demDiamantschiff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Der Pferdeprinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78Bruder und Schwester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93Die Geschichte vom Smaragdphönix . . . . . . . . . . . . . . 101Der Dew in Rossgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131Kamertaj, das Mondross . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139Die schöne Sultanstochter und die vierzigRäuber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

Teuer wie Salz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

Märchen vonMenschen aus dem einfachen Volk

Das Ali-Dschengis-Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177Geduldstein und Geduldmesser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183Das schöne Helwa-Mädchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190Die Tochter des Basilienkräutlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198Die Tochter des Holzhackers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

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Der Bauer und Sultan Mahmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214Das Märchen von der Schlauheit der Frauen . . . . . . 216Das Märchen vom Köse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224Keloglan und die Tochter des Aga . . . . . . . . . . . . . . . . . 230Keloglan fährt nach Jemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233Das Märchen von Mehmed dem Kahlen . . . . . . . . . . 238Die Leber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

Tiermärchen

Der Hase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253Der schwanzlose Fuchs und der Bär . . . . . . . . . . . . . . . 255Fuchs, Krebs und Schildkröte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257Die Krähe und der Holzsplitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259Die alte Frau und die Maus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263Katz undMaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Anhang

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280Quellennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

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Märchen von Prinzen,Peris und anderen Zauberwesen

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Die drei Orangen-Peris

E s war einmal, und doch war es keinmal. In uralterZeit, da lag das Sieb im Stroh, da war alles Lüge,

was wahr war, und wahr, was Lüge war. Wir lebtenim Überfluss, aßen und tranken den ganzen Tag undschliefen dennoch hungrig ein. In solcher Zeit lebteeinmal ein Padischah. Dieser hatte so gar keine Freudeam Leben, denn er hatte keine Kinder.Tag und Nacht saß er bekümmert in seinem Palast

und gab sich seinen traurigen Gedanken hin. EinesTages, wie er wieder für sich saß und seine Kinder-losigkeit bedauerte, gesellte sich sein Lala zu ihm undfragte ihn, was der Grund für seine Trauer sei. DerPadischah antwortete: »Ich bin alt geworden und habekeine Kinder, die mich in meinem Alter aufheiternkönnten.« Da wusste auch der Lala keinen Rat, undum seinen Padischah ein wenig aufzumuntern, schluger vor, eine Wanderung durch sein Reich zu machen.So machten sich beide auf denWeg.Wie sie nun so wanderten, gelangten sie eines Tages

in ein großes Tal. Dort setzten sie sich nieder, um einwenig zu rasten. Doch plötzlich ging ein lauter Knall

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durch das Tal und vor ihnen erschien ein weißbärtigerDerwisch in grünen Gewändern und gelben Schuhen!Der Padischah und sein Lala waren vor Furcht ganzerstarrt, aber als der Derwisch sich ihnen näherte undihnen seinen Gruß, Selâmın aleyküm, entbot, fassten sieMut und grüßten zurück: Ve aleyküm selâm.»WohindesWeges,Padischah?«, fragtederDerwisch.

»Wenn du es erraten konntest, dass ich der Padischahbin, so wirst du auch den Grund meiner Reise ken-nen«, versetzte der Padischah. Daraufhin nahm derDerwisch einen Apfel aus seinem Umhang hervor,reichte ihn dem Padischah und sprach: »Teile diesenApfel in zwei Hälften, gib die eine deiner Gemahlin,die andere verzehre selbst, und dir wird dein Wunschin Erfüllung gehen.« Nach diesen Worten verschwander so plötzlich, wie er erschienen war.Der Padischah ging heim, teilte den Apfel in zwei

Hälften, gab die eine Hälfte seiner Gattin zu essen, dieandere verzehrte er selbst und – nach neun Monatenund zehn Tagen gebar ihm seine Gemahlin endlichden ersehnten Sohn. Die Freude des Padischahs warso groß, dass er Geld an die Armen verteilen ließ,Sklaven die Freiheit schenkte und ein Festessen nachdem anderen veranstaltete.Jahre vergingen, und der Prinz wuchs heran und

erreichte sein vierzehntes Lebensjahr. Eines Tages gingder Junge zu seinem Vater und sagte zu ihm: »Padi-schah, mein Vater, lass mir einen kleinen Palast erbau-en. Unter ihm sollen sich zwei Quellen befinden, ausder einen soll Öl fließen, aus der anderen Honig.« Dader Padischah seinen einzigen Sohn sehr liebte, konnteer ihm keinen Wunsch abschlagen, und so wurde derPalast mit den beiden Quellen, wie es sich der Prinz

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gewünscht hatte, erbaut. Der Prinz richtete sich nun inseinem Palast ein und sah tagaus, tagein den beidenQuellen zu, wie aus der einen Öl und der anderenHonig floss.An einem dieser Tage erschien eine alte Frau mit

einem Krug in der Hand und bat ihn, den Krug ausden Quellen füllen zu dürfen. Der Prinz wollte mitdieser Alten nichts zu schaffen haben und daher nahmer einen Stein, warf ihn nach dem Krug und zerschlugihn damit. Die Alte sagte darauf nichts und ging wie-der ihres Weges. Am nächsten Tag aber kam sie miteinem anderen Krug zum Palast des Prinzen und batihn erneut, aus seinen Quellen schöpfen zu dürfen.Aber auch dieses Mal wollte der Prinz die alte Frauvertreiben und warf wieder einen Stein nach ihremKrug, worauf auch dieser in Scherben zerfiel. Ohneein Wort zu sprechen, entfernte sich die Alte. Tagsdarauf erschien sie mit einem dritten Krug, der eben-falls zerstört wurde. Die alte Frau konnte nun nichtmehr an sich halten und sprach: »O Jüngling! Ich hoffebei Gott, dass du den drei Orangen-Peris verfällst.«Mit diesen Worten kehrte sie um und ging fort. DerPrinz gab nicht viel auf diese Worte und widmete sichweiter der Betrachtung seiner Quellen.Doch von diesem Tag an kränkelte er und wurde

ganz welk und bleich im Gesicht. Und da sein Zustandsich von Tag zu Tag verschlechterte, ließ der Padi-schah, sein Vater, einen Arzt kommen und sich desPrinzen annehmen. Aber weder der Arzt noch andereGelehrte konnten hinter die Ursache seines Leidenskommen, und niemand konnte ihn davon erlösen. Dasprach der Prinz eines Tages zu seinem Vater: »OSchah, mein Vater! Diese Leute werden mich nie hei-

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len, denn ich wurde verwünscht und bin den dreiOrangen-Peris verfallen. Ichmuss sie finden, sonst gibtes keine Rettung für mich.« Dem Padischah gefiel dieRede seines Sohnes gar nicht, war er doch sein einzigesKind auf Erden. »Mein Sohn«, jammerte der Padi-schah, »wenn du fortgehst, woran soll ich mich dannnoch erfreuen?« Doch die Lage des Prinzen ver-schlechterte sich zunehmend, und endlich sah derPadischah ein, dass er gut daran täte, seinen Sohn zuentlassen, auf dass er die drei Peris finde, damit seinHerz geheilt werde. Schweren Herzens gab er ihm dieErlaubnis zu dieser Reise.Der Prinz traf nun seine Vorbereitungen und nach

kurzer Zeit war er gerüstet und machte sich auf denWeg. Über Berg und Tal und Stock und Stein wanderteer nun bald zwei Jahre. Eines Tages, als der Prinz ineiner endlosen Ebene umherging, sah er plötzlich aufeinem Berg jenseits der Ebene eine riesenhafte Frau.Es war die Dew-Mutter, die mit einem Fuß auf einemBerg stand und mit dem anderen auf einem anderen.In ihrem Mund kaute sie laut schmatzend Harz, sodass man es noch weit über die Ebene hörte; wenn sieLuft holte, kam dies einem Sturm gleich; ihren einenBusen hatte sie über die eine Schulter geschlagen undden anderen Busen über die andere, und sie hatteArme so lang wie neun Ellen. Unser Prinz überlegtenun, was er tun solle. »Wenn ich zu ihr gehe, tötet siemich sogleich. Doch eine Umkehr bedeutet ebenfallsmein Ende«, sprach er in Gedanken zu sich und soentschloss er sich dazu, da er nichts zu verlieren hatte,geradewegs auf sie zuzugehen. Er schritt denn mutigauf die Riesenfrau zu, rief: »Guten Tag, Mütterchen!«,und schlang seine Arme um sie. Da fing die Frau zu

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reden an und sagte: »Hättest du mich nicht ›Mütter-chen‹ genannt, hätte ich dich sofort verschlungen.« Siefragte dann den Jungen, woher er komme und wohiner gehe. »Ach, mein Mütterchen«, seufzte der Knabe,»es ist ein so großes Unglück über mich gekommen,dass es besser ist, wenn du nicht danach fragst und ichdir nicht davon berichte.« – »Sag es mir nur«, forschtedie Mutter der Dews. Der Prinz seufzte nochmals undsagte: »Mütterchen, ich bin den drei Orangen-Perisverfallen, und wenn du den Weg zu ihnen kennst, soweise ihn mir, denn sonst finde ich keine Erlösungvon meiner Qual!« – »Halte ein!«, rief die Frau, »es istverboten, ihren Namen an diesem Ort auszusprechen!Meine Söhne und ich sind ihre Wächter, aber auchwir wissen nicht, an welchem Ort sie sich aufhalten.Meine vierzig Söhne durchwandern die ganze Erdeund kennen ihren Aufenthaltsort nicht. Aber vielleichtwissen sie dennoch einen Weg, diesen ausfindig zumachen. Ich werde sie fragen, wenn sie heute Abendheimkehren.«Bevor es aber Abend wurde und die Söhne der Frau

heimkehrten, nahm sie den Prinzen, versetzte ihmeinen Schlag und verwandelte ihn damit in einenWasserkrug. Und kaum hatte sie den Krug zu ihremanderen Gerät gestellt, als ihre vierzig Söhne auchschon nach Hause kamen. Sogleich riefen sie: »Mutter,wir riechen Menschenfleisch; hast du hier etwa einenMenschen versteckt?« – »Was sollte ein Menschenkindhier zu suchen haben? Ihr werdet noch Fleischbrockenzwischen euren Zähnen haben, deren Geruch euch indie Nase steigt!«, entgegnete ihre Mutter, »reinigt lie-ber eure Zähne!« So nahm nun jeder der Söhne einenHolzscheit zur Hand und stocherte damit in seinen

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Zähnen. Es fielen allerlei Gliedmaßen aus ihren Mün-dern. Dann setzten sich alle hin und nahmen ihr Essenzu sich. Während sie nun friedlich aßen, nutzte ihreMutter die Gelegenheit und fragte: »Wenn ihr einenMenschenbruder hättet, was tätet ihr dann?« Die Söh-ne antworteten: »Was sollten wir schon tun, wir wür-den ihn lieben, als wäre er einer von uns.« Die Mutterließ sie aber schwören, dass sie einem solchen Brudertatsächlich keinen Schaden zufügen würden, und alsdiese endlich schworen, versetzte sie dem Krug einenSchlag und sofort erschien unser Prinz in Menschen-gestalt. »Dies hier ist euer Bruder«, sprach sie zu ihrenvierzig Söhnen. Die Dews begrüßten den Prinzen vol-ler Freude, nannten ihn ihren Bruder, hießen ihn Platznehmen und fragten ihre Mutter, warum sie ihnendies nicht früher mitgeteilt habe, damit sie mit ihremBruder zusammen hätten speisen können. »MeineSöhne«, sprach die Frau, »er isst nicht solche Speisenwie ihr; Hühner, Schaffleisch und dergleichen essendie Menschenkinder.« Sogleich erhob sich einer derSöhne, entfernte sich und kehrte bald mit einem Schafzurück, das er vor den Jüngling hinstellte.»Das muss man doch vorher braten!«, sprach die

Frau. Also zogen sie dem Schaf das Fell ab, machtenFeuer, brieten es und setzten es dem Prinzen vor. Er aßein Stück davon, und als er satt war, schob er den Restbeiseite. Die Dews nötigten ihn weiterzuessen, aberihre Mutter klärte sie auf, dass die Menschenkindereben nur so viel äßen. »Lasst sehen«, sprach einer dervierzig Brüder, »wie schmeckt wohl das Schaffleisch?«Er griff zu und in zwei, drei Bissen hatte er das gesam-te Schaf verzehrt. Darauf legten sich alle schlafen.Am nächsten Morgen sprach die Frau zu ihren Söh-

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nen: »Meine Söhne, euer Bruder hat einen großenKummer!« – »Was bekümmert ihn denn?«, fragten sie,»vielleicht könnenwir ihmhelfen!« – »Er hat sich in diedrei Orangen-Peris verliebt, aber er weiß nicht, wo ersie finden kann«, antwortete die Mutter. »Wir«, mein-ten die Söhne, »kennen ihren Wohnort auch nicht. Wirgehen nie in ihre Gegend, aber vielleicht weiß es unse-re Tante.« – »Dann führt ihn zu ihr«, sprach die Frau,»sagt ihr, dass ich sie grüßen lasse und dass dies meinSohn ist, den sie ebenfalls wie ihren Sohn aufnehmenund ihm helfen soll.«Die Dews führten also den Prinzen zu ihrer Tante

und teilten ihr seine Absicht mit. Diese ältere Dew-Frau wusste aber auch nicht den Aufenthaltsort derOrangen-Peris, doch sie wollte auf die Rückkehr ihrersechzig Söhne warten und diese fragen. Da überließendie vierzig Dews ihren Bruder der Tante und tratenihre Rückreise an. Die Dew-Frau befürchtete, dass ihreSöhne den Menschensohn verschlingen würden, so-bald sie ihn sähen. Um ihn zu schützen, versetzte auchsie ihm einen Schlag und verwandelte ihn damit inein Glas und stellte es in den Schrank.Ihre Söhne kehrten heim und riefen sofort: »Mutter,

wir riechen Menschenfleisch! Hast du hier jemandenversteckt?« Ihre Mutter aber entgegnete: »Vielleichthabt ihr Menschenfleisch gegessen und davon ist euchetwas zwischen den Zähnen hängen geblieben.« Da-rauf nahm jeder einen Holzscheit in die Hand undreinigte seine Zähne. Alles Fleisch, das ihnen aus demMund fiel, hoben sie auf und verschlangen es. Da ihreSöhne nun besänftigt waren, schlug die Frau auf dasGlas und der Prinz kam wieder zum Vorschein. Alsnun die sechzig Dews ihren kleinen Menschenbruder

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erblickten, begrüßten sie ihn herzlich, boten ihm einenPlatz an und brachten ihm etwas zu essen.»Meine Söhne«, sprach am nächsten Morgen die

Mutter der Dews, »euer Bruder hat sich in die Oran-gen-Peris verliebt, könnt ihr ihn nicht zu ihnen füh-ren?« – »Wahrlich, das können wir nicht«, versetztendie Dews, »denn wir wissen nicht, wo sie wohnen.Aber vielleicht weiß unsere älteste Tante denWeg dort-hin.« – »Dann führt ihn zu ihr«, trug ihnen ihre Mutterauf, »ich lasse sie grüßen. Sagt ihr, dies sei mein Sohnund deshalb auch der ihre; sie möge ihm helfen.« DieDews führten also den Jüngling zu ihrer ältesten Tanteund erzählten ihr die Sache. »Omeine Kinder«, meintedie alte Frau, »das weiß ich auch nicht. Aber wennheute Abend meine achtzig Söhne heimkehren, so willich sie danach fragen.«Die sechzig Dews ließen also den Prinzen bei ihrer

Tante und gingen fort. Als endlich der Abend heran-brach, versetzte die Frau dem Jüngling einen Schlag,wodurch er in einen Besen verwandelt wurde, den siehinter die Tür stellte. Bald kamen die achtzig Dewsheim, rochen auch den Menschengeruch und stocher-ten sichMenschenfleisch zwischendenZähnenheraus.Während des Essens fragte die Mutter sie, was wäre,wenn sie einenMenschenbruder besäßen, und als auchsie den Eid schworen, ihm kein Leid zuzufügen, daschlug die Frau auf den Besen, und der Prinz erschien.Herzlich empfingen ihn seine Brüder, erkundigten

sich nach seinem Befinden, gaben ihm Speisen undpflegten und hegten ihn. Da fragte sie die Frau, ob sienicht wüssten, wo sich die drei Orangen-Peris befän-den, denn ihr neuer Bruder habe sich in sie verliebt.Voll Freude sprang der jüngste Dew-Sohn hervor und

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sagte, dass er es wisse. »Wenn du es also weißt«,meinte die Mutter, »führe deinen Bruder hin, damitsein Wunsch in Erfüllung geht.«Am nächsten Morgen also führte der jüngste Sohn

den Prinzen mit sich fort. Nach einer Weile sprach derkleine Dew Folgendes: »Bruder, bald gelangen wir inden Garten, in dessen Wasserbecken sich drei Oran-gen-Peris befinden. Wenn ich dann sage: ›Schließe dieAugen, öffne die Augen‹, so greife nach dem, was duerblickst.«Sie gingen noch ein kurzes Stück des Weges und

kamen endlich im Garten an. Als der Dew das Wasser-becken erblickte, rief er dem Jüngling zu: »Schließe dieAugen, öffnedieAugen!«Der Prinz sah,wie eineOran-ge aus demBecken auf derWasseroberfläche auftauch-te, ergriff sie und steckte sie in die Tasche. Abermalsschrie der Dew: »Schließe die Augen, öffne die Au-gen!« Der Prinz schloss und öffnete die Augen, er-haschte die zweite Orange und auf gleiche Weise auchdie dritte. Nun sprach der Dew zu ihm: »Mein Bruder,jetzt hast du die Orangen gefunden, in denen sich diePeris befinden. Achte gut auf sie und sieh zu, dass dusie nur dann öffnest, wenn du dich an einem Ort be-findest, wo auch Wasser ist. Sonst könntest du es be-reuen!« Der Prinz versprach, seinen Rat zu befolgen,und die beiden trennten sich.Der Prinz trat nun seinen Rückweg an. Auf einmal

fielen ihm die Orangen wieder ein und er dachte sich,dass er eine davon schälen könne. Er nahm eine hervor,und kaum hatte er sie angeschnitten, da schlüpfte einwunderschönes Mädchen heraus, das dem Mond amVierzehnten glich. »Um Gottes willen, gib mir Wasser,ich verbrenne!«, rief es, und als er ihm keines geben

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konnte, verschwand es von der Erde. Der Prinz bedau-erte das sehr, aber es war nun einmal geschehen. Ernahm sich aber vor, bei den anderen Orangen dengleichen Fehler nicht noch einmal zu machen.Dann zog er weiter seines Weges und nach einiger

Zeit fielen ihm die Orangen wieder ein. Er nahm diezweite hervor; und als er sie aufschnitt, kam ein nochschöneres Mädchen als das erste heraus. Doch auchdieses Mal hatte der Prinz kein Wasser, und als dasMädchen danach verlangte, konnte er ihm keines ge-ben. Da verschwand auch dieses Mädchen.»Das dritte werde ich besser behüten«, dachte der

Prinz bei sich und zogweiter seinesWeges. Er gelangtenach langer Wanderung zu einer Quelle, trank darausund ruhte sich ein wenig aus. Da fiel ihm die dritteOrange ein und da er Wasser in der Nähe hatte, fander, dass dies der richtige Ort sei, um sie zu öffnen. Ernahm die Orange also hervor und öffnete sie. Vorseinen Augen erschien ein Mädchen, das tausendmalschöner war als die beiden vorherigen. Und als diesesMädchen nachWasser verlangte, führte er es zur Quel-le und gab ihm zu trinken. Das Mädchen stillte seinenDurst und blieb am Leben. Die Maid stand nun ganznackt vor ihm, und da er sie so nicht in die Stadt führenkonnte, sagte er ihr, sie solle auf den Baum neben derQuelle steigen, während er in die Stadt gehe und einenWagen und Kleider besorge, um sie als seine Braut inden Palast seines Vaters, des Padischahs, zu bringen.Als sich der Prinz entfernt hatte, kam eine schwarze

Sklavin zur Quelle, und als sie Wasser schöpfte, er-blickte sie das Bild des Mädchens darin und dachte, essei ihr eigenes. »Ei«, sprach sie zu sich, »ich bin jaschöner als meine Herrin; darum trage ich ihr kein

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Wasser mehr; von nun an soll sie mir welches brin-gen!« Hierauf zerbrach sie ihren Krug, ging heim undals ihre Herrin sie fragte, wo das Wasser sei, antworte-te sie: »Ich bin schöner als du; von nun an hole du mirWasser!« Die Herrin nahm einen Spiegel hervor undhielt ihn ihr hin, indem sie sprach: »Bist du von Sin-nen? Sieh dich hier im Spiegel an!« Die Sklavin blicktein den Spiegel hinein und sah nun, dass sie schwarzwar. Ohne ein Wort mehr zu sagen, nahm sie einenanderen Krug in die Hand, ging abermals zur Quelle,und als sie wieder das Bild der Peri im Wasser erblick-te, glaubte sie erneut, dass es sie selbst sei. »Ich bindoch schöner als meine Herrin!«, rief sie, zerbrach denKrug und ging nach Hause. Abermals fragte ihre Her-rin sie, warum sie kein Wasser gebracht habe. »Ich bindoch schöner als du, bring du mir Wasser!«, lauteteihre Antwort. »Du bist wahnsinnig geworden, Skla-vin!«, entgegnete die Herrin, holte abermals den Spie-gel hervor, und als sich die Negerin darin erblickteund ihr wirkliches Aussehen sah, nahm sie wiedereinen Krug zur Hand und ging zur Quelle hin. DasBild des Orangenmädchens erschien wieder im Was-ser, und als die Sklavin zum dritten Mal ihren Krugzerschellen wollte, rief ihr die Peri aus dem Baumwip-fel zu: »Zerbrich deinen Krug nicht; du erblickst meinAntlitz im Wasser und glaubst, das deine zu sehen!«Die Negerin blickte empor, und als sie das feenhaftschöne Mädchen sah, stieg sie zu ihr auf den Baumhinauf und ließ sich von ihr berichten, was sie dorthingeführt hatte. Nachdem die Sklavin die Geschichtegehört hatte, dachte sie sich insgeheim eine List ausund umschmeichelte die Orangen-Peri mit den Wor-ten: »Du liebliches Mädchen, deine Haare sind voller

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Läuse; komm, leg dein Haupt in meinen Schoß, ichwill deinen Kopf säubern.« Sie legte nun das Hauptder Maid in ihren Schoß, so dass diese nicht sehenkonnte, was die Schwarze trieb. Diese nahm nämlicheine verzauberte Nadel hervor, stach in den Schädelder Maid hinein, worauf sich diese in einen Vogel ver-wandelte und flatternd davonflog. Die schwarze Die-nerin setzte sich nun an die Stelle der Orangen-Periund wartete auf den Prinzen.Nun kam der Prinz auf prächtigemWagen in golde-

nen Kleidern heran, blickte auf den Baum hinauf, undals er das schwarze Antlitz sah, fragte er die Maid, wasihr widerfahren sei. »Du ließest mich hier zurück undgingst von dannen«, sprach die Negerin, »die Sonnehat mich so sehr geschwärzt.« Was sollte nun der armePrinz tun? Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie indenWagen zu heben und sie als seine Braut zu seinemVater zu führen. Die Palastleute harrten voll Neugier-de auf die Feenbraut des Prinzen, und als sie nun dasNegermädchen erblickten, fragten sie den Prinzen:»Was hast du denn an diesemNegermädchen Liebens-würdiges finden können?« – »Sie ist keine Negerin«,versetzte der Prinz, »ich ließ sie auf einem Baumwipfelzurück, dort wurde sie von der Sonne so verbrannt;wenn sie sich einige Tage ausgeruht hat, wird sie wie-der weiß.« Er führte sie nun in sein Gemach und war-tete, dass sie weiß werde.Neben dem Palast des Prinzen befand sich nun ein

großer Garten; auf einen Baum desselben flog derOrangenvogel hin und rief den Gärtner herbei. »Waswillst du von mir?«, fragte der Gärtner. »Was machtder Prinz?«, forschte der Vogel. »Er ist gesund«, ver-setzte der Gärtner. »Wie befindet sich seine schwarze

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Frau?«, fragte der Vogel. »Nun, sie ist auch gesundund hockt in ihrem Gemach«, lautete die Antwort desGärtners. Da rief das Vöglein: »Dornen sollen ihrwachsen, auf dass sie nicht mehr sitzen kann, und die-ser Baumhier soll verdorren!«, und flog davon.Am nächsten Tage kam es wieder hin, ließ sich auf

einem anderen Baum nieder und fragte den Gärtnererneut nach dem Prinzen und dessen Frau und sprachabermals seine Verwünschung aus. Am dritten Tagetat es desgleichen, und jeder Baum, auf den es sichsetzte, verdorrte unter ihm.Eines Tages langweilte sich der Prinz bei seiner

Schwarzen und ging in den Garten, um dort zu spazie-ren. Er erblickte die vielen verdorrten Bäume, rief denGärtner herbei und sprach zu ihm: »Aber Gärtner, wa-rum pflegst du diese Bäume nicht? Siehst du dennnicht, dass sie alle verdorren?« Hierauf antwortete derGärtner, dass er sie vergeblich pflege, und berichteteihm,was sich seit Tagen imGarten ereignete. Der Prinzbefahl nun dem Gärtner, dass er die Bäume mit Vogel-leim einschmiere, und wenn dann der Vogel festklebe,denselben abfange und ihm bringe. Der Gärtner strichalso die Bäume ein, und als sich am nächsten Tage derVogel niederließ, blieb er amBaumkleben. Der GärtnernahmnundenVogel und trug ihn zumPrinzen, der ihnin einen Käfig sperrte. Sobald die schwarze Frau denVogel sah, erkannte sie ihn und wusste, dass dies dasschöne Mädchen aus dem Baum war. Sogleich dachtesie sich eine neueList aus, umsich seiner zu entledigen.Hierzu stellte sie sich todkrank, ließdenOberarzt holenund durch vieles Geld bewog sie ihn, dass er demPrinzen Folgendes mitteile: Seine Gattin würde nurdann gesundwerden, wennman ihr einen bestimmten

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Vogel zu essen gebe. Dabei achtete sie darauf, dass ihreBeschreibung genau auf den Orangenvogel passte.Als nun der Prinz sah, dass seine Gattin schwer

krank war, ließ er den Arzt rufen und fragte ihn, wo-durch man seiner Frau die Gesundheit wiederschen-ken könne. Der Arzt teilte ihm mit, dass er sie wohlheilen könne, wenn er ihr einen solchen und solchenVogel zu essen gebe. »Gerade neulich fing ich einensolchen«, sagte der Prinz, ließ den Vogel schlachtenund seiner Gattin geben. Aber aus dem glänzendenGefieder des Vogels fiel, ohne dass es jemand bemerk-te, eine Feder zu Boden und landete zwischen zweiFußbodendielen. Die schwarze Frau hingegen dachte,dass sie ihre Rivalin nun endlich los sei.Zeit kommt, Zeit vergeht, der Prinz wartete noch

immer, dass seine Gattin weiß werde. Da war im Pa-last eine alte Frau, welche die Bewohnerinnen desHarems lesen und schreiben lehrte. Eines Tages, als siedie Stiegen herabschreiten wollte, erblickte sie einenglänzenden Gegenstand; sie hob ihn auf und sah, dasses eine Vogelfeder war, die wie ein Diamant glänzte.Die alte Frau fand Gefallen an der Feder und trug sieheim und steckte sie in eine Spalte des Gesimses. Amnächsten Tag ging sie wieder in den Palast, und wäh-rend sie dort verweilte, flog die Feder herab vomGesims, schüttelte und rüttelte sich und siehe da: Eswurde aus ihr unsere wunderschöne Orangen-Peri. Siefegte die Stube aus, kochte das Essen, und nachdem siealles in Ordnung gebracht hatte, verwandelte sie sichwieder in eine Feder und schwebte auf das Gesimszurück. Die alte Lehrerin kehrte heim und erstaunteüber das Geschehene. Sie dachte nach, wer wohl diesalles zustande gebracht haben mochte, durchstöberte

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ihre Wohnung, fand jedoch keinen Hinweis. Da setztesie sich hin, aß die Speisen und ließ es sich gut gehen.Am nächsten Morgen ging sie abermals in den Pa-

last, die Feder stieg wieder herab und brachte alles inOrdnung. »Ich muss herausfinden, wer das gemachthat«, dachte die Frau bei sich, als sie am Abend ihreWohnung im gleichen Zustand vorfand wie am Tagzuvor. Daher tat sie am nächsten Morgen so, als ob siewegginge, sperrte die Tür ab und versteckte sich aneinem Ort, von dem aus sie das Geschehen drinnenbeobachten konnte. Da sah sie plötzlich ein Mädchenin ihrem Zimmer, das alles reinigte und dann kochte.Als es mit allem fertig war, lief die Alte herbei, ergriffsie und fragte sie, woher sie denn komme. Die Maiderzählte ihr nun, auf welcheWeise sie hierher in Feder-gestalt gelangt sei.»Gräme dich nicht, meine Tochter«, tröstete sie die

Frau, »ich werde schon heute deine Sache in Ordnungbringen!« Schnurstracks ging sie zum Prinzen hin undlud ihn auf den Abend zu sich. Der Prinz langweiltesich ohnehin bei seiner schwarzen Gattin, daher kamihm die Einladung gerade recht, und er ging abends indie Wohnung der alten Frau. Nach dem Nachtmahlbrachte man schwarzen Kaffee, und als unsere Maiddie Schalen hinstellte, blickte sie der Prinz an und erfiel beinahe in Ohnmacht. »Mütterchen«, fragte er, alser sich erholt hatte, »wer ist das Mädchen?« – »MeineDienerin«, versetzte die alte Frau. »Woher hast dusie?«, fragte der Prinz, »würdest du sie mir nicht ver-kaufen?« – »Wie sollte ich sie dir verkaufen«, meintedie alte Frau, »wenn sie ja ohnehin schon dir gehört!«Der Prinz verstand nicht, wovon die Frau redete undmeinte, sie gehöre ja erst dann ihm, wenn er sie ihr

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abkaufe. Darauf eröffnete ihm die Lehrerin, dass die-ses Mädchen jene Braut sei, auf deren Hellerwerden erschon seit so langer Zeit warte. Sie führte nun die Perizum Prinzen, berichtete ihm, was die schwarze Fraugetrieben hatte, und trug ihm schließlich auf, von nunan seine Orangen-Peri besser zu behüten.Nun war der Prinz erst recht einer Ohnmacht nahe.

Doch er nahm sich zusammen und führte seine Oran-gen-Peri in seinen Palast, ließ die Negerin hinrichtenund feierte seine Hochzeit mit der Peri vierzig Tageund vierzig Nächte lang.Sie haben das Ziel ihrer Wünsche erreicht, und wir

können uns jetzt auf unserem Diwan ausstrecken!

Die vierzig Prinzenund der siebenköpfige Drache

E swareinmal, unddochwares keinmal. In alterZeitgab es einen Padischah, der hatte vierzig Söhne.

Als der jüngste seiner Söhne sein vierzehntes Le-bensjahr erreichte, da fand der Padischah, dass es ander Zeit war, alle vierzig zu verheiraten. Die Brüderwilligten in die Pläne des Vaters unter der Bedingung

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ein, dass ihre zukünftigen Gattinnen auch Geschwisterwaren und allesamt von einem Vater und einer Mutterstammten. Darauf schickte der Padischah nun Kund-schafter durch das ganze Land, um vierzig solcherJungfrauen zu suchen, doch vergeblich; neununddrei-ßig Geschwister machten sie ausfindig, aber vierzignicht. Da bat der Padischah, dass sich der vierzigstePrinz eine andere Gattin suche, doch die Brüder ließendies nicht zu und erklärten ihm, sie wollten selbst nachvierzig geeigneten Jungfrauen suchen. Der Padischahsetzte alles daran, seine Söhne von ihrem Vorhabenabzubringen, doch kein Verbot und kein Zureden hal-fen, so gab er ihnen wohl oder übel seine Erlaubnis.Doch bevor sie aufbrachen, gab er ihnen Folgendesmitauf den Weg: »Meine Söhne«, sprach er, »diese dreiDinge beherzigt gut auf eurer Reise: Wenn ihr auf eu-rem Weg zu einer großen Quelle kommt, meidet dieseund rastet dort nicht. Später werdet ihr eine Herbergesehen. Auch diese betretet nicht, so müde ihr auch seinmögt. Hinter der Herberge erstreckt sich eine großeEbene, die durchwandert so schnell ihr könnt und ver-weilt nicht auf ihr.« Die Söhne versprachen, diesen dreiAnweisungen streng zu folgen, und brachen auf.Sie ritten den ganzen Tag, und als es gegen Abend

ging, tauchte die Quelle vor ihnen auf, die ihr Vatererwähnt hatte. Da sprachen die Prinzen: »Wir sindallesamt müde und machen hier halt. Was auch im-mer hier auf uns lauert, sind wir nicht vierzig Brüderund können uns verteidigen?« So stiegen sie ab undlegten sich hin. Der jüngste aber schlief nicht undwachte mit gezogenem Schwert. Plötzlich, gegen Mit-ternacht, vernahm er ein Geräusch. Da stand er aufund ging mit seinem Schwert in der Hand in die

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Richtung, aus der das Geräusch kam. Und ehe er essich versah, stand er einem siebenköpfigen Drachengegenüber! Sofort stürzte sich der Drache auf ihn,doch der Junge wich ihm geschickt aus. Auch denzweiten und dritten Angriff des Drachen wehrte derJunge erfolgreich ab. Dann rief er dem Drachen zu:»Jetzt bin ich am Zug!«, und hieb ihm damit sechsKöpfe auf einmal ab. Der Drache fiel dumpf zu Bodenund sprach mit seinem einzigen heilen Kopf: »Wenndu ein wahrer Kämpfer bist, so schlag noch einmalzu!« Doch der Junge erwiderte: »Meine Mutter hatmich auch nur einmal geboren!«, und verwehrte demDrachen den zweiten Schlag. Es verhielt sich nämlichso, dass ein zweiter Schlag den Dew wieder auf dieBeine gebracht hätte. Doch so musste er elend sterben.Einer seiner Köpfe aber rollte zu einem Brunnen undder Mund sprach: »Wer mir das Leben genommen hat,der soll auch meine Schätze nehmen.« Damit fiel derKopf in den Brunnen. Sofort sprang der Junge hinter-her und stieg in den Brunnen hinein. Da kam er aneine eiserne Tür, und als er diese öffnete, stand er voreinem so schönen Palast, wie er noch nie zuvor gese-hen ward. Vierzig Zimmer waren darinnen und jedesder Zimmer war angefüllt mit allerlei Gold, Edelstei-nen und anderen Schätzen. Da öffnete der Prinz nocheine Tür und sah darin vierzig Jungfrauen über eineStickerei gebeugt. Als sie den Prinzen sahen, sprangensie auf und fragten ihn: »Bist du ein In oder Dschinn?Und was führt dich hierher?« Der Prinz berichteteihnen, wie er an diesen Ort gelangt war, und als dievierzig Jungfrauen hörten, dass er den Drachen getötethatte, da war die Freude groß, denn sie waren allesamtTöchter von einem Vater und einer Mutter, und der

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Drache hatte ihre Eltern getötet und sie in diesen Brun-nen gebracht. Sie baten den Prinzen, sie von diesemOrt wegzubringen, denn jetzt hatten sie niemand an-deren mehr auf der Welt außer ihm. Der Prinz erklärte,sie sollten sich noch eineWeile gedulden. Er habe nochneununddreißig Brüder und er wolle jetzt gehen undmit ihnen zusammen zurückkehren, damit sie alle ge-meinsam die Mädchen aus dem Brunnen führten. Da-mit verabschiedete er sich von den Jungfrauen undkehrte zu seinen Brüdern zurück.Als die Brüder am nächsten Morgen erwachten und

sahen, dass nichts geschehen war, da dachten sie, dassihr Vater einen Scherz mit ihnen getrieben habe, undlachten über ihn. Dann setzten sie ihre Reise fort undritten so lange weiter, bis es Abend wurde. Und dasahen sie auch schon die erwähnte Herberge. Die älte-ren von ihnen sagten: »Hier wollen wir rasten, dennwir sind den ganzen Tag geritten und müssen uns nunausruhen.« Da sagte der jüngste, dass es ratsamerwäre, an einen anderen Ort zu gehen, doch niemandachtete auf seine Worte. So legten sich die älteren Brü-der wieder hin, der jüngste aber hielt wieder Wache.Als es gegen Mitternacht ging, war da erneut ein

Geräusch. Unser Prinz nahm sein Schwert zur Handund ging dem Geräusch nach. Und wieder sah er sicheinem siebenköpfigen Drachen gegenüber, größer undgrausamer als der von der vorigen Nacht. Sobald derDrache den Prinzen erblickte, griff er ihn an. Doch derJunge wich aus, einmal, zweimal und auch ein drittesMal. Dann aber hob der Prinz sein Schwert und ließ esmit aller Kraft auf das Ungeheuer niederfahren, sodass er ihm sechs Köpfe auf einmal abschlug. Keu-chend und kraftlos fiel der Drache zu Boden und bat

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den Prinzen, noch einmal zuzuschlagen. Aber auchdiesmal fiel der Prinz nicht darauf herein, und somusste der Drache dort sterben. Wieder rollte einerder Köpfe fort und fiel in einen Brunnen. Der Prinzstieg auch in diesen Brunnen und fand auf dessenGrund einen noch größeren Palast mit noch reicherenSchätzen darin als am Tag davor. Dann ging er wiederzum Schlafplatz seiner Brüder zurück und schlief,nach dem Kampf völlig erschöpft, sofort ein.Auch am nächsten Morgen lachten die älteren Brü-

der über die Sorge ihres Vaters und setzten ihre Reisefort, bis sie am Abend auf eine große Ebene kamen. Siesaßen ab, aßen und tranken ein wenig undwollten sichgerade zur Ruhe legen, als plötzlich die gesamte Ebenevon einem solchen Gebrüll erfasst wurde, dass selbstdie fernen Berge erzitterten. Dann sahen sie, wie einfurchterregendesUngeheuermit seinen siebenKöpfen,aus denen Feuer und Rauch sprühte, drohend undstampfend auf sie zukam und rief: »Wer von euch hatmeine Brüder getötet?« Die älteren Prinzen erstarrtenvor Angst, doch der jüngste rief: »Nun seht ihr, meineBrüder, dass die Ratschläge unseres Vaters nicht um-sonst waren. Jetzt aber flieht von hier!« Damit be-schrieb er ihnen die beiden Brunnen und trug ihnenauf, die Schätze und die Jungfrauen in ihre Heimat zubringen und dort auf ihn zu warten. Er wolle denDrachen töten und dann nachkommen. Die Brüderstiegen sofort auf ihre Pferde und eilten fort. Sie gelang-ten zuerst zumBrunnenmit den Schätzen und nahmendiesemit. Dann befreiten sie die vierzig Jungfrauen ausdem zweiten Brunnen und brachten sie in ihre Heimat.Kehren wir nun zum jüngsten Prinzen zurück und

sehen, wie es ihm erging. Dieser lieferte sich mit dem

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Drachen einen langen, erbitterten Kampf, doch keinervon beiden vermochte den anderen zu besiegen. Dasprach der Drache: »Mein Jüngling, du bist mir einebenbürtiger Gegner, doch lass uns den Kampf been-den.Wenn dumir die Prinzessin aus dem Lande Tschi-nimatschin bringst, so will ich dich verschonen!« Dawilligte der Prinz ein, denn auch er war erschöpft vomKampf. Tschampalak, so war der Name des Drachen,gab dem Prinzen daraufhin ein Zaumzeug und sagte:»Gehe zu der und der Quelle. Dorthin kommt jedenTag eine Schar von Pferden, um zu trinken. Wirf diesesZaumzeug einem von ihnen über und es wird dir zuDiensten sein.« Der Junge nahm das Zaumzeug undbegab sich zur besagten Quelle. Bald kamen auchschon die Pferde, und als der Prinz eines von ihnenpackte und ihm das Zaumzeug überzog, da sprach es:»Befiehl, mein Prinz!« Der Prinz hierauf: »Bringe michin das Land Tschinimatschin!« Das Pferd rief: »Schlie-ße deine Augen, öffne deine Augen!«, und als derPrinz seine Augen öffnete, da befand er sich bereits imLand Tschinimatschin. Er nahm das Zaumzeug vomPferd und ließ es laufen. Dann begab er sich in eineStadt und klopfte an die Tür einer Hütte, wo er um einNachtlager bat. Die Bewohnerin der Hütte, eine alteFrau, nahm ihn gerne auf. Während sie beim Kaffeesaßen, unterhielten sie sich über die Gegebenheitendes Landes, und die alte Frau erzählte: »Ein sieben-köpfiger Drache verlangt seit Jahren die Hand unsererPrinzessin. Doch weil ihr Vater sie nicht hergeben will,lässt der Drache nicht einmal ein Vögelchen in diesesLand. Es ist ein wahres Wunder, dass du hierherkom-men konntest.« Der Prinz ging darauf nicht näher ein,sondern fragte sie, wo die Prinzessin sich denn auf-

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halte. SeineGastgeberin antwortete ihm,dass sie sich ineinen kleinen Palast im Garten des Padischahs zurück-gezogen habe. Am nächsten Morgen begab sich derPrinz sofort in den Garten und flehte den Gärtner solange an, bis dieser ihn als seinen Gehilfen einstellte.Als er eines Tages die Blumen im Garten goss, da

erblickte ihn die Prinzessin und verliebte sich auf derStelle in diesen schönen Jüngling. Sie rief ihn an ihrFenster und fragte ihn, wer er sei und wie er in dasLand gekommen sei. Der Prinz antwortete ihr, dassauch er das Kind eines Padischahs sei und dass ergegen den Drachen gekämpft, ihm aber schließlichversprochen habe, sie, die Prinzessin, für ihn zu rau-ben. »Aber fürchte dich nicht«, sagte ihr der Prinz, »ichliebe dich noch viel mehr als der Drache, und wenn dumit mir kommst, so werde ich schon einenWeg finden,um ihn zu vernichten.« Die Prinzessin willigte sofortein, und schon bald verließen sie des Nachts heimlichden Garten und begaben sich mit dem Zauberpferdauf Tschampalaks Ebene. Der Prinz trug dem Mäd-chen noch auf, dass es herausfinden solle, wo sich derTalisman des Drachen befand, und führte sie schließ-lich zu Tschampalak.Der Drache war außer sich vor Freude darüber, dass

seine Geliebte endlich zu ihm gekommen war. Sie aberließ ihn nicht in ihre Nähe, und da er nicht imstandewar, ihr auch nur ein Haar zu krümmen, bedrängte ersie nicht. Die Prinzessin aber hatte nicht vergessen,was ihre Aufgabe war. Sie wartete ein paar Tage undsprach dann zum Drachen: »Du gehst morgens wegund kommst abends heim. Ich aber bin den ganzen Tagallein und langweile mich. Wenn du mir wenigstensdeinen Talisman nennen würdest, dann könnte ich mir

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damit die Zeit vertreiben.« – »Meine geliebte Prinzes-sin«, sprach der Drache, »mein Talisman ist an einemOrt verborgen, an den niemand gelangen kann. In demund dem Reich befindet sich ein solcher und solcherPalast, und dort liegt mein Talisman. Doch wer auchimmer es bis dorthin schafft, der käme nicht mehrwieder.« Die Prinzessin wartete nun, bis der Drachewieder aus demHauswar und berichtete demPrinzen,was sie erfahren hatte. Sofort begab dieser sich zurQuelle mit den Pferden und warf einem von ihnen dasZaumzeug über. Das Ross sagte darauf: »Befiehl, meinPrinz«, und der Prinz wünschte sich in das erwähnteLand. Dann – »Schließe die Augen, öffne die Augen« –stand er bereits vor dem Palast. Da wandte sich dasZauberpferd an den Prinzen und sprach: »Binde michmit dem Zaum an die eisernen Ringe am Palasttor. Ichwerde einmal wiehern und die Ringe schlagen. Wennsich das Tor öffnet, haue es mit deinem Schwert ent-zwei. Denn dieses Tor ist der Rachen eines Löwen, undwenn du es spalten kannst, dann bist du sicher. Weheaber, wenn es dir nicht gelingt, dann gibt es keineRettung für dich.« Dann gingen sie zum Palast und derPrinz band das Pferd ans Tor. Nachdem es einmalgewiehert hatte, öffnete sich das Tor und der Prinz hiebes mit einem Schlag in zwei Stücke. Da lag nun dererlegte Löwe auf dem Boden. Der Prinz trat zu ihmund schlitzte ihm den Bauch auf. Darin fand er einenKäfig mit drei Tauben, so lieblich, wie er sie noch niegesehen hatte. Dies war der Talisman des Drachen. DerPrinz wollte eine der Tauben nehmen und sie strei-cheln, doch sobald er die Käfigtür öffnete, schlüpfte siehinaus und flog ihm fort. Sofort setzte ihr das Zauber-pferd nach, fing sie und drehte ihr den Hals um.

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Der Prinz setzte sich nun wieder auf das Zauber-pferd und – »Schließ die Augen, öffne die Augen« – imNu befanden sie sich wieder auf Tschampalaks Ebene.Da töteten sie auch die zweite Taube, und als sie in dasHaus des Drachen gingen, sahen sie, dass er bereitsseine Seele aushauchte, so geschwächt war er. Das Un-geheuer erblickte die letzte lebende Taube, in derHanddes Prinzen und bat ihn, sie noch einmal streicheln zudürfen, bevor er starb. Der Prinz empfandMitleid undwollte ihm diesen letzten Wunsch erfüllen, doch dawarf sich die Prinzessin dazwischen, entriss dem Prin-zen die Taube und tötete sie. Dies war das Aus desDrachen, der nun zusammenfiel und endlich tot war.Das Zauberpferd ergriff zum letztenMal dasWort undsprach: »Es war dein Glück, dass auch die letzte Taubetot ist, denn sonst hätte der Drache seine Kräfte wiederzurückerlangt!« Damit verschwand das Pferd und mitihm auch das Zaumzeug.Der Prinz und die Prinzessin luden darauf einige

Schätze des Drachen auf und begaben sich damit wie-der in die Heimat der Prinzessin. Ihr Vater hatte bereitsalle Hoffnung aufgegeben, seine Tochter je wieder-zusehen, und glaubte sie in der Gewalt des Drachen.Wie groß war da die Freude, als sie plötzlich mit demPrinzen erschien. Da gab er seine Tochter dem Prin-zen zur Frau, und sie feierten vierzig Tage und vierzigNächte die Hochzeit.Eines Tages aber verspürte der Prinz Sehnsucht nach

seinen Eltern und seinen Brüdern. So entließ der Pa-dischah die beiden und sie reisten mit einer Schar Sol-daten nach derHeimat des Prinzen. Dort hatteman ihnschon tot geglaubt und war nun umso glücklicher, alser endlich wieder heimkehrte. Da ließ der Padischah

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aus Anlass der Rückkehr seines Sohnes ein großes Festfeiern. Dann aber sagte der Padischah zum Prinzen,dass da noch eine Jungfrau auf ihn warte. Sie war diejüngste der vierzig Schwestern und war für ihn zurGattin bestimmt worden. Der Prinz ging zu seiner Ge-mahlin und fragte sie nach ihrer Meinung. »Du hastmich vom Drachen erlöst und dann habe ich dir dasLeben gerettet«, sprach die Prinzessin, »nun kannst dutun, was immer du für das Richtige hältst. Ich werdemit allem zufrieden sein!« Er nahm sodann auch dieandere Jungfrau zur Gemahlin, und erneut feiertensie die Hochzeit vierzig Tage und vierzig Nächte.Sie haben das Ziel ihrer Wünsche erreicht, und wir

lassen es uns auch gut gehen!

Die Geschichtevon den weinenden Granatäpfelnund den lachenden Quitten

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es wareinmal ein Padischah, der hatte neun Töchter.

Eines Tages saß der Padischah mit seiner Gemahlinzusammen und überlegte. Nach einer Weile fragte ihn

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seine Gemahlin, was ihn denn bedrücke. Darauf ant-wortete der Padischah: »Wir haben neun Töchter; siewerden heranwachsen, heiraten und uns verlassen.Wenn ich sterbe, so habe ich keinen Sohn, der sich aufmeinen Thron setzen könnte. Unsere Linie wird aus-gelöscht werden. Das ist es, was mir auf der Seelelastet und mich nachts um den Schlaf bringt. Ich kannmich an nichts mehr erfreuen. Wenn es auch diesmalwieder ein Mädchen wird, so bringe ich dich sofortum.« Die Sultanin war nämlich hochschwanger underwartete in nächster Zeit ein weiteres Kind. Nachdemder Padischah seine Worte gesprochen hatte, ging erfort und die Sultanin blieb in Verzweiflung zurück. Siemachte sich große Vorwürfe, dass es ihr bisher nichtgelungen war, dem Reich einen Thronfolger zu schen-ken, und wenn sie jetzt wieder ein Mädchen zur Weltbrachte, bedeutete das ihren Tod. In diesem Zustandbegab sie sich in ihr Gemach und verbrachte ihre Tagedamit, über ihr Schicksal zu weinen.Ob in Glück oder Unglück – die Märchenzeit schrei-

tet schneller voran als unsere. Nach ein paar Wochensollte die Sultanin niederkommen. Doch aus Angst vorder Drohung ihres Gemahls ließ sie nicht die nötigenVorbereitungen treffen, sondern zog sich mit ein paarDienerinnen in einen Teil des Palastes zurück, densonst niemand betrat. So brachte die Sultanin still undheimlich ihr zehntes Töchterchen zur Welt. Mit derHebamme hatte sie aber abgesprochen, dass sie dasMädchen als einen Jungen ausgeben wollten, um nichtden Zorn des Padischahs auf sich zu ziehen und demHenker ausgeliefert zu werden. Sofort wickelten dieSultanin und die Hebamme das Neugeborene fest ein;erst am nächsten Morgen wurde dem Padischah die

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Botschaft überbracht, dass ihm der ersehnte Sohn ge-boren worden war. Der Padischah konnte seine Freudekaum im Zaum halten und eilte zu seiner Gemahlin.Die Hebamme präsentierte ihm den Thronfolger undsagte: »Eure Augen sollen strahlen, mein Padischah!Hier ist Euer Sohn, gebt Ihr ihm seinen Namen, einlanges Lebenmöge ihm vonGott beschert sein!« Damitübergab sie ihm das in Tücher eingewickelte Kind. DerPadischah überschlug sich schier vor Glück und wein-te Tränen der Freude. Mit einhundertundeins Kano-nenschüssen ließ er die Geburt seines Sohnes bekannt-geben und verteilte Geld undGeschenke an alle Palast-leute und ließ den Armen Nahrung und Kleidungzukommen. Vierzig Tage und vierzig Nächte ließ erdie Geburt seines Sohnes feiern.Zeit kommt, Zeit vergeht. Das Kind wuchs heran

und wurde von seiner Mutter und ihren VertrautenTag und Nacht nicht aus den Augen gelassen, denngroß war die Angst, dass der Padischah hinter ihr Ge-heimnis kommen könnte. Dem Mädchen wurden dieHaare kurz geschnitten, sobald sie auch nur ein weniggewachsen waren, und man zog ihm Knabenkleideran und ließ ihm eine Knabenerziehung angedeihen; esübte sich in allerlei Waffen und lernte zu reiten. Solebte es bis zu seinem zwölften Lebensjahr. Endlichwar die Zeit der Beschneidung gekommen. Erneutzog sich die Sultanin in ein Zimmer zurück und fingzu wehklagen an, denn nun würde der Padischahganz sicher hinter ihr Geheimnis kommen, und danngab es kein Entkommen für sie und das Kind. EinesTages kam das Mädchen zu seiner Mutter und sah,wie sie weinte. Es fragte: »Mutter, was ist geschehen,dass du so traurig bist und immerzu weinst?« Als die

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Mutter sagte: »Ach, meine Tochter! Wir haben dichnach deiner Geburt als einen Knaben ausgegeben,denn sonst hätte dein Vater, der Padischah, sowohldich als auch mich töten lassen. Doch du bist ein Mäd-chen. Und jetzt sollst du aber beschnitten werden, wiees die Tradition verlangt. Aber sobald dein Vater er-kennt, dass du einMädchen bist, wird es um uns beidegeschehen sein. Deshalb weine ich.« Das Mädchendachte eineWeile nach und sagte dann zu ihr: »Mutter,sei nicht traurig! Ich werde zu meinem Vater gehenund ihm sagen, dass ich noch zu klein bin, um be-schnitten zu werden, und ihn bitten, mir ein Jahr Auf-schub zu gewähren.«Am folgendenMorgen stand dasMädchen zeitig auf

und ging geradewegs zu seinem Vater. Es küsste ihmdie Hand und begann zu weinen. Als der Padischahzu ihm sagte: »Mein Sohn, warum weinst du so?«, daantwortete das Mädchen: »Vater, ich habe gehört, dassIhr mich beschneiden lassen wollt. Aber ich bin nochklein und habe Angst, deshalb weine ich.« Der Pa-dischah dachte bei sich, dass sein Sohn doch rechthabe, und damit er nicht mehr traurig war, sprach er:»Mein Sohn, weine nur nicht! Dieses Jahr soll es nichtgeschehen. Wir warten bis zum nächsten Jahr, dennnoch ist ja Zeit.« Da küsste das Mädchen seinem Vaterwieder die Hand und lief freudig zu seiner Mutterund umarmte sie. Und als die Mutter erfuhr, was derPadischah gesagt hatte, da wurde es ihr gleich wohlerund sie nahm ihr Kind voller Freude auf ihren Schoßund küsste es auf seine Augen.Wieder verrinnt die Zeit, und in der Märchenwelt

noch schneller als in der unsrigen. Endlich war dasJahr um und die Sultanin zog sich wiederum zurück

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und begann, Tag um Tag zu weinen und zu klagen,denn wieder hatte der Padischah verkünden lassen,dass er gedenke, in Kürze seinen Sohn beschneiden zulassen. Unser Mädchen beschloss kurzerhand, den Pa-dischah um weiteren Aufschub zu bitten, und als die-ser sich erneut dazu überreden ließ, da waren alle frohund erleichtert.Tage vergingen und wurden zuWochen, Wochen zu

Monaten und schließlich neigte sich auch das zweiteJahr seinem Ende entgegen. Der Padischah ließ Vor-bereitungen für die Beschneidung seines Sohnes tref-fen, denn jetzt war der Junge schon vierzehn Jahre alt.Am Tag vor der Beschneidungsfeier zog sich die Sul-tanin wieder zurück und weinte bitterlich. Das Mäd-chen gesellte sich zu seiner Mutter und weinte mit ihr,denn es konnte sich keine List mehr ausdenken, dieseinen Vater umstimmen könnte. Die Mutter sagte zuihr: »Meine Tochter! Du hast deinen Vater zwei Jahrelang hingehalten und es auf diese Weise verhindert,dass er von unserem Geheimnis erfuhr. Jetzt aber istauch das zweite Jahr zu Ende gegangen und morgensollst du beschnitten werden. So oder so wird deinVater erfahren, dass du ein Mädchen bist, und dannwird er uns beiden den Kopf abschlagen lassen. Heuteist der letzte Tag unseres Lebens.« Da sagte das Mäd-chen zu ihr: »Meine teure Mutter, weine nicht! Wennmich morgen mein Vater zur Beschneidung ruft, danngehe ich hin zu ihm und bitte ihn, eine halbe Stundespazieren gehen zu dürfen. Dann laufe ich in den Stall,besteige ein schnelles Pferd und fliehe von hier. Weinenur ja nicht um mich! Denn ich gehe in fremde Län-der und bleibe dort. Möge Gott unser Schicksal zumBesseren wenden! Einen anderen Ausweg haben wir

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nicht!« Die Mutter überlegte ein wenig und stimmtedem Vorschlag ihrer Tochter schließlich zu.Tags darauf wurde der mächtige Platz vor dem Pa-

last für die Beschneidungsfeier geschmückt. Aus allenTeilen des Reiches und den Nachbarreichen strömtenbereits die Gäste zu den Festzelten. Der Padischahhatte sich zur Feier des Tages in grüne Gewändergekleidet und ließ auch seine Minister und oberstenBeamten entsprechend ausstaffieren. Nun ließ er denPrinzen rufen, und nachdem dieser erschienen warund ihm die Hand geküsst hatte, sprach er: »MeinSohn, du bist nun vierzehn Jahre alt und nahezu einjunger Mann. Es käme einer Sünde gleich, noch längerzu warten, deshalb wirst du noch heute beschnittenwerden, denn das Fest ist schon vorbereitet und dieGäste bereits eingetroffen!« Da erwiderte das Mäd-chen: »Mein Vater, Euer Wunsch sei mir Befehl! So solles denn sein. Doch gebt mir noch eine halbe StundeZeit. Ich will zu Pferd den Festplatz umreiten, dennwenn ich erst einmal beschnitten bin, dann werde icheine Weile auf kein Pferd steigen können. Und außer-dem will ich die Gäste aus der Nähe betrachten. Da-nach soll man mich beschneiden.« Der Padischah wil-ligte ein und gab seinem Sohn noch eine halbe StundeAufschub.Unser Mädchen lief nun schnurstracks in den Stall

und suchte nach einem schnellen Pferd. Im hinters-ten Winkel des Stalles entdeckte es schließlich einenHengst mit tiefschwarzem und glänzendem Fell.Selbst die Mähne und der Schwanz waren schwarz,kein einziges weißes Haar war zu sehen. DasMädchenging zu diesem Tier, strich ihm über den Kopf, denRücken und die Mähne und fing an zu weinen und zu

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klagen. Da wandte das Pferd seinen Kopf zum Mäd-chen und fing plötzlich zu sprechen an: »Meine Prin-zessin!Warumweinst du so?« DasMädchenwundertesich gar sehr, doch dann antwortete es: »Ach, meinschwarzer Hengst!Wenn ich nicht weinte, wer sollte esdann tun? Denn mein Vater hält mich seit dem Tagmeiner Geburt für einen Jungen. Zweimal schon konn-te ich die Beschneidung verhindern. Jetzt aber ist esbeschlossene Sache und die Gäste sind alle eingetrof-fen. Wenn der Padischah merkt, dass ich ein Mädchenbin, so wird er sofort meine Mutter und mich tötenlassen. Deshalb habe ich mir von meinem Vater einehalbe Stunde Zeit erbeten, um auf einem schnellenPferd zu fliehen und in einem anderen Land Zufluchtzu suchen. Das ist der Grund für meine Trauer.« Nach-dem sie sich ihm anvertraut hatte, sprach das Pferd zuihr: »Meine Prinzessin! Gräme dich nicht länger! Ichwerde dich mit Gottes Erlaubnis in ferne Länder brin-gen, bevor das Fest beginnt. Doch merke dir meine fol-gendenWorte gut: Sobald du auf dem Sattel sitzt, haltedie Zügel gut und umklammere fest meinen Hals,denn ich sprengewie derWind dahin!«Das Mädchen tat, wie ihm das Pferd geheißen hatte,

und setzte sich auf den Sattel. Es ritt auf den Platzund machte ihre Runde von einem Ende zum ande-ren. Die anwesenden Gäste und die Soldaten des Pa-dischahs betrachteten den Prinzen und bewundertenseine Reitkunst. Als die halbe Stunde zu Ende war,beugte sich das Mädchen über das Ohr ihres Pferdesund sprach: »Los, mein Hengst!«, und da sprengte dasPferd plötzlich mitten durch die Soldaten, lief wie derWind davon und verschwand. Auf dem Festplatzherrschte einen Augenblick Stille, doch als man ver-

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standen hatte, was sich gerade abgespielt hatte, brachein ungeheures Durcheinander aus, in dem jedermannrief: »O weh, das schwarze Pferd hat den Prinzenentführt!« Sogleich wurde der Padischah benachrich-tigt, der sofort den Befehl zur Verfolgung gab. Doch soweit die Soldaten auch ritten, welchen Winkel desReiches sie auch durchsuchten, sie fanden nicht eineeinzige Spur, weder vom Prinzen noch vom Pferd.Beide waren wie vom Erdboden verschluckt. Sie kehr-ten unverrichteter Dinge zurück und überbrachtendem Padischah die traurige Nachricht. Da erhob sichauf dem gesamten Platz ein Klagen und Weinen, undder Padischah und das ganze versammelte Volk trau-erten um den Prinzen.Wir wollen uns nun zu unserer Prinzessin wenden

und sehen, was mit ihr geschah. Das Pferd trug sieinnerhalb eines Tages an einen Ort, der eine Reise vonsechs Monaten entfernt lag, und hielt an. Es sagte zudem Mädchen: »Meine Sultanin! Ich habe dich geret-tet. Nun geh, wohin es dich verschlägt. Doch gib achtauf dich, denn auf der Welt lauern viele Gefahren!«Das Mädchen stieg vom Pferde ab, umarmte seinenHals und vergoss große Tränen. Es sprach zu ihm:»Mein liebes Pferd! Zuerst habe ich Gott, dann dir zudanken. Zwar werde ich jetzt von hier fortgehen. Aberwas, wenn mir ein Unglück zustößt, wie soll ich mirda helfen?« Da sagte das Pferd zu ihm: »Meine Prin-zessin! Ich will dir drei Haare aus meiner Mähneschenken. Bewahre sie gut auf. Und wenn dir etwaszustoßen sollte, so nimm sie hervor und reibe sie an-einander. Dann werde ich dir sofort zu Hilfe eilen.«Das Mädchen nahm sich drei Haare aus des PferdesMähne und steckte sie ein. Dann verabschiedete es

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sich unter Tränen vom Pferd und küsste es auf beideAugen. Das Pferd tauchte in eine Rauchwolke und ver-schwand vor den Augen der Prinzessin. Diese machtesich daraufhin auf ihre Reise.Das Mädchen wanderte und wanderte und kam

schließlich in einer Stadt an. Dort sah es ein ge-waltiges Schloss und unmittelbar daneben eine großeKüche, aus deren Schornsteinen Rauch aufstieg undaus deren Tür verlockende Düfte strömten. Es wurdeAbend. Sofort entnahm es seinem Bündel Reiseklei-dung und tauschte sie gegen sein gold- und silberver-ziertes Gewand. Dann schlich es sich zur Tür derPalastküche und spähte hinein. Drinnen sah es, dassdie Köche in heller Aufregung waren, ihre Stirnenwaren voller Schweißperlen und sie gingen von einemHerd zum anderen, von diesem Kessel zu jenem Topfund zurück. Auf vierzig Feuern standen vierzig Spei-sen. Unser Mädchen betrat die Küche und ging aufeinen Koch zu, den sie für den Küchenmeister hielt. Essagte: »Meister, ich sehe, Ihr habt alle Hände voll zutun; wollt Ihr mich bei Euch als Gehilfen annehmen?«Da sprach der Koch in vorwurfsvollem Ton: »Siehstdu denn nicht, wie es hier zugeht? Was sollten wir damit dir anfangen?«, und versuchte, es beiseitezuschie-ben. Doch das Mädchen ließ sich nicht beirren, misch-te sich unter die Helfer, machte sich über jeden Herdher, vollendete hier eine Süßspeise, dort eine Fleisch-speise und hatte im Nu Ordnung hergestellt. Der Kü-chenmeister war so beeindruckt von der Geschicklich-keit dieses fremden Jungen, dass er ihn zum erstenKüchenhelfer machte. Unser Mädchen half also hierund half dort. Nach einer Weile wandte sie sich wie-der an den Küchenmeister und sprach: »Meister, es ist

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so weit alles gerichtet. Doch warum kocht Ihr dasEssen in solcher Aufregung?« Dieser antwortete:»Ach, mein Sohn, hättest du doch bloß nicht gefragt.Denn es verhält sich so: In diese Stadt kommt allesechs Jahre ein Dew. Er frisst die Leber des Padischahsund geht dann wieder fort. Morgen Nacht ist es wie-der so weit. Deshalb sind wir heute alle aufgeregt,denn diese Speisen sind das Totenmahl für unserenPadischah.« Als die verkleidete Prinzessin dies hörte,da biss sie sich vor Erstaunen in ihren Finger und warganz betroffen. Aber es half nichts, die Speisen muss-ten zubereitet werden, und so betätigte sie sich mitden Köchen und den anderen Küchenhelfern bis zumMorgengrauen in der Küche.Gleich am Morgen ging das Mädchen in den Palast

und lief in den oberen Stockwerken umher. In einemZimmer wurde es einer von Kopf bis Fuß in schwar-ze Gewänder gehüllten Sultanin gewahr. Im nächstenZimmer bot sich ihm das gleiche Bild, selbst dasMobiliar war hier mit schwarzen Tüchern überzogen.Im dritten Zimmer, das es betrat, stand in der Mitteein großes Bett, auf dem eine Sultanin saß, die überund über in rote Gewänder gehüllt war. Endlich fanddie Prinzessin das Zimmer, in dem sich der Padischahaufhielt. Dieser war wahrlich in einem bedauerns-werten Zustand: Man gab ihm Essenzen zu riechen,Ärzte und Hodschas hatten sich um ihn versammelt,doch der Elende lag halb besinnungslos in seinemBett.Inzwischen war es Abend geworden und dies war

die Zeit, zu der der Dew erwartet wurde. SämtlichePalastbewohner hatten sich aus Angst in kleine Eckenund Winkel verkrochen. Die verkleidete Prinzessin

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hatte großes Mitleid mit diesen Menschen und suchtenach einem Weg, wie sie ihnen beistehen konnte. Dafielen ihr die Haare ein, die ihr das Pferd gegebenhatte. Sie zog sie hervor, rieb sie aneinander, und imselben Augenblick erschien das Pferd aus seinerRauchwolke. Es wandte sich an dasMädchen, scharrtemit den Hufen und sprach zu ihm: »Was wünschst du,meine Sultanin?« Das Mädchen antwortete: »Mein lie-bes Pferd, ich will von dir ein Schwert haben, mit demich einen gewaltigen Dew niederstrecken kann.« DasPferd scharrte mit den Hufen, schüttelte seine Mähneund hatte augenblicklich ein Schwert, wie es sich diePrinzessin gewünscht hatte, hervorgezaubert. »Hier,meine Sultanin«, sprach es, »dies ist ein Schwert, wel-ches zu solchen Dingen imstande ist. Doch schlagedamit nicht zweimal auf dieselbe Stelle«, und es ver-schwand daraufhin wieder in einer Rauchwolke.Das Mädchen nahm das Schwert, schlich sich unbe-

merkt ins Zimmer des Padischahs und suchte sich eingeeignetes Versteck, in dem sie die Ankunft des Dewsabwartete. Um Mitternacht endlich entlud sich imHimmel ein donnerndes Getöse, dann wurde es rings-um pechschwarz. In der Dunkelheit wurde ein dump-fes Getrampel vernehmbar und kurz darauf stürzteein gewaltiger Dew ins Zimmer herein. Kaum war erangekommen, lief die verkleidete Prinzessin aus ihremVersteck hervor, rief Gottes Hilfe an und ließ ihrSchwert auf das Haupt des Dew niederfahren, woraufes sogleich vom Rumpf abgetrennt wurde und in eineEcke des Zimmers rollte. Von dort wurde plötzlich eineStimme hörbar, die Folgendes sprach: »O Held, bewei-se, dass du ein wahrer Held bist, und schlage nocheinmal zu!« Doch das Mädchen ließ sich nicht darauf

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ein, denn es hatte sich die Mahnung des Pferdes ge-merkt, und so hauchte der Dew sein Leben endgültigaus, und sein Haupt neigte sich zur Seite. Die verklei-dete Prinzessin eilte zum leblosen Haupt des Dew,trennte ihm ein Ohr ab, steckte es in ihre Tasche undeilte aus dem Zimmer. Sie ging geradewegs in diePalastküche und nahm wie gewohnt, als ob nichtsgeschehen wäre, ihren Dienst auf, indem sie bald hieraushalf, bald dort.Als der Morgen heranbrach, kam der Padischah

wieder zu sich und wunderte sich darüber, dass ernoch alle seine Gliedmaßen spürte. Er stand auf undwankte durch das Zimmer. Da plötzlich erblickte erdie Leiche eines Ungeheuers, eines schwarzen Dews,dessen Haupt zwar abgetrennt, aber dennoch grausiganzusehen war. Der Padischah erkannte, dass es sichum den Dew handeln musste, der ihn hätte verschlin-gen sollen. Dann aber wunderte er sich und sagte zusich selbst: »Wer mag diesen Dew getötet haben? Seitich denken kann, sucht dieser Dew dieses Reich heim,und bisher hatte sich kein Held gefunden, der sichihm in den Weg hätte stellen können.« Doch sosehr erauch darüber nachdachte, konnte er sich keinen Reimauf die Sache machen. Schließlich dankte er Gottdafür, dass er – auf welche Weise auch immer – ver-schont worden war, und ging hinaus. Als er vor denPalast trat, sah er, dass sein Volk sich versammelt undsein Leichentuch und einen Sarg bereitgestellt hatte.Voller Erstaunen starrten ihn seine Untertanen des-halb an, als er unversehrt und wohlbehalten vor denToren des Palastes erschien. Sein Auftritt verschlugihnen die Sprache, doch nach ein paar Sekundenbrach jedermann in Jubelrufe aus. Alle dankten Gott

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dafür, dass er ihnen ihren Padischah gelassen hat-te.Endlich fing der Padischah zu sprechen an und

fragte: »Wer von euch hat heute Nacht diesen Dewgetötet?« Da traten einige von ihnen unverfroren zuihm hin und gaben vor, sie seien es gewesen. DenPadischah hatte die Aussage dieserMänner zwar nichtvollständig überzeugt, doch nun konnte er nichts an-deres tun, als sie reichlich mit Gold und Ländereien zubelohnen. Als dies unter seinen Untertanen bekanntwurde, taten es zahlreiche andere von ihnen den ers-ten Männern gleich und auch sie wurden für ihre vor-gegebene Tat reichlich belohnt. Bis zu den Köchen undden Küchenhilfen erhielten sie alle Geschenke. Nurunsere verkleidete Prinzessin ließ sich nicht beschen-ken. Der Küchenmeister sagte: »Gehilfe, worauf war-test du? Der Padischah ist auf wundersame Weiseseinem sicheren Tod entronnen, und jetzt verteilt ergroßzügig Geschenke an seine Untertanen. Geh auchhin und nimm dir deinen Teil!« Das Mädchen abererwiderte: »Wenn ich vor den Padischah träte, so wür-de er mich sofort wegjagen.« Da riefen alle Köche:»Nein, denn er ist wie berauscht von seiner Rettung,da würde er noch nicht einmal die Ärmsten der Ar-men wegjagen und dir wird er sicher auch ein Ge-schenk geben.« So redeten sie auf dasMädchen ein, bises schließlich nachgab und zum Padischah ging. Estrat vor den Padischah und sagte zu ihm: »Mein Pa-dischah, ich war es, der diesen Dew heute in der Nachtgetötet hat!« Doch der Padischahwollte gerade diesemschmächtigen Küchenjungen keinen Glauben schen-ken undwies ihn zurück, indem er sagte: »Mit welcherKraft hättest denn du den Dew töten können?« Da zog

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das Mädchen das Ohr des Dews aus seiner Tasche undzeigte es dem Padischah: »Mein Padischah, wenn Ihrmir nicht glaubt, dann nehmt dieses Ohr und haltet esan das Haupt des Dews. Ihr werdet sehen, dass esdavon abgetrennt wurde.« Der Padischah wollte denWorten dieses geringen Dieners noch immer nichtglauben. Doch das Ohr, das ihm gereicht wurde, glichweder dem eines Menschen noch dem eines Tieres.Damit war seine Neugier geweckt und es reizte ihn,die Probe zu machen. So gingen sie alle gemeinsamzur Leiche des Dews. Da erst bemerkte der Padischah,dass sich auf einer Seite des abgetrennten Hauptesstatt eines Ohrs eine klaffende Wunde befand. Er hieltdas Ohr an das Loch und musste nun zugeben, dass esgenau an die Stelle passte. Da wandte er sich zumKüchengehilfen und sprach: »Mein Sohn, mein jungerHeld und Retter, erbitte dir von mir, was immer duwillst!« Das Mädchen verhielt sich aber so bescheiden,wie es nötig war, und antwortete mit geneigtem Blick:»Mein Padischah, ich erbitte von Gott Eure Gesund-heit!« Als der Padischah noch einmal fragte, wieder-holte sie ihre Antwort. Da dem Untertanen Gottes-furcht und dem Herrscher Edelmut zukommt, for-derte der Padischah unsere verkleidete Prinzessin eindrittes Mal auf, ihm ihren Wunsch zu nennen. Dablickte sie zum ihm auf und sagte: »Mein Padischah,Eure Gesundheit erbitte ich von Gott. Von Euch erbitteich die Hand der Sultanin, welche in rote Gewändergehüllt in jenem Zimmer sitzt.« Der Padischah entgeg-nete: »Mein Sohn! Schon so viele schöne Jünglingehaben um ihre Hand angehalten. Aber sie hat allezurückgewiesen. An keinem wollte sie Gefallen fin-den. Was willst du mit einem solchen hochmütigen

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Weib anfangen? Ihr Herz wirst auch du nicht erwei-chen können. In den anderen Zimmern findest dumeine gutherzigen und umgänglichen Töchter. Wel-che von ihnen du auch immer zur Frau haben willst,sollst du bekommen. Und ihr sollt ein Hochzeitsfesterhalten, wie es zuvor noch keines gegeben hat!«Doch unser Mädchen war von seiner Wahl nicht ab-zubringen und sagte: »Mein Padischah, mein Herzhat sich in diese verliebt. Wenn Ihr sie mir in EurerWeisheit geben wollt, so tut dies; wenn nicht, so mögeEuch von Gott ein langes Leben beschieden sein. Abereine andere will ich nicht.« Da der Padischah nichtsgegen die Hartnäckigkeit dieses Jungen ausrichtenkonnte, ließ er seine rot gekleidete Tochter rufen. Die-se erschien alsbald und stellte sich vor ihm auf. DerPadischah sagte zu ihr: »Meine Tochter, dieser Jüng-ling hier hat um deine Hand angehalten. Ich habe ihmmeine Erlaubnis gegeben, denn er hat mich vor einemschlimmen Ende bewahrt, indem er den schwarzenDew getötet hat. Wirst du ihn annehmen?« SeineTochter sprach: »Mein Vater, gebt mir einen Tag Be-denkzeit. Ich will heute Nacht um Gottes Rat betenund werde Euch morgen meine Antwort geben.« DerPadischah räumte ihr die erbetene Frist ein, und dierot gekleidete Sultanin begab sich wieder in ihr Ge-mach.Unsere verkleidete Prinzessin witterte ein Geheim-

nis hinter dem Wunsch der rot gekleideten Sultaninund nahm sich vor, dem auf den Grund zu gehen. Alses Nacht wurde und das gesamte Palastvolk sich zu-rückgezogen hatte, ging sie heimlich zum Zimmer deranderen und spähte durch das Schlüsselloch, um zusehen, was sich drinnen abspielte. Sie sah, dass die

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Sultanin aufgeregt im Zimmer hin und her ging unddiese und jene Arbeit verrichtete. Dann stellte sie indie Mitte des Zimmers ein goldenes Wasserbeckenund goss Wasser hinein. Im selben Augenblick flogeine Taube zum Fenster herein, hüpfte in das Beckenund schüttelte sich. Und als sie noch mehr Wasserdazugoss, streifte die Taube nach und nach ihr Gefie-der ab und verwandelte sich schließlich in einenschönen Jüngling. Das rot gekleidete Mädchen trat zuihm und sagte: »Ach, du mein Geliebter! Heute hatmein Vater, der Padischah, mir eröffnet, dass er micheinem Küchenjungen zur Frau geben will. Ich wusstemir keinen Ausweg und bat daher um einen TagBedenkzeit, um mich mit dir zu beraten. Was sollenwir nur anfangen?« Der Jüngling antwortete: »MeineSultanin, sei unbesorgt, denn ich weiß einen Weg, wiewir diesen Jungen loswerden: An dem und dem Ortgibt es einen Spiegel, der von den Dews bewachtwird. Niemandem ist es bisher gelungen, diesen Spie-gel zu holen, denn niemand fand den Mut dazu.Diesen Spiegel mache morgen zur Bedingung für dei-ne Einwilligung, denn auch diesem Küchengehilfenwird es nicht gelingen.« Der Küchengehilfe aber, un-sere verkleidete Prinzessin, hörte von draußen allesmit.Als es gegen Morgen ging, hatten die rot gekleidete

Sultanin und ihr Geliebter ihre Beratung beendet undihren Beschluss gefasst. Jetzt stieg der Jüngling wie-der in die Wanne, verwandelte sich in die Taube undflog wieder zum Fenster hinaus. Die Sultanin aller-dings ging sofort zum Padischah und sagte zu ihm:»Mein Vater, an dem und dem Ort befindet sich einSpiegel, der von den Dews bewacht wird. Wenn dieser

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Jüngling ihn bringt, will ich seine Frau werden, wennnicht, so nicht.« Sogleich ließ der Padischah unserenJüngling herbeirufen und sagte zu ihm: »Mein Sohn,habe ich es dir nicht vorausgesagt? Dieses Mädchentreibt ein Spiel mit dir! Jetzt fordert sie einen Spiegelvon dem und dem Ort. Wenn du ihn bringst, dannwird sie deine Frau.« Da antwortete unsere verkleide-te Prinzessin: »Mein Padischah, wenn dies Euer Befehlist, so will ich gleich losreiten und den Spiegel holen.«Dem Padischah schenkte die beherzte Antwort desJünglings einen Funken Hoffnung, und er sprach:»Nun denn, mein Junge, so reite los und beweise dichder Welt!«Die verkleidete Prinzessin entfernte sich alsbald

vom Palast und rieb die Haare ihres Pferdes aneinan-der. Das Pferd erschien sofort und fragte unser Mäd-chen: »Was wünschst du, meine Sultanin?« Diese ant-wortete: »Ach, mein liebes Pferd! Ich habe um dieHand einer der Töchter des Padischahs angehalten.Sie aber hat sich ausbedungen, dass ich ihr zunächsteinen bestimmten Spiegel bringe, der an dem unddem Ort von den Dews bewacht wird. Diesen Spiegelwill ich haben. Doch ist es bisher niemandem gelun-gen, ihn zu holen. Nun benötige ich deine Hilfe, dennaußer dir und Gott habe ich keinen Beistand auf die-ser Welt!« Das Pferd sagte: »Meine Sultanin, sei ohneSorge! Steig auf meinen Rücken und halte dich gutfest!« Kaum war das Mädchen den Worten des Pfer-des gefolgt, so preschte es gleich los und lief so schnellwie der Wind.Nach einiger Zeit kamen sie zu einem hohen Berg

und hielten an. Das Pferd sagte zu dem Mädchen:»Meine Prinzessin, ich habe dich bis hierher gebracht.

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Nun steige auf diesen Berg und folge der Spur zurHöhle der Dews. Finde dieHöhle und prüfe von einemversteckten Ort, ob die Augen der Dews geöffnet odergeschlossen sind. Sind sie geschlossen, so wachen sie;halten sie ihre Augen aber geöffnet, so weißt du, dasssie schlafen. Wenn dem so ist, geh vorsichtig hinein,und du wirst den Spiegel sehen, der über ihren Häup-tern hängt. Nimm ihn schnell ab, und entferne dichaus der Höhle, ohne zurückzublicken!« Unsere ver-kleidete Prinzessin tat, wie ihr das Pferd geheißenhatte und machte sich auf den Weg. Sie stieg auf denBerg, suchte und fand die Höhle der Dews und beob-achtete sie eine Weile. Da die Augen der Dews geöff-net waren, wusste sie, dass sie schliefen, und begabsich in die Höhle. Dort nahm sie den Spiegel, drückteihn an sich, ohne hineinzusehen, und lief augenblick-lich wieder hinaus. Während sie zum Pferd zurücklief,erwachten die Dews aus ihrem Schlaf und bemerktensofort, dass der Spiegel entwendet worden war. Siehefteten sich an die Fersen der Prinzessin und riefenihr zu: »He, du Jüngling, sieh einmal her! Wir habendir ein Angebot zu machen, wenn du uns unserenSpiegel zurückbringst!« Doch unsere Prinzessin ließsich nicht beirren und lief weiter. Und so halfen auchdie Felsbrocken nicht, die die Dews hinter ihr herwar-fen. Die verkleidete Prinzessin erreichte das Pferd,schwang sich auf den Sattel und beide machten siesich geschwind auf den Weg zurück zum Palast. DieDews schimpften und schrien weiter, doch letztlichmussten sie erkennen, dass ihr Spiegel unwieder-bringlich verloren war.Die Prinzessin kam mit dem Pferd nach kurzer Zeit

in der Nähe des Palastes an und stieg ab. Sobald sie

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mit ihren Füßen auf der Erde stand, verschwand dasPferd wie früher inmitten einer Rauchwolke. Dannbegab sich unsere verkleidete Prinzessin geradewegszum Padischah und sagte zu ihm: »Mein Padischah,hier habe ich den von Euch verlangten Spiegel ge-bracht.«DerPadischah ließ sogleich seineTochter rufenund sagte zu ihr: »Sieh, meine Tochter: Dieser Jünglinghat den von dir verlangten Spiegel gebracht.« Da nahmdie rot gekleidete Prinzessin den Spiegel, überlegteeinen Augenblick und sprach: »Vater, gebt mir einenweiteren Aufschub. Ich will auch heute Nacht zu Gottbeten und werde Euch morgen meine Antwort wissenlassen.« Der Padischah erwiderte: »Schön! So wollenwir sehen, welche List du morgen anwendest.« Damitgewährte er seiner Tochter die weitere Bedenkzeit,woraufhin sie sich wieder in ihr Zimmer zurückzog.Unsere verkleidete Prinzessin aber wusste, was sich

in dieser Nacht abspielen würde, und schaute wiederdurch das Schlüsselloch. Wie in der vorherigen Nachterschien der Geliebte der rot gekleideten Prinzessinals Taube und nahm im Zimmer seine Menschen-gestalt an. Seine Geliebte sagte zu ihm: »O du meinAugenlicht, meine einzige Freude! Jener elende Kü-chenhelfer hat den Spiegel hergebracht und mein Va-ter wollte mich ihm schon zur Frau geben, als ich ihnum einen weiteren Tag Bedenkzeit ersuchte, um michmit dir zu beraten. Was nur können wir tun?« DerJüngling war zwar überrascht von der Nachricht desentwendeten Spiegels, beruhigte aber die Prinzessinund sagte zu ihr: »Meine Sultanin, sei nicht traurig.Ich weiß eine andere Aufgabe, die du dem Küchenhel-fer stellen sollst: An dem und dem Ort bewachen dieDews einen Himmelsstein. Niemand kann diesen Ort

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finden. Verlange morgen von diesem Jüngling, er mö-ge dir den Himmelsstein bringen und du kannst ge-trost sein, dass es ihm nicht gelingen wird. Dann wirdsich niemand mehr zwischen uns drängen.«Unsere verkleidete Prinzessin hatte alles gehört, was

sie wissen musste. Als es schließlich Morgen ward,verwandelte sich der Jüngling wieder in eine Taubeund flog davon. Sofort begab sich die Tochter des Pa-dischahs zu ihrem Vater und sagte: »Vater, der Jüng-ling soll mir von dem und dem Ort einen Himmels-stein bringen. Diesen verlange ich, dann werde ichauch seine Frau.« Dem Padischah tat der arme Kü-chenhelfer nun vollends leid, doch er konnte nichtsgegen die Launen seiner Tochter ausrichten und ließden Jüngling rufen, um ihm Folgendes mitzuteilen:»Mein Sohn, an dem und demOrt bewachen die Dewseinen Himmelsstein. Diesen fordert meine Tochter,wenn sie deine Frau werden soll. Wenn du dich dazuin der Lage siehst, so bring ihn her. Wenn nicht, so gibes gleich zu und ich will dir sofort eine meiner an-deren Töchter geben!« Da rief unser Mädchen: »MeinPadischah, wenn dies Euer Befehl ist, so will ich gleichden Himmelsstein besorgen!« Sofort entfernte es sicherneut aus dem Palast, um mit den Haaren ihr Pferdherbeizurufen. Das Pferd tauchte aus dem Nichts aufund fragte sie: »Meine Sultanin, was wünschst du?«Die verkleidete Prinzessin trug ihr Anliegen vor:»Mein liebes Pferd, auch heute habe ich um die rotgekleidete Prinzessin angehalten und wieder hat sieeine Bedingung gestellt. Jetzt will sie, dass ich denHimmelsstein herbeibringe, der sich an dem und demOrt befindet und von den Dews in einer Höhle be-wacht wird. Doch niemand kann zu diesem Ort gelan-

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gen, und falls doch, dann kann er die Höhle nichtfinden. Selbst wenn er es bis zur Höhle geschafft hat,kann er den Stein nicht von dort wegtragen. Nun bistdu meine letzte Hoffnung.« Das Pferd tröstete seineHerrin sogleich: »Meine Prinzessin, sei nicht mehrverzweifelt, denn ich werde dich gleich zum besagtenOrt bringen. Steig auf, und halte dich gut fest an mei-nem Hals.« Gesagt, getan! Unsere Prinzessin schwangsichwieder auf ihr Pferd und beide brausten davon.Nach einiger Zeit kamen sie am Fuß eines Bergs an,

der war so hoch, dass dessen Gipfel zu sehen keinAuge imstande war und den zu besteigen keine Beinegenügend Kraft besaßen. Unsere beiden machten dorthalt. Nachdem das Mädchen abgestiegen war, wiesihm das Pferd einen Weg und sagte: »Meine Sultanin,folge diesem Weg dort und er wird dich zur Höhleder Dews führen. Wenn du dort angekommen bist, soprüfe zunächst, ob ihre Augen geöffnet oder geschlos-sen sind. Bedenke, dass sie schlafen, wenn ihre Augengeöffnet sind. Dann geh vorsichtig in die Höhle hinein,und du wirst in einer Nische in der Wand den Him-melsstein sehen. Nimm ihn, und verlasse die Höhle,ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sonst wirddies dein letzter Tag sein. Bedenke weiterhin, meinePrinzessin, dass, wenn die Dews erwachen und dichverfolgen, sich jede Verwünschung, die sie dir zuru-fen, erfüllen wird. Und nun geh, ich habe dir den Weggezeigt. Möge Gott dich leiten!«Die verkleidete Prinzessin begab sich nun auf den

Weg, den ihr das Pferd gewiesen hatte. Sie kletterteden Berg hinauf und fand schließlich die Höhle, inder die Dews wohnten. Sie blickte vorsichtig hineinund sah, dass die Augen der Dews geöffnet waren. So

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konnte sie beruhigt hineingehen. Aus der Nische ent-nahm sie den Himmelsstein und kehrte unverzüglichum. Während sie aber den Berg hinunterlief, um mitdem Pferd wieder zurückzureiten, erwachten dieDews und bemerkten sofort den Diebstahl. Sie liefendem Mädchen nach und sahen, dass es schon diehalbe Strecke hinter sich gebracht hatte. Die Dewswarfen mit Felsbrocken nach ihm, und als sie merkten,dass das Mädchen sich dadurch nicht einschüchternließ, begannen sie mit Flüchen und Verwünschungen:»Bei Gott, du Jüngling mit schnellen Beinen, geschick-ten Händen und scharfem Verstand! Wenn du einMann bist, so sollst du eine Frau werden, und wenndu eine Frau bist, so sollst du ein Mann werden!« Soblieben sie in ihrem Zorn zurück.Unser Mädchen jedoch kam glücklich beim Pferd

an und zeigte ihm den Stein in ihren Händen. DasPferd sagte: »Ja, dies ist der Himmelsstein, steck ihn indeine Tasche. Doch sage mir, meine Prinzessin, habendie Dews etwas hinter dir hergerufen, nachdem dudie Höhle verlassen hattest? Wenn sie es getan haben,so wird sich das Gesagte erfüllen, was auch immer eswar, und du wirst ihrem Fluch nicht entkommen.«Das Mädchen antwortete: »Sie riefen hinter mir drein:›Wenn du ein Mann bist, so sollst du eine Frau wer-den, und wenn du eine Frau bist, so sollst du einMann werden!‹« Da sah das Mädchen an sich herun-ter und untersuchte sich selbst und – was sollte sie dasehen: Sie war zu einem Mann geworden! Als dasPferd merkte, was mit dem Mädchen geschehen war,da freute es sich und war zufrieden. Und das Mäd-chen sprach: »Das war der sehnlichste Wunsch, denich hatte. Dem Herrn sei Dank, denn mein Wunsch ist

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in Erfüllung gegangen!« Unser Prinz, der nun einwahrhaftiger Prinz war, bestieg sodann das Pferd,und sie ritten zurück zum Palast. Und wie unser Prinzabstieg, verschwand das Pferd wieder in einer Rauch-wolke.Der Prinz begab sich sogleich in den Palast, trat vor

den Padischah und sagte zu ihm: »Mein Padischah,hier ist der Himmelsstein, den Ihr gewünscht habt.«Der Padischah freute sich sehr, dass der Jüngling auchdiese Aufgabe gelöst hatte, und ließ seine Tochter ru-fen. Als diese erschien, sagte er zu ihr: »Meine Tochter,sieh, der Jüngling hat auch den Himmelsstein ge-bracht, den du von ihm verlangt hast. Welches Hinder-nis wirst du ihm nun in den Weg stellen?« Da errötetedas Mädchen und wurde ganz verlegen. Zu ihremVater sprach es: »Vater, gib mir auch diese Nacht nochzu denken! Morgen werdet Ihr mein letztes Wort hö-ren!« Der Padischah antwortete: »Sehr wohl, meineTochter! Auch der morgige Tag wird kommen; wirhaben bis hierher Geduld geübt, wir werden es auchbis morgen tun.« Dann suchte das Mädchen wiedersein Zimmer auf. Der Padischah wandte sich an unse-ren Prinz und sagte: »Mein Junge, du hast gehört, wasmeine Tochter gesagt hat. Nun geh auch du und kom-me morgen wieder her. Wir wollen sehen, was uns ammorgigen Tag erwartet.« Mit diesen Worten entließ erden Prinzen, der sich ebenfalls zurückzog.Auch dieser Tag wurde zur Nacht, und unser Prinz

schlich sich wie zuvor an das Zimmer der rot geklei-deten Prinzessin und beobachtete durch das Schlüssel-loch, was sich drinnen abspielte. Wie gewohnt, stelltedas Mädchen ein goldenes Wasserbecken in der Mittedes Zimmers auf und goss Wasser aus einer silbernen

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Kanne hinein. Dann flog die Taube zum Fenster gera-dewegs ins Wasserbecken. Hier schüttelte sie sich undverwandelte sich in den Jüngling, den Geliebten derPrinzessin. Sie umarmten sich auf das innigste unddann berichtete das Mädchen: »Ach, mein Geliebter,das Licht meiner Augen! Mein Herz, jener elendeJüngling hat auch den Himmelsstein gebracht. Wassoll nun aus uns werden? Mein Vater hat mir einendritten Tag Bedenkzeit geschenkt, doch was wird nungeschehen?« Da sagte der Jüngling zu ihm: »MeineSultanin! Das soll dich nicht bekümmern! Denn ichbin schließlich der Sohn des Herrschers über die Perisund mir sollte doch ein Ausweg in den Sinn kommen!In unserem Palastgarten steht ein Baum, an dem wei-nende Granatäpfel und lachende Quitten wachsen.Wenn sich jemand diesem Baum nähert, weinen dieGranatäpfel bitterlich und die Quitten brechen inschallendes Gelächter aus. Deshalb kann sich niemanddiesem Baum nähern! Du aber wirst dir morgen die-sen Baum wünschen. Ich hingegen werde meinen Va-ter bitten, alle seine Soldaten zu bewaffnen und alsWache unter dem Baum aufzustellen. Wir werden Tagund Nacht warten, und sobald der Jüngling kommt,werden wir ihn dort erschlagen.« Als das Mädchenhörte, dass dieser elende Küchenjunge keine Gefahrmehr für es sein würde, war es wieder ruhig undzufrieden. Sie einigten sich also auf den erwähntenBaum als dritte Aufgabe für den Küchenjungen. ImMorgengrauen nahm der Geliebte der Prinzessin wie-der seine Taubengestalt an und flog davon.Die rot gekleidete Prinzessin ging, als es Morgen

wurde, sofort zu ihrem Vater und sprach: »Mein Pa-dischah, im Garten des Herrschers der Peris befindet

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sich ein Baum, an dem weinende Granatäpfel undlachende Quitten wachsen. Diesen Baum soll mir derKüchenjunge bringen. Wenn es ihm gelingt, so stelleich keine Bedingungen mehr und werde endgültigseine Frau.« Dem Padischah blieb nichts anderes üb-rig, als auch diese Bedingung anzunehmen, und errief den Küchenjungen zu sich. »Mein Sohn«, spracher zu ihm, »aller guten Dinge sind drei und so verneh-me die dritte Aufgabe, die meine Tochter dir stellt: Andem und dem Ort befindet sich der Palast des Pa-dischahs der Peris. Im Palastgarten steht ein Baummitweinenden Granatäpfeln und lachenden Quitten. Die-sen Baum bringe her, und du sollst meine Tochter zurFrau haben.« Der Jüngling sagte zu ihm: »Mein Pa-dischah! Ich habe die beiden vorherigen Aufgabenerfüllt, und mit Gottes Hilfe wird mir auch die drittegelingen.«Damit verabschiedete er sich vom Padischah, rieb

die Haare aneinander und sofort erschien das Pferd.»Was wünschst du, mein Prinz?«, fragte das Pferd undder Prinz antwortete: »Ach, mein liebes Pferd! DerPadischah hat mir heute die dritte Aufgabe gestellt.Den Baum mit weinenden Granatäpfeln und lachen-den Quitten aus dem Garten des Palastes der Perismuss ich beschaffen, und die rot gekleidete Prinzessinwird mein. Du warst mir bisher bei allen Aufgabender einzige Beistand, und nun benötige ich deine Hilfeaufs Neue.« Das Pferd hielt inne und überlegte, dannaber sprach es: »Mein Prinz, dies zu bewältigen wirdnicht leicht sein, doch wir wollen dorthin gehen undschauen, wie wir es anstellen können!«Der Prinz bestieg das Pferd, und beide flogen nur so

dahin. Nach einiger Zeit sahen sie eine Stadt und auf

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dem Weg standen drei Knaben. Vor ihnen lagen einHammelfell, eine Mütze, eine Peitsche und ein Pfeil.Diese vier Gegenstände waren den Knaben von ihremVater als Erbschaft geblieben, doch die drei Brüderkonnten diese Sachen nicht untereinander aufteilenund stritten deshalb. Als das Pferd die Sachen erblick-te, sagte es zu dem Jüngling, er möge die drei Knabenüberlisten und sich drei der vier Gegenstände aneig-nen, denn sie würden noch von großem Nutzen fürihn sein. Daraufhin ging der Prinz auf die drei Knabenzu und sagte zu ihnen: »Ihr Kinder, warum streitet ihrdenn?« Als die drei ihm den Grund nannten, spracher: »Wartet! Lasst mich die Sachen unter euch vertei-len!« Er nahm den Pfeil vom Boden auf und rief: »Ichwerde diesen Pfeil abschießen. Wer von euch zuerstankommt und den Pfeil an sich nimmt, dem gehörtauch der Rest der Erbschaft!« Die Knaben waren da-mit einverstanden. Der Prinz schoss den Pfeil mit allerKraft, derer sein Arm fähig war, ab, und die Knabenrannten hinterher. Schnell nahm der Prinz die übrigenGegenstände und legte an deren Stelle je eine Hand-voll Goldstücke hin. Dann lief er zurück zum Pferd,saß auf und beide führten ihren Weg fort. Die Knabenkamen zurück und sahen zu ihrer Freude, dass an-stelle ihrer Erbstücke je eine Handvoll Goldstückelagen, welche sie nun gerecht unter sich aufteilenkonnten.Der Prinz und das Pferd näherten sich nun dem

Palast des Herrschers über die Peris. Das Pferd bliebstehen und sagte zu seinem Reiter: »Mein Prinz, es isthöchste Zeit! Diese Mütze ist eine Zaubermütze, setzesie auf, und du wirst unsichtbar werden. Dann setzedich auf das Hammelfell und schlage mit der Peitsche

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darauf. Das Fell wird sich in die Luft erheben und duwirst damit in den Garten fliegen und mit einem wei-teren Peitschenschlag den besagten Baum herausrei-ßen. Dann kehrst du hierher zurück!«Der Prinz war erfreut über seine Zaubergegenstän-

de und setzte die Mütze auf. Ohne dass ihn jemandsehen konnte, ging er in den Palast und wanderteumher. Da plötzlich sah er, wie in einem der Zimmerder Sohn des Herrschers der Peris und die rot geklei-dete Prinzessin beisammensaßen. Er ging hinein undsetzte sich unbemerkt neben die beiden. Nach einigerZeit kamen die Speisen, und während das Mädchenund der Jüngling sich niedersetzten und aßen, setztesich der Prinz auf die andere Seite des Tisches undbegann ebenfalls zu essen. Die beiden anderen be-merkten, dass auch auf der anderen Seite der Plattedie Speisen weniger wurden. Der Peri-Prinz sagte zuseiner Geliebten: »Meine Sultanin, dies war mein An-teil und dies deiner. Wessen Anteil aber war dieshier?« Doch das Mädchen wusste keine Antwort undbeide waren verwundert.Nachdem sie ihr Mahl beendet hatten, begaben sie

sich zum Fenster und nahmen auf einer SitzbankPlatz. Zuvor hatte das Mädchen dem Sohn des Peri-Padischah ein gesticktes Taschentuch zum Geschenkgemacht. Unser unsichtbarer Prinz nahm dieses Ta-schentuch weg und steckte es in seine Brusttasche. Diebeiden anderen bemerkten nun, dass das besagte Ta-schentuch verschwunden war. Sie suchten zwar imganzen Zimmer danach, doch sie konnten es nichtfinden.Es war Abend geworden. Der Prinz bestieg nun

endlich das magische Hammelfell, schlug einmal mit

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der Peitsche darauf und erhob sich in die Luft. Erschwebte zum Baummit den weinenden Granatäpfelnund den lachenden Quitten, packte ihn und riss ihnmit aller Kraft, die ihm zu Gebote stand, aus der Erde.Im selben Augenblick fingen die Granatäpfel an, bit-terlich zu weinen, und die Quitten lachten herzhaftdrauflos. Unser Prinz erhob sich sofort gen Himmel.Als die Soldaten, die der Padischah der Peris aufge-stellt hatte, sahen, wie der Baum immer weiter weg-flog, stießen sie einen Schlachtruf aus und rannten los,um den Eindringling zu packen und den Baum zu-rückzuholen. Doch die Überraschung war allzu groß;so gerieten sämtliche Soldaten in große Unordnung,und in ihrer Verwirrung erschlugen sie sich gegen-seitig.Die Prinzessin und der Peri-Prinz schauten zum

Fenster heraus. Als sie sahen, dass der Baum mit denlachenden und den weinenden Früchten immer wei-ter in der Ferne verschwand, merkten sie, wie es umsie stand. Der Sohn des Peri-Padischahs sagte nun zuseiner Geliebten: »Meine Sultanin! Der Jüngling hatsowohl das Geschenk, das du mir gegeben hattest,genommen, als auch den geforderten Baum aus derErde gerissen. Er hat alle Aufgaben erfüllt. Ich binbesiegt und kann von nun an nichts mehr mit dir zuschaffen haben. Werde du nun irgendeinem zu eigen,wer immer es auch sein mag, ich muss dich verlas-sen!« Da lief das Mädchen mit großem Kummer ausdem Palast und begab sich zu seinem Vater.Wir wollen nun wieder zu unserem Prinzen kom-

men: Er nahm den Baum, flog auf dem Hammelfell zuseinem Pferd, schwang sich auf dessen Rücken undbeide traten ihren Rückweg an. Vor dem Palast ange-

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kommen, stieg der Prinz ab und lief schnurstrackszum Padischah: »Mein Padischah«, sagte er, »hier sehtIhr den Baum mit den weinenden Granatäpfeln undden lachenden Quitten; ich habe ihn Euch gebracht.Auch meine dritte Aufgabe ist gelöst.« Dem Padi-schah verschlug es fast die Sprache und er freute sichüber alle Maßen: »Bravo, mein Sohn, das ist wahrlicheine Heldentat! Welchem besseren Mann als dir könn-te ich meine Tochter geben?« Die rot gekleidete Prin-zessin war verstummt und konnte kaum glauben, wasmit ihr geschehen war. Dieser Jüngling hatte alle Auf-gaben bestanden und war ihren Fallen entgangen.Und wie sie ihn von der Seite verstohlen betrachtete,dachte sie, dass er sich doch als wahrer Held heraus-gestellt hatte, und sie fand mehr und mehr Gefallenan ihm. So willigte sie denn in die Entscheidung ihresVaters ein.Der Padischah ließ die beiden sofort vermählen und

vierzig Tage und vierzig Nächte währte das Hoch-zeitsfest.Danach kehrte unser Prinz mit seiner Gemahlin

zurück in das Reich seines Vaters. Sie begaben sich inden Palast und der Prinz ging zu seinem Vater undseiner Mutter und küsste den Saum ihrer Gewänder.Dann setzten sie sich alle gemeinsam nieder und derPrinz erzählte alles, was ihm zugestoßen war, einesnach dem anderen. Seine Eltern waren voller Erstau-nen. Schließlich vermählten sie die Prinzessin erneutmit dem Prinzen und feierten vierzig Tage und vierzigNächte die Hochzeit.Auch sie haben das Ziel ihrer Wünsche erreicht,

möge Gott auch uns unser Glück bescheren!

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Die Geschichte vom Kristallpalastund demDiamantschiff

E s war einmal, und doch war es keinmal. In alterZeit gab es einmal einen Padischah, dessen Kin-

der früh starben.Eines Tages wurde ihm wieder ein Kind geboren,

eine Tochter. Die Eltern wollten dieses Kind nicht auchnoch verlieren und beauftragten sämtliche Ärzte undGelehrten, einen Weg zu finden, wie das Mädchen amLeben zu erhalten sei. Nach langen Beratungen kamendie Ratgeber zu einem Entschluss und teilten demPadischah Folgendes mit: »Erhabener Gebieter, wirsind darin übereingekommen, dass es für Eure Toch-ter das Beste wäre, wenn sie abgeschieden von denMenschen in einer Höhle unter der Erde aufwächst.Auf der Erde ist sie ungeschützt und wäre allen Ge-fahren dieser Welt ausgesetzt.« Der Padischah undseine Gemahlin folgten dem Rat der Gelehrten. Balddarauf wurde an einem geeigneten Ort unter der Erdeeine Höhle gegraben, in der nun das Kind mit seinerAmme, einer Kinderfrau und anderen Dienerinneneinquartiert wurde. Das Mädchen blieb fortan in derHöhle und wuchs und gedieh prächtig.

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Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat,Jahr um Jahr vergingen und – um es kurz zu machen –das Mädchen erreichte sein fünfzehntes Lebensjahrund war zu einer unvergleichlich schönen und lieb-lichen Prinzessin mit einem außerordentlichen Ver-stand herangewachsen.Eines Tages aber empfand es Langeweile in seiner

unterirdischen Welt und fing an, auf der Suche nachAbwechslung in der Höhle umherzulaufen. Bald gabes keinen Winkel und keine versteckte Ecke mehr, diees nicht durchstöbert hatte. Und wie das Mädchen sei-nen Blick in der Höhle umherschweifen ließ, entdecktees plötzlich eine Öffnung in der Decke. Diese warnämlich das einzige Fenster zur Außenwelt. Nun wardie Neugier des Mädchens geweckt und sofort nahmes alle Sessel und Stühle, die es finden konnte, undbaute sich daraus eine Treppe, über die es schließlichzur Öffnung gelangte. Es zerschlug das Fenster undstreckte seinen Kopf nach draußen – und was erblicktees da! Ein endloses, schimmerndes Meer erstrecktesich vor ihr, von dessen Oberfläche die Sonnenstrahlenin tanzenden Lichtfunken zurückgeworfen wurden.Schiffe fuhren umher und am Ufer sah sie Bäume, diesich sanft im Wind wiegten und aus deren Ästen undZweigen fröhliches Vogelgezwitscher erklang. Leuch-tend grüne Wiesen waren mit Tausenden herrlich duf-tender bunter Blumen übersät. Das Mädchen gerietvollends in Staunen und war so überwältigt von die-sem Anblick, dass es ganz benommen wurde undhinunterstieg.Kurz darauf erschien die Kinderfrau und sah die

übereinandergestapelten Möbel und die zerbrocheneFensterscheibe. Sie fand die Prinzessin, ganz in sich

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gekehrt und in Gedanken versunken, und fragte sie,was dies alles zu bedeuten habe. Die Prinzessin, wieaus einem Traum erwacht, blickte auf und berichteteihr, was sie getan hatte. Dann rief sie: »Um Himmelswillen, bringt mich aus dieser engen Höhle hinaus,sonst werde ich hier vor Kummer vergehen!« Die Kin-derfrau verständigte sofort den Padischah und dieserließ seine Berater zusammenrufen und fragte, was zutun sei. Diese hielten es für angebracht, dass die Prin-zessin nun Schritt für Schritt in die Außenwelt geführtwurde. So wurde die Prinzessin jeden Tag für ein paarStunden nach draußen gebracht und nach einiger Zeithatte sie sich vollständig an das Leben über der Höhlegewöhnt.Eines Tages ging sie im Rosengarten spazieren und

blickte von dort sinnend auf das weite Meer. Dannging sie zu ihrem Vater und sagte: »Mein mächtigerVater! Lasst für mich auf diesem Meer einen Palastaus Kristall erbauen. Es sollen Möbel aus Gold undSilber darin sein, mit wertvollen Intarsien und gold-gewirkter Atlasseide bezogen. Einen solchen Palastwünsche ich mir von Herzen!« Der Padischah konnteseinem einzigen Kind nichts abschlagen und sprach:»Mein Kind, wenn es nur dies ist, was dein Herzbegehrt, so sollst du deinen Kristallpalast haben!«Hierauf ließ er die Baumeister rufen und gab ihnen

den Auftrag, nach den Anweisungen seiner Tochtereinen Kristallpalast zu erbauen. Binnen eines Jahreswar der Palast errichtet. Der Padischah begab sich ansUfer des Meeres und betrachtete den Palast, bei des-sen Anblick man von seinem Glanz geblendet wurde,so prächtig war er anzusehen. Als die Prinzessin kamund sah, dass der Palast erbaut war, küsste sie ihrem

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Vater die Hand, worauf dieser sprach: »Meine Tochter,hier steht der Palast, den du dir gewünscht hast. Nunziehe mit deinen Dienerinnen und deinen Sklavinnenein und lebe dort in Freude und Zufriedenheit!« Undmit diesen Worten übergab er ihr den goldenenSchlüssel zum Kristallpalast. Das Mädchen zog daraufmit seinem Gefolge in den Palast ein und verbrachtedort ihre Tage.Lassen wir die Prinzessin sich an den Kostbarkeiten

ihres Palastes ergehen und wenden uns dem zu, wassich vor den Palastmauern abspielte. Aus allen Rich-tungen strömten Menschen herbei, um den Kristall-palast zu bewundern, denn es hatte sich in Windeseileherumgesprochen, dass auf jenemMeer ein Palast vonüberwältigender Pracht erbaut worden war. DieseKunde erreichte eines Tages auch den Sohn des Pa-dischahs von Jemen. Dieser war begierig, diesen sa-genhaften Palast mit eigenen Augen zu sehen, und sobat er seinen Vater, ihm eine Reise zu gestatten. »Meinmächtiger Vater«, sprach er, »der Padischah von Stam-bul hat auf dem Meer einen Palast errichten lassen,dessen Schönheit und Pracht mit Worten nicht zubeschreiben ist. Nun möchte ich mit Eurer Erlaubnisdorthin reisen und ihn mit eigenen Augen sehen.«Sein Vater gab ihm die Erlaubnis, der Prinz ließ sofortein Schiff bereit machen und trat bald darauf miteinigen Gefährten seine Reise an. Sie segelten Tag undNacht und segelten immer weiter, bis sie eines Tagesin der Ferne ein leuchtendes Glänzen erblickten. »Dasmuss der Kristallpalast sein!«, rief der Prinz zu seinenGefährten, und nach einigen Tagen kamen sie tatsäch-lich dort an. Der Prinz segelte um den Palast herumund betrachtete ihn von allen Seiten. Er traute kaum

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seinen Augen und fragte sich, ob dies ein Trugbildoder gar ein Traum sei. Als es gegen Abend ging, ließer Anker werfen und hielt sich weiterhin auf der Brü-cke auf, um den Palast zu bestaunen.Soll sich der Prinz nach Herzenslust in die Betrach-

tung des Palastes vertiefen, wir wenden uns wiederder Prinzessin zu. Diese trat ans Fenster und erblicktevor dem Palast ein Schiff. Und während sie sich frag-te, wer dies wohl sein könnte, entdeckte sie den Prin-zen und sah, dass er ein schöner Jüngling war, einer,der dem Mond am Vierzehnten glich und von hel-denhafter Statur war. Sogleich quoll ihr Herz über vorLiebe. In diesem Augenblick hob der Prinz seinenKopf, um sich weiter der Schönheit des Palastes zuerfreuen und sah – es verschlug ihm fast den Atem –ein über alle Maßen schönesMädchen, das da aus demFenster blickte. Auch um den Prinzen war es gesche-hen und er fiel in Ohnmacht. Als er wieder zu sichkam, war die Prinzessin verschwunden. Da war ihmelend zumute, und er lief rastlos umher in der Hoff-nung, das Mädchen noch einmal zu sehen. Endlichwurde er des Laufens müde und sank in einen tiefenSchlaf. Da aber erschien die Prinzessin wieder amFenster, denn auch sie wollte den Prinzen noch einmalansehen. Und wie sie ihn friedlich schlafend vorfand,da entfloh ihrem Herzen ein tiefer Seufzer und ausihren Augen flossen stille Tränen. Ein Tropfen ausihren Augen verirrte sich aber und fiel auf die Wangedes Prinzen, der darauf erwachte und sah, wie diePrinzessin auf ihn hinunterblickte und weinte. Da ver-stand er, dass auch die Prinzessin ihm verfallen war.Doch er wurde von Eitelkeit und Stolz darüber über-mannt und rief ihr zu: »Hier das Schiff und hier das

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Segel! Und nun auf nach Jemen!« Damit gab er denBefehl, die Anker zu lichten, und fuhr in seine Heimatzurück.Sehen wir nun, wie es um die Prinzessin stand.

Diese hatte genug Tränen verströmt und endlich ver-standen, was der Prinz im Sinn hatte. »Wohlan, meinJüngling, dies also ist der Weg, den du gewählt hast«,dachte sie bei sich und trocknete ihre Tränen. Danneilte sie zu ihrem Vater und brachte ihm eine weitereBitte vor: »Mein mächtiger Vater«, sprach sie, »icherbitte von dir ein Schiff. Sein Rumpf soll aus reinenDiamanten sein, die Kabinen aus Juwelen und dieMasten aus Rubinen. Seine Besatzung sollen vierzigweiße Sklaven und vierzig schöne Jungfrauen sein.Ein solches Schiff wünsche ich mir, sonst vergehe ichvor Kummer!« Noch am selben Tag ließ der PadischahJuweliere und Goldschmiede und andere Meister be-stellen und gab das Schiff in Auftrag. Nach Ablaufvon zwei Jahren war das Schiff fertiggestellt. Die Prin-zessin trat nun zu ihrem Vater, küsste ihm die Handund sagte: »Mein mächtiger Vater! Da das Schiff nunerbaut ist, gib mir die Erlaubnis zu einer Reise, ich willauch in kürzester Zeit zurückkehren!« Ihr Vater ant-wortete: »Meine Tochter, ich sehe wohl, dass dich einKummer plagt, drumwill ich dir die Erlaubnis erteilen.So fahre denn und lass deinen alten Vater nicht allzulange mit deiner Sehnsucht leben!« Die Prinzessinrüstete sich für die Reise, ließ das Schiff klarmachenundbegab sich noch am selbenTag anDeck.Amnächs-ten Morgen segelte sie mit ihrer Mannschaft los.Nach monatelanger Reise fuhren sie endlich eines

Abends in den Hafen von Jemen ein und verbrachtendie Nacht auf dem Schiff. Ein hoher Beamter des Pa-

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dischahs hörte vom Eintreffen des Schiffes und suchtees am nächsten Morgen auf. Als er es erblickte, kanntesein Staunen keine Grenzen. »Nie in meinem Lebenhabe ich ein solch prachtvolles Schiff gesehen«, spracher zu sich, »wer es wohl befehligt? Möge Gott es vorneidvollen Blicken bewahren.« Damit ging er zum Pa-dischah und berichtete ihm. Dieser wurde sofort neu-gierig auf das Schiff und schickte zunächst seinen Laladorthin, auf dass er in Erfahrung bringe, woher dasSchiff komme und wem es gehöre. Der Lala begab sichauf das Schiff und wurde zur Kabine unserer Prinzes-sin geführt. Diese gab sich als Jüngling aus und emp-fing ihn in Kapitänsuniform. Der Lala konnte sich garnicht sattsehen an den edel gekleideten Menschenund der ausgesuchten Einrichtung des Schiffes. Dochdann besann er sich seines Auftrags und sprach:»Mein Herr, ich bin hier, weil mich mein Padischahschickt, um von Euch zu erfahren, wer Ihr seid undwoher Ihr kommt.« Unsere Prinzessin antwortete:»Ich bin ein Kaufmannssohn aus Stambul und befindemich auf Reisen, um mich in fremden Ländern zubilden und zu vergnügen.« Der Lala war’s damit zu-frieden und kehrte wieder zu seinem Herrn zurück.Diesem berichtete er: »Mein Padischah! Dieses Schiffgehört einem Kaufmann. Der Kapitän ist ein schönerJüngling, der dem Mond am Vierzehnten gleicht. Aufseinem Gesicht und dem seiner Matrosen ist kein ein-ziges Haar, das ihre Schönheit trüben könnte. DiesesSchiff verdient es wahrlich, nach Herzenslust bestauntzu werden!« Da konnte der Padischah seine Begierde,das Schiff endlich zu sehen, nicht mehr bändigen undließ sich in seinem eigenen Boot in vollem Staat zumDiamantschiff rudern. Als unser Kapitän sah, dass der

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Padischah selbst sich näherte, ließ er seine Mannschaftprächtige Kleidung anlegen und segelte ihm mit sei-nem Schiff entgegen, um ihm gebührenden Respektzu zeigen. Der Padischah legte an und wurde in allenEhren empfangen. Dann führte man ihn zum Kapitänund sie tranken gemeinsam Kaffee, zogen an der Was-serpfeife und kosteten von den im Überfluss vorhan-denen Süßigkeiten. Der Padischah konnte sich nichtsattsehen an den Kostbarkeiten auf dem Schiff undder Schönheit der Besatzung. »Dies alles«, dachte erbei sich, »ist wahrlich eines Padischahs würdig.« End-lich beendete er seinen Besuch und kehrte in seinenPalast zurück.Im Palast angekommen, erzählte der Padischah sei-

nem Sohn vom Diamantschiff und dessen Kapitän.Der Prinz hatte bereits von dem Schiff gehört, undnachdem er von seinem Vater vernommen hatte, wasfür Leute sich darauf befanden, da stieg eine Ahnungin ihm auf. Doch er verspürte nun umso mehr Lust, eszu sehen. Deshalb bestieg auch er ein Boot und begabsich zum Schiff. Als der Kapitän davon in Kenntnisgesetzt wurde, dass nun der Prinz auf dem Weg zumSchiff sei, da ließ er auch diesen königlich empfangenund in seine Kabine führen. Der Prinz konnte seineAugen kaum von diesem schönen Kapitän abwendenund blickte ihn immerzu an. Doch bei aller Schönheitkam der Kapitän dem Prinzen bekannt vor, und erstellte ihm neugierige Fragen. Unsere Prinzessin ver-stand es aber durchaus, sich nicht zu verraten. Dannwurde es endlich Abend, und der Prinz verließ dasSchiff.Am nächsten Morgen aber ging unsere Prinzessin

von ihremDiamantschiff, mietete einen großen Konak,

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der sich genau vor dem Palast des Padischahs befandund richtete sich dort mit ihren Dienerinnen ein. IhrSchiff ließ sie an eine sichere Stelle des Hafens zie-hen.Wenden wir uns wieder dem Prinzen zu. Dieser

wollte am nächsten Morgen wieder auf das Diamant-schiff gehen und begab sich zum Hafen – doch wassollte er da sehen! Vom Schiff war weit und breitnichts zu sehen. Da fuhr ihm ein Schmerz durch seineBrust und er befürchtete schon, der schöne Kapitän seiwieder abgereist. Doch sein Lala konnte ihn beruhigenund erzählte ihm, dass das Schiff an einer anderenStelle stand und die Besatzung den Konak, der sichvor dem Palast befand, bezogen hatte. Da war derPrinz erleichtert und ging zum Palast zurück. Dortsetzte er sich hin und betrachtete den Konak. Plötzlicherschien unsere Prinzessin an einem der Fenster. DerPrinz war verwirrt, und fast war es ihm so, als würdeer gerade das Mädchen aus dem Kristallpalast sehen,doch dann fasste er sich und meinte, dieses lieblicheWesen sei vielleicht die Frau des Kapitäns. Doch wie-der war es um unseren Prinzen geschehen, und dieSchöne vom Fenster hatte sein Herz voll und ganzerobert. Als aber unsere Prinzessin den Prinzen er-blickte, schloss sie das Fenster und verschwand. DasFeuer in des Prinzen Herzen war aber schon entfachtund wieder fand er keine Ruhe. »Wenn ich sie dochnoch ein einziges Mal sehen könnte!«, rief er undjammerte und klagte bis in die Nacht hinein.Am nächsten Morgen hielt er erneut Ausschau nach

der unbekannten Schönen, doch vergeblich, sie er-schien nicht mehr am Fenster. Da eilte der Prinz zuseiner Mutter und sprach: »Meine liebe Mutter, im

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Konak vor unserem Palast wohnt die lieblichste Per-son auf Erden. Sie muss die Frau des Kapitäns vomDiamantschiff sein. Ich habe sie gestern am Fenstergesehen und werde keine Ruhe mehr finden, ehe ichsie nicht noch ein einziges Mal zu Gesicht bekomme.Bringe ihr doch diese Holzpantoffeln als Geschenkund bitte sie in meinem Namen, sie möge sich mirnoch einmal zeigen.«Die Mutter sträubte sich zunächst dagegen, der Bitte

ihres Sohnes nachzukommen. Diamantschiff hin, Dia-mantschiff her, sie war immerhin die Frau des Pa-dischahs und es schickte sich nicht, dass sie der Fraueines Kapitäns einen Willkommensbesuch abstattete.Aber dann sah sie, wie sehr ihr Sohn litt, und wusste,dass, wenn seine Sehnsucht nicht gestillt würde, derKummer ihn erdrücken würde. So ließ sie sich imKonak ankündigen und begab sich dorthin. Die Herrindes Hauses aber wartete, bis ihre Dienerinnen dieGemahlin des Padischahs zu ihr führten, und bot ihreinen Platz in einer Ecke des Raums an. Die Mutterdes Prinzen wunderte sich über diese Behandlung,verhielt sich aber ihrem Sohn zuliebe still. Sie war hin-und hergerissen zwischen der Schönheit ihrer Gast-geberin, dem prachtvoll eingerichteten Konak unddem ungebührlichen Verhalten, das diese schöne Per-son an den Tag legte. Sie überreichte nun die verzier-ten Holzschuhe, die sie als Geschenk mitgebracht hat-te. Unser Mädchen nahm sie und übergab sie einerDienerin, der sie auftrug, sie möge diese Schuhe in dieKüche bringen und dort einer schwarzen Sklavin ge-ben. Die Mutter des Prinzen beobachtete dies mit Be-fremden, doch sie hatte ihrem Sohn nun einmal ver-sprochen, ihm zu helfen, daher ließ sie sich nichts

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anmerken. Dann sprach sie zu unserem Mädchen:»Mein liebes Kind, mein Sohn, der Prinz, hat den ein-zigen Wunsch, Eure Schönheit noch ein einziges Malbewundern zu können. Was sagt Ihr dazu?« UnserMädchen gab der Mutter des Prinzen mit der Hand zuverstehen, dass dies auf keinen Fall infrage käme.Darauf musste die Frau des Padischahs den Konakverlassen und sie begab sich wieder in den Palast.Dort ließ sie ihrem Zorn freien Lauf und sprach zumPrinzen: »Ich habe dein Geschenk übergeben. Aber eswar gerade einmal gut genug für eine schwarze Skla-vin. Und dann wollte das Mädchen überhaupt nichtsvon deiner Bitte wissen. Wahrlich, das ist meiner nichtwürdig, drum sieh zu, wie du dich selbst von deinemKummer erlöst!« Der Prinz wusste nicht mehr einnoch aus, zog sich zurück und jammerte und klagtesich wieder in den Schlaf.Am nächsten Morgen ging er wieder zu seiner Mut-

ter, küsste ihr die Hand und sagte: »Meine liebe Mut-ter, einmal hilf mir noch, denn ich habe niemandensonst, der dazu imstande wäre.« Der Mutter war derelende Zustand ihres Sohnes unerträglich und so ver-sprach sie ihm, das Mädchen ein weiteres Mal auf-zusuchen. Von ihren Vorfahren war ihr eine Perlen-kette von unermesslichem Wert geblieben. Die wolltesie der Herrin des Konaks überreichen. »Wir werdensehen«, sprach sie zu ihrem Sohn, »ob sie dann ihrenHochmut ablegt.« Dann begab sie sich wieder zumKonak. Dort wurde sie wie am vorigen Tag empfangenund zu unserer Prinzessin geführt. Die Mutter wieder-holte die Bitte ihres Sohnes, indem sie dem Mädchendie Perlenkette gab. Das Mädchen nahm die Kette undbetrachtete sie kurz. Dann stand es auf und ging zu

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einem Papagei in einem Käfig, der an der Decke hing.Es nahm die Perlen einzeln von der Schnur und gabsie dem Papagei zu fressen. Es war ein einziges Kna-cken und Knirschen, als der Vogel die Perlen mit sei-nem Schnabel zerkleinerte und verschlang. Die Mutterdes Prinzen wollte kaum glauben, was sich vor ihrenAugen abspielte. »Sieh an«, dachte sie bei sich, »hierfressen die Papageien also Perlen.« Dann erhob siesich und verließ ohne viele Worte den Konak. Kaumwar sie im Palast angekommen, als ihr Sohn schnellherbeilief, ungeduldig, zu erfahren, was sie dieses Malerlebt habe. Seine Mutter sprach: »Mein Sohn, diesesunselige Mädchen hat die Perlen in die Hand genom-men, nur um sie gleich an seinen Papagei zu ver-füttern. Da wusste ich mir keinen Rat mehr und habeden Konak verlassen. Von diesemMädchen haben wirnichts Gutes zu erwarten. Schlag es dir aus dem Kopf,mein Sohn, denn ich vermag dir nicht mehr zu hel-fen.« Wieder verbrachte der Prinz eine Nacht vollerQualen.Am nächsten Morgen erwachte der Prinz noch elen-

der als zuvor und nahm sich vor, seine Mutter einletztes Mal um Hilfe zu ersuchen. So trat er vor sieund sprach: »Meine liebe Mutter, nur ein letztes Malnoch erbitte ich deine Hilfe. Ich habe hier einen alten,wertvollen Koran. Den bringe ihr heute als Geschenk.Vielleicht wird dies ihr Herz für mich erweichen.« DieMutter vergaß augenblicklich das ungebührliche Ver-halten des Mädchens, denn ihr Herz kannte nur Liebeund Mitgefühl für ihren Sohn. Da nahm sie den Koranund begab sich ein drittes Mal zum Konak. Sobaldunsere Prinzessin die Mutter des Prinzen kommensah, eilte sie ihr entgegen, empfing sie persönlich und

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führte sie hinein. Die Mutter des Prinzen konnte sichzwar nicht erklären, was diese Veränderung hervor-gerufen hatte, doch sie dachte an ihren Sohn und ver-hielt sich still. Dann nahm sie den Koran hervor undreichte ihn dem Mädchen. Dieses nahm das Buch indie Hand, küsste es dreimal und legte es auf denhöchsten Schrank im Raum. Die Mutter des Prinzenfasste endlich Zuversicht, denn das Mädchen hattedem heiligen Buch den ihm gebührenden Platz gege-ben, so dass kein anderes Buch höher lag. Die Sultaninfreute sich so sehr darüber, dass sie sich mit folgen-den Worten an ihre Gastgeberin wandte: »Mein liebesKind. Der Prinz ist in einem beklagenswerten Zu-stand. Ihr könnt ihn davon befreien, indem Ihr ihmnoch einmal Euer Gesicht zeigt. Habt ein wenig Mit-leid mit ihm, meine Tochter, denn sonst muss ichbefürchten, dass er sich ein Leid antut!« Unsere Prin-zessin antwortete nun: »Meine liebe Herrin, wenn ichmich dem Prinzen zeige, kann es nicht auf gewöhnli-che Art sein!« Die Mutter versprach ihr, alles zu tun,was sie verlange. Daraufhin sprach das Mädchen:»Richtet dem Prinzen aus, er soll eine goldene Brückebauen lassen und diese rundherum mit Rosen aus-schmücken. Wenn die Brücke fertig ist, soll der Prinzan einem Ende warten. Ich werde über die Brückegehen, und dann wird er mich betrachten können.«Nachdem die Mutter des Prinzen diese Anweisungengehört hatte, ging sie zu ihrem Sohn und sagte ihm,was er zu tun hatte.Und so geschah es. Der Prinz ließ eine Brücke genau

nach der Beschreibung des Mädchens erbauen: Herr-lich golden und über und über mit den schönstenRosen geschmückt stand sie nun da. Nun begab sich

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der Prinz an das eine Ende und ließ dem Mädchenberichten, dass alles bereit sei. Da kleidete sich unserePrinzessin mit kostbaren Gewändern und erlesenemSchmuck an und ging zur Brücke. Sie schritt auf denPrinzen zu, der am anderen Ende bereits ungeduldigwartete. Doch dann fiel ein Rosenzweig herunter unddie Prinzessin wurde von den Dornen ins Gesichtgestochen. Sie schrie vor Schmerz auf und lief in ihrenKonak zurück. Der arme Prinz, der sich seinem Glückbereits so nahe wähnte, war ganz verdutzt und ver-stand nicht, was da am anderen Ende der Brücke vorsich ging. Als er sah, dass das Mädchen in den Konakzurücklief, wandte er sich wieder an seine Mutter undbat sie, herauszufinden, was es damit auf sich habe.Die Mutter begab sich nun wieder zur Prinzessin undfand diese krank im Bett liegend vor. »Meine Tochter«,rief sie, »was ist geschehen, dass Ihr Euch dem Prin-zen nicht gezeigt habt?« Da antwortete das Mädchen:»Meine Herrin, ich wurde von den Rosendornen ge-stochen. Und nun will ich nichts mehr von der Brückeund von Eurem Sohn wissen!« Da rief die andere:»Mein Kind, das ist gar sehr bedauerlich. Aberwas solldenn jetzt geschehen? Der Prinz steht da auf der Brü-cke undweiß nicht, wie ihm geschieht.« Die Prinzessinsetzte sich auf und antwortete: »Wenn dem so ist, dannsoll er eine andere Brücke bauen. An die Enden soll ereinen goldenen und einen silbernen Leuchter aufstel-len. Dann soll man ein Grab für ihn ausheben und ersoll sich hineinlegen. Ich werde mich dann an seinGrab setzen und er kann sich an mir sattsehen!« DieMutter verspürte einen jähen Zorn in sich aufsteigen,doch es half nichts, das Glück ihres Sohnes hing nuneinmal von diesem Mädchen ab, und so überbrachte

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sie ihm die neuen Anweisungen. Der Prinz war auchdieses Mal zu allem bereit und ließ die Brücke soforterbauen. Dann wurde ein herrschaftliches Grab fürihn errichtet und er legte sich hinein.Lassen wir den Prinzen in seinem eigenen Grab

liegen und sehen, wie es inzwischen unserer Prinzes-sin ergangen ist. Diese hatte in der Nacht zuvor heim-lich ihr Diamantschiff aus dem Hafen ziehen und fürdie Rückfahrt rüsten lassen. Am Morgen war es ab-fahrbereit mit allen Dienerinnen und Sklavinnen anBord. Sie aber begab sich nun zur besagten Brückeund ging geradewegs zum Prinzen, der in seinemGrab wartete. Als sie endlich bei ihm ankam, rief sie:»Hier das Schiff und hier das Segel! Und nun auf nachStambul!« Mit diesen Worten lief sie zu ihrem Schiffund fuhr los!Der Prinz hatte nun erraten, wer dieses schöneMäd-

chen war und warum es alle diese Dinge getan hatte.Dawusste er, was zu tunwar, stand auf und begab sichzu seiner Mutter. »Mutter«, sprach er, »mein Leid habeich mir selbst zugefügt. Jetzt aber kenne ich das Mitteldagegen. Ich muss nun eine Reise unternehmen undalles daransetzen, dass die Prinzessin mir vergibt,denn ich war es, der sie gekränkt und sie verlassenhat!« Die Mutter sah ein, dass sie ihren Sohn ziehenlassen musste, und gab ihm ihren Segen. Dann bat derPrinz auch seinen Vater um dessen Erlaubnis, undnachdem diese erteilt worden war, bestieg er ein Schiffund fuhr hinter der Prinzessin her.Endlich, nach Monaten der Reise, erschien der Kris-

tallpalast hell leuchtend und glitzernd am Horizont.Der Prinz steuerte das Schiff langsam heran und ließ,am Palast angekommen, die Segel streichen. Dann

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setzte er sich in ein Boot und ruderte zum Palast. DiePrinzessin hatte bereits gesehen, dass er eingetroffenwar, empfing ihn vor demPalast und führte ihn hinein.Endlich war die Gelegenheit gekommen, da sie sichaussprechen konnten. Der Prinz konnte nicht mehr ansich halten und sprach: »Meine Prinzessin, warumhast du mir und meiner Mutter all diese Dinge ange-tan? Wie eine Bettlerin kam sie an deine Tür, ich ließmich sogar lebendig zu Grabe legen. Am Ende hast dumich trotzdem verlassen und bist abgereist!« Da ant-wortete die Prinzessin: »Und doch hast dumich zuerstverlassen! Hast du vergessen, wie du, meinen Palastbewundernd, auf deinem Schiff lagst und wie meineTränen auf dein Gesicht fielen? Du hast mir mein Herzgestohlen, nur, um von mir fortzugehen und mich inmeinem Kummer allein zu lassen!« Da erkannte derPrinz von neuem, dass er ihrer beider Leid zu verant-worten hatte, und bat seine Geliebte, ihm zu vergeben.Die Prinzessin tat es von ganzem Herzen und endlichfielen sich die Liebenden in die Arme.Alsbald begab sich die Prinzessin zu ihrem Vater

und berichtete ihm, wer da gekommen sei und wassich ereignet hatte. Der Padischah war erstaunt überdas, was er da hörte, doch seine Erleichterung überden glücklichen Ausgang des Ganzen war größer undso ließ er am folgenden Tag die Hochzeit seiner Toch-ter mit dem Prinzen von Jemen ausrufen. Vierzig Tageund vierzig Nächte feierten sie in Freude und Aus-gelassenheit.Unser Märchen hat hier sein Ende: Sie haben das

Ziel ihrer Wünsche erreicht, und uns möge das Glei-che beschert sein!

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Der Pferdeprinz

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es wareinmal ein Padischah, der hatte drei Söhne und

eine Tochter. Eines Tages wurde der Padischah krankund fühlte, dass sein Ende nahte. Da ließ er seineSöhne um sein Lager kommen und sprach zu ihnen:»Meine Söhne, ich werde bald sterben, und es ist meinWunsch, dass ihr eure Schwester demjenigen zur Fraugebt, der als Erster um sie anhält, sobald ich nichtmehr bin.« Dann starb der Padischah und sein ältesterSohn bestieg an seiner Stelle den Thron.Es währte nicht lange, als eines Tages ein Derwisch

erschien und um die Hand der Schwester des Padi-schahs anhielt. Der junge Herrscher aber gedachtenicht der Worte seines verstorbenen Vaters, sondernverweigerte dem Derwisch seine Schwester und jagteihn fort. Ein paar Tage später versuchte der Derwischerneut sein Glück – doch auch dieses Mal wurde ernicht erhört und mit Schlägen aus dem Palast vertrie-ben. Tags darauf aber kam ein Dew und wollte diePrinzessin zur Frau. Die beiden älteren Brüder wolltenihre Schwester auch dem Dew nicht geben. Da aberermahnte sie der jüngste von ihnen und sagte: »Meine

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Brüder, es war der Letzte Wille unseres Vaters, dasswir unsere Schwester demjenigen geben sollten, derals Erster um sie anhält. Ihr aber jagt jeden davon, derein solches Anliegen äußert.« Die beiden älteren aberwollten gar nichts davon wissen und vertrieben auchden Dew.Eines Tages ging das Mädchen im Palastgarten spa-

zieren. Da flog plötzlich ein gewaltiger Vogel gerade-wegs auf sie zu, packte sie und erhob sich mit seinerBeute wieder in die Lüfte. Der Dew hatte sich nämlichin einen Vogel verwandelt und die Prinzessin geraubt,nachdem ihre Brüder sie ihm nicht zur Frau gegebenhatten. Da entstand ein Weinen und Jammern, als manmerkte, dass die Prinzessin vomDew entführt wordenwar. Und die beiden Brüder machten dem PadischahVorwürfe, da er das Werben des Derwischs nicht an-genommen hatte, obgleich ihr Vater ihnen aufgetra-gen hatte, die Prinzessin dem Ersten zu geben, der sieverlangte. Der junge Padischah aber konnte die Vor-würfe nicht mehr ertragen, und so erklärte er, er wolleausziehen, um seine Schwester zu finden und aus derGewalt des Dews zu befreien. Dann setzte er seinenmittleren Bruder auf den Thron, steckte ihm seinenRing an den Finger und sprach: »Wenn dieser Ringdich drückt, dannweißt du, dass ich entweder tot oderin Gefahr bin. Wenn du es vermagst, komm, um mirbeizustehen.« Mit diesen Worten zog er fort.Es verging kurze Zeit, da empfand der neue Pa-

dischah einen Schmerz an seinem Finger. Dawusste er,dass er seinem Bruder zu Hilfe eilen musste. Er über-gab sofort den Thron und den Ring seinem jüngstenBruder, instruierte ihn, wie es zuvor der ältere getanhatte und nahm Abschied. So blieben der Padischah

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und seine alte Mutter allein im Palast zurück. Doch esverging nur kurze Zeit, als auch der jüngste den Druckdes Ringes zu spüren bekam. Da hielt er es nicht mehrim Palast aus und erklärte seiner Mutter, dass er sichjetzt auf die Suche nach seinen beiden Brüdern bege-ben müsse. Er übergab ihr den Ring und ließ sie alleinzurück.Die alte Sultanin wartete Monat um Monat auf ihre

Kinder, dochweder kamen diese noch erhielt sie Nach-richt von ihnen. Eines Tages aber verspürte auch sieeinen Druck am Finger, und da war sie gewiss, dassauch ihr jüngster Sohn in Gefahr geratenwar. Sie dach-te bei sich: »Was soll ich alte Frau hier allein ausrich-ten? Alle meine Kinder sind fort und es ist ihnen einLeid geschehen. Ich werde gleichfalls ausziehen undsie entweder finden oder sterben.« Sie ging sofort inden Stall, ließ ein altes Pferd satteln und ritt in dieWelthinaus.Sie ritt Tag und Nacht, über Stock und Stein und

binnen kurzer Zeit hatte sie sich in einem Felsentalverirrt und fand keinenWegmehr hinaus. Da schwandihr jede Hoffnung, ihre Kinder jemals wiederzusehen,und vor Erschöpfung ließ sie sich auf die Erde fallen.Sie hatte keinen Proviant mehr und verhungerte undverdurstete fast, als ihr PferdWasser ließ. Da sie nichtsanderes hatte, musste sie dieses Wasser trinken, umnicht umzukommen. Nachdem sie ein wenig geruhthatte, entdeckte sie plötzlich den Weg, den sie gekom-men war. Und da sie nicht wusste, wie sie ihre Kinderfinden sollte, erschien es ihr am klügsten, wieder inihre Heimat zurückzukehren, und so trat sie den Rück-weg an. Nachdem sie eineWeile geritten war, erreichtesie ihren Palast und zog dort wieder ein. Es verging

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Tag um Tag, Woche um Woche und Monat um Monat.Da stellte es sich heraus, dass die Sultanin vomWasserdes Pferdes ein Kind empfangen hatte, denn ihr Bauchwurde größer und größer, bis sie schließlich eines Ta-ges einen Sohn gebar.Der Junge wuchs heran und überragte alle anderen

Knaben in seinemAlter an Verstand und Geschicklich-keit. Eines Tages, als er elf oder zwölf Jahre zählte,nahm er mit einigen anderen Knaben am Dschirit-Spiel teil. Unser Pferdesohn war so geschickt darin,dass er den Neid seiner Mitspieler heraufbeschwor.Diese ärgerten sich und beschimpften ihn und nanntenihn »Sohn eines Pferdes«. Da ging der Junge wütendzu seiner Mutter und berichtete ihr, was die anderenJungen ihm nachgerufen hatten. Die Sultanin versuch-te ihn zu trösten, aber ihr Sohn wollte sich nichtberuhigen und verlangte von ihr, dass sie ihm sagte,wer denn sein Vater sei, sonst sei er sogar bereit, sie zutöten. Und er hatte sie auch schon zu Boden geworfen,als sie ihm endlich erzählte, was es mit seiner Geburtauf sich hatte. Da rief der Junge: »Wenn dem so ist, somuss auch ich ausziehen und meine Brüder und mei-ne Schwester suchen und sie hierher zurückbringen,wenn sie noch am Leben sind.« Die Mutter bat ihninständig, sie nicht auch noch zu verlassen, denn dannsei sie ja vollends ohne Kinder, doch es half nichts, derPferdesohn wollte nicht von seinem Entschluss zu-rücktreten, bestieg das alte Pferd, das sein Vater war,und ritt davon.Er ritt hierhin und dorthin und gelangte eines Ta-

ges zu einem großen Haus. Da stieg er ab und betratdas Haus, in dem sich drei junge Männer befanden,die schlimme Verwundungen hatten und von einem

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schönen Mädchen gepflegt und umsorgt wurden. Erwar in das Haus gekommen, in dem seine Schwesterund seine drei Brüder vom Dew gefangen gehaltenwurden. Doch weder der Pferdesohn noch seine Ge-schwister erkannten einander. Der Pferdesohn fragtedie Bewohner, wer sie seien. Diese antworteten: »Wirsind die Kinder von dem und dem Padischah aus derund der Stadt. Und wer bist du?« Da verstand derPferdesohn, dass er am richtigen Ort angekommenwar, und rief: »Ich bin euer jüngster Bruder!« Die vierGeschwister aber glaubten ihm nicht, doch dann holteder Pferdesohn den Ring hervor, den ihm seine Mutterals Beweis mitgegeben hatte. Als die Brüder den Ringsahen, wussten sie, dass dieser Jüngling wirklich ihrBruder war, und hießen ihn willkommen. Nun ließsich der Pferdesohn erzählen, was seiner Schwesterund seinen Brüdern widerfahren war. Da plötzlicherbebte die Erde derart, dass das Haus erzitterte, undals ein dumpfes Gestampfe zu vernehmen war, wuss-ten die unglücklichen Geschwister, dass der Dew sichnäherte. Der Dew betrat das Haus und begrüßte sei-nen neuen Gast. Der Pferdesohn aber fiel nicht auf dasSchmeicheln des Dews herein, sondern forderte ihnan Ort und Stelle auf, sich mit ihm auf den Platz vordem Haus zu begeben und um seine Geschwister zukämpfen. Seine Brüder und seine Schwester wolltenihn von seinem Vorhaben abbringen, aber der Pferde-sohn ließ sich durch keine ihrer Warnungen beeindru-cken, sondern begab sich mit dem Dew nach draußen.Und schon mit seinem ersten Schlag warf er den Dewzu Boden. Dieser rief aber: »Du bist wahrlich ein tap-ferer Kämpfer! Wenn du aber ein richtiger Mann bist,dann schlage noch einmal zu!« Aber der Prinz antwor-

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tete: »Meine Mutter hat mich auch nur einmal gebo-ren«, und ließ den Dew liegen. So ging der Dew elendzugrunde.Die drei Prinzen und ihre Schwester waren nun

befreit. Gemeinsam ritten sie nachHause zu ihrerMut-ter und feierten ihr Wiedersehen. Die älteren Brüderboten dem Pferdesohn an, ihn zum Padischah zu er-nennen, da er sich als heldenhafter als sie selbst erwie-sen hatte. Doch dieser wollte nichts davon wissen. Erwolle, so antwortete er, auch die beiden Brüder desDews aufspüren und umbringen, da diese sie früheroder später doch heimsuchen würden. Auch diesesMal wollten ihm seine Brüder von diesem Unterfan-gen abraten, doch kein mahnendes Wort, kein Flehenund kein Bitten konnten den Jungen davon abbringen.Er bestieg wieder das Pferd, das sein Vater war, undnahm Abschied von den Seinen.Er ritt über Berg und Tal, über Stock und Stein und

Felder und Wiesen und traf eines Tages endlich aufeine riesige Gestalt, die Bäume aus dem Wald ausrissund sie aufeinanderschichtete. »Das muss einer derbeiden Brüder des Dews sein«, dachte er bei sich undfragte ihn: »Was tust du da?« Jener antwortete: »Icherrichte mir einen Schutz, denn der Pferdesohn hateinenmeiner Brüder getötet, und baldwird erhier sein,um auch mich zu töten.« – »Kennst du diesen Pferde-sohn?«, erkundigte sich der Prinz. »Nein«, antworteteder Dew. Da packte der Pferdesohn den Dew an derNase und riss sie ihm ab. »Jetzt«, sagte er dann zumDew, »kennst du ihn!« Da verstand der Dew, dass ergerade demjenigen gegenüberstand, vor dem er sicham meisten fürchtete, und bettelte um sein Leben. Un-ser Jüngling verschonte ihn aus Mitleid und machte

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ihn zu seinem Weggefährten. So reisten die beidenzusammen weiter.Sie zogen wieder über Berg und Tal und Stock und

Stein, durch tiefe Schluchten und über hohe Berge.Eines Tages wurden sie eines Riesen gewahr, der eineMauer aus großen Felsblöcken errichtete. Da fragte derPferdesohn: »Was treibst du da?« Der Gefragte ant-wortete: »Ich errichte mir einen Schutz, denn der Pfer-desohn hat einen meiner Brüder getötet, und baldwird er hier sein, um auch mich zu töten.« Der Pferde-sohn erkannte, dass dies der zweite Dew war, den ersuchte. Auch diesen fragte er, ob er denn den Pferde-sohn kenne. Und als dieser mit »Nein« antwortete,rief unser Held: »Hier bin ich!«, und schlug ihm mitsolcher Kraft auf die Schulter, dass er unter Schmer-zensschreien zusammenbrach und winselnd um seinLeben bettelte. Auch mit ihm zeigte der Prinz Mitleidund machte ihn zu seinem zweiten Gefährten. Zu drittwanderten sie weiter.Eines Tages stiegen sie auf einen Berg, auf dem eine

Schafherde ihren Weideplatz hatte. Aber die Schafewaren ohne Schäfer. Unsere drei Reisenden beschlos-sen, auf den Schäfer zu warten, und setzten sich hin.Die Stunden gingen dahin, doch kein Schäfer ließ sichblicken. Die drei hielten dies für sehr sonderbar, dochnoch immer glaubten sie, dass der Schäfer nun baldkommenmüsse. Dann aber, als die Abenddämmerunghereinbrach, stellten sich die Schafe wie von einer un-sichtbaren Hand geführt in Reih und Glied auf undverließen die Weide. Der Pferdeprinz und seine Ge-fährten waren nun neugierig zu wissen, was es mitdiesem Schauspiel auf sich hatte, und so folgten sieden Schafen. Wie sie nun so hinter der Herde hergin-

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gen, kamen sie in eine Höhle, in der sich allerlei Haus-rat befand, die aber menschenleer war. Da sie von ihrerReise müde und hungrig waren, fanden sie dies eingutes Nachtlager und schlachteten eines der Schafeund verspeisten es. Dann begaben sie sich zur Ruhe.Am nächsten Morgen trug der Pferdeprinz einem

der Dews auf, in der Höhle zu bleiben und das Essenvorzubereiten, während er selbst mit dem anderenwieder mit den Schafen auf die Weide ging. Der Dewbehielt eines der Schafe in der Höhle, schlachtete esund tat es in einen Kessel. Während das Fleisch imKessel schmorte, erschien auf einmal eine alte buckligeFrau, eine Hexe, in der Höhle. Sie trat zum Dew undsagte: »Mein Sohn, gib mir ein bisschen Fleisch zuessen.« Der Dew merkte nicht, dass sie eine Hexe war,und drehte sich um, um einMesser zu nehmenundderFrau etwas Fleisch abzuschneiden. Doch da schnapptesich die Hexe das ganze Schaf und lief aus der Höhlehinaus. Der Dew blieb verblüfft und mit offenemMund dasitzen. Als der Pferdeprinz am Abend mitdem anderen Dew und den Schafen zurückkehrte,verlangte er nach dem Schaf, doch es war nichts da.Da erzählte der Dew, was geschehen war und wie diealte Frau das Schaf gestohlen hatte. Der Pferdeprinzwurde sehr wütend und rief: »Du dummer Kerl! Dubist imstande, Bäume mit ihren Wurzeln auszureißenund kannst einer alten Frau nicht beikommen?« Dochsosehr er sich auch seinem Zorn hingeben wollte, eshalf alles nichts. Und so schlachteten sie ein weiteresSchaf und verzehrten es.Am nächsten Tag blieb der andere Dew in der Höh-

le, um ein Schaf zuzubereiten. Und als der Pferdesohnabends heimkehrte, musste er erfahren, dass es auch

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diesem Dew nicht anders ergangen war als seinemBruder. Unser Jüngling wurde wieder sehr wütendund rief: »Große Felsbrocken bist du in der Lage zubewegen; kannst du da nicht eine schwache Frau da-vonjagen?« Doch was nutzten schon Schimpfen undSchreien; es wurde wieder ein neues Schaf geschlach-tet und gegessen.Am dritten Tag beschloss der Pferdesohn, selbst in

der Höhle zu bleiben und das Essen zuzubereiten.Kaum hatte er den Kessel mit dem Schaf darin auf dasFeuer gestellt, als die Alte auch schon erschien undum Fleisch bat. Er aber hieß sie, das Schaf zu halten,damit er ihr ein Stück abschneiden könne. Aber als siedas Schaf packte, nahm der Prinz sein Messer undschlug der Hexe damit den Kopf ab. Der fiel von ihrenSchultern und rollte aus der Höhle hinaus. Der Pfer-desohn folgte dem Kopf, der in einen Wald rollte undschließlich in einen Brunnen fiel. Der Jüngling merktesich den Ort und kehrte zur Höhle zurück. Dort wareninzwischen seine Gefährten angekommen und hattenden kopflosen Rumpf der Hexe entdeckt. Sie stauntensehr über die Kräfte dieses Pferdejungen und fürch-teten sich noch mehr vor ihm. Als dieser wieder inder Höhle ankam, aßen sie das Schaf und legten sichschlafen.Am nächsten Morgen führte er die beiden Dews

zum Brunnen und erklärte ihnen, dass der Kopf deralten Frau hineingefallen sei und er ihn jetzt wiederherausholen wolle. Er band sich ein Seil um und gabdas andere Ende den beiden Dews, die ihn damit inden Brunnen hinunterließen. Am Grund des Bodenssah er eine Eisentür, trat durch sie hindurch und fandsich zu seiner größten Überraschung in einem para-

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diesischen Garten. Er war von der Schönheit diesesGartens so eingenommen, dass er um ein Haar nichtbemerkt hätte, dass inmitten des Gartens ein gläser-ner Pavillon stand, in dem ein Mädchen saß und miteiner Stickerei beschäftigt war. Als die Schöne ihnerblickte, fragte sie ihn, wie er denn in den Gartengelangt sei. Der Prinz erzählte ihr, was ihn auf denGrund des Brunnens und in diesen Garten geführthatte. Da fasste das Mädchen plötzlich unter seinenStickrahmen und zog den abgetrennten Kopf der Al-ten hervor. »Suchst du diesen Kopf hier? Diese Hexewar meine und meiner beiden Schwestern Mutter.« –»Das trifft sich gut, dass du noch Schwestern hast, ichhabe noch Brüder, und wenn du willst, so will icheuch mitnehmen in unseren Palast.« Das Mädchen –was blieb ihm anderes übrig – willigte ein und riefseine Schwestern. Bald darauf hatten sie sich für dieReise gerüstet und gingen zur Öffnung des Brunnens,um sich von den Dews wieder nach oben ziehen zulassen. Der Pferdesohn ließ zuerst ein Mädchen nachdem anderen hinaufziehen. Da sahen die beidenDews,wie aus dem Brunnen drei Mädchen stiegen, einesschöner als das andere. Sie beschlossen, den Pferde-sohn im Brunnen zu lassen und die Mädchen für sichzu behalten. Als darauf der Prinz aus dem Brunnenrief, sie sollten ihn hinaufziehen, war sein Rufen ver-gebens, denn die Dews hatten die Mädchen bereitsgeraubt und liefen davon.Unser Pferdesohn erkannte, dass er von den Dews

verraten worden war, und kehrte in den Garten zu-rück. Und wie er so dort umherging, erblickte er aufeinem Baum ein Vogelnest mit Jungen, die aus Leibes-kräften schrien und ziepten und aufgeregt herumflat-

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terten. Da trat der Pferdesohn ein wenig näher heranund sah, dass sich eine Schlange am Baum entlang-schlängelte und bedrohlich mit ihrer gespaltenenZunge zischte. Sofort ergriff unser Held seinen Dolchund zerstückelte die Schlange derart, dass sie in tau-send Stücken auf die Erde fiel. Von der Sonne undseiner Anstrengung ermüdet, legte er sich daraufhinunter den Baum und schlief ein. Während der Pferde-sohn nun unter dem Baum lag und schlief, kam dieMutter der Vogeljungen geflogen, und wie sie denJüngling erblickte, wollte sie gerade hinunterstürzenund ihn umbringen. Es verhielt sich nämlich so, dassdie Schlange, die der Pferdesohn erledigt hatte, jedesJahr zum besagten Baum kam und die Jungen in demdort befindlichen Nest auffraß. Die Vogelmutter dach-te nun, dass es der Schlafende unterm Baum war, derihre Jungen umbrachte, und schoss wie ein Pfeil zuihm herab. Doch ihre Jungen riefen ihr zu, dass diesihr Retter sei, und wiesen auf die Reste der Schlange,die um den Baum herumlagen. Da bremste die Vogel-mutter ihren Flug, flog ganz behutsam auf den Jüng-ling zu, um ihn nicht in seiner Ruhe zu stören. Siebreitete einen Flügel über ihm aus, um ihm Schattenzu spenden, und mit dem anderen fächerte sie ihmkühle Luft zu.Als der Pferdesohn einige Zeit später erwachte,

sprach der Vogel zu ihm: »Du junger Held, du hastmeine Jungen vor der Schlange gerettet. Nun wünschedir von mir, was auch immer du begehrst.« Der Prinzantwortete: »Ich wünsche, dass du mich aus diesemBrunnen hinaus und wieder auf die Erde bringst.«Sofort ließ der Vogel den Pferdeprinzen aufsitzen undschwang sich mit ihm in die Lüfte. Auf der Erde ange-

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kommen, trennten sich die beiden und unser Heldging seines Weges.Der Prinz lief und lief, durchwanderte weite Ebenen

und überwand hohe Berge. Eines Tages kam er in eineStadt, und weil er vom vielen Wandern erschöpft war,ging er auf das erstbeste Haus zu und klopfte. Daöffnete eine alte Frau, und als der Junge sie fragte, obsie ihn für diese Nacht aufnehmen würde, da antwor-tete sie: »Ich habe nur eine kleine Kammer, aber wenndu dich damit begnügen willst, so bist du mir will-kommen.« Darauf gab ihr der Pferdeprinz eine Hand-voll Gold und setzte sich nieder. Die alte Frau bereiteteeinige Speisen zu und gemeinsam aßen sie. Und wäh-rend sie so aßen und über dies und jenes sprachen, dawar von der einen Seite des Hauses ein solch klagen-des Weinen und Jammern zu hören, dass es einem dasHerz zerriss. Unser Jüngling fragte die alte Frau, wases damit auf sich habe. Da fing die alte Frau zu erzäh-len an: »Mein Sohn, in unserem Land gibt es nur eineeinzige Quelle. Sie spendet nur einmal im Jahr Wasser,und zwar nur dann, wenn ein Drache kommt und sichbei der Quelle niederlegt. Und jedes Jahr fordert die-ser scheußliche Drache als Belohnung ein Menschen-opfer. In diesem Jahr nun soll ihm die Tochter desPadischahs geopfert werden. Und deshalbweinen undklagen die Leute.« Der Prinz hörte zu, was die Frau zuberichten hatte, sagte aber nichts dazu. Nach einerWeile hörte er von der anderen Seite des Hauses einelustige Gesellschaft lachen und singen. »Und was istdas für ein Treiben hier auf der anderen Seite?« fragteer die Frau. »Auf dieser Seite wird eine Hochzeit ge-feiert. Dort sind vor nicht allzu langer Zeit zwei Män-ner eingezogen, bei dem einen fehlt die Nase und der

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andere hat eine eingedrückte Schulter. Sie haben dreiFeenmädchen, drei Peris, bei sich und heute findet dieHochzeit statt.«Als unser Pferdeprinz dies alles erfuhr, da wusste

er sogleich, dass er die Verräter gefunden hatte. Er zogeinen Ring von seinem Finger, den er von der jüngstenund schönsten der Schwestern erhalten hatte, als ersich im Brunnen mit ihr verlobt hatte. Er sprach:»Mütterchen, nimm diesen Ring und gehe morgenzur Hochzeitsgesellschaft. Dort setze dich neben dasjüngste der Mädchen, und wenn es sich anschickt, dirdie Hand zu küssen, so sage ihm, es solle es nicht tun,und zeige ihm diesen Ring. Und wenn es dich fragt,woher du denn den Ring hast, so antworte ihm, dassich in deinem Hause bin.«Am nächsten Morgen ging die Frau, wie es ihr der

Pferdeprinz aufgetragen hatte, zur Hochzeit und setz-te sich neben das jüngste der Feenmädchen. Dieseswollte ihr zur Begrüßung die Hand küssen, doch diealte Frau wehrte ab, zeigte ihr aber den Ring. DasMädchen erkannte den Ring sofort und fragte die Frauaufgeregt, wie sie denn in den Besitz dieses Ringesgekommen sei. Die Alte antwortete: »Mein Kind, der,den du suchst, ist in meinem Haus. Jetzt aber verhaltedich ruhig und warte ab.«Lassen wir die beiden auf der Hochzeit verweilen

und wenden uns dem Prinzen zu. Der hatte sich amMorgen auf den Weg zu der Quelle gemacht, um zusehen, was mit der Prinzessin geschah, die dem Dra-chen übergeben werden sollte. Er kam zu einem Platz,auf dem eine große Menschenmenge vor einem Zeltstand, das man für die Prinzessin errichtet hatte. Darinsollte sie auf den Drachen warten. In einiger Ent-

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fernung sah er auch, dass die Prinzessin mit einemGefolge zum Zelt geführt wurde. Der Pferdeprinzschlüpfte heimlich in das Zelt, und als die Prinzessinhineingeführt wurde und ihn erblickte, da erschraksie sehr und bat den Jüngling, doch zu fliehen, oder erwürde auch vom Drachen aufgefressen werden wiesie selbst. Doch unser Held nahm sein Schwert, stelltesich an den Eingang des Zeltes und wartete. Da streck-te das Ungetüm auch schon seine sieben Häupterdurch die Tür und wollte nach der Prinzessin greifen,als ihm der Pferdeprinz mit einem Schwerthieb alleseine Häupter abschlug. Dann führte er die Prinzessinaus dem Zelt hinaus und übergab sie den dort ver-sammelten Leuten, auf dass sie sie zurück in denPalast brachten. Mit fröhlichen Rufen und unter Freu-dentränen geleitete man die Prinzessin zu ihrem Vater.Der Pferdeprinz ließ den toten Drachen bei der Quellebegraben, auf dass ihr Wasser wieder fließe, dennsonst wäre sie für immer versiegt.Unseren Prinzen zog es aber wieder in das Haus

der alten Frau, damit er sehen könne, wie es um dasMädchen aus dem Brunnen stand. Die alte Frau hattedas Mädchen in einem günstigen Augenblick von derHochzeitsgesellschaft entfernt und unbemerkt in ihrHaus gebracht. Als der Pferdeprinz ins Haus kam, ließer sich berichten, was die beiden Dews am Brunnengetrieben hatten. Und nachdem das Mädchen mit sei-nem Bericht zu Ende war, ging der Pferdeprinz hinund tötete auch die beiden Dews. Die beiden anderenSchwestern aber führte er ebenfalls in das Haus deralten Frau.Lassen wir nun den Pferdeprinzen und die drei

Schwestern bei der alten Frau sitzen und wenden uns

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dem Padischah zu, dessen Tochter vor einem bösenSchicksal bewahrt worden war. Dieser wollte unbe-dingt den Retter seiner Tochter sehen und ließ ihn su-chen. Doch es war weit und breit keiner zu finden, derzugab, den Drachen getötet zu haben. Da befahl derPadischah, dass alle Männer der Stadt an seinem Pa-last vorbeiziehen sollen, damit seine Tochter aus ihrenReihen denjenigen erkenne, der sie vor dem Drachengerettet hat. So zog das ganze Volk am Palast vorbeiund es waren nicht mehr viele übrig, als die alte Frauauch unseren Helden hinschickte. Und sobald diePrinzessin den Jüngling erblickte, erkannte sie ihn alsihren Retter. Der Padischah ließ unseren Pferdeprin-zen zu sich rufen und sprach: »Du hast meine Tochtergerettet und uns von einem bösen Fluch befreit. Undwenn es auch dein Wille ist, so gebe ich sie dir zurFrau.« Unser Held sah, dass die Prinzessin noch schö-ner war als das Feenmädchen, und da er sein Herz ansie verloren hatte, antwortete er: »Mein Padischah,Euer Wunsch sei mir Befehl.« Und so führte er auchseine Braut in das Haus der alten Frau.Am nächsten Tag verabschiedete sich unser Pferde-

prinz mit einer weiteren Handvoll Gold von seinerGastgeberin und machte sich mit seiner Prinzessinund den drei Feenschwestern endlich auf den Weg inseine Heimat. Dort angekommen, gab er die ältesteSchwester seinem ältesten Bruder zur Frau, die mitt-lere seinem mittleren Bruder und die jüngste demjüngsten Bruder. Er aber vermählte sich mit der Prin-zessin, und sie feierten vierzig Tage und vierzig Näch-te ihre Hochzeit und lebten fortan in Glück und Zu-friedenheit.

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Bruder und Schwester

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es wareinmal ein Padischah, der hatte einen Sohn und

eine Tochter. Der Padischah wurde alt und starb einesTages. Nach ihm wurde sein Sohn auf den Throngesetzt. Dieser aber war noch unerfahren in denStaatsgeschäften und hatte nach einiger Zeit sein gan-zes Vermögen aufgebraucht. So sprach er eines Tageszu seiner Schwester: »Liebste Schwester, ich habe allunser Vermögen verzehrt; wenn das Volk erfährt, dasswir jetzt ohne Geld dastehen, wird man uns von hierfortjagen. Ich aber könnte die Schande nicht ertragen.Deshalb lass uns allen zuvorkommen und von hierfliehen.« Die Schwester wusste auch keinen anderenAusweg, und da sie sonst keine Angehörigen hatten,willigte sie ein. Sie machten sich für die Reise fertigund verließen heimlich in der Nacht den Palast.Während sie so ihres Weges zogen, gelangten sie auf

eine große Ebene. Hitze und Staub setzten ihnen sosehr zu, dass sie kaum weitergehen konnten. Der Bru-der war so geschwächt, dass er drohte, in Ohnmachtzu fallen. Da erblickte er auf der Erde eine Pfütze undsprach zu seiner Schwester: »Meine Schwester, keinen

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Schritt gehe ich weiter, bevor ich von diesem Wassergetrunkenhabe!« – »MeinBruder«, erwiderte dasMäd-chen, »halte noch ein wenig durch, denn dasWasser istungenießbar. Lass uns weitergehen, bis wir sauberesWasser gefunden haben!« Aber der Bruder achtetenicht auf seine Worte und rief: »Nein, ich kann michkaum noch auf den Beinen halten. Und wenn es dasLetzte ist, was ich tue, ich werde dieses Wasser trin-ken!« Und damit hatte er sich auch schon auf die Erdegeworfen und seinen Mund ins Wasser getaucht. Ertrank und trank – und plötzlich verwandelte er sich ineinen Hirsch!Da weinte und klagte seine Schwester bitterlich und

rief: »Da siehst du, was du angerichtet hast! Warumhast du meine Worte nicht erhört? Was wird nun ge-schehen?« Aber sie konnte es nicht mehr ändern, undso gingen sie weiter ihresWeges über die Ebene, bis siebei einer Quelle und einem großen Baum ankamen.Dort wollten sie eine Rast einlegen. Da trat der Hirschzu seiner Schwester und sprach: »Meine Schwester,klettere auf diesen Baum, dort bist du sicher; ich willderweil ein wenig umherlaufen und nach etwas Ess-barem suchen.« Das Mädchen tat, was ihm der Brudergeraten, und stieg auf den Baum. Der Hirsch machtesich auf die Suche und erlegte einige Hasen, die erseiner Schwester brachte, welche sie zubereitete. Soverbrachten sie einige Zeit.Eines Tages erschienen die Stallknechte des Padi-

schahs jenes Landes und wollten dessen Rosse aus derQuelle, die sich unter dem Baum befand, tränken. Siefüllten ihre mitgebrachten Tröge und führten die Tiereunter den Baum.Als diese trinkenwollten, da spiegeltesich das Gesicht des Mädchens im Wasser. Die Pferde

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scheuten und weigerten sich zu trinken. Die Knechteglaubtenzunächst, dassdasWasserunrein sei, und füll-tendie Trögemit frischemWasser.AberdieRosse liefenimmerwieder zurück.DieKnechtekonnten sichkeinenReim auf das sonderbare Verhalten der Tiere machen,kehrten zum Palast zurück und berichteten dem Pa-dischah, was sich an der Quelle zugetragen hatte. DerPadischah fragte, ob sie denn das Wasser untersuchthätten. Und als die Knechte bejahten und ihm sagten,dass die Pferde auch dann nicht getrunken hatten, daschickte sie der Padischah wieder zurück und trugihnen auf, die Gegend gründlich zu durchsuchen undzu finden, was die Tiere verschreckt haben könnte.Die Knechte kehrten sofort zurück und ließen kei-

nen Stein auf dem anderen, doch sie fanden nichts.Aber als sie die Quelle untersuchten, da erblickten siedas Bild des Mädchens, das sich im Wasser spiegelte.Dann sahen sie hinauf und wussten nun, was derGrund für die Scheu der Pferde war. Sofort benach-richtigten sie den Padischah, der sich sogleich zurQuelle begab und dort, wie er seinen Blick hob, einMädchen sah, das dem Mond am Vierzehnten glichund dessen Lieblichkeit und Anmut ihn fast um denVerstand brachte. »Bist du ein In oder ein Dschinn?«,fragte sie der Padischah. – »Ich bin weder ein In nochein Dschinn, sondern ein Menschenkind wie du«, ant-wortete das Mädchen. Der Padischah bat es nun, vomBaum herabzusteigen, doch das Mädchen blieb oben.Undwie sehr der Padischah auch flehte, wie sehr er sieauch zu locken versuchte, welche Überredungskünsteer auch anwandte – es war vergebens: Das Mädchenbewegte sich keinen Zoll. Da wurde der Padischahwütend und befahl, den Baum sofort zu fällen. Seine

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Männer nahmen nun die Äxte hervor und hieben aufden Baum ein. Es wurde bereits dunkel und die Män-ner waren immer noch mit dem Baum beschäftigt. Alsaber endlich die Nacht hereinbrach, da hörten sie aufund wollten am nächsten Tag vollenden, was sie be-gonnen hatten. Nachdem sie fortgegangen waren, liefder Hirsch zu seiner Schwester und fragte sie, was dasalles zu bedeuten habe. Das Mädchen erzählte ihmalles, und da sprach der Hirsch: »Du hast klug gehan-delt, meine Schwester! Wenn der Padischah dich wie-der bittet, steige auch dann nicht herab.« Dann gingder Hirsch um den Baum herum und beleckte ihndabei mit seiner Zunge – und siehe da! Die Rindeschloss sich und der Baumstamm wurde sogar nochdicker, als er es zuvor gewesen war.Am nächsten Morgen ging der Hirsch wieder weg,

und als die Leute des Padischahs kamen, sahen sie,dass der Baum nicht nur wieder heil, sondern sogarnoch kräftiger gewordenwar. Sie traktierten den Baumwieder mit ihren Äxten und schwitzten und schufte-ten, bis es wieder Nacht wurde und sie wieder heim-gingen. Auch in dieser Nacht kam der Hirsch heranund beleckte den Baumstamm mit seiner Zunge, wo-durch dieser wieder zusammenwuchs. Beim Morgen-grauen versteckte sich der Hirsch.Als der Padischah mit seinen Holzfällern kam und

sah, dass der Baum noch dicker geworden war, daerkannte er, dass er zu anderenMitteln greifen musste.Er begab sich sogleich zu einer Hexe und versprach ihreine stattliche Belohnung, wenn sie ihm dazu verhalf,dasMädchen vom Baum runterzuholen. Die Hexe wil-ligte nur zu gerne ein undmachte sich gleich ansWerk.Sie nahm einenDreifuß, einen Kessel und nochweitere

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nötige Zutaten und begab sich damit zur Quelle. Dorttat sie, als ob sie blind sei, stellte den Dreifuß auf dieErde und den Kessel obendrauf. Aber sie achtete da-rauf, dass der Boden des Kessels nach oben zeigte.Dann schöpfte sie mit geschlossenen Augen Wasseraus der Quelle und goss es neben den Kessel auf dieErde.DasMädchenbeobachtetedieAltevonderBaum-krone aus und glaubte tatsächlich, dass sie blind sei. Eshatte Mitleid mit dieser Frau und rief ihr zu: »LiebesMütterchen, deinKessel steht verkehrt herum, das gan-ze Wasser fließt auf die Erde.« – »Mein liebes Kind«,begann die Alte, »wer bist du? Ich kann dich nichtsehen! Ich habe Wäsche zum Waschen hergebracht,und wenn du ein guter Mensch bist, so hilf mir dabei!«Doch das Mädchen gedachte der mahnenden Worteihres Bruders und so blieb sie in ihrem Baum.Tags darauf erschien die Hexe wieder. Sie zündete

ein Feuer an und wollte etwas Mehl sieben. Doch stattnach dem Mehl zu greifen, nahm sie Asche und dasMädchen rief ihr zu, dass dies kein Mehl, sondernAsche sei. Darauf bat die Hexe, sie möge doch zu ihrkommen und ihr helfen. Aber das Mädchen blieb imBaum, denn sein Bruder hatte ihm am Abend zuvornoch einmal ins Gewissen geredet und ihm gesagt, essolle unter keinen Umständen vom Baum steigen.Am dritten Tag brachte die Hexe ein Lamm mit.

Dieses wollte sie schlachten. Sie nahm ein Messer,doch anstatt dem Tier die Klinge an den Hals zu legen,versuchte es die Alte mit dem Griff. Immer und immerwieder drückte sie damit auf die Kehle des Tieres. Dasarme Lamm erlitt solche Qualen, dass es unser Mäd-chen nicht mehr ertragen konnte. Es vergaß die War-nung seines Bruders und stieg vom Baum hinab, um

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dem Leiden des Lämmchens ein Ende zu setzen. Dochkaum war es mit den Füßen auf der Erde angekom-men, da packte es auch schon der Padischah, der sichin der Nähe versteckt hatte, und brachte sie in seinenPalast.Der Padischah hatte großen Gefallen an diesem

Mädchen gefunden und wollte es zu seiner Gemahlinmachen.UnddemMädchen gefiel auch der Padischah,aber es wollte so lange nicht in die Heirat einwilligen,ehe man ihm nicht den Hirsch, der ja ihr Bruder war,gebracht hatte. Da schickte der Padischah seine Leuteaus, um den Hirsch zu fangen. Bald hatte man denHirsch auch gefunden, und nachdem die Geschwisterwieder vereint waren, gab das Mädchen dem Padi-schah das Jawort und die Hochzeit wurde abgehalten.Die junge Sultanin wollte den Hirsch ständig in ihrerNähe haben, und wenn sie sich zu Bett begaben, hatteauch der Hirsch sein Nachtlager in ihrem Schlafge-mach. So lebten sie glücklich miteinander.Ihr Glück wäre vollkommen gewesen, hätte es da

nicht eine schwarze Sklavin im Palast gegeben. Diesewar voller Missgunst ihrer neuen Herrin gegenüber,weil der Padischah dieses Mädchen ihr vorgezogenhatte, und wartete auf eine günstige Gelegenheit, umsich der Sultanin zu entledigen. Neben dem Palastbefand sich ein Garten mit einem großen Teich. Dortvertrieb sich die Gemahlin des Padischahs häufig dieZeit. Eines Tages saß sie wieder an diesem Teich underfreute sich an der Schönheit des Gartens. Die Sklavinaber war ihr nachgeschlichen, lief herbei und – warfsie in den Teich! Die Sultanin sank tief auf den Grund.Da kam plötzlich ein großer Fisch angeschwommenund verschlang sie.

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Lassen wir die Sultanin im Bauch des Fisches undsehen, was die schwarze Sklavin trieb. Diese lief sofortin den Palast und nahm die Stelle der Sultanin ein. Alsam Abend der Padischah zu ihr kam, wunderte er sichsehr, wie sich das Antlitz seiner Frau verändert hatte.Er fragte sie, warum sie so schwarz geworden sei. Daantwortete die Sklavin, sie sei im Garten spazieren ge-gangen und habe darüber die Zeit vergessen. Da habeihrdie Sonne dieHaut gebräunt. Der Padischahmerktenicht, dass es seine Sklavinwar, und glaubte ihrenWor-ten. Als aber der Hirsch kam, sah er sofort, dass dieseFrau nicht seine Schwester war, und war voller Sorge,denner verstand,dassdie Sklavin ihr Böses getanhatte.Die Sklavin merkte, dass der Hirsch sie durchschaut

hatte. Damit er sie aber nicht verraten konnte, dachtesie sich auch eine Teufelei für ihn aus. Sie stellte sichsterbenskrank und legte sich ins Bett. Der Padischahwar besorgt um seine Gattin und ließ sie von Ärztenuntersuchen. Die falsche Sultanin aber hatte die Ärztezuvor mit Geld und anderen Versprechen dazu über-redet, dass sie vorgeben sollten, die Sultanin könne nurdann genesen, wenn man ihr die Leber des Hirschsgab. Die Ärzte gingen auf den Handel ein und über-brachten dem Padischah einen entsprechenden Be-richt. Dieser ging zu seiner vermeintlichen Gemahlinund fragte sie, ob es wirklich ihr Wille sei, den Hirsch,ihren Bruder, schlachten zu lassen. Die Sklavin tat, alsob sie es bedauerte, und sprach: »Welchen anderenAusweg habe ich denn! Es ist die Meinung der Ärzte,dass dies die einzige Rettung für mich ist.« Dann fügtesie hinzu: »Was aber geschieht mit meinem Bruder,wenn ich sterbe?Dannwäre erganz auf sichgestellt.Daist es doch besser, dass ich weiterlebe und er von dem

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Zauber erlöstwird.«Der Padischah fügte sich demWil-len seiner Frau und befahl mit trauriger Stimme, dassman das Tier töte und ihm die Leber herausnehme.Der Hirsch aber ahnte bereits, dass man ihm nach

dem Leben trachtete und eilte zum Teich. Dort blickteer in das Wasser und rief: »Schwester, mein liebesSchwesterherz! Mir sitzt das Messer an der Kehle! Sohilf mir doch!« Die Schwester rief aus dem Bauch desFisches: »Mein lieber Bruder, wie nur kann ich dirhelfen? Ich bin im Bauch des Fisches gefangen undhabe einen kleinen Prinzen auf meinem Schoß!« Esverhielt sich nämlich so, dass die Sultanin im Innerendes Fisches einen Sohn geboren hatte. Als der Hirschdie Worte seiner Schwester vernahm, wusste er, dasses keine Rettung mehr für ihn gab.Es trug sich aber zu, dass der Padischah demHirsch

in den Garten gefolgt war, und so hatte er alles gehört,was die Geschwister einander zuriefen. Sogleich ließer den Teich leeren, und als der große Fisch auf demGrund erschien, da schlitzte er ihm den Bauch auf undnahm seine Gemahlin und seinen Sohn glücklich indie Arme. Dann ließ er sich von der Sultanin berich-ten, was ihr widerfahren war. Nachdem sie mit ihremBericht zu Ende war, eilte der Padischah in den Palastund rief die Sklavin zu sich. Er fragte sie, was ihr lieberwar: vierzig Schwerter oder vierzig Pferde? Die Skla-vin rief: »Was soll ich mit vierzig Schwertern, die sindfür den Kampf! Gib mir vierzig Pferde, dann kann ichauf ihnen ausreiten!« Der Padischah ließ die Sklavinan die vierzig Pferde binden und ließ die Tiere in alleRichtungen laufen. Die Sklavin wurde in vierzig Stü-cke gerissen und fand damit ihre gerechte Strafe.Sehen wir nun, wie es um den Hirsch stand. Der

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war beim toten Fisch zurückgeblieben und leckte et-was von dessen Blut. Da durchfuhr ihn plötzlich einZittern, und ehe er es sich versah – war er wieder ineinen Menschen verwandelt! Freudig lief er zu seinerSchwester, und als diese sah, dass ihr Bruder wiederganz hergestellt war, da weinte sie vor Glück.Aus Freude über den glücklichen Ausgang feierten

der Padischah und seine Gattin ihre Hochzeit noch-mals vierzig Tage und vierzig Nächte lang. Den Bru-der seiner Gemahlin ernannte der Padischah zu sei-nem Wesir und verheiratete ihn mit seiner Schwester.Auch sie feierten vierzig Tage und vierzig Nächte.Sie haben das Ziel ihrer Wünsche erreicht, und da-

mit kommt dieses Märchen zum Schluss!

Die Geschichtevom Smaragdphönix

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es wareinmal ein Padischah, der hatte einen Apfelbaum

in seinem Garten.Dieser Baum brachte nur drei Äpfel hervor, und

wenn diese gerade ausgereift waren und rot glänzten,kam umMitternacht ein siebenköpfiger Dew und fraß

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sie auf. Dem Padischah war es nie vergönnt, auch nureinen der Äpfel zu kosten. Dies beschäftigte den Pa-dischah sehr, denn er legte großen Wert auf die Pflegeseines Apfelbaums. Tag und Nacht dachte er bei sich:»Habe ich nicht eigens aus den entferntesten Gegen-den einen Setzling herbeigeschafft, diesen Baum ge-hegt und gepflegt, die Äste und Zweige gestutzt undjeden Schaden von ihm ferngehalten? Doch habe ichnoch nie auch nur einen einzigen Apfel geplückt. Ichbefehlige so viele Soldaten, aber sie ergreifen dieFlucht, wenn der Dew erscheint.«Eines Tages ließ der Padischah ausrufen, dass er

nach jemandem suche, der ihn aus seiner Lage befreienkönnte. Doch es fand sich niemand, der sich dazuimstande fühlte. Der Padischah hatte nun drei Söhne,die dem Aufruf folgen wollten. So erschien sein ältes-ter Sohn, küsste den Saum seines Gewandes undsprach: »Mein mächtiger Vater, heute Nacht wird derDewwieder erscheinen. Ich bitte Euch, lasst mich heu-te Wache halten. Ich werde den Dew in Gottes Namentöten und Euch die Äpfel bringen.« Da verspürte derPadischah einen Funken Hoffnung, doch er äußertesich besorgt: »Mein Sohn, zwar sprichst du weise undvoller Mut, doch wie wirst du den Dew töten? AmEnde wirst du dir schwere Verletzungen zuziehen.Wenn du aber überzeugt bist, dass du ihn besiegenkannst, so gehe denn in Gottes Namen!« Der Prinz zogsich zurück, legte seine Rüstung und seine Waffen anund hängte sich noch Pfeil und Bogen um die Brust. Esdämmerte bereits und der Prinz trat seine Wache ineinem Versteck nahe beim Apfelbaum an. Stunde umStunde verging, ohne dass sich auch nur ein Zweigleinregte. Doch dann, genau um Mitternacht, entstand in

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der Ferne ein donnerndes Getöse, und mit einem Malstand alles Leben still. Himmel und Erde hüllten sichin schwarzen Rauch und der Geruch des Todes ver-breitete sich überall. Wie ein wandelnder Feuerballtauchte mit einem Mal der siebenköpfige Dämon ausdem Rauch auf und bewegte sich schwerfällig auf denApfelbaum zu. Aus seinen vierzehn Augen schossenwilde Flammen, und niemand konnte sich ihmnähern,ohne verbrannt zu werden. Als der Prinz diese Er-scheinung sah, zog er sich immer weiter in sein Ver-steck zurück und hatte nicht einmal mehr den Mut zufliehen, geschweige denn, seinen Bogen zu spannenund seine Pfeile abzuschießen. Der Dew indes pflücktein alter Gewohnheit die Äpfel, verschlang sie genüss-lich und machte sich auf und davon. Den Baum ließ erwie einen verdorrten Stumpf zurück.Am nächsten Morgen ließ der Padischah nach sei-

nem Sohn rufen, doch man hatte einige Mühe, ihn zufinden. Endlich kam er aus seinem Versteck hervor,noch nicht ganz erholt von seinem nächtlichen Schre-cken. Der Padischah fragte: »Nun, mein Sohn, hast duden Dew getötet undmir die Äpfel gebracht?« Dawarfsich der Prinz vor die Füße seines Vaters, küsste dieErde und sagte: »Mein Padischah, ich habe nur meinLeben retten können. Dieser Dew ist von der Sorte,dessen bloßer Anblick einem den Verstand raubt. Ver-gebt mir, Vater, denn meine Kraft war zu gering fürihn.« Der Padischah entließ seinen Sohn und verfielwieder in seine trübe Stimmung.Ein Jahr darauf trug der Apfelbaum wieder Früchte

und von neuem machte sich Unruhe breit, bedeutetedies doch, dass der Dew bald wieder erscheinen wür-de. Diesmal fasste sich der mittlere Prinz ein Herz

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und wollte dem Dew Einhalt gebieten. Aber – um dieSache nicht unnötig in die Länge zu ziehen – ihmerging es nicht besser als seinem älteren Bruder, undder Padischah ging auch in diesem Jahr leer aus.So verging ein weiteres Jahr und der Apfelbaum

hatte sich erholt und trug wieder Früchte, die kurz vorder Reife standen. Da begab sich der jüngste Sohn desPadischahs zu seinem Vater und sprach zu ihm: »Meinmächtiger Vater, die Äpfel reifen wieder und der Tagist gekommen, an dem der Dew seine Beute holt. InGottes Namen und mit Eurer Erlaubnis will ich die-sem Treiben Einhalt gebieten.« Da entgegnete der Pa-dischah: »Wie, auch du? Deine beiden Brüder konntennichts gegen diesen Dew ausrichten und kamen gera-demit ihrem Leben davon.Was steht dir, dem jüngstenmeiner Söhne, zu Gebote, das den Dew unschädlichmachen könnte?« Doch der Prinz flehte und bettelte,und da der Padischah gleichgültig geworden war ge-gen die Dinge der Welt, erteilte er seinem Sohn die ge-wünschte Erlaubnis. Dieser rüstete sich und begab sichin sein Versteck in der Nähe des Baumes. Genau umMitternacht wurden Himmel und Erde von lärmen-dem Gepolter und schwarzem Rauch eingenommen,und dann erschien der flammende siebenköpfige Dä-mon. Unser Prinz aber ließ sich nicht von der gewal-tigen Erscheinung des Dews einschüchtern, spannteeinen vergifteten Pfeil in seinen Bogen und schossab. Der Pfeil durchbohrte alle Häupter des Ungeheuersund flog aus dem letzten wieder heraus. Da ertönte einsolcher Schrei in der Nacht, dass Himmel und Erdeerbebten, und der Dew erstarrte in seiner Bewegung.Dann aber drehte er sich um und stampfte davon, eineBlutspur hinter sich herziehend.

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Der Prinz aber pflückte sofort die Äpfel, die erseinem Vater überreichte. Der Padischah traute kaumseinen Augen und brachte vor Erstaunen kein Wortheraus. Dann aber glättete sich seine Stirn, und erbrach in helle Freude aus. »Das hast du wahrlich gutgemacht, mein Sohn, deine Kühnheit kennt nichtihresgleichen! Nun wünsche von mir, was auch im-mer du begehrst!« Dem Prinzen wollte aber keinanderer Wunsch über die Lippen kommen als Ge-sundheit für seinen Vater, doch endlich sprach er:»Mein hoher Herr, es ist mein Wunsch, diesen Dämonzu verfolgen und ihn zu töten. Es schickt sich für einenHelden nicht, seine angefangene Tat nicht zu voll-enden.« Der Padischah versuchte zwar, seinen Sohnvon seinem Vorhaben abzubringen, doch er vermochteihn nicht zu überreden und so erteilte er ihmschweren Herzens die Erlaubnis zur Abreise. Als derPrinz verkündete, dass er auch seine beiden älterenBrüder mitzunehmen gedenke, da war der Padischahberuhigt.Gleich am nächstenMorgen brachen die drei Brüder

auf. Sie gingen der Spur nach, die der Dewmit seinemBlut gelegt hatte. So ritten sie einige Tage, bis sie aneinem Brunnen ankamen, an dem sich die Blutspurverlor. Doch der Brunnen war über und über mit Blutverschmiert. Da wussten die Brüder, dass der Dew indiesen Brunnen gestiegen sein musste. Auf der Öff-nung lag ein Stein, der so schwer war, dass die beidenälteren Brüder sich umsonst bemühten, ihn zur Seitezu rücken. Da trat der jüngste Prinz vor den Stein, riefGott um Hilfe an und schleuderte den Stein mit seinerbloßen Hand fort. Die beiden älteren Brüder warenvoller Erstaunen. Der jüngste Prinz aber sprach: »Mei-

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ne Brüder, solange wir dem Dew noch dicht auf denFersen sind, will ich in den Brunnen hinabsteigen undihn töten. Bindet dieses Seil um mich und lasst michhinunter.« Den ältesten der Brüder verärgerten dieseWorte seines Bruders, da er keine Befehle von ihmannehmenwollte. Deshalb erwiderte er: »Mein Bruder,ich bin älter, und solange ich da bin, steht es dir nichtzu. Ich werde hinabsteigen.« So ließen sie ihn hinab.Doch kaum war er ein Stück hinuntergeglitten, schrieer wie am Spieß und rief: »Um Gottes willen, ich ver-brenne! Zieht mich hinauf!« Sofort zogen sie ihn hi-nauf. Dann ließ sich der mittlere Bruder hinabseilen.Doch schon bald schrie auch er aus dem Inneren: »UmGottes willen, ich erfriere! Zieht mich hinauf!« Sofortzogen ihn die beiden anderen wieder aus dem Brun-nen heraus. Nun blieb den beiden älteren Brüdernnichts anderes übrig, als das Seil um ihren jüngstenBruder zu binden und ihn in den Brunnen hinabzu-lassen. Der jüngste Prinz bat seine Brüder: »MeineBrüder, was auch immer ich rufe, wie laut ich auchklage, achtet nicht darauf und lasst mich nur weiterhinab.« Die beiden älteren Brüder taten, wie ihnen ihrBruder geraten hatte, und so gelangte unser jungerPrinz auf den Grund des Brunnens.Er kam in einen dunklen Raum, und nachdem sich

seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, blickteer um sich und erkannte in einer Wand die Umrisseeiner Tür. Dahinter erstreckte sich ein langer Tunnel,durch den der Prinz schritt. Am Ende des Tunnels ge-langte er in einen Raum, und wie er hineinblickte, saher dort ein Mädchen, so schön wie der Mond am Vier-zehnten, über einer Stickerei sitzen. Von diesem Raumgelangte er in einen weiteren, in dem ein noch schöne-

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res Mädchen saß und ebenfalls stickte. Der Prinz gingweiter und kam schließlich in ein drittes Zimmer. Dortsah er ein Mädchen, dessen Schönheit ihm schier denAtem stocken ließ. Unser Prinz wusste gar nicht, wieihm geschah, so sehr war er überwältigt von ihrerErscheinung, und auf der Stelle hatte er sein Herz andieses Mädchen verloren. Er war nicht imstande, auchnur ein Wort zu sagen, und das Mädchen betrachteteihn eine Weile und verstand, was mit ihm geschehenwar. Schließlich fasste sich der Prinz und fragte sie:»Mädchen, bist du ein In oder ein Dschinn?« Da sagtedas Mädchen: »Ich bin ein Menschenkind so wie du.«Und es fuhr fort: »Mein Jüngling! Wie bist du hierher-gekommen? Ein Dew haust in diesem Brunnen, undsobald er deiner gewahr wird, gibt es für dich keinEntrinnen mehr und er wird dich auf der Stelle töten!«Der Prinz aber entgegnete: »Meine Prinzessin, ich sehe,du bist ein Menschenkind und zweifellos von hoherGeburt. Doch du irrst dich, was meine Absichten be-trifft. Ich bin es, der dem Dew die Wunde beigebrachthat und der seinem Blut bis hierher gefolgt ist. Ich bingekommen, um zu vollenden, was ich begonnen hab.Zeig mir, wo er sich aufhält, und ich will auf ewig deinDiener sein.« Das Mädchen wurde nun von den Wor-ten des Jünglings so eingenommen, dass es sich auchauf der Stelle in ihn verliebte, und so brachte es ihn zudem Zimmer, in dem sich der Dew befand.Der Prinz stürmte sofort ins Zimmer und sah den

Dew am anderen Ende des Raums in seinem eigenenBlut liegen. Trotz der Verwundung hatte der Dewnichts von seiner Furcht einflößenden Erscheinungund seiner Bösartigkeit eingebüßt. Sobald er den Prin-zen erblickte, schleuderte er ihm schreiend seine Keule

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entgegen. Der Prinz aber konnte geschickt auswei-chen. Und dann, da der Dew nun unbewaffnet war,schwang er sein Schwert und stach und hieb auf allesieben Köpfe ein, bis sie alle vom Rumpf abgetrenntwaren und das Ungeheuer leblos auf die Erde sackte.Nachdem er den Dew getötet hatte, kehrte der Prinz

zu den dreiMädchen zurück. Er hieß sie einige Schätzeeinpacken, die an Gewicht leicht und von großemWertwaren, und begab sich mit ihnen zur Öffnung desBrunnens, wo seine beiden Brüder auf ihn warteten.Diesen rief er zu, sie mögen den Strick hinunterlassen,und eines nach dem anderen schickte er die beidenersten Mädchen nach oben. Als er das dritte hinauf-schicken wollte, sprach es zu ihm: »Mein Prinz, steigdu zuerst hinauf und lass mich nachkommen. Dennwenn deine Brüder mich sehen, werden sie Neid emp-finden und dich hier im Brunnen zurücklassen.« Dochder Prinz beachtete die Worte des Mädchens nicht undband ihm den Strick um, um es hinaufzuschicken. Daerkannte das Mädchen, dass sie ihn nicht würde über-zeugen können, und sagte: »Mein Prinz, so nimm we-nigstens diese drei Haare von mir. Wenn deine Brüderden Strick durchtrennen und du zurück in den Brun-nen fällst, so reibe die Haare aneinander. DannwerdenamGrund des Brunnens ein weißes und ein schwarzesSchaf zumVorschein kommen.Wenn du auf das weißeSchaf fällst, so wirst du auf die Erde zurückkehren.Landest du aber auf dem schwarzen Schaf, so sinkstdu sieben Schichten unter die Erde hinab.« Damit rissdas Mädchen sich drei Haare vom Kopf und reichtesie ihm. Der Prinz steckte sie ein und rief seinen Brü-dern zu: »Brüder, dieses Mädchen ist mein Anteil«,und schickte es hinauf.

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Die Brüder zogen nun das Mädchen herauf, undkaum war es über der Brunnenöffnung zu sehen, dasahen sie, wie schön es war. Wie es das Mädchenvorhergesagt hatte, waren die Brüder voll des Neidsfür den jüngsten Prinzen und dachten bei sich, dass esdoch nicht sein konnte, dass der jüngste unter ihnensich das schönste Mädchen ausgesucht hatte. Da be-schlossen sie, ihren Bruder zurück in den Brunnen zuwerfen, und sobald dieser auch in der Öffnung er-schien, schnitten sie das Seil durch und der Prinzstürzte in den Brunnen hinein. Sofort rieb er die dreiHaare aneinander und im selben Augenblick erschie-nen auf dem Grund des Brunnens ein weißes und einschwarzes Schaf. Der Prinz fiel auf das schwarze undstürzte mit ihm sieben Schichten in die Erde hinab.Lassen wir den Prinzen in den Tiefen der Erde und

sehen, was mit den beiden anderen Brüdern geschah.Diese brachten die drei Mädchen sofort in den Palastund traten vor ihren Vater. Sie hatten sich eine Lügefür den Verbleib ihres Bruders ausgedacht und spra-chen zu ihrem Vater: »Vater, der Dew hat unserenjüngsten Bruder im Brunnen getötet. Wir haben da-raufhin den Dew umgebracht, diese Mädchen befreitund hierher mitgenommen.« Da verfiel der Padischahin tiefe Trauer um seinen Sohn, und aus seinen Augenfloss Blut statt Tränen.Der Padischah und die beiden Prinzen sollen im

Palast verweilen, kehren wir zum Prinzen unter derErde zurück. Auf dem siebten Grund der Erde ange-kommen, blickte er um sich und sah, dass da eine Weltwar, wie es sie oben auf der Erde gab. So lief er drauflosund wanderte eine Weile umher. Gegen Abend kam erin eine Stadt und klopfte an die Tür eines kleinen

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Hauses. Eine alte Frau mit gebeugtem Rücken undfaltigem Gesicht öffnete. Er sagte: »Mütterchen, willstdu mich heute Nacht als Gast aufnehmen? Ich bin weitgewandert und erschöpft und hungrig.« Die Frau ant-wortete: »Ach, mein Sohn! Ich habe nicht einmal genü-gend Platz für mich selbst, wie sollte ich dich nochaufnehmen? Außerdem bin ich arm und das Essenreicht noch nicht einmal für mich.« Da klimperte derPrinz mit den Goldmünzen, die er in seiner Taschetrug, und sofort hellte sich das Gesicht der Frau auf.»Komm, mein Sohn«, sprach sie, »ich werde dir einenPlatz suchen, wo du liegen kannst«, und ließ ihn insHaus. Da der Prinz von seinerWanderung sehr durstigwar, bat er die Alte um etwas Wasser. Diese gingdaraufhin zu einem Wandschrank, nahm dort einenKrug heraus und gab dem Prinzen daraus zu trinken.Doch der Prinz konnte das Wasser nicht trinken, da esstank und Würmer sich darin gebildet hatten. Er warsehr verwundert darüber und sprach zur Alten: »Müt-terchen, was hast dumir da fürWasser gegeben? Nichteinmal Tieren könnte man es geben!« Da sprach sie:»Ach, mein Sohn, wir trinken dieses Wasser täglich.Denn in dieses Land kommt jedes Jahr ein Drache undsperrt uns das Wasser von unserer einzigen Quelle ab.Er verlangt jedes Jahr ein Mädchen, um es zu fressen.Dann lässt er das Wasser fließen, und alles Volk ver-sammelt sich an der Quelle und füllt unter Streit undGeschimpfe sämtliche Krüge, die zur Hand sind. Un-ser Wasser teilen wir auf ein Jahr ein. Und morgenwird wieder ein Jahr zu Ende gehen und dieses Malwird die Tochter des Padischahs dem Drachen überge-ben. Unsere Not ist groß, denn wenn der Drache keinMädchen bekommt, schneidet er uns das Wasser ab.«

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Als der Prinz dies hörte, war er sehr bestürzt undversank eine Zeitlang in Nachdenken. Am Morgenging er früh aus dem Haus und kam geradewegs zurQuelle. Dort hatten sich zahlreiche Menschen mit Krü-gen in der Hand angesammelt und stritten sich bereitsum das Wasser.Im Palast wurde die Tochter des Padischahs ange-

kleidet. Man stellte sie vor einen Brautzug, führte siezur Quelle und ließ sie dort allein zurück. Der Prinzschaute diesem Treiben von einiger Entfernung zu undsah, wie die Tochter des Padischahs bitterlich weinte.Er konnte den elenden Zustand der Prinzessin nichtertragen und ging auf sie zu. »Meine Prinzessin«, riefer, »fürchte dich nicht. Ich habe einen Dew getötet undsein Blut klebt noch an meinem Schwert. Ich werdeauch den Drachen, der dich bedroht, besiegen. Haltedich nur dicht hinter mir.« Er spannte seinen Bogenund hielt sich schweigend bereit. Nach einiger Zeitwar aus der Quelle ein Lärmen zu vernehmen, Wassersprudelte hervor und Flammen loderten auf. Dannwar alles in dunklen Rauch gehüllt, aus dem ein sie-benköpfiger Drache hervorkam. Aus seinen Mäulernund Nüstern sprühte Feuer und er heulte laut auf. Alser die beiden erblickte, da lachte er heiser auf undsagte: »Holla, was habe ich heute für ein Glück! ZweiMenschen, die ich verschlingen kann!« Dann holte ertief Atem, um die beiden einzusaugen. Alles um ihnherum wurde angezogen, Steine bewegten sich undSträucher wurden aus der Erde gerissen. Doch unserPrinz stemmte seine Füße fest in die Erde und bewegtesich kein Stück weiter. Der Drache zog seinen Atemnoch tiefer ein, doch der Prinzwiderstand, die Prinzes-sin hinter ihm, ihre Arme eng um ihn geschlungen.

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Der Drache näherte sich dem Prinzen, aber sosehr ersich auch abmühte, es gelang ihm nicht, die beideneinzusaugen. Der Prinz zielte nun auf eines derMäulerund schoss den Pfeil ab. Er durchbohrte damit allesieben Häupter des Drachen, der wütend aufschrie,sich hin und her wand, auf die Erde stampfte, sichaufbäumte und schließlich mit einem dumpfen Schlagniederfiel. Aus seinen Mäulern und Nüstern floss seindunkles Blut. Die Prinzessin hob ihren Schleier undtrocknete ihre Tränen. Sie tauchte eine Hand in dasBlut des Drachen, wandte sich an den Prinzen undsprach: »Mein Held, du hast vollbracht, wozu nie-mand bisher denMut aufgebracht hat.Möge dir GottesGunst immer sicher sein!« Damit drückte sie mit demBlut des Drachen ein Zeichen auf seinen Rücken undkehrte zu ihrem Vater zurück.Als der Padischah sah, dass seine Tochter in den

Palast zurückkehrte, da dachte er, sie sei geflohen,und er rief: »Meine Tochter, warum bist du von dortgeflohen? Weißt du denn nicht, dass meine Herrschaftan einem Krug Wasser hängt? Wenn das Volk merkt,dass du zurückgekommen bist, wird es mich umbrin-gen!« Die Prinzessin hörte sich ruhig an, was ihr Vatersagte. Dann erklärte sie in ruhigem Ton: »Mein Vater,ich bin nicht geflohen. Dort an der Quelle hielt sichein Held auf. Er hat den Drachen getötet und michbefreit. Wenn du es nicht glaubst, so geh zur Quellehin und du wirst dort den toten Drachen vorfinden!«Der Padischah begab sich sofort zur Quelle und

fand dort tatsächlich den toten Drachen vor. Dieserwar selbst tot noch so Furcht einflößend, dass es nie-mand wagte, sich ihm zu nähern. Der Padischah kehr-te in seinen Palast zurück und sprach zu seiner Toch-

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ter: »Wenn du jenen Helden sehen würdest, würdestdu ihn erkennen?« Da sprach das Mädchen: »Ich habeein Zeichen auf seinen Rücken aufgetragen; wenn ichihn sehe, erkenne ich ihn sofort.« Sofort ließ der Pa-dischah ausrufen, dass alle Männer im Alter von sie-ben bis siebzig Jahren am Palast vorbeiziehen sollen,damit man unter ihnen den Prinzen erkenne.Lassen wir den Padischah und seine Ausrufer im

Palast und kehren wir zu unserem Prinzen zurück.Nachdem er den Drachen getötet und die Prinzessinvor einem schlimmen Schicksal bewahrt hatte, kehrteer in das Haus der alten Frau zurück und ruhte sichaus. Kurz darauf kam die Alte nach Hause und rief:»Mein Sohn, heute hat unser Padischah befohlen, dassjedermann im Alter zwischen sieben und siebzig Jah-ren an seinem Palast vorbeiziehen solle. Wozu sitzt dunoch hier, mach dich auf zum Palast!« Der Prinz ge-horchte, ging zum Palast und reihte sich dort in dieSchlange der Vorbeiziehenden ein. Die meisten Män-ner waren bereits am Palast vorbeigezogen, so dassder Prinz als einer der Letzten unter den Augen desPadischahs und seiner Tochter vorbeiging. Die Prin-zessin erkannte ihn sofort an dem Zeichen auf seinemRücken, und so warf sie ihm ein besticktes Taschen-tuch zu Füßen. Sofort wussten die Wachtposten, dassder Richtige gefunden worden war. Sie geleiteten denPrinzen geschwind in den Palast und vor den Padi-schah. Als der Padischah diesen Jüngling sah, der fastnoch ein Kind war, wollte er kaum glauben, dass erden Drachen getötet habe. Deshalb fragte er nur vor-sichtig: »Mein Sohn, hast du den Drachen getötet?« Daantwortete er: »Jawohl, mein Padischah. Ich habe ihnmit einem Pfeil und einem Schwerthieb getötet.« Doch

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der Padischah zweifelte noch und suchte nach demZeichen, das seine Tochter angebracht hatte. Da tratdie Prinzessin hervor, zeigte ihrem Vater den Rückendes Prinzen und legte ihre Hand auf den Blutabdruck.Da erkannte der Padischah, dass dieser Jüngling derRichtige war, und alle seine Zweifel waren verflogen.Er rief voller Freude: »Mein Sohn, erbitte von mir, wasimmer du nur wünschst, ich will es dir nach Kräftengewähren!« Der Prinz antwortete: »Mein Herr, ich er-bitte nur Eure Gesundheit!« Der Padischah aber erwi-derte: »Mein Sohn, meine Gesundheit hat mir diesesAlter beschert. Für dich aber hat sie keinen Nutzen.Nun nenne mir deinen Wunsch, denn noch niemals istes vorgekommen, dass das Angebot eines Padischahsausgeschlagen wurde!« Da sprach der Prinz: »MeinPadischah, gebt mir zehn Tage, damit ich nachdenkenkann, und dann will ich Euch antworten.« Der Padi-schah gewährte ihm die erbetene Frist und entließ ihnaus dem Palast.Unser Prinz kehrte in das Haus der alten Frau zu-

rück. Die Tage vergingen und dem Prinzen wollte sogar nichts einfallen, was er sich vom Padischah wün-schen könnte. Eines Tages übermannte ihn die Lange-weile so sehr, dass er Pfeil und Bogen nahm und ausder Stadt in Richtung der Berge ging. Da es Sommerwar, wurde der Prinz schnell müde. Er ließ sich untereinen großen Baum fallen und schlief in dessen Schat-ten sofort ein. Dieser Baum aber war ein besondererBaum, denn in seiner Krone befand sich das Nest desSmaragdphönix und dessen Jungen. Und mit diesenhatte es folgende Bewandtnis: Jedes Jahr wartete eineriesige Schlange einen günstigen Zeitpunkt ab, zudem der Phönix nach Nahrung suchte, schlängelte

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sich am Baum hoch und fraß die Jungen auf. Bevor derPhönix zu seinen Jungen zurückkehrte, machte sichdie Schlange wieder davon. Unser Prinz hatte sich nungerade an einem solchen Tag unter den Baum gelegt.Während er friedlich schlief, wand sich die Schlangeauf der anderen Seite durch das Gras und kletterte amBaum empor zum Nest, wo die Jungen vor Angst undEntsetzen anfingen zu schreien. Der Prinz erwachtedurch das Schreien der Jungen und sah, dass sich einegewaltige Schlange um den Baum gewunden hatteund dass der Kopf sich über ein Vogelnest beugte.Sofort sprang der Prinz auf und spannte seinen Bogen.Mit einem einzelnen Pfeil nagelte er den Kopf derSchlange an den Baum fest, so dass der Rest des Kör-pers leblos in der Luft hing. Da legte sich der Prinzwieder unter den Baum, um seinen unterbrochenenSchlaf fortzusetzen.Nach einiger Zeit war vom Himmel her ein Getöse

zu hören und kurz darauf war der Smaragdphönix zusehen mit Flügeln so groß, dass sie die Sonne verdeck-ten. Als der Phönix den schlafenden Jüngling unterdem Baum erblickte, nahm er an, endlich den Bösengefunden zu haben, der ihm jedes Jahr seine Jungenraubte, und rief: »Wehe, dies ist wohl der Räuber mei-ner Jungen!« Mit diesenWorten schoss der Phönix wieein Pfeil auf den Prinzen herab in der Absicht, ihn zutöten. Doch die Jungen im Nest riefen ihrer Mutter zu:»Mutter, der Jüngling, der dort liegt, ist unser Retter,denn sieh, was hier am Baum hängt!« Der Phönixblickte auf den Baum und sah dort die tote Schlange,wie sie vom Baum herunterbaumelte. Da verlangsam-te er seinen Flug und kam ganz geräuschlos auf demBoden an. Als er sich leise dem Prinzen näherte, merk-

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te er, dass dieser mittlerweile in der Sonne lag, und sobreitete der Phönix seinen Flügel wie ein Zelt überdem Prinzen aus, spendete ihm Schatten und fächerteihm Luft zu.Nach einiger Zeit erwachte der Prinz und dachte, es

sei bereits Nacht geworden, so dunkel war es um ihnherum. Da erschrak der Prinz und sprach zu sich:»Wehe, es ist tiefe Nacht; ich sollte mich auf denRückweg machen, denn hier gibt es vielleicht wildeTiere.« Er schickte sich an loszugehen, als er merkte,dass über ihm eine Art Zelt war. Und wie er um sichblickte, zog der Phönix langsam seinen Flügel zurück.Da sah der Prinz, dass es noch Tag war und dass eingroßer Vogel vor ihm stand und ihn anblickte. Nunbegann der Vogel zu sprechen und sagte: »Mein Held,du hast meine Jungen gerettet und meinen schlimms-ten Feind besiegt. Erbitte nun von mir, was auch im-mer du wünschst!« Der Prinz antwortete: »O du erha-bener Vogel! Ich erbitte von dir, dass du mich zurückauf die Erde bringst.« Der Phönix erwiderte: »MeinJüngling, das ist ein recht schwieriges Unterfangen.Aber du hast dein eigenes Leben für meine Jungenaufs Spiel gesetzt. Deshalb werde ich auch mein Lebenfür dich einsetzen. Jedoch verlange ich von dir vierzigSchafe und vierzig Schläuche Wein als Wegzehrung.Dies alles bringe mir. Und wenn ich unterwegs ›gak‹sage, gib mir Fleisch, sage ich ›guk‹, will ich Wein.Wenn du das alles beherzigst, will ich dich auf dieErdoberfläche zurückbringen!«Da begab sich der Prinz zum Padischah und sagte:

»Mein Herr, ich verlange von Euch vierzig Schafe undvierzig SchläucheWein.« Der Padischahwunderte sichzwar über den Wunsch des Jünglings, dachte dann

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aber bei sich, dass der Prinz wohl ein genügsamerMensch sei, und gab sich zufrieden. Der Prinz ließ dieSchafe schlachten und säubern, lud sie zusammen mitden Weinschläuchen auf einen Wagen und brachtealles zum Smaragdphönix. Das Fleisch und den Weinverstaute er auf den Flügeln des Phönix und setzte sichselbst in die Mitte. Der Vogel erhob sich sogleich in dieLüfte und flog und flog immer höher. Immer wenn er»gak« sagte, warf der Prinz ihm ein Stück Fleisch inden Schnabel, wenn er »guk« sagte, gab er ihm Weinzu trinken. So flogen sie mehrere Tage dahin. EinesTages aber bemerkte der Prinz, dass sich der Proviantdes Phönix dem Ende zuneigte. Und als das letzteStück Fleisch verzehrt und der letzte Schluck Weingetrunkenwar, verfiel der Prinz in Unruhe, dennwennder Phönix nichts mehr zu essen bekam, konnte ernicht mehr weiterfliegen, und die Hoffnungen desPrinzen, in seine Heimat zurückzukehren, wären da-hin. Er überlegte, was zu tun sei, doch es fiel ihmnichtsein. Und als der Vogel wieder »gak« sagte, war ervoller Verzweiflung. Als der Vogel nochmals »gak«sagte und der Prinz sah, dass die Kräfte des Vogelsschon nachließen, schnitt er sich kurzerhand ein StückFleisch von seinem Schenkel ab und gab es dem Phö-nix zu essen. Dieser merkte aber, dass es Menschen-fleisch war, und bewahrte es in seinem Mund auf. Mitseinen letzten Kräften schoss der Phönix noch einmalin die Höhe und kam endlich im Brunnen an, durchden der Prinz gefallen war. Da sprach der Phönix zumPrinzen: »Nun, mein Jüngling, wir sind auf der Erdeangelangt. Jetzt verweile hier nicht länger, sonderngehe schnell in deine Heimat zurück!« Der Prinz aberkonnte sich wegen seines Schenkels nicht von der

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Stelle bewegen und sprach zum Phönix: »Geh nur duzuerst, dann werde ich auch gehen!«, denn er wolltedem Vogel nicht zeigen, dass er das Fleisch aus sei-nem eigenen Bein herausgeschnitten hatte. Der Phö-nix aber nahm das Fleisch aus seinem Mund hervorund legte es auf die offene Stelle am Bein des Prinzenund siehe da! das Bein war wieder so hergestellt, alssei es niemals versehrt gewesen. Der Phönix war näm-lich ein heiliger Vogel, der über große Heilkräfte ver-fügte.So stand der Prinz auf, sagte dem Phönix Lebewohl

und machte sich auf den Weg in seine Heimat. Als erin seiner Heimatstadt ankam, ging er nicht sofort inden Palast seines Vaters, sondern suchte zuerst einenFleischerladen auf, in dem er eine Haut kaufte und siesich auf den Kopf streifte, um wie ein Kahlkopf aus-zusehen. Dann ging er weiter und begegnete einemHirten und tauschte seine Kleider gegen die des Hir-ten ein. So bekleidet begab sich der Prinz zum Ober-gärtner seines Vaters und ersuchte ihn um eine An-stellung im Garten des Padischahs. Der Obergärtnerbetrachtete sich den Burschen und antwortete: »Gehhinfort, du Kahlkopf! Ich habe keine Verwendung fürdich. Mit deinem kahlen Kopf und deinen zerschlisse-nen Kleidern bist du wahrlich keine Zierde für diesenGarten«, und er wollte den Prinzen schon fortjagen.Doch dieser bat und bettelte so lange, bis der Gärtnerschließlich nachgab, nur um seine liebe Ruhe zu ha-ben. So wurde der Prinz im Garten seines Vaters alsGehilfe eingestellt und musste Dünger austragen undallerlei andere schwere Arbeit leisten.Eines Tages trat der Obergärtner mit einem Strauß

Rosen in der Hand vor den Prinzen und sprach: »Ich

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gehe jetzt fort. Gib du in der Zwischenzeit gut auf denGarten acht, dass mir den Blüten und Trieben keinSchaden entsteht!« Nachdem der Gärtner sich entfernthatte, nahm unser Prinz die Haare hervor, die ihm dasMädchen im Brunnen gegeben hatte, und rieb sie anei-nander. Sofort erschien ein Neger mit Lippen so groß,dass die eine den Himmel berührte und die andere dieErde, und rief: »Befiehl, mein Prinz!« Der Prinz sagte:»Bringemir ein rotes Ross und einen rotenAnzug samtWaffen!« Der Neger entfernte sich und kehrte binnenSekunden mit den Sachen zurück. Der Prinz legteden Anzug an, rüstete sich mit den Waffen und saßauf. Dann ritt er im Garten umher und hieb so langeauf alle Bäume und Blüten ein, bis alle Pflanzen kleingehauen auf dem Boden verstreut lagen. Nun verwan-delte sich der Prinz wieder in den Kahlkopf und nahmseinen gewohnten Posten ein. Als der Gärtner zurück-kehrte und sah, dass der Garten dem Erdboden gleich-gemacht worden war und dass sein Gehilfe in einerEcke saß und weinte, da wurde er so wütend, dass ereinen Stock packte und damit auf den Prinzen ein-schlagen wollte. Doch zum Glück des Kahlkopfes hat-ten die drei Prinzessinnen das Geschehen von ihremFenster aus beobachtet und riefen: »O Gärtner, lass nurvon diesem Jungen! Es kam ein Reiter auf einem rotenRoss und dieser hat deine Blumen niedergemäht!« DerGärtner musste den Worten der Prinzessinnen Glau-ben schenken und den Kahlkopf verschonen. Dannmachte er sich daran, den Garten wiederherzustellen.Und binnen kurzer Zeit war es ihm und seinenHelferngelungen, den Garten wieder in seiner alten Prachtund Schönheit erstrahlen zu lassen.Nachdem eine geraume Zeit vergangen war, nahm

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der Gärtner wieder einen Strauß Rosen und ermahnteden Prinzen, nur gut auf den Garten aufzupassen.Doch sobald der Gärtner gegangen war, verwüstete erwie beim ersten Mal den Garten und schlug alles kurzund klein. Dann kauerte er sich in seine Ecke undwartete auf den Gärtner. Der Arme war wie vom Blitzgetroffen und in seiner Wut wollte er wieder auf denKahlkopf losgehen, als die Prinzessinnen ihm Einhaltgeboten. Sie erklärten dem Gärtner auch dieses Mal,wer die Verwüstung angerichtet hatte. Dieser fügtesich und begann mit der Pflege seines Gartens.Eines Tages hatte der Gärtner wieder einen Strauß

Rosen in der Hand und erklärte dem Kahlkopf, dasser den Garten wie seinen Augapfel hüten solle. Dochunser Prinz verlor keine Zeit und zerstörte den Gartenvollends, sobald sich der Gärtner entfernt hatte. Undals dieser zurückkehrte, verlor er fast die Besinnung,da der Garten nunmehr einer Wüste glich. Jetzt halfenauch die Beteuerungen der Prinzessinnen nichts mehr:Der Gärtner geriet derart außer sich, dass er demKahl-kopf eine gehörige Tracht Prügel erteilte und ihn fürimmer aus dem Garten fortjagte.Unser Prinz entfernte sich vom Palastgarten und

schritt durch die Straßen der Stadt. Da erblickte er denLaden eines Goldschmiedes und trat hinein. Den Be-sitzer bat er: »Meister, willst du mich als Gehilfen beidir aufnehmen?« Dieser aber antwortete: »Fort vonhier, du kahlköpfiger Bursche! Das Goldschmiede-handwerk ist eine feine Kunst, was sollte ich da miteinem Kerl wie dir anfangen?« Doch unser Prinz ließsich abermals nicht beirren und redete so lange aufden Goldschmied ein, bis dieser nachgab und ihn alsGehilfen bei sich einstellte.

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Lassen wir unseren Prinzen nun dem Goldschmiedals Gehilfe dienen und wenden wir uns den drei Prin-zessinnen zu. Nachdem die beiden Brüder des Prinzendie Mädchen in den Palast gebracht hatten, begannman unverzüglich mit den Hochzeitsvorbereitungen.Die Mädchen aber einigten sich darauf, dass sie ver-suchen würden, die bevorstehende Hochzeit so langewie möglich hinauszuzögern. Darum fanden sie anjedem Gewand, das noch so kunstvoll bestickt war,und an jedem Schmuck einen Makel und wiesen alleszurück, was ihnen dargeboten wurde. Doch zu derZeit, als unser Prinz den Garten zerstörte, hatte derPadischah gerade den Befehl gegeben, dass die Hoch-zeit nun endlich stattfinden würde. Die drei Mädchenhatten den Prinzen von ihrem Fenster aus erkannt undwussten nun, dass er auf die Erde zurückgekehrt war.Und als sie den Befehl des Padischahs hörten, sannensie auf eine weitere Möglichkeit, noch ein wenig Zeitzu gewinnen. Sie einigten sich darauf, dass jede vonihnen eine letzte Bedingung stellen wollte, bevor sievermählt wurde. So traten sie gemeinsam vor denPadischah und nannten ihm eine nach der anderenihre Aufgaben. Die Erste sagte: »Bringt mir einen Stick-rahmen und eine Nadel aus Gold. Diese sollen so be-schaffen sein, dass sie von selbst sticken können.« Da-raufhin die Zweite: »Mir beschafft ein goldenes Tab-lett, auf dem eine goldene Henne und vierzig goldeneKüken goldene Gerstenkörner picken.« Schließlich dieDritte: »Meine Bedingung ist eine goldene Platte, aufdem ein goldener Windhund einen goldenen Hasenjagt.« Alle drei riefen sie: »Wenn Ihr uns diese Ge-genstände nicht beschafft, so werden wir nicht in dieHochzeit einwilligen!« Dem Padischah blieb nichts

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anderes übrig, als auf die Wünsche der Prinzessinneneinzugehen. Er ließ die Goldschmiede rufen und be-fahl ihnen, binnen vierzig Tagen die gewünschten Ge-genstände herzustellen. Wenn es ihnen nicht gelänge,die Frist einzuhalten, so würden sie alle dem Henkerübergeben.Nachdem die Goldschmiede den Befehl des Padi-

schahs vernommen hatten, gingen sie eine Weile mitgesenktem Kopf daher, denn sie wussten nicht, wiesie diese goldenen Zaubergegenstände herstellen soll-ten. Da beschlossen sie, sich in dem Geschäft, in demunser Prinz als Gehilfe diente, zusammenzusetzenund zu beraten. Als unser Kahlkopf die Unruhe unddie aufgeregten Gemüter der Gäste bemerkte, fragteer seinen Meister, was denn der Grund für diese Auf-regung sei. Der Meister aber antwortete: »Scher dichweg, kahlköpfiger Bursche! Was verstehst du schonvon solchen Dingen!« Doch der Prinz kam ein wenignäher an seinen Meister heran und fragte erneut:»Aber Meister, lieber Meister! Was ist es, das dich sobedrückt? Kein Leid kann gelindert werden, wenn esunausgesprochen bleibt, und kein Weg gefunden,wenn nicht danach gefragt wird. Du bist ein weiserMann, doch auch ich bin ein Geschöpf Gottes undbiete dir meine Hilfe an.« Dem Meister gefielen dieseklugen Worte des Kahlköpfigen, und so erzählte erihm, was für eine Aufgabe ihm und den anderenGoldschmieden gestellt worden war. Nachdem unserPrinz alles gehört hatte, kratzte er sich an seinemkahlen Kopf und sprach mit einem Lächeln: »MeinMeister, ich dachte, es sei etwas ganz Unerfüllbares,und deshalb fragte ich. Nun aber gräme dich nichtlänger, denn ich werde dir helfen. Bringe mir vom

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Markt Nüsse, Rosinen und Wachskerzen für vierzigTage. Ich will die Zaubergegenstände innerhalb dieserZeit herstellen und vor Ablauf der Frist übergeben.Du aber sei in der Zwischenzeit ganz beruhigt undvertrau auf mich.« Der Meister aber dachte bei sich:»Dieser Kahlkopf ist doch ein komischer Kerl undversteht sich darauf, einem das Gemüt zu erheitern. Inmeiner schlimmsten Stunde hat er es doch tatsächlichfertiggebracht, mich zu unterhalten. Dabei steht ihmnur der Sinn nach Nüssen und Rosinen. Meine letzteStunde wird ohnehin bald schlagen, so kann ich we-nigstens ihm seinenWunsch erfüllen.« Damit begab ersich auf den Markt und kaufte seinem Gehilfen, waser verlangt hatte.Nachdem unser Prinz nun die Nüsse, die Rosinen

und die Kerzen erhalten hatte, schloss er sich desNachts in den Laden ein und verzehrte vierzig Tagelang im Schein der Wachskerzen die Nüsse und dieRosinen und ließ es sich gut gehen. In der vierzigstenNacht aber nahm er wieder die Haare hervor, die ihmdas Mädchen im Brunnen gegeben hatte, und rieb sieaneinander. Als der Neger erschien und nach seinemBegehren fragte, verlangte der Prinz die goldenen Zau-bergegenstände. Der Neger verschwand und kehrte soschnell mit den Zauberdingen zurück, dass der Prinzgerade ein paar Nüsse und Rosinen verzehren konnte.Er verstaute die Gegenstände im Schrank und legtesich schlafen.Am nächsten Morgen öffnete unser Prinz wieder

das Geschäft und sah, dass sich sein Meister und des-sen Goldschmiedefreunde dorthin begaben. Alle hat-ten sie während der vierzig Tage ihre Angelegenheitengeregelt, ihre Schulden beglichen, ihren Sklaven die

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Freiheit geschenkt und sogar ihr Grab ausheben las-sen. Denn sie waren ja alle noch im Glauben, dass diesder Tag ihrer Hinrichtung sein würde. Ohne jeglicheHoffnung gingen sie in den Laden und setzten sich. Daentsann sich der Meister der Worte unseres Prinzenund, um sich und seine Freunde ein wenig aufzuhei-tern, fragte er den Kahlkopf: »Nun, mein Junge, es sindnun vierzig Tage vergangen, und bald werden die Sol-daten des Padischahs hier erscheinen. So zeige mirnun, was du fertiggebracht hast. Wo sind die Zauber-gegenstände?« Der Prinz antwortete: »Mein Meister,du hast dich umsonst gesorgt. Dort in dem Schrankbefindet sich alles, was die drei Prinzessinnen for-dern.« DerMeister war sehr belustigt über die Antwortdes Kahlkopfes, ging aber dennoch zum Schrank undöffnete ihn – und was sah er da? Vor ihm standen alledie Dinge, die er und seine Freunde anfertigen sollten!Da war die Freude groß, und der Meister lief zumKahlkopf und umarmte ihn. Dann aber begaben siesich sofort in den Palast und legten die ZauberdingedemPadischah zu Füßen. Dieser ließ die dreiMädchenrufen, und als sie sahen, dass man ihre Aufgaben ge-löst hatte, waren sie gewiss, dass der Prinz wieder aufder Erdoberfläche war. Sie dankten dem Herrn undwarteten nun ab.Lassen wir die drei Mädchen im Palast und kehren

wir zu unserem verkleideten Prinzen zurück. Dieserwartete im Laden auf seinenMeister und sah, wie jenersich dem Laden näherte. Kaum war er durch die Türgetreten, so stand unser Prinz auf und sprach: »MeinMeister, ich habe meine Pflicht getan und das Werk istvollendet. Nun gib mir die Erlaubnis zu gehen, dennmeine Zeit hier ist beendet.« Sein Meister wollte ihn

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nicht gehen lassen, aber sosehr er auch versuchte, denKahlen von seinem Entschluss abzubringen: Es halfkein Bitten, und kein Versprechen war so reizvoll, dasses den Prinzen hätte halten können. So entließ ihn derMeister schweren Herzens, und unser Prinz ging wie-der seiner Wege.Er ging einige Zeit in der Stadt umher und entdeckte

eine Schneiderwerkstatt. Er betrat das Geschäft undfragte den Schneider: »Meister, willst du mich als Ge-hilfen bei dir einstellen?« Der Schneidermeister sagte:»Ich brauche zwar keinen Lehrling, aber du siehst mirnach einem wackeren Burschen aus und fürs Wasser-holen und Kehren taugst duwohl allemal!«, und nahmden kahlen Prinzen bei sich auf.Lassen wir den Prinzen in der Schneiderwerkstatt

und sehen, wie es den drei Mädchen im Palast ergan-gen ist. Der Padischah rief die drei wieder zu sichundsprach: »MeinePrinzessinnen,EureWünschewur-den erfüllt. Jetzt ist es Zeit, die Hochzeit zu feiern.Habt Ihr noch etwas zu sagen?« Die Mädchen hattensich aber insgeheim schon auf eine neue Aufgabe ge-einigt, und so antworteten sie: »Gnädiger Padischah,wir haben folgende weitere Bedingung: Die Gewän-der, die für uns genäht wurden, gefallen uns allesamtnicht. Wir wollen für eine jede von uns ein Gewand,das weder mit einer Schere zugeschnitten noch miteiner Nadel genäht wurde, das aber in eine Nussschalehineinpasst. Wenn Ihr uns dreien ein solches Gewandmachen lasst, möge die Hochzeit beginnen.« Dem Pa-dischah blieb, da den Wünschen der Prinzessinnenentsprochen werden musste, nichts anderes übrig, alsdie besten Schneider der Stadt zu rufen und von ihnensolche Gewänder zu fordern, wie sie die Prinzessin-

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nen beschrieben hatten. Auch ihnen gewährte er eineFrist von vierzig Tagen, und sollten sie dann die Ge-wänder nicht liefern können, so seien sie des Todes.Damit entließ er sie, auf dass sie sich an die Arbeitmachten.Die armen Schneider dachten verzweifelt nach und

wussten so gar nicht, wie sie dies bewerkstelligen soll-ten. Sie trafen sich alle in dem Laden, in dem unserkahler Prinz arbeitete, machten sich eifrig über dieStoffe her, maßen hier aus und dort aus, aber es wolltekeinem so recht einfallen, wie man solche Gewändernähen sollte. Nachdem die Gäste den Laden verlassenhatten, fragte der Prinz den Meister nach dem Grundder Aufregung. Dem Meister stand nicht der Sinn da-nach, mit dem Kahlkopf zu plaudern, und er wollteihn fortjagen. Unser Prinz aber redete auf ihn ein, undda dieser ohnehin sein Ende kommen sah, berichtete erseinem Gehilfen, was ihm im Palast mitgeteilt wordenwar. Nachdem unser Prinz vernommen hatte, was füreineAufgabe die dreiMädchen diesmal gestellt hatten,sprach er: »Mein Meister, sei wieder vergnügt, dennich werde dir dazu verhelfen, die Gewänder herzustel-len. Besorge du mir nur Nüsse, Rosinen und Wachs-kerzen für vierzig Tage und ich will dir am vierzigstenTag die Gewänder geben.« Der Schneider dachte beisich, dass es seinem Gehilfen nach Nüssen und Rosi-nen verlangte, und da seinem eigenen Leben bald einEnde gesetzt werden würde, wollte er wenigstens demBurschen seinen Wunsch erfüllen.Unser Prinz nahm die Dinge, die der Schneider ihm

brachte, und schloss sich in ein Zimmer ein. Dort ver-brachte er vierzig Tage im Schein der Kerzen und ließes sich mit den Nüssen und den Rosinen gut gehen.

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Als nun die vierzigste Nacht anbrach, nahm er wiederdie Haare hervor und rieb sie aneinander. Wie dievorigen Male erschien auch jetzt der Neger und fragteihn nach seinem Wunsch. Der Prinz nannte ihm dieneue Aufgabe, und kaum waren ein paar Sekundenvergangen, da lagen die erwähnten Gewänder vorihm. Unser Prinz nahm sie und legte sie in einenSchrank. Dann legte er sich ruhig schlafen.Am nächsten Morgen strömten alle Schneider in

den Laden und wähnten sich dem Tode nahe. DerMeister wollte für etwas Belustigung sorgen, trat zumkahlköpfigen Prinzen und rief: »Nun, mein Junge?Was hast du in den vierzig Tagen getrieben? Hast dudie Gewänder, die die Prinzessinnen verlangen?« Daantwortete unser Prinz: »Jawohl, mein Meister, diehabe ich. Sie liegen dort im Schrank.« Der Meisterging schmunzelnd zum Schrank – doch was sah er, alser ihn öffnete? Dort lagen drei Gewänder, die wedervon einer Schere zugeschnitten waren noch von einerNadel genäht. Zudem passten sie in eine Nussschale,so fein waren die Stoffe! Sogleich nahmen sie dieGewänder und brachten sie in den Palast, um sie demPadischah zu übergeben.Der Padischah nahm die Kleider in Empfang und

befahl sogleich, dass die Hochzeit nun stattfinden sol-le. Und da die Vorbereitungen bereits seit Monaten imGange waren, entstand sogleich ein reges Treiben imPalast, so dass alsbald die Feierlichkeiten begannenund das Festmahl gereicht wurde.Aus Anlass der Hochzeit ließ der Padischah das

Dschirit-Spiel veranstalten, an dem alle Söhne der ed-len Herren teilnahmen. Zu solchen Turnieren durftensich alle Einwohner der Stadt vor dem Palast versam-

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meln und zuschauen. Darum rief der Schneider seinenGehilfen zu sich und sagte: »Mein Sohn, wir wollenzusammen zum Palast gehen. Dort wird heute derälteste Sohn unseres Padischahs im Turnier kämpfen.Wir wollen es uns ansehen.« Doch der Kahlkopf ant-wortete: »Mein Meister, geh du allein. Mein Kopf istkahl. Was, wenn ich in der Menschenmenge von etwasgeschlagen werde?« Der Meister wollte den Jungenberuhigen und ihn unbedingt mitnehmen, doch unserPrinz ließ sich nicht dazu überreden und blieb imLaden.Nachdem der Meister den Laden verlassen hatte,

nahm der Prinz sogleich die Haare hervor und rieb sieaneinander. Sofort erschien der Neger und nahm seineBefehle entgegen. Der Prinz sprach: »Ich will von direin rotes Ross und eine vollständige Rüstung undWaffen haben.« Kaum hatte der Prinz seinen Wunschausgesprochen, da hatte der Neger bereits alles her-beigeschafft. Unser Prinz nahm nun die Haut vonseinem Kopf ab, legte die Rüstung an, nahm die Spee-re an sich, schwang sich auf das Pferd und ritt zumPalast. Auf dem Platz vor dem Palast war das Turnierbereits im Gange und so schoss unser Prinz mitten aufden Platz und beteiligte sich am Spiel. Er spielte solange mit und ritt so lange hin und her, bis er einegünstige Gelegenheit fand und seinen ältesten Bruderam Arm verletzte. Als dieser zu Boden stürzte, verließunser Prinz den Platz und begab sich schnell in denSchneiderladen. Dort nahm er wieder die Gestalt desKahlen an und wartete auf seinen Meister. Diesererschien kurz darauf und erzählte aufgeregt, was sichzugetragen hatte. Da sprach unser Prinz: »Es ist gut,mein Meister, dass ich nicht mitgekommen bin. Wer

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weiß, was mir zugestoßen wäre.« Und damit ging erweiter seiner Arbeit nach.Am Tag darauf wollte der Meister seinen kahlen

Burschen wieder mit zum Palast nehmen, denn nunwürde sich der mittlere Sohn des Padischahs im Tur-nier messen. Doch auch dieses Mal blieb der Junge imLaden zurück. Sobald der Meister aber fortgegangenwar, rief er mit den Haaren den Neger und verlangteein neues Ross und neue Waffen. Dann ritt er zumTurnierplatz und mischte sich wieder unerkannt insSpiel. Nachdem er zahlreiche Mitstreiter besiegt hatte,gelang es ihm in einem günstigen Augenblick, seinenmittleren Bruder am Bein zu verletzen und vom Pferdzu stürzen. Dann gab er seinem Ross die Sporen undritt schnurstracks zum Laden zurück. Bald schon kamder Meister und berichtete dem kahlen Burschen, wassich vor dem Palast zugetragen hatte. Da dankte derKahlkopf Gott, dass er nicht zum Palast gegangenwar.Am folgenden Tag war die Reihe am Sohn des We-

sirs, sich im Kampf zu beweisen. Der Meister wolltesich auch dieses Schauspiel nicht entgehen lassen undbegab sich wieder zum Palast. Sofort trug unser Prinzdem Neger auf, er möge ihm ein weiteres Ross undeine weitere Rüstung besorgen. Sogleich war alles her-beigeschafft. Wieder kleidete sich unser Prinz an undritt zum Palast, um an den Spielen teilzunehmen.Nachdem das Spiel einige Zeit im Gange war, heftetesich der Prinz an die Fersen des Sohns des Wesirs undwarf seinen Speer nach ihm, so dass jener von ihmdurchbohrt wurde und er tot umfiel. Diesmal aberblieb der Prinz auf dem Platz und ritt auf seinem Pferdumher. Doch schon bald ergriffen die Soldaten den

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Jüngling und brachten ihn vor den Padischah. Dieserwar bereits wegen der Verletzung seiner beiden Söhneaußer sich vor Wut und verurteilte den Prinzen sofortzum Tode. Er sollte an Ort und Stelle hingerichtetwerden. Da wurde der Prinz zu Boden geworfen undschon war der Henker bereit, ihm den Kopf abzuschla-gen, als der Prinz das Wort an den Padischah richteteund sagte: »Mein mächtiger Padischah! Meine beidenBrüder hier haben mich in den Brunnen zurückgewor-fen. Doch Gott hat sich meiner erbarmt und ich binnicht umgekommen und bin nach zahlreichen Aben-teuern hierhergekommen. Ich hätte auch heute wegrei-ten können, doch ich wollte die Dinge im Guten klärenund bin geblieben. Meine Brüder haben es nicht ver-mocht, mich umzubringen, werdet Ihr es jetzt tun?«Da trat der Padischah näher an den Prinzen und er-kannte endlich seinen jüngsten Sohn. »Wehe, meinSohn!«, rief er und weinte. »Mein Sohn, ich habe dichtot geglaubt und nun stehst du vor mir!« Da half erseinem Sohn auf die Beine und umarmte ihn. Dannsagte der Padischah: »Mein Sohn, wie sollen wir nunvorgehen? Soll ich deine Brüder dem Henker über-geben oder soll ich sie verbannen?« Der Prinz antwor-tete: »Mein Vater, gebt jedem von ihnen einen Konakaußerhalb des Palastes und vermählt sie mit denbeiden älteren Mädchen. Sie sollen dort wohnen undüber ihre schändliche Tat nachdenken. Ich aber willdas jüngste zur Gemahlin, denn wir haben uns bereitsauf dem Grund des Brunnens verlobt.« Da befahl derPadischah von neuem, dass die Hochzeit gefeiert wer-den solle. Und nach vierzig Tagen und vierzig Nächtenzogen die beiden älteren Brüder mit ihren Gemahlin-nen in ihre Konaks. Unser Prinz aber führte die jüngste

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Prinzessin als seine Gemahlin in den Palast. So fandein glückliches Ende, was mit Schrecken begann undüber leidvolle und verworrene Wege führte.Die beiden haben das Ziel ihrer Wünsche erreicht,

und uns möge das Gleiche beschert sein!

Der Dew in Rossgestalt

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es wareinmal ein Padischah, der hatte drei Töchter.

Eines Tages wollte der Padischah eine Reise unter-nehmen und rief seine Töchter zu sich. »Meine Töch-ter«, sprach er zu ihnen, »während meiner Abwesen-heit werdet ihr für mein Ross sorgen und ihm Futterund Wasser geben.« Der Padischah liebte dieses Rossso sehr, dass er es nur dann gut versorgt wusste, wenner es in die Obhut seiner Töchter gab. Die Töchterversprachen ihm, für das Tier zu sorgen, und der Pa-dischah reiste ab.Am ersten Tag ging die älteste Tochter in den Stall

und wollte das Ross füttern. Doch das Tier scheuteund ließ sie noch nicht einmal in seine Nähe. Auch diemittlere Prinzessin vermochte es nicht, dem Pferd sein

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Futter hinzustellen. Als aber die jüngste das Futter inden Stall trug, da ließ sich das Ross geduldig von ihrfüttern und tränken. Den beiden älteren Schwesternkam dies gerade entgegen, denn nun waren sie nichtmehr an ihr Versprechen gebunden und konnten essich gut gehen lassen. Die jüngste Schwester ging nunjeden Tag in den Stall und versorgte das Ross.Als der Padischah heimkehrte, wollte er sofort wis-

sen, ob sein Ross gut versorgt war. Da berichteten diebeiden älteren Schwestern, dass das Pferd nur diejüngste zu sich gelassen habe und dass diese daraufhindie Pflege übernommen habe. Dem Padischah gefieldies, und er sprach zu seiner jüngsten Tochter: »MeinKind, wenn du das Ross so gut versorgt hast, so sollstdu seine Frau werden.« Die beiden älteren Schwesternaber wollte er mit dem Sohn des Wesirs und dem desobersten Gottesgelehrten vermählen. Die jüngste Prin-zessin zog, nachdem alle Hochzeitsfeierlichkeiten ab-geschlossen waren, zu ihrem Pferdegemahl in denStall. Doch was sollte sie da sehen, als sie in den Stalleintrat: Vom Ross war weit und breit keine Spur undstattdessen stand da ein schöner Jüngling von edlerGestalt! Mit dem Rossjüngling verhielt es sich nämlichso: Er war der Sohn einer Dew-Frau und hatte tagsüberdie Gestalt eines Pferdes. Des Nachts aber legte er diePferdehaut ab und nahm seine übliche Gestalt an. Alsdie Prinzessin dies erfuhr, da war sie sehr glücklichüber ihre Vermählung, und die beiden verlebten jedeNacht in Freude und Glück. Am Tage aber verwan-delte sich der Jüngling wieder in ein Ross.Eines Tages richtete der Padischah ein Dschirit-

Turnier aus und lud viele junge Prinzen dazu ein.Auch die Gatten seiner beiden älteren Töchter nahmen

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an dem Spiel teil, und es gab wahrlich keine besserenKämpfer als sie. Die beiden Schwestern wollten diejüngste ein wenig necken und sagten: »Siehst du, wieunsere Gatten kämpfen und die Speere werfen? Woaber ist denn dein Ross?« Diese war verärgert überdiesen Scherz und lief weinend in den Stall. Als dasRoss vernahm, was die beiden Schwestern gesagt hat-ten, da verwandelte es sich in den Jüngling und er-mahnte seine Frau, sein Geheimnis ja niemandem zuverraten, sonst würde sie ihn verlieren und nie wieder-sehen. Die Prinzessin versprach es und der Jünglingeilte auf den Turnierplatz. Dort kämpfte er so helden-haft und warf die Speere so geschickt, dass er selbstseine beiden Schwager besiegte.Dies Schauspiel wiederholte sich am nächsten Tag

und der Ross-Dew übertraf alle anderen Kämpfer. Amdritten Tag aber sprach er zu seiner Gattin: »Nimmdiese drei Haare von mir und bewahre sie gut auf.Wenn ich einmal nicht bei dir bin und du in Notgerätst, so verbrenne sie, und ich werde dir zu Hilfeeilen.« Dann begab er sich wieder auf den Turnierplatzund kämpfte. Die Zuschauer bewunderten diesenfremden Helden sehr, wie er einen Gegner nach demanderen ausschaltete. Die beiden älteren Schwesternwandten sich abermals der jüngsten zu und sagten:»Schau, wie diese Helden sich auf das Speerwerfenverstehen, allen voran der Fremde. Wie aber vermagdein Gatte den Speer zu werfen?« Da wurde es derjüngsten Schwester zu viel, sie vergaß alle Versprechen,die sie ihrem Gatten gegeben hatte, und erwiderte:»Dieser fremde Held dort, den ihr bewundert, der istmein Gatte!« Doch kaum hatte sie diese Worte aus-gesprochen,daverschwanddieser vomPlatzundward

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nicht mehr gesehen. Da entsann sie sich des Verspre-chens und bereute es bitter, dass sie in ihrer Schwächeihren Gatten verraten hatte. Sie ging in den Stall in derHoffnung, dass er irgendwannwieder dort auftauchenwürde, doch vergeblich! Es kam kein Gatte und auchkein Ross.Am nächsten Morgen, nachdem sie kein Auge zu-

getan hatte, ging sie zu ihrem Vater und erklärte ihm,dass sie nun ausziehen müsse, um ihren verlorenenGatten wiederzufinden. Der Padischah versuchte al-les, um sie von diesem Vorhaben abzubringen, doch ervermochte nichts vorzubringen, was sie überzeugenkönnte. Da ließ er sie ziehen.Die Prinzessin machte sich auf den Weg und wan-

derte so lange, bis sie endlich vollkommen entkräftetam Fuße eines Berges haltmachte. Sie wusste nicht,wie sie ihren Gatten finden sollte, und wollte sichschon der Verzweiflung hingeben, als ihr die drei Haa-re einfielen, die er ihr gegeben hatte. Sofort nahm sieeines hervor und verbrannte es. Da plötzlich stand ihrGatte vor ihr und die beiden sanken sich glücklich indie Arme. Dann sprach ihr Gatte: »Meine liebe Gattin,habe ich dir nicht gesagt, dass du mich verlieren wür-dest, wenn du mein Geheimnis verrätst? Jetzt bist duauf der Suche nach mir in die Heimat meiner Muttereingedrungen, denn dieser Berg hier ist unser Haus.Wenn sie dich erblickt, wird sie dich sofort verschlin-gen!«Die Prinzessin erschrak sehr undweinte darüber,dass sie ihren Gatten nun schon wieder verlieren müs-se. Da verwandelte ihr Gatte sie in einen Apfel, den erin den Berg trug und dort auf einen Schrank legte. Alswenig später seine Mutter erschien, rief sie sofort: »Ichrieche Menschenfleisch! Du hast hier Menschenfleisch

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versteckt! Gib es mir, denn mich verlangt danach!« IhrSohn leugnete zwar, aber sie ließ sich nicht beirren. Dasprach der Sohn: »Wenn du schwörst, dass du ihm keinLeid zufügen wirst, so zeige ich dir das Menschen-kind.« Sie schwor und der Jüngling verwandelte denApfel wieder in die Prinzessin. »Dies«, sprach er, »istmeine Gattin, und ich bitte dich, gut zu ihr zu sein.« Dadie Dew-Mutter nun einmal geschworen hatte, rührtesie die Prinzessin nicht an, sann aber nach einer List,wie sie ihrer dennoch habhaft werden konnte.Als einmal der Jüngling nicht zu Hause war, da trug

die Mutter ihrer Schwiegertochter auf: »Fege und fegedoch nicht!« Die Prinzessin verstand die Aufgabenicht und wusste nicht, wie sie es anstellen sollte, zufegen und doch nicht zu fegen. Da fielen ihr wiederdie Haare ein und sie verbrannte das zweite. Ihr Gatteerschien sofort, und nachdem sie ihm gesagt hatte,was die Mutter ihr aufgetragen hatte, da sprach er:»Es bedeutet, dass du hier drinnen kehren sollst, inder Vorhalle aber nicht«, und verschwand wieder. Sieaber erledigte nun ihre Aufgabe und wartete auf dieSchwiegermutter. Diese kehrte am Abend heim undfragte sie, ob sie getan habe, was sie von ihr verlangthabe. »Ich habe gefegt und habe nicht gefegt«, erwi-derte diese. Da wusste die Dew-Mutter, dass ihr Sohnseine Hand mit im Spiel hatte, und ging wütend weg.Tags darauf gab sie der Prinzessin drei Schalen und

trug ihr auf, diese mit ihren eigenen Tränen zu füllen.Die arme Prinzessin mühte sich ab, konnte aber nichtmehr als zwei Tropfen hervorbringen. Da nahm sienun das dritte Haar und verbrannte es. Als der Jüng-ling erschien und erfuhr, welche List seine Mutterdieses Mal anwenden wollte, füllte er die Schalen mit

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Wasser und gab Salz hinzu. Als die Mutter heimkehrteund die drei Schalen randvoll mit Tränen gefüllt vor-fand, schrie und schimpfte sie vor Wut, denn auchdieses Mal hatte ihr Sohn ihr einen Strich durch dieRechnung gemacht. Aber sie nahm sich vor, es ihremSohn und seiner Gattin heimzuzahlen.Am nächsten Morgen verlangte sie von der Prinzes-

sin, sie solle eine Pastete zubereiten, die sie am Abendverspeisen wolle. Die Prinzessin ging im ganzen Hausherum und fand keine einzige Zutat, die sie benötigte.Da wusste sie sich nicht zu helfen, setzte sich in eineEcke und weinte bitterlich, denn sie hatte auch keinHaar mehr, mit dem sie ihren Gatten herbeirufenkonnte. Dieser aber ahnte, dass seine Mutter wiederetwas ausheckte, und kam nach Hause. Und wie erseine Gattin dort weinend vorfand, sprach er: »Jetztwerden wir von hier fliehen, denn meine Mutter wirdnicht eher ruhen, bis sie dich gefressen hat!« Damittraten die beiden aus dem Berg hinaus und liefen fort,so schnell sie konnten.Lassen wir die beiden nun laufen, so weit sie ihre

Füße tragen, und sehen, was die Dew-Mutter erwarte-te. Als diese am Abend heimkehrte und sah, dass diebeiden entflohen waren, rief sie sofort ihre Schwesterzu sich und verlangte von ihr, sie solle ihren Sohn unddessen Gattin zurückholen. Diese setzte sich in einenKrug, nahm eine Schlange als Peitsche und jagte denbeiden nach.Der Jüngling bemerkte bald, dass seine Tante sie

verfolgte. Er versetzte seiner Gattin einen Schlag, ver-wandelte sie in ein Badehaus, sich selbst in einen Bade-meister und setzte sich vor den Eingang. Seine Tantestieg aus ihrem Gefährt und fragte, da sie den Jüngling

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nicht erkannte, den Bademeister, ob ihm ein Jünglingund seine Gefährtin begegnet seien. Der Bademeisterantwortete: »Ich habe soeben das Bad eingeheizt, es istnoch niemand gekommen. Wenn du willst, geh hineinund sieh nach!« Die Dew-Frau sah ein, dass sie diebeiden verloren hatte, und kehrte mit leeren Händenzu ihrer Schwester zurück. Diese fragte sie, ob sie un-terwegs niemanden gefragt habe, und als die Schwes-ter den Bademeister erwähnte, da schimpfte sie ihreSchwester aus und rief: »Du Närrin, der Bademeisterwar mein Sohn und das Badehaus meine Schwieger-tochter! Du hast die beiden nicht erkannt!« Damit jagtedie Dew-Mutter diese Schwester fort und rief ihrezweite Schwester zu sich und schickte sie los, damit siedie beiden zurückholte.Unser Jüngling aber bemerkte auch bald die andere

Tante. Sofort verwandelte er seine Frau in einen Brun-nen, sich selbst in einen Bauern und begann, Wasserzu schöpfen. Da trat die Tante an ihn heran und fragteihn, ob er nicht einen Jüngling und seine Gefährtingesehen habe. Der Bauer antwortete aber: »DieserBrunnen hat gutes Wasser, drum schöpfe ich daraus.«Da dachte die Dew-Frau, dass er blöde sei, und weilsie weit und breit keine Spur von ihrem Neffen sah,kehrte auch sie unverrichteter Dinge zu ihrer Schwes-ter zurück. Diese fragte, ob sie denn niemanden nachden beiden gefragt habe. »Das habe ich«, antwortetedie Schwester, »aber es war ein Bauer an einem Brun-nen, der sich als blöde herausstellte.« – »Und du bistnoch viel blöder, denn du hast ja nicht gemerkt, dassder Bauer mein Sohn war und der Brunnen meineSchwiegertochter!« Die Dew-Frau sah endlich ein,dass sie sich selbst um die Sache kümmern musste,

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setzte sich also in einen Krug, nahm sich eine Schlangeals Peitsche und nahm die Verfolgung auf.Der Jüngling blickte wieder zurück und sah zu sei-

nem Schrecken, dass nun seine Mutter hinter ihnenher war. Da verwandelte er seine Gattin in einenBaum und sich selbst in eine große Schlange, die sichum den Baum wand. Die Mutter aber erkannte imBaum ihre Schwiegertochter und wollte den Baumschon klein hacken, als sie plötzlich sah, dass sie da-durch auch ihren Sohn töten würde, der sich um denBaum geschlungen hatte. Da rief sie ihrem Sohn zu:»Mein Sohn, überlasst mir wenigstens den kleinenFinger der Menschentochter, dann lasse ich euch ge-hen!« Der Jüngling kannte seine Mutter nur zu gutund wusste, dass sie nicht eher Ruhe geben würde, bissie nicht vom Fleisch seiner Gattin gefressen hätte. Daredete er seiner Gemahlin zu und erreichte es, dass sieaus freien Stücken ihren Finger hergeben wollte. So-bald sie der Dew-Mutter den Finger zeigten, biss sieihn ab und verschlang ihn gierig, dann trollte sie sichund wurde nicht mehr gesehen.Die beiden waren nun erleichtert über ihre Befrei-

ung. Der Jüngling verwandelte sich und seine Gemah-lin wieder zurück, und gemeinsam machten sie sichauf denWeg in die Heimat der Prinzessin. Dort erwar-tete sie der Padischah bereits ungeduldig und ließ ausFreude über ihre Rückkehr ihre Hochzeit noch einmalfeiern. Der Jüngling hatte sich von seiner Dew-Mutterlosgesagt und lebte fortan in Menschengestalt weiterglücklich mit seiner Gemahlin.Sie haben das Ziel ihrer Wünsche erreicht, und es

möge ihnen ein langes Leben zuteil werden – und unsein Sack voll Kohle!

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Kamertaj, dasMondross

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es gabeinmal einen Padischah. Der kratzte sich am Kopf

und fand eine Laus.Der Padischah wusste nicht, was das für ein Wesen

war, und zeigte es seinem Lala. Auch dieser kanntedas Tier nicht. Beide betrachteten es neugierig undfragten sich immerzu, was es wohl sei und wovon essich wohl ernähre. Der Lala meinte, es könne ein Käfersein, der sich von Menschenblut ernährt. Der Padi-schah ließ daraufhin jeden Tag ein Tier schlachten unddas Tierchen damit füttern. So lebte die Laus ein ange-nehmes Leben im Palast und wuchs durch die guteNahrung auf die Größe einer Katze heran. Da sie abernoch immer nicht wussten, was dies für ein Tier sei,ließ der Padischah die Laus schlachten und ihr Fellans Palasttor hängen, auf dass jeder es sehen könne.Wer aber errate, von welchem Tier dies das Fell sei,dem würde er seine einzige Tochter zur Frau geben.Schon bald versammelte sich viel Volk vor den Torendes Palastes. Man betrachtete das Fell von allen Seiten,doch niemand war in der Lage, den Namen des Tiereszu nennen.Es begab sich aber, dass auch ein Dew von dem Fell

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hörte. Und da er immer hungrig war und zudem seitdrei Tagen nichts gegessen hatte, dachte er sich: »Dastrifft sich sehr gut. Ich werde mir das Fell einmalansehen, und wenn ich das Tier errate, lasse ich mirdie Sultanstochter schmecken!« So ging er zum Palastund sah, dass es sich um eine Laus handelte. Dann trater vor den Padischah, sagte zu ihm: »Das Fell stammtvon einer Laus!«, und verlangte nach dessen Tochter.Da bereute es der Padischah sehr, dass er seine Tochterals Belohnung ausgesetzt hatte. Wie sollte er seineeinzige Tochter einem Dew zur Frau geben? Er ver-suchte, sie durch so viele Sklavinnen auszulösen, wieder Dew nur haben wollte. Doch dieser wollte einzigund allein die Sultanstochter und ließ nicht mit sichverhandeln! Zuletzt musste der Padischah nachgebenund seiner Tochter mitteilen, dass sie von nun an dieGemahlin eines Dews sein würde und dass sie nocham selben Tag mit ihrem Gatten ziehen müsse. Dasetzte ein lautes Jammern und Klagen ein, und diePrinzessin weinte so bitterlich, dass es der Padischahkaum ertragen konnte. Doch es half alles nichts, siemusste gehen, und so fügte sie sich in ihr Schicksalund machte sich zur Reise bereit. Der Dew indes warvorausgegangen, um auf die Prinzessin zu warten.Nun hatte der Padischah in seinem Stall ein Pferd,

dem man statt des üblichen Futters Rosenwasser,Nüsse und Rosinen gab. Man nannte es Kamertaj, dasMondross. Auf diesem Pferd wollte die Prinzessinzum Dew reiten. Sie ließ es satteln und zäumen undstieg auf. Eine Eskorte begleitete sie bis zum Fuße desBerges, in dem sich der Dew aufhielt. Als die Reitersahen, dass der Dew auf dem Berg saß, da ließen siedie Prinzessin zurück und ritten heim. Unsere Prin-

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zessin betete in ihrer Not zu Gott, damit er sie erlöse.Plötzlich fing das Mondross zu sprechen an und sagte:»Meine Herrin, fürchte dich nicht! Schließe deine Au-gen und halte dich an meiner Mähne gut fest!« Undkaum hatte sie ihre Augen geschlossen, erhob sich dasRoss mit ihr in die Lüfte, und als sie ihre Augen wie-der öffnete, sah sie, dass sie sich inmitten eines Gar-tens auf einer Insel befand. Um sie herum war nur dasweite Meer. Der Dew aber, der auf seinem Berg zu-rückgeblieben war, rief: »Du entkommst mir nicht!«,und machte sich sogleich auf die Suche.Lassen wir den Dew suchen und sehen, wie es der

Sultanstochter erging. Diese war dankbar für ihre Ret-tung und blickte sich um. Im Garten, in dem sie sichbefand, stand auch ein Palast. Die Prinzessin ginghinein und wollte sich ein wenig ausruhen. Kamertaj,das Mondross, wollte im Garten verweilen. Nun fuhrein Prinz mit seinem Lala in einem Boot umher. Aufeinmal erblickte der Prinz ein goldenes Leuchten, dasvom Garten kam, und er rief seinem Lala zu, dassjemand in den Palast gegangen sein müsse. Was derPrinz aber sah, war das Leuchten vom goldenen Felldes Mondrosses. Er wollte sich vergewissern, ruderteans Ufer, ging in den Garten und fand das Ross vor.»Da muss es auch einen Reiter geben«, dachte er sichund betrat den Palast. Dort erblickte er die Sultans-tochter, die sofort ihren Schleier anlegte, doch auchder konnte nicht verbergen, dass sie eine Schönheitwar, die ihresgleichen suchte. Da sprach sie der Prinzan und fragte sie, wer sie sei und woher sie komme.Die Prinzessin erzählte ihm, was ihr widerfahren warund wie sie auf diese Insel gekommen war. Darauferklärte der Prinz, dass sein Vater auch ein Padischah

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sei, und wenn es ihr Wille sei, so wolle er sie in seinenPalast führen und mit Gottes Erlaubnis zur Gemahlinnehmen. Die Prinzessin willigte ein, und so bestiegensie gemeinsam mit dem Mondross das Boot und fuh-ren in die Heimat des Prinzen. Der Vater des Prinzenhörte die Geschichte der Prinzessin und fand, dass erkeine bessere Frau für seinen Sohn finden konnte. Ervermählte die beiden miteinander, und sie feierten dieHochzeit vierzig Tage und vierzig Nächte lang. Da-nach lebten sie in Glück und Zufriedenheit.Eines Tages aber verwickelte sich der Padischah in

einen Krieg mit einem seiner Nachbarreiche, und weilin damaliger Zeit die Herrscher an vorderster Frontstanden, rüstete sich der alte Padischah zum Kampf.Der Prinz wollte nichts davon wissen und anstelleseines Vaters in den Krieg ziehen. Der Padischah aberermahnte seinen Sohn und sprach: »Mein Sohn, du bistjung, und deine Gattin ist in anderen Umständen. Dumusst hier bei ihr bleiben.« Aber der Prinz war festentschlossen und blieb hartnäckig. Da gab sein Vaternach und ließ ihn ziehen. In seiner Abwesenheit wur-den demPrinzen Zwillinge geboren, ein Sohn und eineTochter.Zu jener Zeit waren Tataren als Briefboten angestellt;

sie überbrachten dem Padischah Briefe von seinemSohn und dem Prinzen Briefe von seinem Vater. In derZwischenzeit hatte der Dew in Erfahrung gebracht,wohin die Prinzessin geflohen war und was sich nachihrer Flucht ereignet hatte. Er wusste auch, dass derPrinz im Krieg war und dass seine Gattin Zwillingegeboren hatte. Der Dew ließ sich in der neuen Heimatder Prinzessin nieder und eröffnete dort ein Kaffee-haus. Er passte nun die tatarischen Briefträger ab und

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lud sie zu einem Kaffee in sein Haus, denn er wusste,dass sie gerade den Brief bei sich hatten, in dem derPadischah dem Prinzen die Geburt seiner Kinder mit-teilte. Die Boten getrauten sich nicht, die Einladungdes Dews abzulehnen, und setzten sich auf einen Kaf-fee hin. Der Dew aber hielt sie mit Reden und mitKaffee so lange bei sich, bis der Abend anbrach. DieTataren wollten nun mit dem Brief davoneilen, aberder Dew ließ es nicht zu, dass sie zu so später Stundenoch reisten, und so verbrachten sie die Nacht in sei-nemHaus. UmMitternacht, während die Boten schlie-fen, nahm nun der Dew ihren Briefsack hervor, suchtedarin herum und fand den Brief des Padischahs.Schnell zerriss er ihn und schrieb stattdessen: »ZweiHundejungen hat deine Gattin geboren, sollen wir sietöten oder am Leben lassen, bis du zurückkehrst?«Dann steckte er den falschen Brief in den Sack.In der Frühe standen die Tataren auf, nahmen ihren

Sack und eilten damit ins Lager des Prinzen. Sie über-gaben ihm den Brief, und als er ihn gelesen hatte,schrieb er folgende Antwort: »Mein Vater! Die beidenHundejungen meiner Gattin tötet nicht. Zieht sie auf,bis ich heimkehre!«, und übergab sie den Boten. Hier-mit kehrten die Tataren zum Padischah zurück. Aufder Rückfahrt lud sie der Dewwieder zu einem Kaffeeund behielt sie bis zum nächsten Morgen bei sich. Eröffnete den Brief des Prinzen, zerriss ihn und schriebstattdessen: »Schah, mein Vater! Ich habe hier eineGefährtin gefunden, die noch schöner ist als meineGattin. Daher nimm meine Gattin und jage sie mitihren Kindern fort, möge sie dorthin zurückkehren,woher sie gekommen ist! Das Mondross aber fesslemit einer tausend Zentner schweren Kette.«

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Am nächsten Tag nahmen die beiden Tataren denBrief und übergaben ihn dem Padischah. Als des Prin-zen Gattin die Tataren erblickte, eilte sie hocherfreutzum Padischah, damit er ihr den Brief des Gattenzeige. Der Padischah getraute sich nicht, ihr den Briefzu geben, und leugnete, dass die Tataren Briefe ge-bracht haben. Die Frau sprach: »Ich habe die Briefeaber doch mit meinen eigenen Augen gesehen. Istdem Prinzen etwa ein Unheil zugestoßen und du ver-heimlichst es mir?« Da erblickte sie unter dem Kniedes Padischahs den Brief, riss ihn an sich und las ihn.Bitterlich weinte die arme Frau, und vergeblich tröste-te sie der Padischah und wollte sie zurückhalten; sieaber wollte keinen Augenblick länger im Palast blei-ben. Sie nahm ihre beiden Kinder und ging in dieweite Welt. Die arme Frau ging mit ihren Kindern Tagum Tag, Woche um Woche. Sie hatte nichts, um ihrenHunger zu stillen, und kein Bett für ihre müden Kör-per. Ihre Milch versiegte, sie konnte ihre Kinder nichtmehr stillen und wurde vom Wandern so müde, dasssie keinen Schritt mehr tun konnte. »O mein Herr,mein Schöpfer«, flehte die arme Frau, »erbarme dichmeiner Kinder, lass sie nicht sterben!« Und wie sie dasaß mit ihren Kindern und gedankenverloren mit ei-nem Stück Holz in der Erde stocherte, sprudelte dortplötzlich Wasser hervor, und vom Himmel fiel Mehlherab. Die Frau dankte Gott dafür, dass er ihr Gebeterhört hatte, knetete aus dem Wasser und dem Mehleinen Teig und fütterte ihre Kinder.Inzwischen hatte der Dew vom neuen Los der Frau

und ihrer Kinder erfahren und machte sich nun aufden Weg, um sie zu vernichten. Als er sich dem Ortnäherte, an dem sich die Frau mit ihren Kindern be-

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fand, erblickte ihn die Prinzessin. In ihrer schreck-lichen Angst rief sie: »Eile, mein Kamertaj, denn ichsterbe!« Im fernen Palast hörte das Mondross den Rufder Frau, es rüttelte einmal an der tausend Zentnerschweren Kette, aber es konnte sie nicht zerreißen. Jemehr aber der Dew sich der Frau näherte, desto grö-ßer wurde ihre Angst. Sie hielt ihre beiden Kinder imArm und rief in ihrer Verzweiflung wieder nach demRoss. Das gefesselte Mondpferd rüttelte noch stärkeran der Kette, konnte sie aber immer noch nicht zerrei-ßen. Der Dew war der Prinzessin schon ganz nahe, alssie zum letzten Male so laut rief, wie sie dazu imstan-de war. Kamertaj nahm nun seine ganze Kraft zusam-men, riss die tausend Zentner schwere Kette entzweiund erschien im selben Augenblick bei der Frau. »OHerrin«, sprach es, »fürchte dich nicht; schließe beideAugen und pack meine Mähne fest an!« – und als siedie Augen öffnete, befanden sie sich in einem fernenLand jenseits des Meeres. Der Dew trollte sich aber-mals hungrig davon.Das Mondross hatte die Frau in sein eigenes Reich

gebracht. Kamertaj fühlte, dass seine Zeit bald zu Endegehen würde, und sagte der Prinzessin, dass es baldsterben werde. Diese bat das Pferd inständig, sie mitihren Kindern nicht allein zu lassen: Wer würde siedann vor dem Dew schützen? »Fürchte dich nicht«,tröstete sie das Ross, »hier wird dir kein Unglück ge-schehen.Wenn ich gestorben bin, schneidemeinHauptab und stecke es in die Erde. Meinen Bauch schlitze aufund das eine Ende meiner Gedärme binde an einesmeiner Ohren, mit dem anderen Ende aber umkreisediesen Berg und binde es dann an das andere Ohr.Wenn du damit fertig bist, lege dich mit deinen Kin-

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dern in meinen Magen.« Hierauf sank das Mondrossauf die Erde und starb. Die Prinzessin schnitt ihm alsodasHaupt ab und grub es in die Erde ein. Dann schlitz-te sie ihm den Bauch auf, mit den beiden Enden seinerGedärme umspannte sie den Berg und legte sich dannmit ihren Kindern in den Magen des Rosses, wo sienach einer Weile einschlief. Als sie wieder erwachte,sah sie sich in einem so schönen Palast, wie weder ihrVater noch ihr Gatte einen besaßen. Sie lag in einemschönen Bett, und kaum, dass sie sich erhob, brachtenviele Diener Wasser herbei; die einen badeten sie, dieanderen trockneten sie ab, andere wieder kleideten siean. Ihre beiden Kinder lagen in goldenenWiegen, Am-men stillten sie und sangen sie mit Schlummerliedernin den Schlaf. Und zur Essenszeit brachte man ihnenviele goldene und silberne Schüsseln mit prächtigenSpeisen. Sie wollte das Ganze für einen Traum halten,aber Tage vergingen, Wochen vergingen, aus Wochenwurden Monate, aus Monaten wurde ein Jahr und diePrinzessin lebte zufrieden mit ihren Kindern.Lassen wir sie in ihrem Palast und wenden uns dem

Prinzen zu. Dieser hatte indessen den Feldzug been-det, und als er nun eilig heimkehrte, fand er seineGattin nicht mehr vor. Er fragte seinen Vater, wo seineGattin und die von ihr geborenen beiden Hundejun-gen sich befänden. Der Padischah erstaunte über diesesonderbare Rede seines Sohnes. Doch machen wir dieSache kurz: Sie nahmen die Briefe hervor und erkann-ten, dass dies nicht diejenigen waren, die sie geschrie-ben hatten. Daraufhin ließen sie die Tataren herbei-rufen. Nachdem diese berichtet hatten, dass sie Gästeim Hause des Dew gewesen waren, erkannten derPadischah und sein Sohn, dass der Dew ihnen übel

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mitgespielt hatte. Der Prinz hatte keine Ruhe mehr,und in Begleitung seines Lala machte er sich auf denWeg, seine Gattin zu suchen.Sie wanderten und zogen über Berg und Tal; sechs

Monate schon waren sie auf der Reise und machtennirgends Rast. Eines Tages gelangten sie an den Fußeines Berges, vonwo ausman einen Palast sehen konn-te. Ohne es zu wissen, war der Prinz am Palast desMondrosses, in dem sich seine Gattin und seine Kinderaufhielten, angekommen. Der Prinz hatte aber keineKraft mehr zum Weitergehen und sagte zu seinemLala: »Geh in den Palast dort, verlang ein StückchenBrot und Wasser, damit wir unseren Weg fortsetzenkönnen.« Der Lala ging also zum Palast, und als er dasTor desselben erreichte, empfingen ihn zwei kleineKinder und luden ihn in den Palast ein, damit er sichbei ihnen ausruhe. Er trat ein, aber der Fußboden imInnern des Palastes war so schön, dass er sich kaumgetraute aufzutreten. Die Kinder zerrten ihn, er sollesich zu ihnen auf das Sofa setzen, und brachten ihmSpeisen und Getränke. Der Lala wollte aber nicht zu-greifen; er meinte, dass sein Sohn draußen vor demPalast warte, da er zu müde sei, um weiterzugehen.Bevor er von den Speisen esse, wolle er vorher etwasdavon seinem Sohn geben. »O Väterchen Derwisch«,baten die Kinder, »vorher sättige du dich, dann kannstdu auch deinem Sohn etwas nach draußen tragen.«Der Lala ließ sich nun nicht länger nötigen, aß undtrank, schlürfte den Kaffee, rauchte die Wasserpfeife,und während er sich zur Rückkehr zum Prinzen rüste-te, erzählten die Kinder ihrer Mutter von ihrem Gast.Die Frau blickte zum Fenster hinaus und erkannte denPrinzen, ihren Gatten. Sie selbst suchte die Speisen aus,

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legte sie in goldene Gefäße und schickte sie so durchden Lala zu ihrem Gemahl herab. Der Prinz staunteüber die vielen goldenen und silbernen Schüsseln undüberdie herrlichen Speisen. Er hob denDeckel von denGefäßen, legte ihn auf die Erde und siehe da: Er rolltevon selbst zurück in den Palast. Der Prinz aß die Speiseaus der Schüssel und auch diese rollte zurück; wie erder Reihe nach aus den Schüsseln alle Speisen gegessenhatte, rollten sie alle zurück. Dann kam aus dem Palastein Diener und lud die Reisenden zu einemKaffee ein.Indessen nahm die Frau ihre beiden Kinder an die

Hand, gab ihnen je ein hölzernes Pferd und schicktesie zum Tor, damit sie die Gäste empfingen. »Wenn derDerwischmit seinem Sohn kommt«, sprach die Mutterzu ihnen, »führt ihn in dies und dies Gemach.« DieFrau nahmwieder einige Schüsselnmit Speisen hervorund fügte hinzu: »Tragt dies zu den Gästen und nötigtsie zu essen. Wenn sie euch auch von den Speisenanbieten, so sagt ihnen, dass ihr schon satt seid, abervielleicht sind eure Pferde hungrig, und lehnt danneure beiden Holzpferde an den Tisch. Sie werden dannsagen: ›Wie kann ein Holzstück denn essen?‹ Ihr ant-wortet darauf …« und flüsterte den Kindern etwas insOhr.Die beiden Kinder taten, wie ihnen die Mutter be-

fohlen hatte. Sie begrüßten den Derwisch und seinenSohn, führten die beiden in das von der Mutter be-stimmte Gemach und setzten ihnen die Speisen vor.So herrliche Speisen befanden sich in den Schüsseln,dass sie auch zum zweiten Mal zugriffen. »Esst auchihr!«, sagten sie zu den Kindern. »Wir sind schon satt«,antworteten diese, »aber unsere Pferde sind vielleichthungrig«, und hiermit lehnten sie ihre beiden Holz-

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pferde an den Tisch. »Aber Kinder«, rief der Prinz,»Holzpferde können doch nicht essen!« – »Das weißtdu«, antworteten die beiden Kinder, »dass ein Holz-pferd nicht essen kann, das aber weißt du nicht, dassein menschliches Wesen keine Hundejungen zur Weltbringen kann!«Da erkannte der Prinz, dass dies seine Kinder wa-

ren, und nahm sie voller Freude in die Arme. Und wieseine Gattin eintrat, lief er auf sie zu und bat sie umVergebung. Dann erzählten sie einander, was sich seitihrer Trennung zugetragen hatte, und wie viel glück-licher waren sie jetzt, da sie sich wiedergefunden hat-ten! Der Prinz nahm nun seine Gemahlin und seineKinder und machte sich auf den Weg in seine Heimat.Nachdem sie ein Stück gegangen waren, blickten siezurück, um einen letzten Blick auf den Palast zu wer-fen. Doch zu ihrem großen Erstaunen war weit undbreit kein Palast zu sehen! Sie gedachten noch einmaldes Mondpferdes und seines Opfers, dann setzten sieihre Reise fort.Doch der Dew lauerte auf dem Weg und wollte sie

schon angreifen, als der Prinz ihm zuvorkam und dasUngeheuer ein für allemal erledigte. Dann endlichkonnten sie sich beruhigt in ihren Palast begeben. AusFreude über ihre Wiedervereinigung feierten sie er-neut vierzig Tage und vierzig Nächte ihre Hochzeit.Bald darauf starb der alte Padischah, und sein Sohnwurde auf den Thron gesetzt. Er regierte sein Reich inWeisheit und Güte und lebte mit seiner Gemahlin inGlückseligkeit.Drei Äpfel fielen vom Himmel. Der eine gebührt

dem Märchenerzähler, der zweite dem Zuhörer, undder dritte – nun, der gehört mir.

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Die schöne Sultanstochterund die vierzig Räuber

E s war einmal, und doch war es keinmal. In früherZeit, als das Sieb im Stroh lag, gab es in Bagdad

einenüber alleMaßen reichenPadischah. Inder Schatz-kammer dieses Padischahs gab es so viel Gold, Dia-manten, Smaragde und andere Edelsteine, dass es un-möglich war, sie alle zu zählen, der Padischah selbstkannte ihre genaue Anzahl nicht. Der Ruhm dieseslegendären Schatzes von Bagdad verbreitete sich überdie ganze Welt.So berühmt war dieser Schatz, dass die gefürchteten

vierzig Räuber, die in den gesamten arabischen Län-dern geplündert hatten, sich entschieden, diesenSchatz zu rauben. Unter der Führung ihres berühmtenHauptmannes Hırsız Tahir machten sie sich sofort aufden Weg und gelangten nach Bagdad. Ohne Zeit zuverlieren, kundschafteten sie die örtlichen Gegeben-heiten aus und fanden einen einfachen Weg, um anden Schatz zu kommen. Nach und nach raubten sie dieSchätze aus der Schatzkammer des Padischahs. EinesTages aber wurden die Taten der vierzig Räuber be-merkt. Daraufhin wurden Hunderte von Soldaten umden Palast herum und in der Schatzkammer postiert.

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Aber vergeblich: Die Schatzkammer wurde nach wievor ausgeraubt. Der Padischah wurde sehr zornig da-rüber, dass diesen Räubern nicht beizukommen war.In seiner Wut fing er mit jedem Streit an, der ihmbegegnete. Er entließ seinen Hauptmann, der mit sei-nen Soldaten weder den Palast noch die Schatzkam-mer beschützen konnte, und setzte an dessen Stelleeinen neuen ein.Dieser Padischah hatte auch eine sehr schöne Toch-

ter. Das Mädchen war so überaus schön, dass es aufder Welt niemanden gab, der nicht von seiner Schön-heit gehört hätte. Wann immer die Rede von Schönheitwar, dann wurde in aller Herren Länder die Tochterdes Padischahs von Bagdad als Vorbild genannt. Darü-ber hinaus besaß diese schöne Prinzessin großen Mutund Tapferkeit. Ihre Hand beherrschte das Schwertbesser als so mancher Mann, sie übertraf sogar einigeSoldaten ihres Vaters.Die ständige Plünderung des Schatzes bekümmerte

auch sie sehr. Die Sache ging ihr so nahe, dass sie esschließlich nicht mehr ertragen konnte und zu ihremVater ging. »Erlaubt mir, mein Vater«, bat sie, »dass ichheute Nacht Eure Schatzkammer bewache.« Den Pa-dischah erfreuten diese Worte seiner Tochter, die keineFurcht kennen wollte, aber er entgegnete: »Wie kanndas angehen, mein Kind? Du bist die Hand, die michführt und mein Auge zur Welt: Du bist meine einzigeTochter. Wie könnte ich meine Zustimmung dazu ge-ben, dass du gegen mordende Räuber kämpfst?« Dochsosehr er sich auch bemühte, er konnte seine Tochternicht von ihrer Meinung abbringen. Nachdem er ih-rem Bitten und Flehen nicht mehr standhalten konnte,gab er ihr seine Erlaubnis. Gleichzeitig aber befahl er,

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dass sich zahlreiche Soldaten zu ihrem Schutz aufstel-len sollten. Sogleich legte die schöne Prinzessin ihreeiserne Rüstung an und setzte ihren Helm auf. Dannnahm sie in die linke Hand ihren Schild, in die rechteihr Schwert und bezog mit den Soldaten Stellung inder Schatzkammer. Seit vierzig Nächten wurde dieSchatzkammer von den vierzig Räubern nun ausge-raubt. Dazu stieg jedeNacht der Reihe nach ein Räuberdurch ein kleines Fenster in die Schatzkammer ein undnahm so viele Edelsteine als er nur konnte an sich.Jeder der Räuber streckte die meisten Soldaten, diesich ihm in den Weg stellten, nieder und floh wiederdurch das Fenster. Den wenigen übrig gebliebenenSoldaten, die sie dennoch zu fangen suchten, gelang eslediglich, ihnen kleine harmlose Wunden zuzufügen.Jene Nacht war nun die einundvierzigste Nacht

und die Reihe war an Hırsız Tahir, den Hauptmannder vierzig Räuber gekommen. Die schöne Sultans-tochter positionierte die Soldaten in jeden Winkel derSchatzkammer, sie selbst stellte sich mit gezogenemSchwert unter das Fenster. Dann, gegen Mitternacht,erklang plötzlich ein Geräusch. Kurz darauf zerbrachdie Fensterscheibe und wenig später ragte ein Kopf indie Schatzkammer hinein. Die Prinzessin hob im Nudas Schwert und ließ es mit der größten Kraft, zu dersie fähig war, auf den Kopf niederfahren. Sie hättedem Schurken den Kopf abgeschlagen, wäre der nichteine Sekunde schneller gewesen. So tötete sie ihn zwarnicht, fügte ihm aber eine beträchtliche Wunde überder rechten Braue zu. Er sprang aus dem Fenster undverabschiedete sich von der Prinzessin mit den Wor-ten: »Eines Tages wirst du meine Rache zu spürenbekommen, vergiss das nicht, Prinzessin!« Daraufhin

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verschwand er in der dunklen Nacht. Die Prinzessinaber behielt ihre Stellung in der Schatzkammer biszum Morgengrauen. Es ließ sich kein Räuber mehrblicken. Als sie schließlich von der Müdigkeit über-mannt wurde, brachte man sie auf ihr Zimmer undlegte sie zu Bett. Von diesem Tage an wurde der Schatzdes Padischahs von Räubern verschont.Tage kamen und gingen, wurden zu Wochen und

Wochen wurden zu Monaten. So verging eine langeZeit. Eines Tages erschien vor den Toren des Palastesein prächtig gekleideter Jüngling: Er trug kostbare Ge-wänder, seinen Kopf schmückte eine weiße Pelzmütze,und seine Waffen waren mit Gold und Silber verziert.Dieser schöne Held sprach zu den Wächtern des Pa-lastes: »Führt mich zu eurem Padischah! Denn ich willihn um etwas ersuchen.« Die Wächter sahen, dass die-ser Jüngling wie ein Prinz gekleidet war, und ließensofort den Padischah unterrichten. Der Padischahsprach: »Führt ihn zu mir!« Als der Jüngling vor denPadischah trat, bemerkte auch dieser seine edle Er-scheinung und sprach zu ihm in freundlichem Ton:»Nimm Platz, mein Sohn. Was für ein Gesuch führtdich zu mir?« Der Jüngling nahm Platz und antworte-te: »Mein Vater ist der Padischah von Indien und ichbin gekommen, um mit Eurer Erlaubnis um die HandEurer Tochter anzuhalten.« Der Padischah war vondiesem großartigen Prinzen beeindruckt und antwor-tete: »Mein Sohn, keinem Besseren als dir könnte ichmeine Tochter geben. Deshalb habe ich keine Einwän-de. Doch muss ich nach der Meinung meiner Tochterfragen. Denn sie ist mein Ein und Alles, mein einzigesKind auf der Welt. Ich kann nichts in ihrem Namenentscheiden, ohne sie vorher anzuhören.« – »Mein lie-

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ber Padischah«, erwiderte der Jüngling, »es geschehe,wie Ihreswünscht.DiePrinzessinmöge selbst entschei-den.« Hierauf brachte man den Jüngling in ein Neben-zimmer, und der Padischah befahl, man möge seineTochter zu ihm bringen. Nach wenigen Augenblickenerschien die Prinzessin und ihr Vater erklärte ihr, dassder Sohn des Padischahs von Indien um ihre Handangehalten habe. Doch er wolle ihre Meinung hören,bevor er dem Prinzen zusage. Ihr Vater schlug ihr vor,sie könne sich den Prinzen einmal von einer geheimenNische aus ansehen. Die Prinzessin war zunächst vonden Worten ihres Vaters überrascht, doch dann begabsie sich in die besagteNische und lüftete vorsichtig denVorhang: Vor ihr saß der Prinz in seinen kostbaren Ge-wändern und mit Gold und Silber beschlagenen Waf-fen. Der Jüngling gefiel ihr, und so sprach sie zu ihremVater: »Wenn es EuerWille ist, mein Vater, sowerde ichdiesen Jüngling heiraten.« Der Padischah war sehr er-freut über die Worte seiner Tochter, und nachdem siesich zurückgezogen hatte, ging er hinüber ins Neben-zimmer und teilte dem indischen Prinzen die Entschei-dung seiner Tochter mit. Daraufhin wurde die bevor-stehende Vermählung des Prinzen mit der Tochter desPadischahs bekannt gegeben. Man begann mit denFestlichkeiten und feierte die Hochzeit mit zahlreichenanderen Padischahs und Prinzen aus den Nachbarrei-chen. Das Fest dauerte vierzig Tage und vierzig Nächtemit einzigartigen Belustigungen, und am einundvier-zigsten Tag wurde die Prinzessin von Bagdad mit demPrinzen aus Indien vermählt. Von diesemTage an führ-ten die beiden ein Leben in Glück und Zufriedenheit.Der Prinz hatte allerdings die eigenartige Gewohn-

heit, seine weiße Mütze niemals abzulegen. Er trug sie

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zu jeder Zeit, nur nachts legte er sie ab und setzte siemorgens wieder auf, noch bevor seine Frau aufge-wacht war. Dieser Umstand beschäftigte die Prinzes-sin nach einiger Zeit. Schließlich, als sie ihre Neugiernicht mehr bändigen konnte, fragte sie: »Mein lieberPrinz, aus welchem Grund legt Ihr niemals Eure Müt-ze ab? Mich wundert dies sehr.« Der Prinz tat so, alshätte er diese Frage nicht gehört, und brachte die Prin-zessin auf andere Gedanken, indem er ihr wundersa-me Geschichten erzählte. Auf diese Weise vergaß diePrinzessin ihre Frage. Es vergingen weitere Tage undWochen und der Prinz trug noch immer seine Mütze.In diesem Zustand verbrachte er Monat um Monatund Jahr um Jahr. Die beiden bekamen auch zwei schö-ne Kinder: einen Jungen und ein Mädchen.Eines Tages saßen der Prinz und die Prinzessin im

Palast an einem Fenster, aus dem sie in den Gartenschauten, und unterhielten sich. Einmal entfuhr demPrinzen ein tiefer Seufzer, der der Prinzessin nichtentging. Sofort fragte sie ihren Gemahl, was ihn derartbedrücke, dass er so tief seufze. Der Prinz stöhntewieder auf und erwiderte: »Meine liebe Prinzessin,wie sollte ich denn nicht seufzen? Du hast hier Vaterund Mutter und kannst sie sehen, wann immer es dirbeliebt. Ich hingegen bin von den Meinen getrenntund meine Sehnsucht nach ihnen wächst mehr undmehr.« Darauf stieß er erneut einen Seufzer aus. DerPrinzessin gingen die Worte ihres Gatten so sehr zuHerzen, dass sie ihn trösten wollte, und so sprach siezu ihm: »Mein Prinz, wenn dies dein Kummer ist, solass ihn uns gleich beseitigen. Wenn es dein Wunschist, machen wir uns schon bald auf den Weg in dasReich deines Vaters.« Dem Prinzen gefielen die Worte

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seiner Gattin sehr, und er konnte ein wenig aufatmen.Noch am selben Tag holten sie die Erlaubnis des Pa-dischahs zu ihrer Reise nach Indien ein und begannensofort mit den Vorbereitungen. Es wurde für die Prin-zessin und ihren Gemahl eine reichlich geschmückte,mit Gold und Silber getriebene und mit perlenbestick-ten Vorhängen versehene Sänfte angefertigt. Die Sol-daten, die sie begleiten sollten, reinigten und poliertenihre Waffen und legten ihre neuen Rüstungen an. DerPrinz gedachte, die Kinder bei seinem Schwiegervaterzu lassen, da die Reise doch sehr lange dauern würde.Die Prinzessin stimmte dem zu. Nach wenigen Tagenverabschiedeten sich die beiden von allen ihren Ange-hörigen und begaben sich in ihre Sänfte. Sie wurdeneskortiert von Hunderten von Soldaten in prächtigenRüstungen und mit glänzendenWaffen.Über Berg und Tal und Stock und Stein führte ihr

Weg Tag um Tag. An einer Quelle machten sie halt,um sich ein wenig auszuruhen. Da sagte der Prinz zuseiner Gattin: »Meine liebe Prinzessin, vor uns liegtnoch ein sehr weiter Weg. Ist es denn nötig, dass wiralle Soldaten bis zum Ziel unserer Reise mitführen?Wäre es nicht klüger, dass wir einen Teil zurückschi-cken?« Die Prinzessinwarmit demVorschlag ihres Ge-mahls einverstanden, und so trat die Hälfte der Sol-daten den Rückweg an. Sie selbst setzten ihre Reisefort. Und wieder führte ihr Weg über Berge und Tälerund über kleine Bäche und große Flüsse. Ihr Quartierhielten sie auf Wiesen und in Wäldern. Nachdem eineWoche vergangen war und sie wieder ein gutes StückdesWeges hinter sich gelassen hatten, sprach der Prinzerneut zu seiner Gattin: »Meine liebe Prinzessin, wirsind nun nicht weit von dem Reich meines Vaters ent-

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fernt. Ich habe schon einen Kurier losgeschickt, dermeinem Vater die Nachricht über unsere Ankunftüberbringt. Seine Soldaten werden uns jeden Augen-blick entgegenkommen. Wir haben keine Verwendungmehr für die Soldaten, die uns noch begleiten. Wirsollten sie nicht weiter belasten und auch sie zurück-schicken.« Auch dieses Mal war die Prinzessin mitdem Vorschlag ihres Gemahls einverstanden. Die Sol-daten wurden zurückgeschickt, und nun reisten siealleine in der Sänfte weiter.Wieder ließen sie ein gutes Stück des Weges hinter

sich. Endlich machten sie auf einem Berg halt undstiegen aus ihrer Sänfte aus, um einwenig auszuruhen.Nachdem sie für die Nacht ein Zelt aufgeschlagenhatten, wandte sich der Prinz erneut an seine Frau:»Hier werden wir nun verweilen, meine liebe Prinzes-sin. Denn wir müssen auf die Soldaten meines Vaterswarten. Deshalb können wir jetzt auch die Sänftenträ-ger entlassen, da wir sie nicht mehr brauchen.« DiePrinzessin vermutete nichts Übles hinter den Wortenihres Mannes, dennoch entgegnete sie: »Aber meinlieber Prinz, was sollen wir beide alleine hier auf die-sem Berg anstellen? Wie könnten wir uns vor wildenTieren und Räubern schützen, wenn es Nacht wird?«Daraufhin antwortete der Prinz: »Sei ganz unbesorgt,meine Prinzessin, denn solange ich bei dir bin, drohtuns beiden keine Gefahr. Wir werden die Soldatenmeines Vaters ohnehin bald sehen.«Und so gingen auch die Sänftenträger in ihre Heimat

zurück. Der Prinz und die Prinzessin blieben nun ganzalleine zurück. Sie schwiegen eine Weile und blicktenum sich. Kurz danach stellte sich der Prinz vor seinerGattin auf und nahm plötzlich seine Mütze vom Kopf.

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Zu ihr sagte er: »Nun meine liebe Prinzessin, die Zeitder Abrechnung ist jetzt gekommen! Vor dir stehtHırsız Tahir, der Anführer der vierzig Räuber. Hätteich damals eine Sekunde gezögert, dann hättest dumirden Kopf abgeschlagen. Zwar bin ich dem Tod durchdeine Hand entronnen, aber ich trage diese sichtbareNarbe über meiner Braue. Ich habe meine Zeit abge-wartet und nun stehen wir hier, Angesicht zu Ange-sicht. Jetzt bist du mir ausgeliefert und sosehr du auchum Hilfe schreist, niemand wird dich hören. Such direinen Tod aus, der dir am besten gefällt.« Die Prinzes-sin hatte ihre Lage bereits verstanden, als der RäuberseineMütze abgenommen hatte. Statt sich zu fürchten,nahm die Prinzessin seine Worte mit einem Lächelnauf. Hırsız Tahir näherte sich ihr noch ein Stück undsagte: »Hast du nun verstanden, warum ich die Mützenie abgenommen habe? Jetzt ist die Zeit gekommen,dir zu beweisen, was für ein raffinierter Mann HırsızTahir ist!« Mit diesen Worten nahm er einen Strickhervor, den er in seinem Hemd versteckt hatte, packtedie Prinzessin am Arm und zerrte sie mit sich, um siean einen Baum zu fesseln. Die Prinzessin versuchte,sich mit aller Kraft zu wehren, doch Hırsız Tahirsprach: »Duwehrst dich umsonst, meine liebe Prinzes-sin, denn du hast kein Schwert. Wie willst du da mitmir kämpfen? Ich werde dich an diesen Baum bindenund dich dort verbrennen!« Doch die Prinzessin wehr-te sich weiterhin, und so kämpften sie eineWeile mitei-nander. Doch schließlich ließen ihre Kräfte nach, undsie verstand, dass sie gegenHırsız Tahir nichts ausrich-ten konnte. Sie hoffte, das der Mann, der, so schlecht erauch sei, viele Jahre lang ihr Ehemann gewesen war,ihr letztendlich doch nichts antun würde, und ging

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wankend zum Baum. Doch sie irrte sich: Hırsız Tahirhegte nur Rachegefühle für sie. Er band sie mit demStrick fest an den Baum und errichtete um sie herumeinen Scheiterhaufen aus herumliegenden Zweigenund Ästen. Noch immer dachte die Prinzessin, dasses sich um einen Scherz handeln müsse und er siedoch nicht verbrennen würde. So beobachtete sie ihnstumm, ohne zu weinen. Hırsız Tahir sprach: »Nun,du berühmte Tochter des Padischahs von Bagdad, esverbleibt dir sehr wenig Zeit auf dieser Welt. Hast dunoch etwas zu sagen?« Die Prinzessin lächelte undantwortete: »Was sollte ich einem Mann wie dir dennzu sagen haben? Doch nur so viel, dass du dein Vor-haben so schnell wie möglich in die Tat umsetzenmögest, worauf wartest du also?«Hırsız Tahir verärgerten die stolzen Worte der Prin-

zessin, die sich nicht vor dem Feuertod fürchtete undsich sogar über ihn lustig zu machen schien. Wütendgriff er nach der Zunderbüchse in seiner Tasche, docher fand sie dort nicht. »Du hast Glück, meine liebePrinzessin«, sagte er, »ich habe die Zunderbüchse ver-gessen, aber denke bloß nicht, dass ich dich deswegenverschone. Denn ich werde jetzt Abhilfe schaffen.«Die Prinzessin ließ sich dadurch nicht beeindrucken,sondern beobachtete weiterhin lächelnd sein Verhal-ten. Der Räuber blickte nach links und nach rechtsund entdeckte in der Ferne ein Licht. Da sagte er zurPrinzessin: »Dort drüben sehe ich Licht. Ich werdenun dorthin gehen, um Feuer zu besorgen. Ich bitteaber bereits jetzt um Verzeihung, falls wilde Tiere dichin der Zwischenzeit zerfleischen.« Damit lief er in dieRichtung, aus der das Licht kam.Es wurde Abend, und über die Welt legte sich lang-

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sam die Dämmerung. Die am Baum festgebundenePrinzessin fing an, sich zu fürchten. In diesen angst-vollen Minuten hörte sie plötzlich in der Ferne dasGeräusch von kleinen Glöckchen. Nach und nach hör-te sie eins, dann zwei, dann drei, dann vier Glöckchen,die näher und näher kamen. Je näher die Laute ka-men, desto mehr freute sie sich, desto mehr fürchtetesie sich aber auch. Denn sie wusste nicht, wodurchdiese Geräusche verursacht wurden. Dann waren dieGeräusche ganz nah. Und als sie hier und da ein Pferdwiehern, ein Kamel brüllen und einen Menschen hus-ten hörte, da erkannte sie, dass es sich um eine Kara-wane handeln musste. Kurz danach erreichte die Ka-rawane den Ort, an dem sich die Prinzessin befand.Der Anführer der Karawane bemerkte, dass dort einMensch an einen Baum gebunden war, und lief sofortzu ihr. Was er sah, war ein schönes Mädchen mit zer-rissenen Kleidern und wirrem Haar. Doch seine Klei-der waren aus seidenen Stoffen und der Schmuck, denes am Hals, um die Hand und an den Ohren trug, warmit kostbaren Steinen besetzt. Sogleich rief er seineHelfer, um die Prinzessin zu befreien. Die Prinzessinwar glücklich über ihre Rettung und bedankte sichbeim Anführer, sobald sie ihre Fesseln losgewordenwar. Sie bat um etwas Wasser, und sobald sie ihrenDurst gestillt hatte, erzählte sie, wer sie war und wieHırsız Tahir dieses Unglück über sie gebracht hatte.Die Karawane hatte grüne Oliven geladen. Man ver-steckte die Prinzessin in einem Sack mit Oliven undachtete darauf, dass sie von allen Seiten gut bedecktwar. Dann lud man den Sack auf den Rücken einesder Lasttiere, und die Karawane zog weiter.Lassen wir die Karawane ziehen und wenden uns

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jetzt Hırsız Tahir zu. Dieser lief und lief auf das Lichtzu, konnte es aber nicht erreichen. Nach schier end-loser Wanderung gab er schließlich auf und kehrtezurück. Unterwegs sprach er zu sich selbst: »Dannlasse ich sie eben am Baum gebunden, auf dass sie vonRaubtieren zerrissen wird.« Endlich erreichte er wie-der den Ort, an dem er die Prinzessin zurückgelassenhatte. Und was sah er dort? Die Prinzessin war ver-schwunden und das Seil, mit dem er sie gefesselt hatte,lag auf der Erde. Es war weit und breit keine Spur vonihr. Der Räuber geriet außer sich vor Zorn. In völligerVerwirrung blickte er nach allen Seiten und hörte inder Ferne das leise Geräusch von kleinen Glöckchen.Er verstand, dass es sich um eine Karawane handelteund dass diese Karawane die Prinzessin befreit habenmusste. Er richtete sein Ohr auf das Glockengeräuschund eilte der Karawane nach. Nach kurzer Zeit erreich-te er sie und rief zum Anführer: »Halt!« Der Anführerbrachte die Karawane zum Stehen und blickte in dieDunkelheit, um zu erfahren, wer da sprach. Als erplötzlich Hırsız Tahir erblickte, begann er vor Angst zuzittern undwusste nicht, was er tun sollte. Hırsız Tahirnäherte sich dem Anführer, legte seinen Arm um des-sen Schulter und sprach: »Hör mir zu, Anführer! Ichweiß genau, dass ihr das Mädchen vom Baum befreithabt. Du brauchst es nicht zu leugnen, denn ich werdejetzt alle eure Lasten durchsuchen. Wenn ich sie finde,bist du des Todes!« Der Anführer entgegnete: »Aber,mein Herr, wer wird denn hier lügen? Du kannst dieKarawane untersuchen, so lange du willst, wir führenkeine versteckten Frauen mit uns.« Hırsız Tahir nahmaus seiner Brust einen spitzen Dolch hervor und stachdamit auf die Säcke ein in der Hoffnung, dass, wenn

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sich die Prinzessin in den Säcken versteckt hat, sie lautaufschreien würde, wenn der Dolch sie traf. Den Hel-fern des Anführers gelang es aber, im Schutze derDunkelheit das Tier, auf dem sich die Prinzessin be-fand, unter diejenigen zu mischen, deren Last HırsızTahir bereits durchsucht hatte. Dieser war inzwischenbeim letzten Sackmit Oliven angekommenundmusstenun erkennen, dass seine Suche vergebens war. Müdeund enttäuscht wandte er sich an den Karawanenfüh-rer und sagte: »Du hast mir die Wahrheit gesagt. Ihrhabt sie nicht versteckt. Ichwerde sie aber doch finden,wo immer sie sich auch aufhalten mag. Und nun ziehtweiter eures Weges.« Damit tauchte Hırsız Tahir in dieDunkelheit ein und wurde nicht mehr gesehen.Die Karawane zog weiter. Nachdem eine geraume

Zeit vergangen war, ließ der Anführer prüfen, obHırsız Tahir ihnen nicht doch folgte. Als er sicher seinkonnte, dass der Räuber ihnen nicht mehr folgte, ließer die Prinzessin, die zu ersticken drohte, aus demSack befreien. Man gab ihr einen Umhang und setztesie auf eines der Pferde. Und wie sie in der Stille derNacht ihrem Weg folgten, sagte der Karawanenführerin Gedanken zu sich: »Dass mir eine so schöne Frauzugefallen ist, ist ein Glücksfall. Ich sollte sie nichtwieder gehen lassen! Ich reise ohnehin nach Ägypten.Dort werde ich sie dem Padischah gegen gutes Geldals Sklavin für seinen Harem anbieten.« Die Karawanezog Tag um Tag weiter. Unsere arme Prinzessin wuss-te nicht, wohin man sie brachte, und sie wagte es nichteinmal, inmitten dieser grimmigen Männer, die alle-samt wie Räuber aussahen, auch nur ein Wort zusprechen. Ihre ganze Hoffnung ruhte auf dem Kara-wanenführer, der sie aus den Händen von Hırsız Tahir

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befreit hatte. Er war bestimmt ein guter Mann undwürde sie nach Bagdad bringen und ihrem Vater über-geben. Nach Tagen und Wochen der Reise kamen sieendlich in Ägypten an. Sobald sie erfuhr, wohin mansie gebracht hatte, wurde die Prinzessin sehr traurig.Aber trotzdem verlor sie nicht ihre Hoffnung und hef-tete sich an die Fersen des Karawanenführers, wohiner auch ging. Die Karawane richtete sich in einem Hanein. Dann wurde die Prinzessin mit einer Frau insBadehaus geschickt und dort gebadet. Schließlichkaufte der Anführer teure Gewänder und ließ die Prin-zessin damit einkleiden. Am Abend nahm er sie undführte sie geradewegs in den Palast des Padischahs.Die Palastwächter waren mit dem Karawanenführergut bekannt und gewährten ihm sofort Einlass. Siewurden auch sehr bald zum Padischah geführt. DemPadischah gefiel die Prinzessin aus Bagdad sehr undso entließ er den Karawanenenführer mit zwanzigBeuteln voll Gold. Daraufhin ließ er sofort seineWesirekommen, teilte ihnen mit, dass er die Prinzessin vonBagdad zu heiraten gedenke, und trug ihnen auf, so-fort mit den Hochzeitsvorbereitungen zu beginnen.Innerhalb einiger weniger Tage waren die Vorbereitun-gen abgeschlossen. Die Prinzessin wurde mit dem Pa-dischah von Ägypten vermählt, und sie feierten ihreHochzeit vierzig Tage und vierzig Nächte.Alle Welt dachte, dass die beiden glücklich mitei-

nander lebten. Denn schließlich war er ein Padischahund sie eine Prinzessin. Und beide herrschten sie überdie schönsten Paläste, die weitesten Ländereien undüber Schatzkammern voll Gold, Silber und allerleiEdelsteinen. Wer, wenn nicht sie, konnte glücklichsein? Doch der Schein trügte. Die schöne Prinzessin

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konnte seit ihrer Hochzeitsnacht kein Auge zutun,ganz im Gegenteil verbrachte sie jede Nacht mit Alb-träumen und schreckte immer wieder auf. Zunächsthielt der Padischah dies für einen vorübergehendenZustand und schwieg dazu. Doch als er erkannte, dasses kein Ende nehmen wollte, sprach er die Prinzessineines Morgens darauf an: »Meine liebe Prinzessin, ichsehe, dass Ihr nachts sehr unruhig seid und häufig ausdem Schlaf schreckt. Es muss einen Grund für EureRuhelosigkeit geben. Nennt ihn mir doch, vielleichtfinden wir doch ein Mittel dagegen.« Die Sultaninnahm einen langenAtemzug und dachte einenAugen-blick nach. Daraufhin erzählte sie ihrem Gemahl alles,was ihr widerfahren war. Nachdem sie ihren Berichtbeendet hatte, fügte sie hinzu: »Nun, mein Padischah,kennt Ihr den Grund für meine nächtliche Unruhe. Inmeiner Heimat nennt manmich die furchtlose Prinzes-sin. Und in der Tat bin ich nicht ohne Weiteres ein-zuschüchtern. Aber dieser Hırsız Tahir ist ein Mannmit sieben Leben. Und seine Leute sind überall. Wennes für ihn erforderlich ist, würde er nicht einmal seineengsten Angehörigen verschonen. Und immerhin ister einMann, und ich bin eine Frau. Mir ist, als könne erjeden Augenblick hier auftauchen. Denn vor seinerHand ist nicht einmal ein Vogel im Flug sicher.« DerPadischah entgegnete: »Seid unbekümmert, meinePrinzessin. Wenn er Hırsız Tahir ist, so bin ich dochimmerhin ein Padischah. Und wenn ich es befiehle, soflöge kein Vogel in die Nähe dieses Palastes.« Dannklatschte er in die Hände und sprach zum Lala, dersogleich eintrat: »Lala, veranlasse sofort, dass eine ho-he Mauer um den Palast gebaut wird. Jede Tür solldurch Löwen und Tiger bewacht werden. Bewaffnete

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Soldaten sollen alle Mauern und Türen des Palastes,den Garten und die Türen der Gemächer bewachen.«Und so geschah es. Innerhalb weniger Tage waren dieBefehle des Padischahs ausgeführt. Der Palast wurdemit einer hohen Mauer umgeben, und bis auf die Zäh-ne bewaffnete Soldaten patrouillierten im Garten undim Inneren des Palastes. Vor jeder Tür waren riesen-große Löwen und Tiger angekettet. Es war unmöglich,den Palast ohne Erlaubnis zu betreten. Als die Prinzes-sin sah, welcheMaßnahmen zu ihrem Schutz getroffenwurden, fand sie ein wenig Ruhe. So vergingen einigeTage und die Prinzessin fand des Nachts ihren Schlafund dachte nicht mehr an den Räuberhauptmann.Doch ihre Ruhe sollte nicht von Dauer sein. Eines

Nachts wurde sie plötzlich aus dem Schlaf gerütteltund eine Stimme rief: »Steh auf! Steh schnell auf!« Diearme Prinzessin verstand zunächst nicht, was mit ihrgeschah. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen undsetzte sich in ihremBett auf, undwas sollten ihreAugenerblicken: Vor ihr stand niemand anderes als HırsızTahir! Sie war hilflos undwusste nicht, was sie machenund sagen sollte. Der Räuberhauptmann rief erneut:»Nun steh schon auf, du wirst mir doch nicht entkom-men. Beeile dich endlich!« Die Prinzessin schickte sichan, aus dem Bett zu steigen, aber heimlich kniff sieihren Gemahl, damit er aufwache. Doch der schnar-chende Padischah machte keine Anstalten dazu. Alssie einsah, dass sie ihren Gemahl nicht würde weckenkönnen, stand sie auf. Hırsız Tahir sagte: »Los, geh duvoran! Versuche nicht erst, um Hilfe zu schreien. Dennhier kann dich niemand hören.« Die Prinzessin voran,Hırsız Tahir hinterdrein, verließen sie das Zimmer, lie-fen durch zahlreiche Flure und stiegen mehrere Trep-

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pen hinab. Während sie gingen, blickte die Prinzessinum sich und war bestürzt über das, was sich ihrenAugen bot. Denn überall lagen die Soldaten, Dienerund Sklaven des Palastes wie tot auf der Erde. Als siein den Garten hinaustraten, nahm die Überraschungder Prinzessin noch weiter zu. Denn die Löwen undTiger, die zu ihrem Schutz aufgestellt worden waren,lagen genauso leblos auf der Erde. Der Räuberhaupt-mann sah ihre Überraschung und lachte. »Du siehst«,sagte er, »dass keine Mauer, keine Soldaten und auchkeine Raubtiere dich vor deinem Tod bewahren kön-nen. Ich habe alle mit Zauberpulver bestreut und sie inden Schlaf versetzt. Auch wenn die Welt aus ihrenAngeln geriete, nichts und niemand könnte sie auf-wecken!« Es war gegen Morgen. Im dämmrigen Lichtwirkte der große Garten Furcht einflößend. Hırsız Ta-hir sagte: »Ichwerde dich in den Feuerofen desGartenswerfen. Jetzt wirst du in diesemGarten trockenes Holzsammeln und dein eigenes Todesfeuer legen.«Was blieb der armen Prinzessin übrig, als seinem

Befehl Folge zu leisten? Da der Garten aber gut ge-pflegt war, fand sie nicht genügend trockenes Ge-strüpp. Die Prinzessin ging daher in die äußerstenWinkel des Gartens und fand auch dort nur wenigeZweige und etwas trockenes Gras. Sie suchte weiterund weinte dabei bitterlich. Schließlich wurde sie somüde, dass sie sich weinend unter einen Baum setzte.Da ließen sich zwei Tauben auf dem gegenüberliegen-den Baum nieder. Während die Prinzessin die Taubenvoller Sehnsucht betrachtete, fingen diese plötzlich anzu sprechen und unterhielten sich. Die eine sprachzur anderen: »Meine Taubenschwester, meine Tau-benschwester, warum weint die schöne Prinzessin so

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sehr?« Die andere Taube antwortete: »Wer sollte dennweinen, wenn nicht sie? Sie weint, weil sie nicht weiß,wie sie diesem Hırsız Tahir entkommen soll. Aber siesoll nicht weinen! Vor der Tür zum Palast befindet sichein Marmorstein. Den soll sie hochheben und dannwird sie darunter eine Flasche finden. Sie soll dieseFlasche auf den Stein werfen und sofort in den Palasthineinlaufen.« Daraufhin flogen die beiden Taubenweg. Der Prinzessinwurde es gleich leichter umsHerz.Sie folgte denWorten der Taube und lief zumMarmor-stein. Als sie ihn hochhob, fand sie tatsächlich eineFlasche darunter. Sie warf die Flasche auf denMarmor-stein und lief sofort in den Palast hinein. Sobald dieFlasche auf dem Marmor zerbrach, entstand im Palastein ungeheures Getöse. Der Padischah, die Palastleute,Diener, Sklaven und die Soldaten erwachtenmit einemMal. Auch die Löwen und die Tiger sprangen auf.Unsere Prinzessin lief in ihr Schlafzimmer zurück undkonnte sich gerade noch mit letzter Kraft auf ihr Bettwerfen, wo sie endlich in Ohnmacht fiel. Als sie kurzdarauf wieder zu sich kam, erzählte sie dem Padischahsofort das Erlebte und wie sie durch das Geheimnisder Tauben gerettet worden war. Sofort erteilte der Pa-dischah den Befehl, den Räuberhauptmann, der nochimmer am Ofen wartete, festzunehmen. Kurz daraufwurde dieser vor den Padischah geführt. »Auch derschlaueste Fuchs geht einmal in die Falle«, sagte derPadischah zum Räuberhauptmann, »ich würde dichnur zu gern in den Feuerofen werfen, Hırsız Tahir.Aber das werde ich nicht tun. Ich werde dich auchnicht den Henkern ausliefern. Du wirst so lange inmeinem Kerker einsitzen, bis aus dir ein guter undbarmherziger Mensch geworden ist. Und nun hinfort

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mit dir!« Darauf packten die Soldaten den Räuber-hauptmann und warfen ihn in den Kerker. Am nächs-ten Tag ließ der PadischahVorbereitungen für die Reisenach Bagdad treffen. Und schon nach wenigen Tagentrat der Padischah von Ägypten mit seiner schönenGattin und einem großen Gefolge die Reise an.Der Padischah von Bagdad hatte indes seine Tochter

überall suchen lassen, da er seit dem Tag ihrer Abreisekeine Nachricht mehr von ihr erhalten hatte. Doch alleseine Bemühungen waren vergebens, und schließlichhatte er seine Hoffnung aufgegeben. Wie groß war daseine Freude, als seine Tochter eines Tages mit demPadischah von Ägypten als ihrem Gemahl in Bagdadeintraf. In Bagdad wurde erneut eine Hochzeit vonvierzig Tagen und vierzig Nächten gefeiert.Sie sind am Ziel ihrer Wünsche angekommen, und

so möge es auch euch ergehen!

Teuer wie Salz

E s war einmal, und doch war es keinmal. In alterZeit, als das Sieb im Stroh lag, da hatte ein Pa-

dischah drei Söhne.Dieser Padischah war von einfachem Gemüt und

trieb solche Dinge, die der Würde seines Amtes so gar

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nicht angemessen waren. Er hatte nur das Jagen undsein eigenes Vergnügen im Kopf und vernachlässigteseine Pflichten als Herrscher. Von seinen Untertanenwurde er deshalb immerzu belächelt.Eines Tages kam ihm wieder eine sonderbare Idee.

Er wollte herausfinden, welcher seiner drei Söhne ihnam meisten liebte. Hierzu ließ er alle seine Söhne zusich rufen und sprach: »Meine Söhne, ich habe euchrufen lassen, damit ihr mir sagt, wie sehr ihr michliebt.« Die drei Brüder kannten die Vorliebe ihres Va-ters für solche Späße und wunderten sich deshalbnicht über diese eigenartige Frage. Sie wussten abernur zu gut, dass er sehr wütend werden konnte, wennsie ihn nicht ernst nahmen. So mussten sie sich eineangemessene Antwort ausdenken. Zuerst trat der äl-teste Prinz vor und sprach: »Mein lieber Vater, ich liebeEuch so sehr wie Gold, Silber, Diamanten und alleEdelsteine.« Der Padischah war so erfreut über dieAntwort seines ältesten Sohnes, dass er in lautes Ge-lächter ausbrach. Dann richtete er seinen Blick aufseinen zweiten Sohn und fragte: »Und du, wie sehrliebst du mich?« Dieser antwortete: »Mein lieber Vater,ich liebe Euch so sehr wie Honig, Teigpasteten undSüßspeisen.« Auch diese Antwort wurde mit einemlauten Gelächter angenommen. Schließlich war derjüngste Prinz an der Reihe: »Und du, mein jüngsterSohn, wie sehr liebst du mich?« Der jüngste Prinzwusste zunächst keine Antwort. Er überlegte kurz undantwortete verlegen: »Mein Vater, Ihr seid mir so teuerwie Salz!« Nun waren es die beiden älteren Brüder, diein lautes Lachen ausbrachen, so belustigt waren sieüber diese unerwartete Antwort. Der Padischah aberwar gar nicht erfreut, und seineMiene verfinsterte sich

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schlagartig. Er zog seine Brauen zusammen und frag-te seinen Sohn: »Was sprichst du da? Du liebst michso sehr wie das Salz? Etwas Wertvolleres hast du dirnicht einfallen lassen können? Dann bist du ein un-dankbarer Sohn!« Er griff verärgert in ein Perlmutt-kästchen an seiner Seite, nahm daraus zwei Goldstü-cke hervor, verteilte sie an seine beiden älteren Söhneund verwies sie mit einer Handbewegung nach drau-ßen. Die beiden entfernten sich sofort. Der Padischahklatschte in die Hände, worauf ein schwarzer Dienererschien, dem er donnernd zurief: »Ruf mir sofort dieHenker!« Der Diener erschrak, doch er holte sogleichzwei andere, große schwarze Diener herein, dieFurcht einflößend anzusehen waren. Der Padischahzeigte auf seinen jüngsten Sohn und sagte: »Packtdiesen Burschen und schlagt ihm den Kopf ab! Undwehe euch, wenn ihr meinem Befehl nicht folgt! Dannlasse ich euch beide in Stücke reißen!« Die anwesen-den Diener waren erschrocken über den Befehl desPadischahs, denn der Prinz war sehr beliebt bei ihnen,doch sie verhielten sich still aus Angst vor seinemZorn.Die beiden Henker führten den armen Prinzen ab.

Auch sie waren bestürzt über den Auftrag, den derPadischah ihnen erteilt hatte, denn auch sie mochtenden Prinzen sehr. Sie sattelten zwei Pferde und rittenmit dem Prinzen in die Berge. Auf einem weit entfern-ten Berggipfel machten sie halt.Der Prinz wusste nicht so recht, wie ihm geschah,

und seine Angst war ihm nur zu gut anzusehen. Diebeiden Henker aber hatten Mitleid mit ihm und woll-ten ihn verschonen. So sprach einer der beiden zuihm: »Mein Prinz, wir könnten Euch kein Haar krüm-

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men, doch Ihr habt den Befehl Eures Vaters gehört.Wir müssen ihm einen Beweis liefern, dass wir Euchgetötet haben. Deshalb gebt uns Euer Hemd. Wir wer-den einen Hasen töten und es mit seinem Blut tränkenund Eurem Vater übergeben. Ihr aber solltet von hierfliehen und nicht mehr zurückkehren!« Unser Prinznahm den Vorschlag der beiden Henker dankbar an,gab ihnen sein Hemd und ritt auf einem der Pferdedavon.Er ritt eine lange Zeit, durch ferne Länder und über

weite Ebenen. Eines Tages kam er in einem ihm unbe-kannten Land an und begab sich in eine Stadt. Da ersehr müde war und sich nach einem Dach über demKopf sehnte, begab er sich zum ersten Haus, das ererblickte. Eine alte Frau öffnete die Tür und der Prinzbat sie, ihn bei sich aufzunehmen. Er ließ sie aber nichtwissen, wer er war, und gab stattdessen vor, ganzallein auf der Welt und fremd in diesem Land zu sein.Die alte Frau nahm ihn freudig auf, denn auch sie lebteganz allein. Der Prinz trat ein und aß sich zunächstsatt von den Speisen, die ihm die Frau auftrug. Dannbegab er sich zum Brunnen und wusch sich gründlich,fütterte sein Pferd und fiel schließlich müde, aber zu-frieden in das Schlaflager, das ihm die Frau bereitethatte.Als er am nächsten Morgen erwachte, blickte er aus

dem Fenster und sah, dass sich eine große Menschen-menge in eine bestimmte Richtung bewegte. »MeineMutter«, fragte er die alte Frau, »wohin gehen all dieseMenschen? Wird heute ein Fest gefeiert?« Die Frauantwortete: »Nein, es ist kein Fest, mein Sohn, sondernetwas viel Wichtigeres findet heute statt. Heute wer-den sie den Glücksvogel fliegen lassen, der unseren

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neuen Padischah bestimmt.« Es verhielt sich in diesemLande nämlich so, dass der Padischah gewählt wurde,indem man einen Vogel fliegen ließ und denjenigen,auf dessen Kopf er sich niederließ, zum Padischahkrönte. Als unser Prinz dies erfuhr, wollte er sichdieses Schauspiel nicht entgehen lassen und bat diealte Frau, mit ihm hinzugehen. Die alte Frau konnteihm den Wunsch nicht abschlagen und so machtensich beide auf denWeg zum Platz.Als das gesamte Volk auf demPlatz versammeltwar,

ließen die Oberen der Stadt den besagten Glücksvogelfrei, worauf dieser begann, über der versammeltenMenge zu kreisen. Aufregung herrschte unter denMenschen, manche fragten sich, ob der Vogel wohl sieaussuchen würde, manch andere stellten sich auf ihreZehenspitzen, um dem Vogel ein besseres Ziel zu bie-ten. Doch der Vogel flog über der Menge hin und her.Dann aber, plötzlich, schien er jemanden ausgesuchtzu haben und flog hinab und landete – auf dem Kopfunseres Prinzen! Sofort erhob sich ein Durcheinandervon Stimmen, die sagten, dies sei ein Fremder, er kön-ne nicht ihr Padischah werden. Es wurde beschlossen,die Wahl am nächsten Tag zu wiederholen.Tags darauf versammelte sich die Menge erneut auf

dem Platz. Unser Prinz aber wollte die Menge nichtnoch einmal verärgern und setzte sich deshalb aufdem Friedhof neben einen Grabstein. Der Vogel wurdewieder losgelassen und erhob sich über die Menschen.Gespannt warteten die Menschen und beobachtetenden Vogel stumm. Dieser zog noch einige Kreise, flogdann aber in Richtung des Friedhofs und setzte sichwieder auf den Kopf des Prinzen. Aber auch diesesMal war niemand mit der Wahl des Vogels einverstan-

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den. Und da aller guten Dinge drei sind, verlegte mandie Wahl erneut auf den nächsten Tag.Am Morgen hatten sich die Menschen bereits sehr

früh versammelt. Gerade als die alte Frau und derPrinz ihr Haus verließen, schwebte der Glücksvogelbereits in der Luft. Auch dieses Mal flog er ein paar-mal über den Menschen hin und her. Doch dann hatteer sein Ziel erblickt und begab sich geradewegs aufden Kopf unseres Prinzen, der noch auf demWeg zumPlatz war. Nun wagte es niemand mehr, die Wahl desGlücksvogels anzufechten. Unser Prinz wurde zumPadischah bestimmt und nahm die Staatsgeschäfte so-gleich in die Hand. Und da er sehr klug war, hatte erdas Volk schnell für sich eingenommen und regiertesein Reich mit Vernunft und Verstand.Jahre vergingen, und eines Tages verspürte der junge

Padischah Sehnsucht nach seinem Vater und schriebihm einen Brief, in dem er ihn in sein Reich einlud. Erschrieb aber nicht, wer er in Wirklichkeit war. Da abersein Vater Reisen und Vergnügungen sehr liebte, nahmer die Einladung aus seinem Nachbarreich an undmachte sich mit einer Schar Soldaten auf den Weg.Unterdessen hatte unser junger Padischah angeord-

net, dass die herrlichsten Speisen zubereitet werdensollten, man sie aber nicht mit Salz würzen solle, keineinziges Korn solle verwendet werden. Als er seinenVater schließlich empfing, erkannte dieser ihn nicht,da er nun einen Bart trug. Der junge Padischah freutesich darüber, denn nun konnte er seinen Plan unge-hindert ausführen.Am Abend begab man sich zum Essen. Der Gast

schätzte alle Speisen zwar sehr, doch er wunderte sichdarüber, dass ihnen Salz fehlte. Doch er sagte nichts,

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um seinen Gastgeber nicht vor den Kopf zu stoßen,und aß still weiter.Am nächsten Tag suchte der Vater unseres Padi-

schahs seine Soldaten auf und fragte sie nach ihremBefinden. Diese beschwerten sich ebenfalls darüber,dass den Speisen Salz fehlte. Da nahm sich der alte Pa-dischah vor, beim Mittagessen nach dem Grund dafürzu fragen. Als es so weit war, sprach er zu seinemGastgeber: »Mein junger Padischah, habt Ihr in EuremReich denn kein Salz?« Der junge Padischah lächelteund antwortete: »Wir haben wohl Salz, mein Padi-schah, wir haben sogar so viel, dass wir es in alle Weltverkaufen.« Der alte Padischahwar verblüfft und frag-te weiter: »Wenn dem so ist, warum lasst Ihr EureSpeisen ohne Salz zubereiten?« Der junge Padischahsprach: »Ich habe gehört, dass Ihr kein Salz in EurenSpeisen mögt, deswegen habe ich angeordnet, es nichtzu verwenden.« Der alte Padischah war noch verblüff-ter und entgegnete: »Aber nein, mein Padischah, dahat man Euch falsch unterrichtet. Wie könnte manohne Salz leben? Im Gegenteil, ich liebe Salz sehr!«Daraufhin sprach der junge Padischah: »Aber als Euerjüngster Sohn Euch sagte, Ihr wäret ihm so teuer wieSalz, da habt Ihr ihn doch den Henkern übergeben!«Da verstand der Padischah, was er getan hatte, und alser seinen Gastgeber näher betrachtete, erkannte er inihm endlich seinen Sohn. Vor Freude weinend fielensich beide in die Arme, glücklich darüber, wieder ver-eint zu sein.Sie aßen, tranken und ließen es sich gut gehen!

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Märchen vonMenschenaus dem einfachen Volk

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DasAli-Dschengis-Spiel

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es hatteeinmal in alter Zeit eine Frau einen Sohn, der war

außerordentlich schön und besaß darüber hinaus vieleTugenden und Fertigkeiten. Man kannte seinesglei-chen nicht auf der ganzen Welt. Die Frau nun nahmdiesen Knaben, brachte ihn in den Palast des Padi-schahs und gab ihn in dessen Dienste.Eines Tages langweilte sich der Padischah und

suchte zu seinem Zeitvertreib etwas Vergnügliches inden Taten und den Erzählungen seiner Untergebenenzu finden, die sich um seinen Thron versammelt hat-ten. Doch nichts vermochte seine Langeweile zu ver-treiben und er wurde immer übellauniger. Kaum einergetraute sich mehr, sich in seiner Gegenwart zu regen.Schließlich aber fasste sich sein Lala ein Herz undschlug dem Padischah vor: »Mein Gebieter! Wenn esEuer Wille ist, so sollen hier allerlei Musiker, Akro-baten, Zauberkünstler und dergleichen auftreten undEuch unterhalten.« Doch sosehr sich der Lala auchmühte, der Padischah sagte nicht ein Wort und wehrte

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alles mit der Hand ab. Schließlich brachte er kaummerklich hervor: »Ist jemand unter euch, der das Ali-Dschengis-Spiel kennt?« Da niemand diese leisenWor-te vernommen hatte, ging der Lala durch die Reihender Anwesenden und überbrachte jedem Einzelnendie Frage des Padischahs. Nun ging ein Raunen undFlüstern und Murmeln durch den Raum, und da nie-mand dieses Spiel kannte und alle die Wut des Padi-schahs fürchteten, blieben sie schließlich stumm undgesenkten Blickes auf ihren Plätzen stehen.UnserKnabehingegenkauerte in einerdunklenEcke

hinter einemVorhang und beobachtete das Geschehen.Von dem Flüstern und Murmeln vernahm er nur dieHälfte, da er aber von großer Klugheit war, verstand ersofort das Anliegen des Padischahs. Er nutzte die Ver-legenheit der anderen, trat vor den Padischah und rief:»Mein Padischah, wenn ich Eure Erlaubnis erhalte, sowill ich dieses Spiel erlernen und geschwind hierherzurückkehren.« Mit einem Mal kam wieder Leben indie erstarrte Menge, die sich darüber freute, dass jenerbartlose JünglingnundenZorndes Padischahs auf sichziehenwürdeund sie selbst dadurchverschont blieben.Doch zu ihrer Überraschung hellte sich die Miene desPadischahs auf, der von solcher Kühnheit beeindrucktwar, und der Junge reiste mit der Erlaubnis des Padi-schahs ab, auf dass er das Ali-Dschengis-Spiel erlerne.Der Knabe ging zum Haus seiner Mutter, nahm

Abschied von ihr, packte seinen Proviant ein undmachte sich auf seinen Weg über Stock und Stein undBerg und Tal. Und wie er eines Tages auf der Suchenach dem Haus des Ali Dschengis umherwanderte,begegnete er einemDerwisch. Dieser fragte ihn: »MeinSohn, wohin des Weges?« Da antwortete der Knabe:

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»Ich gehe, das Ali-Dschengis-Spiel zu erlernen.« DerDerwisch witterte eine Gelegenheit, sich des Jungenzu bemächtigen, fuhr sich mit der Hand über seinenBart und fragte: »Ja weißt du denn, wo du es erlernenkannst?« Der Junge erwiderte: »Es soll jemanden mitdem Namen Ali Dschengis geben. Ich werde ihn fin-den und das Spiel bei ihm erlernen.« Da rief der Der-wisch: »Der Weg dorthin ist sehr weit und beschwer-lich. Komm, mein Sohn, ich will es dich lehren, dennich kenne dieses Spiel auch.« Er nahm den Knabenund sie machten sich auf in die Berge.Nachdem sie einige Zeit gewandert waren, kamen

sie an einer Höhle an und traten ein. Diese Höhle wardie Wohnung des Derwischs. Er hieß den Jungen sichsetzen und ging fort. Der Knabe wartete eine Weile,doch dann wurde es ihm langweilig, und er ging ausdem Zimmer hinaus. Er durchwanderte jeden Winkelder Höhle und kam schließlich zu dem Zimmer, dassichnebendemseinenbefand.Als er eintrat, sah er dortein Mädchen so strahlend schön wie der Vollmond,doch mit Augen, aus denen Tränen wie aus einemBrunnen flossen. Es saß auf einem Stuhl und stickte.Der Knabe fragte: »Bist du ein In oder einDschinn? Bistdu eine Braut oder eine Jungfrau?« Da sagte das Mäd-chen: »Ich bin weder ein In noch ein Dschinn. Ich bingleich dir ein Menschenkind und die einzige Tochtermeiner armen Mutter.« Der Knabe fragte: »Woher bistdu gekommen? Was hat dich hierher verschlagen?«DasMädchen antwortete: »Das Schicksal hatmichhier-hergeführt.Während ich ein Kindwar, besuchte ich dieSchule. Eines Tages ergriff mich dieser Derwisch undbrachte mich hierher. Sosehr er sich auch bemühte,mich lesen zu lehren, so sagte ich doch in keiner Weise

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nach, was er mir vorsagte. Dann sperrte er mich indieses Zimmer ein und gab mir diese Stickerei. Seitherverbringe ich meine Tage in dieser Höhle. Ich sitze hierauf diesem Stuhl und schlafe dort in jener Ecke.«Danach brachte das Mädchen den Knaben zu einem

verschlossenen Brunnen und öffnete ihn. Er war bisan den Rand voll mit Menschenleichen. Der Knabeverlor die Besinnung und fiel zu Boden. Nach einigerZeit erwachte er aus der Ohnmacht, und das Mädchensagte nun zu ihm: »Mein Jüngling, höre mir nun gutzu. Wenn dieser Derwisch dich unterweist, so liesimmer das Gegenteil und lies auf keinen Fall richtig.Denn wenn du richtig liest, wirst du auf immer seinGefangener bleiben!« Es ermahnte ihn tüchtig.Endlich stand der Knabe auf und kam geradewegs

an den Ort, an dem der Derwisch war. Der sagte:»Komm, Knabe, ich will dich unterrichten!«, woraufder Junge sich auf beide Knie setzte und zu lesen be-gann. Doch als der Derwisch »Elif« sagte, so sagte derJüngling »Strich«. Als er »Be« sagte, sagte der Knabe»Bottich«. Und so ging es weiter mit jedem Buchsta-ben: Der Junge sprach irgendwelche Wörter, dichtetegar einen Vers oder eine ganze Strophe, vermied esaber tunlichst, richtig zu lesen. Kurz und gut, da er biszum Schluss auf diese Weise zu lesen fortfuhr, ver-dross es den Derwisch so sehr, dass er auf den Knabenlosging und ihn nach Kräften schlug. Danach holte erdas Ali-Dschengis-Buch hervor und ließ den Jungendaraus lesen. Auch dieses las der Knabe wieder ver-kehrt, insgeheim aber lernte er es vollständig auswen-dig. Der Derwisch aber wurde es überdrüssig, ihn zuunterweisen. Er hörte auf, ihn zu schlagen, und führteihn mit denWorten: »Er wird es nie richtig lesen!«, aus

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den Bergen hinaus und wieder auf den Weg zurück,den er zuvor eingeschlagen hatte.Von da kam der Knabe geradewegs in sein Haus

und sagte zu seiner Mutter: »Mutter, mir ist vieleswiderfahren und ich habe viele Qualen erlitten. Dochhabe ich auch das Ali-Dschengis-Buch auswendig ge-lernt und kenne nun das Spiel. Ich muss sofort damitbeginnen. Morgen werde ich mich in ein Pferd ver-wandeln. Nimm mich dann und verkauf mich fürGeld an den Padischah! Aber hüte dich, gib ja nichtmeinen Zaum mit weg!« Als es nun Morgen wurde,stand seine Mutter auf und sah, dass ihr Sohn tatsäch-lich im Stalle zu einem schönen Pferd geworden war.Da fasste sie es am Halfter, brachte es dem Padischahund verkaufte es für einen Beutel voll Gold. Mit demZaum in der Hand kehrte sie nach Hause zurück.Als es Nacht wurde, erschien ihr Sohn wieder in

Menschengestalt und sagte zu seiner Mutter: »Mutter,morgen werde ich zu einem Widder werden. Bringmich wieder in den Palast und verkauf mich an denPadischah!« Am folgenden Tage wurde der Knabe einWidder, und seine Mutter packte ihn. Und währendsie ihn geradewegs zum Padischah brachte, kam miteinem Mal der Derwisch des Weges daher. Dieser be-griff sofort, was geschehen war, und sagte zu sich:»Wehe, gerissener Junge! Zuletzt hast du mich dochverhöhnt und mir zudem noch meine Kunst gestoh-len!«, und geriet in große Wut. Er passte die Frau amWeg ab und hielt sie an. Er sagte: »Mutter, nimmdiesesGeld und verkauf mir diesenWidder!«, und reichte ihreinen Beutel mit Geld. Die Frau war verwirrt undwollte ihn dem Derwisch schon übergeben, da wurdeder Knabe zu einem Vogel und flog davon. Sofort ver-

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wandelte sich der Derwisch in einen Habicht undstürzte ihm nach, um ihn zu fassen. Die arme Frau aberblieb voller Verwunderung allein zurück.Die beiden verfolgten einander in der Luft und

kamen schließlich zum Palast des Padischahs. DerPadischah saß am Erker und blickte hinaus. Da wurdeder Vogel zu einem roten Apfel und fiel dem Padi-schah in den Schoß. Der Habicht indes wurde wiederzum Derwisch und trat zum Padischah. Er sagte:»Mein Padischah, jener Apfel ist mein«, und griff da-nach. Der Padischah hingegen konnte sich an demschönen Apfel nicht sattsehen, sagte aber schließlich:»Mein Derwisch, dieser Apfel ist mein, denn niemanddarf es wagen, etwas aus dem Schoße des Padischahszu fordern. Doch will ich ihn dir gewähren, denn ichsehe, dir ist nach ihm. So nimm ihn denn!« Als derPadischah ihm den Apfel geben wollte, da wurde derApfel in seiner Hand zu Hirse und zerstreute sich aufdie Erde. Sofort wurde der Derwisch zu einer Henneund fing an, die Hirsekörner aufzupicken. Im selbenAugenblick wurde die Hirse zu einemMarder, der aufdie Henne lossprang und sie erwürgte.Hierauf schüttelte sich der Marder und wurde wie-

der zum Jüngling. Der Padischah sagte: »Du bist es,mein Sohn! Nun, hast du das Haus des Ali Dschengisgefunden und dich in dem Spiel unterweisen lassen?«Da antwortete dieser: »Jawohl, mein Padischah!«, undberichtete ihm vom Geschehenen und schloss mitdenWorten: »Siehe, mein Padischah, dieses Schauspielnennt man das Ali-Dschengis-Spiel. Jener Derwischwar mein Meister. Er bemühte sich, mich zu verder-ben, da ich ihm seine Kunst genommen habe. Doch ichwurde Meister über ihn, kam ihm zuvor und vernich-

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tete ihn.« Diese Sache gefiel dem Padischah so sehr,dass er sich die Erlebnisse des Jungen noch einmal vonAnfang an berichten ließ. Er gab ihm eine große Men-ge Geld, machte ihn zu seinem Günstling und ließ fürseine Mutter einen mächtigen Konak bauen.Der Knabe aber erbat sich noch einmal die Erlaubnis

des Padischahs undmachte sich auf denWeg zur Höh-le in den Bergen. Dort fand er das Mädchen, welchesihm durch ihren Rat das Leben gerettet hatte, undüberbrachte ihm nun die Nachricht vom Tode des Der-wischs. Das Mädchen war nun ebenfalls frei und kehr-te mit dem Jungen zurück zum Konak seiner Mutter,wo sie vierzig Tage und vierzig Nächte Hochzeit hiel-ten und fortan in Glückseligkeit miteinander lebten.Sie haben das Ziel ihrer Wünsche erreicht, und so

möge es auch uns ergehen!

Geduldstein und Geduldmesser

E s war einmal, und doch war es keinmal. GottesGeschöpfe waren viele an der Zahl. Es war einmal

ein Ehepaar, das hatte eine Tochter. Da sie arm waren,hatte die Tochter zu Hause am Sticktischchen ihreBeschäftigung.

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Eines Tages saß sie beim Fenster und arbeitete, alsein kleiner Vogel auf das Sticktischchen flog und zurMaid sprach: »O Maid, o arme Maid, ein Toter ist deinKismet!« Hierauf flog er von dannen. Das Mädchenhatte keine Ruhe mehr und abends erzählte es seinemVater und seiner Mutter, was ihr der Vogel gesagt hat-te. »Schließe Tür und Fenster gut zu, wenn du dichzur Arbeit setzt«, sagten ihr die Eltern.Am nächsten Morgen sperrte das Mädchen Tür und

Fenster ab und setzte sich so an die Arbeit. Aber plötz-lich erschien der Vogel erneut auf dem Sticktisch undrief: »OMaid, o armeMaid, ein Toter ist dein Kismet!«,worauf er wieder von dannen flog. Nun erschrak dieMaid noch mehr und klagte abermals ihr Leid denEltern. »Morgen«, unterwiesen diese ihre Tochter,»schließe Tür und Fenster, kriech in den Schrank, zün-de dir eine Kerze an und arbeite dort drinnen.«Sobald ihre Eltern sich am nächstenMorgen entfernt

hatten, sperrte die Maid alles ab, zündete eine Kerzean und verkroch sich in den Schrank. Aber kaummachte sie einige Stiche, so stand der Vogel vor ihr undsagte erneut: »O Maid, o arme Maid, ein Toter ist deinKismet!«, und flog flatternd davon. Die Maid wusstenun gar nicht mehr, was sie in ihrer Unruhe anfangensolle. Sie warf die Arbeit beiseite und quälte sich mitdem Gedanken, was diese Worte wohl zu bedeutenhätten. Ebenso ihre Eltern, als sie abends die Sacheerfuhren; am nächsten Morgen blieben sie zu Hause,damit auch sie den Vogel sähen. Aber wer da nichtmehr kam, das war ebenjener Vogel. Ihre Ruhe wardahin. Sie rührten sich nicht mehr aus der Stube undwarteten fortwährend, ob der Vogel vielleicht dochherbeikäme.

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Eines Tages kamen die Nachbarmädchen auf Besuchund baten die armen Leute, sie mögen ihre Tochter mitihnen lassen. Sie wollten ins Freie gehen, um sich zuunterhalten, damit die Maid ihren Kummer vergesse.Die Eltern trauten sich nicht, ihre Tochter fortzulassen,aber die Mädchen versprachen ihnen, dass sie sie nichtaus den Augen lassen wollten, und schließlich gabensie ihre Erlaubnis.Die Mädchen gingen hinaus auf das Feld, tanzten

und scherzten, bis die Sonne unterging. Auf demRückweg blieben sie bei einer Quelle stehen und tran-ken Wasser. Die Tochter der armen Leute trat auch zurQuelle, und als sie trank, erhob sich plötzlich eineMau-er zwischen ihr und den Mädchen. Das war aber eineMauer, wie sie zuvor noch nie ein Auge gesehen hatte.Kein Ton konnte über sie hinüberdringen, so hoch warsie, und kein Mensch konnte auf ihre andere Seitegelangen, so breit war sie. O, wie erschraken darüberdie Mädchen! Welch ein Klagen, Weinen, Durcheinan-derlaufen, welche Verzweiflung entstand; was würdenun mit der armen Maid geschehen, was mit denarmen Eltern! »Habe ich es dir nicht gesagt«, rief dieeine, »dass wir sie nicht mit uns nehmen sollen?« –»Was sollen wir jetzt ihrem Vater und ihrer Muttersagen«, klagte die andere, »wie sollen wir ihnen vordie Augen treten?« – »Diese ist schuld daran; jene istschuld daran; du hast sie gerufen«, so stritten sie sichund blickten die große Mauer an.Die Eltern erwarteten indessen ihre Tochter; sie stan-

den am Tor und harrten der Kommenden. Da kamendie Mädchen laut weinend heran und getrauten sichkaum zu sagen, was mit ihrer Tochter geschehen war.Die Eltern liefen sofort zur großen Mauer, und als sie

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sahen, dass sie nicht zu überwinden war, weinten undklagten sie – sie auf der einen, die Maid auf der ande-ren Seite.Vom Weinen erschöpft schlief die Maid ein, und als

sie am Morgen erwachte, erblickte sie eine große Türin der Mauer. Sie öffnete die Tür – und ein so schönerPalast stand jenseits der Tür, wie sie einen solchennicht einmal im Traume gesehen hatte. Sie trat in dieVorhalle ein und erblickte an der Wand vierzig Schlüs-sel. Sie nahm dieselben an sich und schloss die Zim-mer der Reihe nach auf und sah in dem einen Silber,im anderen Gold, im dritten Diamanten, im viertenSmaragde, kurz – in einem jeden eine andere Art vonEdelgestein, so dass ihre Augen vom Glanze beinahegeblendet wurden.Sie trat nun ins vierzigste Zimmer ein; dort lag ein

junger, schöner Bey aufgebahrt, neben ihm ein Fächer.Auf seiner Brust lag ein Papier, auf dem geschriebenstand: »Wer mich vierzig Tage lang fächelt und nebenmir betet, der findet sein Kismet!« Als die Maid dasGeschriebene gelesen hatte, fiel ihr der kleine Vogelein und sie fügte sich nun in ihr Schicksal, das in derTat ein Toter war. Sie wusch sich also zum Gebet undmit dem Fächer in der Hand setzte sie sich neben denBey. Tag und Nacht fächelte sie ihn und betete, bis dervierzigste Tag anbrach.Am Morgen des letzten Tages blickte sie ein wenig

zum Fenster hinaus und bemerkte ein arabischesMädchen vor dem Palast. Sie rief es auf einen Augen-blick herauf, damit es sie ablöse und neben dem Beybete, während sie selbst sich waschen und in Ordnungbringen wollte. Die Maid ging hierauf hinab, wuschsich, kleidete sich an, damit sie den erwachenden Bey,

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den ihr das Schicksal zugeteilt hatte, empfangen kön-ne.Inzwischen las die Araberin aber das Papier, und

während die Maid unten weilte, erwachte der Jüng-ling. Er blickte um sich, und sobald er die Schwarzebemerkte, so umarmte er sie und nannte sie seineGattin. Die arme Maid traute kaum ihren Augen, alssie in die Stube trat. Aber als die arabische Magd rief:»Ich, die Sultanstochter, schäme mich nicht, so ange-kleidet zu gehen und diese Dienstmagd da wagt es,geputzt vor mir zu erscheinen«, verstand sie, wasgeschehen war. Die Araberin jagte sie aus der Stubehinaus und schickte sie in die Küche, damit sie nachihrer Arbeit sehe, koche und brate. Dem Bey fiel dieSache auf, aber er konnte nichts sagen; die Araberinwar seine Gattin, die andere – die kochte in derKüche.Das Opferfest nahte, und wie es zu dieser Zeit üb-

lich war, wollte der Bey seine Gattin und seine Be-diensteten beschenken. Er ging also zur Araberin undfragte sie, was er ihr zum Fest bringen solle. DieAraberin wünschte sich ein Gewand, das weder miteiner Nadel genäht noch mit einer Schere geschnittenwar. Dann ging er in die Küche hinab und fragte dieMaid, was sie haben wolle. »Einen Geduldstein, gelbgefärbt, und ein Geduldmesser, braun gestielt, diesebeiden bringe mir«, sagte die Maid. »Aber bedenke«,so ermahnte sie ihn, »wenn du dein Versprechen nichthältst und mir diese Gegenstände nicht bringst, sowird das Schiff, mit dem du reist, untergehen und ihrwerdet alle ertrinken!«Der Bey zog von dannen, kaufte der Araberin das

Gewand, aber den Geduldstein und das Geduldmes-

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ser konnte er nirgends finden. Da er sich keinen Ratmehr wusste, kehrte er nicht nach Hause zurück,sondern bestieg ein Schiff, welches in eine andereRichtung fuhr. Als das Schiff den halben Weg zurück-gelegt hatte, blieb es plötzlich stehen und bewegtesich weder vorwärts noch rückwärts. Der Schiffsfüh-rer erschrak und teilte den Reisenden mit, dass sichauf dem Schiffe ein Mensch befinden müsse, der seinWort nicht halte, deshalb könnten sie nicht weiterfah-ren. Da trat der Bey hervor und sagte, dass er es sei,der sein Wort nicht gehalten habe. Man setzte denBey am Ufer wieder aus, damit er vorher sein Ver-sprechen einlöse und dann erst aufs Schiff zurück-kehre.Der Bey lief nun hin und her und ging so lange

herum, bis er endlich bei einer großen Quelle stehenblieb. Kaum dass er sich an den Stein derselben an-lehnte, so erschien schon ein großlippiger Araber vorihm und fragte ihn nach seinem Wunsch. »Einen Ge-duldstein, gelb gefärbt, und ein Geduldmesser, braungestielt, diese beiden bringe mir«, sagte der Bey demAraber. Im nächsten Augenblick schon befanden sichder Geduldstein und auch das Geduldmesser in seinerHand. Er ging zum Schiff zurück, bestieg es und kehr-te zum Opferfest heim. Er gab seiner Gattin das Ge-wand; den Stein und das Messer aber trug er hinab indie Küche.Der Beywar nun neugierig, was dieMaidmit diesen

Sachen anfangenwerde. Er schlich daher abends in dieKüche und harrte der kommenden Dinge. Als derAbend hereinbrach, nahm die Maid das Messer in dieHand, legte den Stein vor sich hin und begann ihreLebensgeschichte zu erzählen. Sie erzählte, was sie

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dreimal vom Vogel gehört habe und in welcher großenAngst sie und ihre Eltern gewesen seien. Und wie sienun auf den Stein blickte, so begann dieser anzu-schwellen, seine gelbe Farbe brodelte und fauchte, alsob Leben in ihm wäre. Die Maid erzählte nun weiter,dass sie sich in den Palast des Beys verirrt, vierzig Tageneben ihm gebetet und schließlich das Beten der Ara-berin überlassen habe, um sich zu waschen und zureinigen. Der Stein schwoll noch mehr an, brodelteund schäumte, als ob er platzen wollte. Die Maid er-zählte nun weiter, dass die Araberin sie betrogen undder Bey die Araberin und nicht sie zur Gattin genom-men habe. Als ob der Stein ein Herz gehabt hätte, sobrodelte, so schwoll er an, und als die Maid ihre Er-zählung beendigt hatte, zerplatzte er.Die Maid ergriff nun das Messer und rief: »O du

gelber Geduldstein, du warst ein Stein und konntestes doch nicht ertragen, was mir widerfahren ist, wiesoll ich schwache Maid es dann ertragen?« Sie wolltesich nun das Messer in den Leib stechen, aber der Beysprang herbei und ergriff ihre Hand. »Du bist meinrechtes Kismet«, sprach der Jüngling und führte siehinauf zum Platze der Araberin. Er ließ die falscheGattin töten, die Eltern der Maid herbeiholen und solebten sie fortan in Glückseligkeit.Ein Vöglein fliegt bisweilen an das Fenster des Pa-

lastes und singt fröhlich: »O Maid, o glückliche Maid,du hast dein Kismet gefunden.«

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Das schöne Helwa-Mädchen

E s war einmal, und doch war es keinmal. In alterZeit, als die Kuppe noch über dem Badehaus

stand, die Kamele Herolde waren und die Mäuse Bar-biere, da gab es einmal einen armen Kammmacher.Dieser sagte eines Tages zu seiner Frau: »Liebes

Weib, gib mir ein wenig Geld, ich will auf einen Kaffeeins Kaffeehaus gehen. Vielleicht gelingt es mir dortauch, ein paar Kämme zu verkaufen.« Die Frau gabihmeinigeMünzen, undderMannging insKaffeehaus.Der Kammmacher setzte sich im Kaffeehaus nieder,

trank seinen Kaffee, und während er so vor sich hin-grübelte, sah er, wie einige Kaufleute ins Kaffeehauskamen und sich nach einem Kammmacher erkundig-ten. Da bot er den Kaufleuten seine Kämme an, und siewurden ihm im Nu abgekauft. Da ihnen die Kämmegefielen, bestellten sie noch tausend Stück bei ihm.Voller Freude begab sich der Mann nach Hause undmachte sich gleich an die Arbeit. Nach zwei Monatenhatte er tausend Kämme hergestellt und brachte sieden Kaufleuten. Diese waren so zufrieden mit seinerArbeit, dass sie ihm noch zusätzliches Trinkgeld ga-ben.Der Kammmacher war nun reich und wollte mit

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seiner Frau eine Wallfahrt unternehmen. Die Frau wil-ligte ein, wollte aber ihre Tochter nicht mitnehmen. Dabeschlossen sie, das Mädchen in die Obhut des Hod-schas zu geben, brachten es zu ihm und traten mitihrem Sohn die Reise an.Lassen wir diese nun ihre Reise unternehmen und

sehen, wie es dem Mädchen beim Hodscha erging.Dieser war von der Schönheit des Mädchens so gefes-selt, dass er es für sich haben wollte. Er sann darübernach, wie er dies bewerkstelligen sollte, und da kamihm ein Gedanke. Er begab sich in ein Badehaus undredete dort so lange auf die Badefrau ein, bis sie sichdazu bereit erklärte, gegen Bezahlung das Mädchenins Badehaus, geradewegs in seine Arme, zu locken.Er gab ihr das Geld und stellte noch mehr in Aussicht,wenn ihre Aufgabe erfüllt wäre. Die Badefrau gingnun eines Tages ins Haus des Hodschas und fragte dasMädchen: »Willst du nicht einmal zumir ins Badehauskommen?« Das Mädchen antwortete: »Ich habe dochniemanden, dermitmir gehen könnte.«Doch die Bade-frau versprach ihm, sie würde ihm schon Gesellschaftleisten und es baden. Da fasste dasMädchen Vertrauenzur Frau und ließ sich von ihr ins Badehaus führen.Dort wurde es entkleidet und ins Dampfbad gesetzt.Dann ließ die hinterhältige Badefrau den Hodscha be-nachrichtigen, der sich gleich darauf zum Mädchengesellte.Als das Mädchen den Hodscha erblickte, erschrak

es zuerst und wurde sehr verlegen. Doch dann durch-schaute es die Sache, fasste sich und rief dem Hodschazu: »Komm nur her, dann können wir uns gegenseitigbeim Baden helfen!« Der Hodscha konnte sein Glückkaum fassen und setzte sich nieder, um sich von dem

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Mädchen baden zu lassen. Das Mädchen aber seifteihn gehörig ein, bis man vor lauter Schaum den Hod-scha nicht mehr sah. Und während dieser sich sodarüber freute, dass sein Plan aufzugehen schien, dazog das Mädchen eine ihrer Holzpantinen aus, wickel-te sie in ein Handtuch ein und prügelte und droschdamit so auf den Hodscha ein, dass er ganz grün undblau wurde und sich am Ende nicht mehr regen konn-te. Unser Mädchen lief daraufhin aus dem Bad undversteckte sich im Haus seines Vaters.Nachdem der Hodscha wieder zu sich gekommen

war, dauerte es noch eine geraume Zeit, bis er sich vonden Schlägen des Mädchens erholt hatte. Die Sachemachte ihn so wütend, dass er den Eltern des Mäd-chens einen Brief schrieb, in dem er ihnen mitteilte,dass ihre Tochter sein Haus verlassen habe und sichherumtreibe.Wie groß waren da erst die Scham und der Zorn der

Eltern, als sie den Brief lasen! Sofort schickten sie ihrenSohn nach Hause, damit er die Tochter an einem ein-samen Ort töte und ihnen ihr blutiges Hemd bringe.Der Sohn tat, wie ihm die Eltern befohlen hatten, undzerrte seine Schwester auf einen Berg. Doch da erfassteihn Mitleid für die geliebte Schwester, und er schenkteihr das Leben und sprach: »Meine Schwester, laufe fortvon hier, jetzt bist du dir selbst überlassen!« Dannschnitt er sich ins eigene Bein, tauchte das Hemd sei-ner Schwester in sein Blut und überbrachte es seinenEltern. Diese waren nun erleichtert, da ihr Sohn ihreEhre wiederhergestellt hatte.Lassen wir die drei ihre Reise fortsetzen und sehen,

was mit demMädchen geschah. Es schlug nun irgend-eine Richtung ein und lief ein halbes Jahr und zehn

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Tage und gelangte eines Tages an eine Quelle, die sichan einem Waldrand befand. Dort wollte es sich aus-ruhen und legte sich nieder. Es begab sich aber, dassan diesem Tag der Padischah jener Gegendmit seinemLala auf der Jagd war. Als unser Mädchen die beidenReiter herannahen sah, stieg es schnell auf einen Baum,um nicht von ihnen entdeckt zu werden.Der Padischah und sein Lala kamen bei der Quelle

an und hielten an. Der Padischah wollte an der Quelledie Reinigung vornehmen, um sein Gebet zu verrich-ten. Nachdem er sich nun gewaschen hatte, hob er seinHaupt, um zu beten, und erblickte plötzlich ein Mäd-chen im Baum, so strahlend schönwie die Sonne. Docher ließ sich nichts anmerken und beendete zunächstsein Gebet. Dann wandte er sich an seinen Lala undsagte: »Unsere Jagd ist zu Ende, denn ich habe hiermeine Beute gefunden.« Der Lala fand keinen Sinn inden Worten des Padischahs. Doch dieser scherte sichnicht um seinen Lala, sondern rief dem Mädchen zu:»Bist du ein In oder ein Dschinn?« Das Mädchen ant-wortete: »Weder ein In noch ein Dschinn! Doch einMenschenkind, wie du es bist!« Darauf der Padischah:»Dann steig vom Baum herunter, und ich will dich inmeinen Palast bringen und dich zu meiner Gemahlinmachen!« Das Mädchen hatte ebenfalls Gefallen amPadischah gefunden, und so stieg es hinunter und ließsich von ihm in seinen Palast führen. Dort feierten sieihre Hochzeit vierzig Tage und vierzig Nächte langund lebten fortan glücklich und zufriedenmiteinander.Und ihr Glück wurde vollkommen, als das Mädchendem Padischah einen Sohn und eine Tochter gebar.Eines Tages saßen die beiden zusammen, und da

erzählte das Mädchen dem Padischah, woher es stam-

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me, wer seine Eltern waren und was ihm widerfahrenwar. Es hatte nun Sehnsucht nach seinenEltern und sei-nemBruder, und da der Padischah ihmkeinenWunschabschlagen konnte, da gestattete er ihm die Reise. Erließ seinen Lala mit ihr reisen und trug ihm auf, dasLeben seiner Gemahlin und der Kinder zu beschützenund sie sicher in die Heimat ihrer Eltern zu bringen.Und wenn die Eltern zusammen mit ihrer Tochter zu-rückkehren wollten, so sollte er auch sie mitbringen.So machte sich das Mädchen in Begleitung des Lala

auf die Reise. Sie gingen über Berg und Tal, über Stockund Stein, durch Täler und Ebenen. Endlich kamen sieam Fuß eines Berges an und beschlossen, dort ihrNachtlager aufzuschlagen. Nachdem sie ihren Durstgelöscht und ihren Hunger gestillt hatten, begaben siesich in ihre Zelte und legten sich schlafen. Um Mitter-nacht aber drang der Lala in das Zelt der Sultanin einund sprach: »Du musst auch die Meine werden, dennder Padischah und ich haben dich gemeinsam gefun-den!« Die Frau war bestürzt über die Worte des Lala,wies ihn zurecht und wollte ihn fortjagen. Doch dieserließ sich nicht verjagen, sondern fügte hinzu: »Entwe-der du gehörst mir, oder ich bringe deine Kinder um!«Doch die Sultanin ging nicht darauf ein. So musste siezusehen, wie der Lala ihre Kinder grausam tötete. Daging er auf sie zuund schrie: »Entwederdugehörstmir,oder ich bringe auch dich um!« Die Sultanin sagtedarauf: »Dann töte mich! Doch bevor du es tust, gestat-temir noch ein letzteWaschung und ein letztes Gebet.«Der Lala erlaubte es ihr und band ihr einen Strick umden Bauch, damit sie nicht fliehen konnte. So ließ er siehinaus. Die Sultanin ging aus demZelt und band, ohnedass es der Lala merkte, das Seil geschickt um einen

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Stein. Dann lief sie, so schnell sie konnte, von diesemOrtweg, um sich vordemLala in Sicherheit zu bringen.Lassen wir die Sultanin fliehen und sehen nun, was

der Lala unternahm. Dieser wartete zunächst auf dieSultanin. Und da sie nicht kommen wollte, stand erauf, um nachzusehen, warum es so lange dauerte.Doch was sollte er sehen, als er aus dem Zelt trat! DasSeil war um einen Stein gebunden und von der Sulta-nin war weit und breit keine Spur! Außer sich vorZorn, aber auch die Rache des Padischahs fürchtend,weckte er die Soldaten und sagte ihnen, dass die Sul-tanin ihre Kinder getötet habe und weggelaufen sei.Dann ließ er die Zelte abbrechen und sie machten sichauf den Rückweg.Die Sultanin ihrerseits wollte in ihre alte Heimat

zurückkehren und setzte den zuvor eingeschlagenenWeg fort. Sie begegnete einem Hirten, den sie umeines seiner abgetragenen Kleider bat. Dafür wolltesie ihm ihr eigenes Gewand geben. Der Hirte nahmdas Angebot sofort an, und so zog sie als Mann ver-kleidet weiter. Bald kam sie in ihre Heimatstadt, in dersie sich eine Anstellung als Helwa-Bereiterin suchte.Sie stellte sich dabei so geschickt an und bereitete soköstliche Helwa zu, dass schon bald die ganze Stadtvon ihrem Können schwärmte.Der Vater der Sultanin hatte in der Zwischenzeit ein

Kaffeehaus eröffnet. Eines Tages begab er sich in dasGeschäft, in dem seine Tochter unerkannt Helwa be-reitete, denn er wollte auch einmal von der Helwadieses Jungen kosten. Sobald er den Laden betrat,erkannte ihn seine Tochter, doch sie verhielt sich still.Lassen wir die Sultanin nun im Helwa-Laden und

wenden uns ihrem Gemahl zu. Dieser hatte vom Lala

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die Lüge über seine Frau gehört und fand seitdemkeine Ruhe. Er dachte Tag und Nacht an seine Gemah-lin, trauerte um die toten Kinder und wollte es so garnicht glauben, dass seine Frau eine so grausame Per-son sein sollte. Eines Tages hielt er es nicht mehr ausund rief seinen Lala, zu dem er sprach: »Ich werdeausziehen und meine Gemahlin suchen! Sie soll mirRede und Antwort stehen. Ich werde keine Ruhe fin-den, bevor ich sie nicht gefunden habe!« Da wollte ihnder Lala nochmals davon überzeugen, dass seine Ge-mahlin eine untreue Person und weggelaufen sei.Außerdem habe sie seine Kinder getötet, was wolle eralso noch von dieser Mörderin! Doch der Padischahschenkte ihm kein Gehör, stattdessen befahl er, dienötigen Reisevorbereitungen zu treffen. Kurz daraufmachten sich beide auf denWeg. Sie reisten am Tag, siereisten in der Nacht und kamen endlich in der Stadtan, in der sich die Sultanin als Helwa-Bereiterin betä-tigte. Der Padischah schickte den Lala aus, um sichnach einer Herberge zu erkundigen. Als der Lala zu-rückkam, sagte er: »Mein Padischah, eine Herbergegibt es hier nicht. Doch man hat mir empfohlen, ineinen bestimmten Helwa-Laden zu gehen. Dort sollein Junge die köstlichste Helwa zubereiten. Wenigs-tens können wir dort unseren Hunger stillen.« So be-gaben sie sich in besagten Helwa-Laden.Als die beiden den Laden betraten, erkannte die

Sultanin sofort ihren Gemahl und den Lala. Doch sieselbst gab sich nicht zu erkennen. Der Padischah tratzu ihr hin und verlangte Helwa. Die Sultanin erwider-te: »Mein Herr, bleibt heute Nacht hier, denn wir ver-anstalten einen Helwa-Abend, zu dem noch andereGäste geladen sind. Ich werde eine besondere Helwa

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zubereiten und ihr werdet zudem mit Geschichtenunterhalten.« Der Padischah nahm die Einladung anund alle begaben sie sich zum Helwa-Fest. Sofort zogsich die Sultanin in die Küche zurück, um die Zutatenfür die Helwa zu holen.Unterdessen fanden sich auch die Gäste ein. Es be-

fanden sich auch der Vater und der Bruder der Sulta-nin unter ihnen. Auch der Hodscha fehlte nicht. Dannkehrte die Sultanin zur Gesellschaft zurück und fingmit der Zubereitung an. Dabei richtete sie das Wort anihre Gäste und sprach: »Da ihr nun so zahlreich er-schienen seid, so wäre es doch unterhaltsam, wennjeder eine Geschichte erzählte.« Darauf erzählte jederreihum eine Geschichte oder eine Begebenheit aus sei-nem Leben. Dann kam die Reihe an die Sultanin. Siesetzte sich vor die Tür und fing an.Zuerst berichtete sie von den Geschehnissen im Ba-

dehaus und merkte, dass der Hodscha schon ganzunruhig wurde. Er sagte, er wolle ein wenig hinaus-gehen, ihm sei nicht wohl. Doch die Sultanin wichnicht von der Tür. Sie fuhr fort, indem sie erzählte, wieder Lala sie bedrängt und dann ihre Kinder ermordethatte. Auch dieser fühlte sich nicht mehr so recht wohlin seiner Haut, traute sich aber ebenfalls nicht, denRaum zu verlassen. Und während die Sultanin all dieserzählte, erkannten der Padischah, der Vater und derBruder, wer da vor ihnen saß. Die Sultanin fuhr fortund rief: »Meine Zuhörer, dies hier ist besagter Hod-scha und dies der Lala! Sie haben mir übel mitgespielt.Und hier sind mein Vater, mein Bruder und mein Ge-mahl, der Padischah, die von ihnen getäuscht wur-den!« Mit diesen Worten lief sie zu ihrem Gemahl, dersie endlich wieder in die Arme schließen konnte.

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Am nächsten Tag nahm sich der Padischah den Lalaund den Hodscha vor und fragte sie, was ihnen liebersei: vierzig Pferde oder vierzig Dolche? Diese wünsch-ten die Dolche in die Kehlen ihrer Feinde und ver-langten die Pferde. Darauf band man die beiden anvierzig Pferde und ließ die Tiere in alle Richtungendavonlaufen, so dass die beiden Bösewichte in vierzigStücke gerissen wurden.Die Sultanin aber begab sich mit ihrem Gemahl

wieder auf die Reise in dessen Heimat.Sie hat das Ziel ihrer Wünsche erreicht, möge euch

das Gleiche zuteil werden!

Die Tochter des Basilienkräutlers

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es wareinmal in alten Zeiten ein Basilienkräutler, der hat-

te drei Töchter. Diese Töchter gingen jeden Tag in denGarten und begossen die Pflanzen. Sie hatten einen Beyals Nachbarn, der ihnen immer bei ihrer Arbeit zusah.Eines Tages, als das älteste der Mädchen im Garten

war, dachte der Bey bei sich, er könne sich einen Scherzmit ihm erlauben, und rief ihm zu: »Basilienkräutlerin,Basilienkräutlerin! Du gießt jeden Tag deine Kräuter,

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weißt aber nicht, wie viele Blätter sie haben!«DasMäd-chen wurde verlegen und wusste keine passende Ant-wort. Da lief es verschämt ins Haus. Dann kam dasmittlere Mädchen in den Garten und begann dort zuarbeiten. Auch ihm rief der Bey die gleichen Worte zu:»Basilienkräutlerin, Basilienkräutlerin! Du gießt jedenTag deineKräuter, weißt aber nicht, wie viele Blätter siehaben!« Die mittlere Schwester hatte auch nicht dierichtigen Worte parat und auch sie flüchtete sich insHaus. Schließlich ging das jüngste Mädchen in denGarten. Der Bey war so belustigt über die Verlegenheitder beiden älteren Schwestern, dass er auch die drittenicht verschonte: »Basilienkräutlerin, Basilienkräut-lerin! Du gießt jeden Tag deine Kräuter, weißt abernicht, wie viele Blätter sie haben!« Das Mädchen aberwar schlagfertiger als ihre Schwestern und um keineAntwort verlegen. Ohne zu zögern versetzte sie demBey: »Mein Bey,mein Bey, in deinerHandhältst du eineFeder, in deinem Gürtel steckt ein Tintenfass, weißt dudenn aber, wie viele Sterne am Himmel stehen?« DerBey hatte nicht mit einer solchen Antwort gerechnet,drum war er nicht imstande, selbst etwas zu entgeg-nen. Er wurde darauf sehr wütend, weil ihn eineeinfache Basilienkräutlerin zum Schweigen gebrachthatte, und er sann auf Rache.Nachdemein paar Tage vergangenwaren, verkleide-

te sich der Bey als Fischverkäufer und begab sich aufdie Straße, wo er laut rufend seine Fische feilbot. Sovergingen zwei Tage. Am dritten Tag aber rief ihn dasMädchen herbei und fragte ihn, was er für die Fischeverlange. Der Bey antwortete, dass er sie nicht für Geldverkaufe.Undals dasMädchenwissenwollte,wofürersie dann verkaufe, antwortete er: »Für einen Kuss gebe

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ich dir so viel wie für eine Münze.« Das Mädchen warzunächst unschlüssig, ob sie diesem unverschämtenKerl nicht den Rücken zukehren sollte. Doch da es sehrgerne Fisch aß, fand es, dass es ein gutes Geschäft war.Und ohnehin würde es ja niemand sehen. Und so gabdasMädchen ihm, was er wollte, und erhielt dafür ihreFische. Der Bey ging freudig nach Hause, legte sichwieder seine gewohnten Gewänder an und wartetedarauf, dass die Mädchen wieder im Garten erschie-nen.Kurze Zeit darauf ging wieder die älteste Schwester

in den Garten und begann, die Kräuter zu gießen. DerBey rief ihr wieder zu: »Basilienkräutlerin, Basilien-kräutlerin! Du gießt jeden Tag deine Kräuter, weißtaber nicht, wie viele Blätter sie haben!« Abermals liefdas schüchterne Mädchen ins Haus zurück. Auch dermittleren Schwester erging es nicht besser. Als wiederdie jüngste in den Garten kam, sprach der Bey erneut:»Basilienkräutlerin, Basilienkräutlerin! Du gießt jedenTag deine Kräuter, weißt aber nicht, wie viele Blättersie haben!« Und das Mädchen antwortete wie zuvor:»Mein Bey, mein Bey, in deiner Hand hältst du eineFeder, in deinem Gürtel steckt ein Tintenfass, weißt dudenn aber, wie viele Sterne am Himmel stehen?« Daentgegnete der Bey: »Aber du weißt ja wohl, wie vieleFische es für einen Kuss gibt!« Das Mädchen verstand,dass der Bey ihm einen Streich gespielt hatte, und esschwor sich, ihm bei der nächsten Gelegenheit eineLektion zu erteilen.Es ließ sich ein Kleid mit tausend Glöckchen und

Schellen machen und versteckte es unter seinem Arm.Dann wartete es darauf, bis sich eine Möglichkeit bot,in das Haus des Beys zu kommen, schlüpfte schnell

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hinein und versteckte sich im Stall, der sich unter demSchlafzimmer des Beys befand. Unser Mädchenwarte-te Mitternacht ab, zog dann sein Kleid an und ging indas Zimmer des schlafenden Beys. Dort schüttelte essich und tanzte drauflos, dass das Kleid laut schellteundklingelte. Es schüttelte und schüttelte sich und fingan, laut zu husten, bis endlich der Bey aufwachte, »Werist da?«, rief und sich sogleichunterderDeckeversteck-te, vorAngstmit denZähnen klappernd.DasMädchenschüttelte sich weiter, auf dass die Glöckchen undSchellen hell läuteten, und sagte zum Bey: »Ich bin derTodesengel und komme, um deine Seele zu nehmen.Entweder du gibst mir deine Seele oder ich stecke direin Horn in dein Gesäß!« Der Bey wollte seine Seelenicht hergeben und so entschied er sich für das Horn:»Dann nehme ich das Horn!«, antwortete er. Da nahmdas Mädchen ein Horn hervor und rammte es ihmhinein.Am nächsten Morgen stand der Bey mit Schmerzen

auf und zog sich unter unsäglichen Qualen das Hornwieder heraus. Es dauerte noch gute zehn Tage, bis ersich wieder setzen konnte und einigermaßen genesenwar. Einmal saß er am Fenster und sah, dass die jüngs-te Tochter des Basilienkräutlers wieder im Garten ar-beitete. Da rief er ihr wieder zu: »Basilienkräutlerin,Basilienkräutlerin! Du gießt jeden Tag deine Kräuter,weißt aber nicht, wie viele Blätter sie haben!« – »MeinBey, mein Bey, in deiner Hand hältst du eine Feder, indeinem Gürtel steckt ein Tintenfass, weißt du dennaber, wie viele Sterne am Himmel stehen?«, war ihreAntwort. Da entgegnete der Bey: »Aber du weißt jawohl, wie viele Fische es für einen Kuss gibt!« Hieraufdas Mädchen: »Und du weißt aber doch, dass in dei-

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nemGesäß ein Horn gesteckt hat?« – »O dieses Schlitz-ohr!«, sprach der Bey zu sich und ging geradewegs zuseiner Mutter. Von ihr verlangte er, sie möge beimBasilienkräutler um die Hand seiner jüngsten Tochteranhalten. Die Mutter versuchte zwar mit allen Mitteln,ihren Sohn von diesem Gedanken abzubringen. DieTochter eines einfachen Basilienkräutlers sei keine gutePartie für einen Bey, fand sie. Aber was sie auch immeran Gründen vorbrachte, ihr Sohn rückte nicht davonab. Da ging die Mutter zum Basilienkräutler und batihn um die Hand seiner Tochter für ihren Sohn. DieEltern des Mädchens waren damit einverstanden, undalsbald begann man mit den Hochzeitsvorbereitun-gen. Unser Mädchen aber witterte sofort eine weitereList des Beys und bat seinen Vater, er möge eine Puppeaus Wachs anfertigen lassen, die ihr Ebenbild war.Dem Vater mutete dies eigenartig an, doch seine Toch-ter drängte so sehr darauf, dass er die Puppe endlich inAuftrag gab. DasMädchen nahmdie Puppe und setztesie in das Brautgemach. Dann nahm es einen langendünnen Faden und band das eine Ende an den Kopfder Puppe und das andere befestigte es am Schrank.Danach schüttete sie in das Innere der Puppe einenganzen Topf mit Sirup. Das Mädchen selbst setzte sichin ein anderes Zimmer und empfing dort seine Gäste.Am Tag der Hochzeit nun, nachdem es sich von

seinen Angehörigen verabschiedet hatte, ging dasMädchen in das richtige Brautzimmer, zog der PuppeBrautkleid und Schleier an, setzte sich selbst in denSchrank und schaute durch das Schlüsselloch. Balddarauf trat der Bräutigam ein, zog plötzlich seinSchwert und rief: »Wehe, du falsche Schlange!Duwarstes also, die mir das Horn hineingesteckt hat?« Das

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Mädchen zog vomSchrank aus vorsichtig amFaden, sodass die Puppemit demKopf nickte. Dawurde der Beynoch wütender und rief: »Da nickst du also auch noch!Wehe, ich habe geschworen, dass ich dein Blut trinkenwerde!« Damit schwang er sein Schwert und hieb derWachspuppe den Kopf ab. Da fiel die Puppe um undder Sirup strömte aus ihremKörper. Der Bey nahmeineHandvoll und trank, im Glauben, es sei ihr Blut. Als ermerkte, dass es süßwar, klagte er: »Wehe,wenn ihr Blutschon so süß ist, wie süß muss sie dann selbst gewesensein!« In diesemAugenblick trat dasMädchen aus demSchrank und sprach: »Nun,mein Bey, eben hast du dei-nen Schwur gehalten und von meinem Blut getrun-ken!« Der Bey starrte sie voller Verblüffung an, dochdann fielen sie einander in die Arme und verbrachtenihreTageweiterhinmit Scherzenund inGlückseligkeit.

Die Tochter des Holzhackers

E s war einmal, und doch war es keinmal. Als Got-tes Geschöpfe auf der Erde mehr waren als Sterne

am Himmelszelt, da gab es einen armen Holzhacker,der hatte eine Frau und eine Tochter. Er verdiente sich

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den Lebensunterhalt, indem er im Wald Holz hack-te und es verkaufte. So lebten sie mehr schlecht alsrecht.Eines Tages hatte der Holzhacker wieder sein Holz

gehackt, verschnürt und trug es auf seinem Rücken indie Stadt, um es zu verkaufen. Nach einiger Zeit wur-de er müde und wollte sich ein wenig ausruhen. Erlegte seine Last an einem großen Steinblock ab undsetzte sich auch hin. Da er sehr erschöpft war, lehnte erseinen Rücken an den Stein und machte es sich miteinem »Of« behaglich. Da bebte plötzlich der Steinund zitterte in seinem Innersten. Und im selben Au-genblick erschien vor den Augen des alten Mannes einAraber, dessen Lippen so groß waren, dass die eine inden Himmel reichte und die andere die Erde berührte.Der Araber drehte sich zum Holzhacker und sprach:»Hier bin ich, was ist dein Begehr?« Der arme Holz-hacker wusste so gar nicht, wie ihm geschah, und erantwortete zaghaft: »Ich habe dich nicht gerufen, son-dern mich nur an diesen Stein gelehnt.« Der armeMann hatte mit »Of« seiner Erschöpfung Ausdruckverliehen und wusste nicht, dass dies auch der Namedes Arabers war und dass jener erschien, sobald je-mand seinen Namen rief. Der Araber hingegen warwütend über diese Störung und entgegnete: »So hastdumir also umsonst meine Ruhe geraubt, dafür werdeich dich auffressen!« Er wollte sich schon über denHolzhacker hermachen, als dieser anfing zu flehenund zu betteln: »Lieber Of, bitte friss mich nicht auf,dafür will ich dir alles geben, was du von mir for-derst.« Das gefiel dem Araber, der daraufhin sagte:»Na gut, ich werde dich verschonen, aber nur unterder Bedingung, dass du mir das bringst, was dir in

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deinemHause als Erstes über denWeg läuft.« Der Altewilligte aus Angst vor demAraber ein undmachte sichauf den Weg nach Hause. Als er an seinem Haus an-kam und eintrat, da kam ihm seine Tochter entgegen.Der Holzhacker wurde darauf sehr betrübt undweintevor Verzweiflung. Als seine Frau und seine Tochter ihnfragten, was denn der Grund sei, sagte er: »Wer solldenn weinen, wenn nicht ich!«, und schilderte ihnendas Geschehene und was er dem Araber hatte verspre-chen müssen. Da weinten auch die Mutter und dieTochter bittere Tränen, doch es gab keinen Auswegund so fügte sich das Mädchen in sein Schicksal, umseinen Vater und seine Mutter vor dem Zorn des Ara-bers zu bewahren. »Seid nicht traurig«, tröstete sie ihreEltern, »ich werde euch oft besuchen kommen, undwenn der Araber es nicht gestatten sollte, dann lasseich euch kommen.«Am nächsten Tag machte der Holzhacker sein Ver-

sprechen wahr und begab sich mit seiner Tochter zudem Steinblock. Der Araber wartete bereits auf dasPfand, das er ihm bringen sollte, und als er ihre An-kunft bemerkte, erzitterte der Stein von neuem. Ererschien auf der Erde, packte das Mädchen am Armund verschwand sogleich mit ihr unter der Erde.Dort kamen sie an einen höhlenartigen Ort, undnachdem sich die Augen des Mädchens an die Dun-kelheit gewöhnt hatten, bemerkte es, dass sie sich aufdem Absatz einer steinernen Treppe befanden. DerAraber hielt sie noch immer am Arm und führte siedie Treppe hinunter. Dann gelangten sie in einenlangen Flur, von dem zahlreiche Türen in ebensoviele Zimmer führten. Nun wandte sich der Araberan das Mädchen: »Ich habe dich mit Gottes Willen

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von deinem Vater als Frau erhalten. Jetzt bist dudie Herrin dieses Hauses und hier sind die Schlüsselzu sämtlichen Räumen und zu meinem Garten. Dukannst in ihnen ein und aus gehen, wie es dir beliebt,und im Garten spazieren gehen, wann immer dirdanach ist. Doch das Zimmer am Ende dieses Flursdarfst du nicht betreten. Merke dir das gut!« Mitdiesen Worten verschwand der Araber und das Mäd-chen blieb allein. Die Gattin des Arabers betrachtetevoller Erstaunen den unterirdischen Palast und gingvon Zimmer zu Zimmer. Und so lebte sie in ihremneuen Haus und vertrieb sich gelegentlich die Zeit imGarten.Eines Tages kam sie in die Nähe des Zimmers, das

sich am Ende des Flurs befand. Sie erinnerte sich andie mahnenden Worte des Arabers und hielt inne. Siefürchtete sich vor der Strafe des Arabers und so gingsie nicht hinein. Doch sie war zu neugierig zu erfah-ren, was sich denn in diesem Zimmer befinden könn-te, und nachdem sie eine Woche standhaft gewesenwar, hielt sie es nicht mehr aus und öffnete die Tür,was auch immer geschehen möge. Doch was sahenihre Augen, als sie in das Zimmer trat: Es war über-sät mit Menschenknochen, Leichen, an denen nochFleisch hing, und mit Blutflecken auf dem Boden. DasMädchen erschrak so sehr, dass es aufschrie und weg-rannte. Es verging einige Zeit, doch es konnte dasschreckliche Bild nicht aus seinem Geist vertreiben.Da sehnte sich das Mädchen nach seiner Mutter, deres sein Herz ausschütten wollte. Als am Abend derAraber nach Hause kam, bat sie ihn: »Ich habe meineMutter und meinen Vater seit langem nicht gesehenund sehne mich nach ihnen. Bringe sie doch bitte her

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zu mir.« Der Araber antwortete: »Wie du wünschst,morgen werde ich dir deine Mutter bringen.«Am nächsten Morgen kam die Mutter des Mäd-

chens. Das Mädchen freute sich über alle Maßen undsie umarmten und herzten sich innigst. Die Mutterwollte wissen, ob es ihrer Tochter denn gut gehe. Dieseaber blickte um sich, und als sie sich vergewisserthatte, dass der Araber nicht in der Nähe war, erzähltesie ihrerMutter von ihrem grausigen Fund. DieMutterverdrehte bei dieser Geschichte die Augen derart, dassihre Tochter rief: »Mutter, verdrehe deine Augen nichtso, du siehst aus wie der Araber!« Da schüttelte sichdie Mutter und plötzlich stand der Araber vor demMädchen. Der hatte sich nämlich in die Mutter seinerFrau verwandelt, um zu erfahren, was die Tochter ihrdenn zu sagen hätte. Das Mädchen erschrak sehr undfing zu weinen an. Der Araber aber befahl ihm: »Los,leg deine Kleider ab, denn du hast mir nicht gehorchtund deshalb werde ich dich verschlingen!« Das Mäd-chen flehte ihn an, er möge es verschonen, doch allesFlehen und Bitten half nichts, der Araber ließ sich nichterweichen. Als das Mädchen erkannte, dass es nichtsausrichten konnte, sprach es: »So gestatte mir we-nigstens, dass ich ins Badehaus gehe und mich dortreinige.« Der Araber wollte es ihm gestatten und ant-wortete: »So geh denn. Aber verschwende keinen Ge-danken daran zu fliehen, denn ich werde dich finden,wo auch immer du dich versteckst.« So geleitete erseine Frau zum Badehaus und wartete draußen vorder Tür.Sie ging nun hinein, entkleidete sich und setzte sich

in eine Ecke. Die Badefrau bemerkte dies und wun-derte sich, dass das Mädchen weder badete noch sich

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mit den anderen Badenden unterhielt, stattdessenaber still vor sich hin weinte. Sie ging zu ihm hin undfragte: »Mein Kind, was betrübt dich so? Warumweinst du?« Das Mädchen wollte zunächst nicht ant-worten, doch als die Badefrau nicht von ihm ließ,erzählte es ihr, was ihmwiderfahrenwar. Die Badefraufühlte Mitleid mit dieser jungen Frau und dachte eineWeile nach. Dann hellte sich ihr Gesicht auf und siesagte : »Weine nicht mehr, ich weiß einen Weg, wie dudich des Arabers entledigen kannst. Ich werde so-gleich den Badehelfer losschicken, um zwei, drei EllenStoff, etwas Pech und Watte zu besorgen. Damit wer-den wir dir einen Anzug anfertigen, in dem du wie einfremdes Geschöpf aussehen wirst. Wenn du damit dasBadehaus verlässt, wird dich dein Mann unter keinenUmständen erkennen.« Und so geschah es. Manschnitt den Stoff auf ihren Körper zu, bestrich ihn mitPech und belegte ihn mit Watte, die am Pech haftete.Dann zog man ihr das Tarngewand an und gab ihrnoch einen Stock in die Hand. Die Badefrau sagte:»Nimm diesen Stock und stütze dich mit gebeugtemRücken auf ihn, wie es die alten Frauen tun. Wie solldich deinMann so erkennen? Und nunmöge dir Glückbeschieden sein!« Mit diesen Worten entließ sie dasMädchen, das das Badehaus verließ, wie ihm aufgetra-gen worden war. Es ging, über und über in Watteeingehüllt, glücklich am Araber vorbei und zog seinesWeges.Kommen wir nun zum Araber. Als es Abend wurde

und seine Frau immer noch nicht herausgekommenwar, wurde er zornig und schlug mit seiner Keulegegen die Tür des Badehauses, so dass das gesamteGebäude erbebte, und ging hinein. Er suchte in allen

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Ecken und Winkeln und konnte seine Gattin dochnicht finden. Das machte ihn noch wütender und ersprach: »Eines Tages werde ich dich doch finden, unddann wird es kein Entkommen mehr für dich geben!«Und damit machte er sich davon.Unser Mädchen hingegen setzte seinen Weg fort

und ging weiter und weiter, bis es völlig erschöpftund am Ende seiner Kräfte zu einem Wald gelangte.»Hier will ich mich ein wenig ausruhen«, sagte es,legte sich hin und schlief sofort ein. Doch plötzlichwachte es von einem Lärm auf, und als es um sichblickte, sah es, dass es von zehn, fünfzehn Reitern um-ringt war. Die Berittenen waren der Padischah desReiches, in dem es sich befand, und sein Gefolge aufder Jagd. Die Männer betrachteten das weiße Ge-schöpf, und der Padischah rief: »Wasmag daswohl füreine Kreatur sein?« – »Vielleicht ist es ein weißer Affe«,gab man ihm zur Antwort. Dem Padischah gefiel dasweiße Wesen aber so sehr, dass er sagte: »Was auchimmer es sein mag, ich werde es mit in den Palastnehmen.« Daraufhin nahm man das Mädchen undbrachte es in den Palast. Als sie zum Tor des Palasteseingetreten waren, rief der Padischah nach seiner Mut-ter und sagte: »Mutter, sieh, ich habe dir ein Wölkleinmitgebracht, das wird dir Gesellschaft leisten.« Von daan wurde das Mädchen »Wölklein« gerufen. Jeder-mann hatte es gern, und es konnte sich im Palast freibewegen.Eines Tages wollte sich der Padischah wieder auf

die Jagd begeben. Seine Mutter machte sich daran,ihm mit ihren eigenen Händen ein paar Brote zuzube-reiten. DasWölklein wollte auch ein paar Stück backenund griff nach dem Mehl. Doch die Mutter des Pa-

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dischahs wollte dies nicht erlauben und rief: »Nimmsofort deine schmutzigen Hände vom Teig!« In diesemAugenblick kam auch der Padischah und sagte zuseiner Mutter: »Mutter, lass auch das Wölklein einesbacken.« So knetete unser Mädchen auch einige Brote.In einem unbeobachteten Augenblick aber nahm eseinen Ring von ihrem Finger und legte ihn heimlich ineines der Teigstücke. Als diese nun in den Ofen gege-ben werden sollten, versuchte die Mutter des Padi-schahs, die Stücke vom Wölklein nicht mitzubacken.Doch auch dies ließ der Padischah nicht zu und sagte:»Liebe Mutter, unser Wölklein hat die Brote mit Hin-gabe zubereitet, wie schade wäre es doch, wenn esumsonst gewesen wäre.« Die Mutter gab nach, und sowurden auch die Teigstücke des Wölkleins im Ofengebacken.Der Padischah ging nun auf die Jagd, und nach einer

Weile wollte er Rast machen und setzte sich, um etwaszu essen. Er nahm sich eines der Brote und biss hinein.Da merkte er, dass er auf etwas Hartes gebissen hatte,und als er den Gegenstand aus seinem Mund nahm,sah er, dass es ein Ring war, der zudem in einem Brotvom Wölklein steckte. Er ließ die anderen nichts mer-ken, und nachdem alle gegessen hatten, gab er Befehlzum Aufbruch, und sie kehrten in den Palast zurück.Dort angekommen, rief er seine Mutter zu sich undsagte ihr: »Mutter, ich habe mich dazu entschlossen,mit Gottes Willen das Wölklein zu heiraten.« Die Mut-ter konnte zunächst vor Überraschung kein Wort he-rausbringen, aber als sie sich wieder gefasst hatte, riefsie: »Bist du denn von Sinnen? Dieses Geschöpf istnoch nicht einmal ein Mensch. Und wir wissen auchnicht, ob es denn ein Tier ist! So etwas kann man doch

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nicht heiraten!« Darauf zeigte der Padischah ihr denRing, den er im Brot gefunden hatte, doch auch dannwollte seine Mutter nichts davon wissen. Da bliebdem Padischah nichts anderes übrig, als zu sagen:»Wenn ich das Wölklein nicht heiraten soll, dann wer-de ich mich umbringen!« Da endlich gab seine Mutternach und rief: »Dann soll es eben sein. Aber zuerstmusst du das Geschöpf heimlich beobachten, um zuerfahren, was es isst, was es trinkt und was es macht,wenn es allein ist.«Der Padischah wartete einen günstigen Tag ab und

beobachtete das Wölklein durch das Schlüsselloch inder Tür zu seinem Gemach. Was er da zu sehen be-kam, verschlug ihm schier den Atem: Das Wölkleinlegte den Tarnanzug ab, um zu Bett zu gehen, undheraus kam ein wunderschönes Mädchen, das demMond am Vierzehnten glich. Sogleich holte der Pa-dischah seine Mutter und sie beide gingen in dasZimmer des Mädchens, um den Grund für diese Ver-kleidung zu erfahren. Da erzählte das Mädchen alles,was sich zugetragen hatte, von dem Zimmer mit denLeichenteilen und ihrer Verkleidung im Badehaus. Alses mit seinem Bericht fertig war, fügte es hinzu: »Die-ser Araber wird alles daransetzen, um meine Spuraufzunehmen. Er kann sich in alles und jeden verwan-deln, deshalb müsst ihr mir alles zeigen, was vondraußen in den Palast gelangt.« Der Padischah ver-sprach es und ließ gleichzeitig seine bevorstehendeVermählung ankündigen und sie feierten vierzig Tageund vierzig Nächte ihre Hochzeit mit Musik, Tanz,allerlei Speisen und in Ausgelassenheit. Nach derHochzeit lebten der Padischah und seine Gemahlinglücklich im Palast.

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Eines Tages blickte der Padischah aus dem Fensterseines Palastes und sah eine Reihe Schafe vorbeizie-hen, die zur Schlachtbank geführt wurden. Unter ih-nen erblickte der Padischah einen Hammel, der ihmgar sehr gefiel, und er wollte ihn seinem Besitzerabkaufen. Aber zuerst sollte er seiner Gemahlin vor-geführt werden, wie er es ihr versprochen hatte. Diesebetrachtete den Hammel ein wenig, und als sie seineAugen sah, schrie sie auf und sagte: »Um Himmelswillen, kaufe diesen Hammel nicht! Er hat Augen wieder Araber!« Der Padischah versuchte zwar, sie zubeschwichtigen, indem er ihr erklärte, dass der Arabersich doch nicht in einen Hammel verwandeln könne,doch seine Gemahlin wollte sich nicht beruhigen undso verzichtete er auf ihn. Von diesem Tag an wuchsdie Angst der jungen Frau mehr und mehr. Es ging soweit, dass der Padischah schließlich einen Löwen undeinen Tiger vor dem gemeinsamen Schlafgemach an-binden ließ, die die Tür bewachen sollten, damit nie-mand eintreten konnte.Eines Tages ging der Padischah auf dem Markt

umher und sah ein zierliches Mundstück für eineWasserpfeife. Er zögerte, ob er es kaufen sollte, ohnedass es seine Frau zuvor gesehen hatte, doch dannsagte er sich, dass sich der Araber doch wohl aufkeinen Fall in ein Mundstück verwandeln würde, undnahm es mit. Er ging wieder in den Palast und legtedas Mundstück auf einen Schrank in seinem Schlaf-gemach.Doch in der Nacht, als alle schliefen, schüttelte sich

das Mundstück und verwandelte sich in den Araber.Dieser hatte herausgefunden, wo sich seine Gattinaufhielt und sich in das Mundstück verwandelt, in

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der Hoffnung, so viel Gefallen zu erregen, dass manihn in den Palast brachte. Nun war er endlich in denPalast eingedrungen und fing den Schlaf aller, die sichim Palast befanden, ein, sperrte ihn in ein Gefäß, daser neben das Kopfende der Gemahlin des Padischahsstellte. Nur ihren Schlaf hatte er nicht in das Gefäßgesteckt, so dass er sie jetzt wecken konnte. Als diejunge Frau erwachte und den Araber erblickte, gerietsie in Angst und wollte ihren Gemahl wecken. DerAraber sah dies und sagte ihr: »Vergeblich ist deineMühe, denn ich habe seinen Schlaf und den alleranderen im Palast eingefangen und nur ich kann siewieder wecken. Jetzt bist du mir ausgeliefert undnichts und niemand kann dir zu Hilfe eilen. Jetztwerde ich dich fressen!« Er packte das Mädchen amArm und wollte es mit sich zerren. Doch die jungeFrau wehrte sich nach Kräften und schlug mit denArmen um sich und warf das Gefäß, in das der Araberden Schlaf der Palastleute verbannt hatte, um. So-gleich erwachten der Padischah und alle anderen Be-wohner des Palastes und konnten das Mädchen ausden Händen des Arabers befreien. Dieser wurde ge-packt und dem Löwen und dem Tiger zum Fraß vor-geworfen.Auf diesen Schreck hin befahl der Padischah, dass

erneut die Hochzeit gehalten werden sollte, und sowurde in vierzig Tagen und vierzig Nächten die Be-freiung der jungen Frau gefeiert.Sie aßen und tranken und erreichten das Ziel ihrer

Wünsche.

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Der Bauer und SultanMahmut

E s war einmal, und doch war es keinmal. In alterZeit, als das Sieb im Stroh lag, gab es einen Pa-

dischah namens Sultan Mahmut.An einem Tag im Sommer ging dieser Sultan auf

einerWiese spazieren und sah dort einen Birnbaum. Erlegte sich unter den Baum und aß eine der Birnen, dieabgefallen waren. Dann begab er sich zum Bauern,dem der Baum gehörte, und sprach zu ihm: »Ich habeeine deiner Birnen gegessen, und darum stehe ich indeiner Schuld. Wenn ich dir aber eine Gefälligkeit er-weisen kann, so komme nach Istanbul und frage nachmir. Ein jederwirdwissen,wo dumich finden kannst.«Zeit kommt, Zeit vergeht, und eines Tages geriet

unser Bauer mit seinem Nachbarn in Streit um einStück Land. Da ihm vor Gericht kein Recht gegebenwurde, er aber der Richtigkeit seines Tuns gewiss war,versuchte er dies und das, um doch noch zu seinemRecht zu kommen. Doch alles war vergebens. Dasprach seine Frau, die sich an die Worte von SultanMahmut erinnerte: »Ich werde einen Korb mit Birnenfüllen; den bringe zu Sultan Mahmut, er wird unssicher helfen können.« Der Bauer stimmte seiner Frauzu und ging nach Istanbul. Dort erkundigte er sich

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nach Sultan Mahmut und wurde alsbald zu dessenPalast geführt. Der Padischah empfing ihn und nahmihn als seinen Gast auf. Nachdem sie gegessen, getrun-ken und sich unterhalten hatten, gab der Padischahden Befehl, manmöge seinem Gast ein Gemach für dieNacht bereiten. Der Bauer wurde in einem der Gemä-cher für die Gäste des Padischahs untergebracht undlegte sich schlafen. Nachts aber hatte der Bauer einBedürfnis und stand auf. Er verließ sein Zimmer undöffnete viele Türen, doch er konnte den Weg nachdraußen nicht finden. Bald hatte er sich so weit ver-laufen, dass er auch nicht mehr in sein Zimmer zu-rückfand. Da wurde er von der Palastwache angehal-ten und die Soldaten des Padischahs fragten ihn, werer sei undwohin er gehe. Der arme Bauer konnte ihnennicht erklären, was seine Sorge war. Da wurden dieSoldaten sehr misstrauisch und hielten ihn für einenSpion, der sich in den Palast eingeschlichen hatte. So-fort ergriffen sie ihn und warfen ihn in den Kerker.Es vergingen drei Jahre, in denen Sultan Mahmut

seinen Gast vergessen hatte. Eines Tages aber erinnerteer sich an den Bauern und erkundigte sich nach dessenVerbleib. Er stellte viele Untersuchungen an, da kaumeiner wusste, was mit demMann geschehenwar. Dochendlich erfuhr der Padischah, dass der Bauer im Ker-ker saß. Sofort ließ er ihn befreien und sagte zu ihm:»Fordere von mir, was immer du willst. Ich will es direrfüllen!« Der Bauer antwortete: »Mein Padischah, ichwünsche eine Axt, einen Strick und einen Koran.« DerPadischah war sehr erstaunt über diese Bitte und frag-te den Bauern, was er denn mit diesen Gegenständenanstellenwolle. Daraufhin der Bauer: »Mit der Axt willich diesen unseligen Baum fällen, unter den Ihr Euch

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gelegt habt; an dem Seil will ich meine Frau aufhän-gen, die mich zu Euch schickte; und auf den Koranwillich schwören, dass ich nie wieder einemMannmeinenGruß entbieten werde, der Mahmut heißt.« Dem Pa-dischah gefiel die Antwort des Bauern so sehr, dass erihm zwei Reisetaschen voll Gold gab und ihn als rei-chen Mann in seine Heimat zurückschickte.

DasMärchenvon der Schlauheit der Frauen

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es wareinmal in einer Zeit, da sagte ein alter Padischah

zu seinem Sohn: »Mein Sohn, ich werde bald sterben.Und dann wirst du über dieses Reich herrschen. Ichhabe einen Freund an einem gewissen Ort, und ichwünsche, dass du in allen Dingen seinen Rat befolgst.Dies sei mein Letzter Wille.« Der Padischah starb undsein Sohn kam auf den Thron.Eines Tages wollte der junge Padischah den Gehor-

sam seiner Untertanen prüfen und gab den Befehl,dass an einem bestimmten Tag alle Lichter in seinemReich gelöscht werden sollen. Da er sich dessen ver-gewissern wollte, dass ein jeder in seinem Reich dem

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Befehl Folge leistete, begab er sich mit einigen seinerWesire auf eine heimliche nächtliche Reise. Sie gingendurch alle Straßen der Stadt, und der Padischah freutesich, dass es weit und breit kein Haus gab, durchdessen Fenster Licht schien. Doch plötzlich entdeckteer ein kleines Haus, in dem entgegen seinem BefehlLicht brannte. Dem Padischah missfiel dies sehr, undso ließ er eine Markierung an diesem Haus anbringen,auf dass es seine Männer am nächsten Morgen erken-nen konnten.Als es Morgen wurde, ließ er sich sofort die Bewoh-

ner des Hauses vorführen. Es waren ein Mann undeine Frau. Zuerst wurde die Frau verhört: »Warumhabt ihr gestern Nacht das Licht brennen lassen?«,fragte sie der Padischah. Die Frau antwortete: »MeinPadischah, wir waren sieben Jahre lang verlobt. Indiesen sieben Jahren hielt sich mein Verlobter in derFremde auf, um das nötige Geld für unsere Hochzeitzu verdienen. Nach diesen Jahren der Mühsal hatte erdas Geld endlich zusammen und kehrte zu mir zu-rück. Und wir konnten endlich unsere Hochzeit feiern.Dies geschah gerade gestern, an dem Tag, an dem IhrEuer Verbot verkündet habt. Mein Gemahl aber ver-traute auf Eure Gnade und ich wurde die Seine und erder Meine. Und wie es Sitte ist, haben wir das Lichtbrennen lassen.« Auf die Worte der Frau sprach derPadischah: »Mein Kind, ich werde dich einige Zeit alsmein Gast im Palast behalten«, und entließ sie. Daraufrief er den Ehemann zum Verhör und fragte auch die-sen: »Warum habt ihr das Licht brennen lassen?« DerMann antwortete: »Ich erbitte Eure Gnade, denn ichwar sieben Jahre lang von meiner Geliebten getrenntund habe das Leid der Fremde ertragen. Nach sieben

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Jahren kehrte ich in meine Heimat zurück, um zu hei-raten. Und endlich kam der Tag unserer Hochzeit.Und dies geschah gerade amgestrigen Tag Eures Licht-verbotes. Wir waren überzeugt, dass Ihr auf jeden FallGnade walten lassen würdet. Und so beschlossen wir,das Licht anzuzünden und die Ehe zu vollziehen. Undnun liegt unser Schicksal in Eurer Hand.« – »Konntestdu denn nicht noch einen Tag abwarten?«, fragte derPadischah. »Nein, denn ich sehnte mich sehr nachmeiner Frau.« – »Wenn dem so ist«, fuhr der Padischahfort, »dann gebe ich dir meine eigene Tochter zur Frau;du trennst dich von deiner Frau, und ich begnadigedich.« – »Nein«, rief der junge Mann, »ich nehme sienicht.« Der Padischah drang weiter in ihn: »Du wirstsie nehmen, wenn du sie erst einmal gesehen hast.«Mit diesen Worten ließ er nach seiner Tochter rufen.Das Mädchen legte seine schönsten Kleider an underschien vor seinem Vater. Dieser wandte sich an denMann und sagte: »Schau, wie schön sie ist. Deine Fraukann ihr nicht das Wasser reichen. Wer meine Tochternicht zur Frau nehmen will, der ist ein Dummkopf!«Doch der Mann blieb fest entschlossen und rief: »Undwenn sie noch zehnmal schöner wäre, wollte ich sienicht heiraten.« Der Padischah versuchte, ihm zu dro-hen, indem er ihm sagte: »Dann lasse ich dich ein-sperren.« Doch der Mann ließ sich nicht einschüchternund lehnte nach wie vor die Hand der Prinzessin ab.Dem Padischah imponierte die Haltung des Mannes,doch er ließ es sich nicht anmerken und tat so, als seier wütend auf ihn. Endlich ließ er ihn unter zorni-gen Beschimpfungen abführen. Er gab seinen Bediens-teten jedoch ein Zeichen, dass sie ihn gut behandelnsollten.

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Darauf ließ er die Frau erneut vorführen, um sieebenfalls einer Prüfung zu unterziehen, und schlug ihrvor: »Du solltest nicht mit einem Bauern verheiratetsein, sondern mit meinem Sohn. Ich mache dich zumeiner Schwiegertochter. Was sagst du dazu?« –»Nein«, antwortete sie, »das geht nicht.«Der Padischahbefahl daraufhin, dass man seinen Sohn rufen solle.Auch dieser legte seine schönsten Kleider an und er-schien. Nun konnte die Frau ihn sehen. Als der Pa-dischah seine Frage wiederholte, lächelte sie und gabihm zu verstehen, dass sie einverstanden war. Da er-mahnte sie der Padischah: »Dazu müsste ich deinenjetzigen Mann töten lassen, was sagst du dazu?« DieFrau antwortete: »Töte ihn, mir ist es gleich. Denn ichwerde jetzt den schönsten Prinzen heiraten und dieglücklichste Frau der Welt werden.« Der Padischahwar über die Antwort der Frau, die ihren Mann ohnezu zögern für einen anderen opfern würde, so erbost,dass er befahl, alle Frauen in seinem Reich umzubrin-gen. Denn erwar überzeugt, dass alle Frauen ihreMän-ner auf diese Art und Weise hintergehen würden.Auf seinen Befehl hin begann man nun, in allen

Städten die Köpfe der Frauen abzuschlagen. Die Men-schen klagten sehr und flehten den Padischah an, dasTöten möge aufhören. Doch er ließ sich nicht erwei-chen. Darauf wandte sich das gesamte Volk an jenenFreund des alten Padischahs und ersuchte ihn umHilfe. Dieser stattete dem Padischah einen Besuch ab.Aber sobald jener ihn erblickte, rief er ihm entgegen:»Wenn du Gnade für die Frauen erbitten willst, tue esnicht, denn ich lehne es ab!« Der alte Mann antwortete:»Nein, mein Sohn, deswegen bin ich nicht zu dir ge-kommen. Doch ich möchte wissen, was der Grund für

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deinen Zorn ist.« Der Padischah antwortete: »Frauensind allesamt treulose Wesen. Einen Mann konnte ichnicht hinters Licht führen, doch die Frau hat bei derkleinsten Versuchung nachgegeben. Darüber bin icherzürnt.« Seines Vaters Freund belehrte ihn: »Abervielleicht hat dir die Frau einen Streich gespielt.« Dochder Padischah wollte es nicht glauben und meinte,dass keine Frau die Schlauheit dazu besitze. »Unddoch ist es möglich«, erwiderte der alte Mann, »dennich habe viel gesehen und werde dir eine Geschichteerzählen, in der eine Frau sehr viel Schlauheit an denTag legt. Eines Tages saß ich hier mit deinem seligenVater, als eine Frau und ein Mann eintraten. Der Mannklagte seine Frau eines Vergehens gegen ihn an. Fol-gendes hatte sich zugetragen:Eines Tages kam derMann nachHause und die Frau

berichtete ihm, der Hodscha habe gesagt, Allah mögedieMenschen vorder Schlauheit der Frauen bewahren.DerMannwollte es nicht glauben undmeinte, dass dieFrauen doch keine Schlauheit besäßen. Die Frau er-mahnte ihn: ›Sei vorsichtig mit deinen Worten, dennFrauen sind schlauer, als du denkst.‹ Doch der Mannwar nicht zu überzeugen und behauptete, dass er aufkeine List einer Frau hereinfallen würde. ›Dann wartees nur einmal ab‹, entgegnete die Frau. Und dabei bliebes zunächst. Eines Tages nun ging der Mann zum Pflü-gen auf sein Feld und die Frau sollte ihm am Mittagseine Mahlzeit bringen. Zuvor ging sie zur Mühle, umWasser zu schöpfen. Dort sah sie, dass einige KinderFische fingen, und da fiel ihr ein Streich ein, den sieihrem Mann spielen konnte. Sie bat die Kinder, ihr dieFische, die sie gefangen hatten, zu verkaufen. Die Kin-der erfüllten ihre Bitte, und sie versteckte die Fische

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unter ihrem Rock, nahm das Essen und ging zu ihremMann. Dieser war ja mit Pflügen beschäftigt und gingauf demFeld auf und ab. Die Frau stellte die Speisen abund ging so hinter ihrem Mann her, dass er es nichtbemerkte. Während sie hinter ihrem Mann herging,ließ sie einen nach dem anderen die Fische aus ihremRock fallen. Als der Mann auf der anderen Seite desFeldes den Pflug umdrehte, bemerkte er die Fische zuseinen Füßen. Er trug seiner Frau auf, die sich einwenig abseits gestellt hatte, sie solle die Fische aufsam-meln und für das Abendessen zubereiten. Die Fraupackte die Fische ein, ging nachHause, aber sie bereite-te damit kein Essen zu, sondern stellte das Gefäß, indas sie die Fische legte, zu den fertigen Speisen.Am Abend kehrte der Mann heim und erkundigte

sich nach den Fischen. Die Frau tat erstaunt und fragte:›Woherhätte ichdennFischenehmensollen?‹ – ›Ja, aberweißt du nicht mehr, dass wir die Fische heute aufunserem Feld geerntet haben?‹ Daraufhin schlug dieFrau die Hände über ihrem Kopf zusammen, eilte zuden Nachbarn und rief: ›Mein Mann hat den Verstandverloren! Er behauptet, wir hätten auf unserem FeldFische geerntet!‹ Die Nachbarn versammelten sich imHaus der Frau und fragten, was denn geschehen sei.Der Mann wiederholte seine vorherige Rede. Da er-kannten die Nachbarn, dass der Mann tatsächlich ver-rückt geworden war, fesselten ihn und banden ihn aneinen Pfahl. Da rief der arme Mann, der in Wirklich-keit ja gar nicht verrückt war: ›Frau, du hattest recht,auf dem Feld wachsen keine Fische. Ich war verrücktgeworden, doch jetzt habe ichmeinenVerstandwieder-erlangt. Binde mich nun los!‹ Die Frau befreite ihn vonseinen Fesseln, und sie setzten sich zum Essen nieder.

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Nachdem sie einige Schüsseln geleert hatten, öffneteder Mann das Gefäß, in dem sich die Fische befanden.Sogleich rief er: ›Frau! Ich bin wieder verrückt gewor-den! Binde meine Hände zusammen, denn ich seheden Kopf eines Fisches.‹ Hierauf brach die Frau inGelächter aus, und als ihr Mann sie verständnislosansah, klärte sie ihn auf: ›Du bist nicht verrückt gewor-den, aber ich habe dir einen Streich gespielt. Denn duhattest die Schlauheit der Frauen unterschätzt.‹Aus diesem Grunde klagte jener Mann seine Frau

an. Wir aber hörten beide Parteien und versöhnten siewieder miteinander. Denkst du denn, dass dies keineSchlauheit ist?«, fragte er den Padischah. »Unmög-lich«, rief der Padischah, »so etwas passiert nicht. IchnehmemeineWorte nicht zurück.« – »Warte«, fuhr deralte Mann fort, »denn ich habe noch viel mehr ge-sehen. So weiß ich von einer Jungfrau, die zwanzigJahre lang auf ihren Bräutigam gewartet hatte, der imGefängnis war.« – »Das mag sein«, versetzte der Padi-schah, »aber es gibt auch solche, die sich sofort vonihrem Bräutigam abwenden würden.« Der Padischahüberlegte eine Weile und fuhr schließlich fort: »Aberauch ich habe eine Geschichte zu erzählen:Einmal saß ich in einer gewissen Stadt vor einem

Kaffeehaus. Plötzlich kam ein Reiter, dessen Gesichtverhüllt war. In der Hand hatte er einen stählernenSpeer, den er in einen großen Steinblock rammte. Dannsaß er von seinem Ross ab, band die Zügel an diesenSpeer und betrat mit noch immer verhülltem Gesichtdas Kaffeehaus. Dort trank er einen Kaffee und rittwieder davon. Da ich auch ein Reiter war und meinenSpeer bei mir trug, tat ich es meinem Vorgänger gleichund versuchte, den Speer ebenfalls in den Stein zu

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hauen. Doch es wollte mir nicht gelingen. Ich wolltewissen, wer dieser geheimnisvolle Held mit dieserüberaus großen Kraft war. So schwang ich mich aufmein Pferd und ritt ihm nach.Ich holte ihn ein und bot ihm meine Freundschaft

an. Er nahm sie an und wir ritten weiter unseres We-ges, bis wir eine Ebene erreichten. Dort war ein großesHaus inmitten eines Gartens errichtet. Wir betratenden Garten und banden unsere Pferde an. MeinFreund entnahm seiner Satteltasche einige Nägel undband sich sein Schwert um. Dann schlug er die Nägelmit seinen bloßen Fäusten in die Außenwand desHau-ses und begann, auf ihnen wie auf einer Leiter nachoben zu klettern. An mich richtete er folgende Worte:›Ich werde jetzt in dieses Haus gehen. Wenn ich nachmeinem ersten Schrei meinen Feind getötet habe, wer-de ich ein zweites Mal schreien. Aber wenn dumeinenzweiten Schrei nicht vernimmst, dann fliehe von hier.Denn mein Feind wird mich dann getötet haben under wird auch dich angreifen.‹ Mit diesen Worten stieger durch ein Fenster in das Haus und ich blieb allein imGarten und in großer Angst zurück. Es dauerte nichtlange, und ich hörte den ersten Schrei. Doch der zweiteließ einige Sekunden auf sich warten, die mir wie eineEwigkeit vorkamen. Glücklicherweise folgte er aberbald. Kurz darauf sprang mein Freund blutüberströmtaus dem Fenster. Wir stiegen auf unsere Pferde undritten zurück. Wir kamen zu einer Moschee. Dort zeig-te mein Freund mir ein frisches Grab. ›Dies‹, so spracher, ›ist das Grab meines Verlobten. Und dort in jenemHaus hab ich seinen Mörder getötet. Er war ein Dewund wollte mich meinemMann entreißen. Deshalb hater ihn umgebracht. Und heute habe ich ihn gerächt. Ich

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bitte dich jetzt, mich neben meinem Mann zu begra-ben, denn jetzt ist auch die Stunde meines Todes ge-kommen.‹ Kaum hatte er dies gesagt, stach er sich miteinem Messer in die Brust und starb. Als ich mich zuihm beugte und sein Gesicht enthüllte, da sah ich zumeiner großen Verwunderung ein überaus schönesMädchen. So finden sich unter dem Frauengeschlechtauch solche, die ihren Männern treu ergeben sind undsich für sie opfern.« – »Und aus diesem Grund«, sorichtete sich der alte Mann wieder an den Padischah,»bitte ich dich, die Frauen zu begnadigen, damit dieGuten nicht für die Taten der Schlechten bestraft wer-den. Und ich erinnere dich an dasWort, das du deinemVater gegeben hast, nämlich dass du in allen Dingenmeinen Rat befolgen wirst.« Der Padischah gab es zuund hob sein Urteil auf.

DasMärchen vom Köse

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es wareinmal ein Mann, den nannte man wegen seines

dünnen Bärtchens Köse. Dieser Köse war sehr armund nannte nur einen Esel sein Eigen. Eines Tages

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sagte er zu seinem Sohn: »Mein Sohn, ich bringe die-sen Esel auf den Markt und verkaufe ihn.« Der Sohnwollte nicht, dass sein Vater sich die Mühe mache,und rief: »Vater, lass mich ihn hinbringen!« Der Vaterwilligte ein und schickte seinen Sohn zumMarkt.Der Junge trieb den Esel vor sich her und kam

schließlich auf dem Markt an. Da näherten sich ihmdrei Hodschas. »Mein Junge«, fragten sie, »ist dieserEsel zu verkaufen?« – »Ja«, antwortete er. Daraufhinrief der erste Hodscha: »Wenn er eines seiner Ohrennicht hätte, dann würde ich ihn kaufen.« Der zweitesagte: »Wenn er keinen Schwanz hätte, dannwürde ichihn kaufen.« Und der dritte schließlich rief: »Wenn erdas andere Ohr nicht hätte, dann würde ich ihn kau-fen.« Alsbald packte der Junge den Esel und schnittihm den Schwanz und beideOhren ab. DieMarktbesu-cher, die dies sahen, lachten den Jungen aus. Der armeJunge erkannte nun den Scherz und schämte sich sosehr seiner Tat, dass er den Esel kurzerhand tötete undnachHause zurückkehrte.Der Vater fragte ihn: »Mein Sohn, was hast du mit

dem Esel gemacht?« Und der Junge berichtete, wasihm widerfahren war: »Mein Vater, es kamen dreiHodschas, die sagten, dass, wenn der Esel keine Ohrenund keinen Schwanz hätte, sie ihn kaufen würden. Sohabe ich ihm Ohren und Schwanz abgeschnitten. Dahaben mich alle Leute auf dem Markt ausgelacht undich habe mich so sehr geschämt, dass ich den Eselgeschlachtet habe.« Daraufhin verkaufte der Vater sei-nen Acker und seine Gerätschaften und kaufte mitdem Erlös einen anderen Esel. Dann kehrte er zu sei-nem Sohn zurück und fragte ihn: »Mein Sohn, würdestdu diese Hodschas wiedererkennen? Dann lass uns

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auf den Markt gehen!« Und so machten sie sich aufden Weg. Sie nahmen auch den Esel mit.Die drei Hodschas erschienen am gleichen Ort wie

zuvor, und der Junge sagte seinem Vater: »Vater, dakommendie dreiHodschas.«DerKöse hatte zuvor dreiGoldmünzen unter dem Schwanz des Tieres versteckt.Er bemerkte sofort die neugierigen Blicke der Hod-schas und rief: »Was schaut ihr so? Ist das hier nicht einPrachtesel?« Damit versetzte er dem Tier einen Schlag,worauf die Goldmünzen aus seinem Hinterteil fielen.Der schlaue Köse sammelte die Münzen sofort ein undversteckte sie in seinem Bund. Darauf fragten sofortdie neugierigen Hodschas: »Köse, was hast du in dei-nem Bund versteckt?« – »Der Esel hat sein goldenesGeschäft verrichtet, und ich habe die Münzen einge-sammelt«, war die Antwort, die Köse ihnen gab. DieGier der Hodschas war geweckt, und sie fragten Köse,ob er seinen Esel verkaufen wolle. Der Köse willigteein.Als dieHodschas sich nach demPreis erkundigten,sagteKöse: »Wer von euch 500Lira bezahlt, demgehörtder Esel.« Die Hodschas zählten das Geld zusammenund reichten es dem Köse. Dieser gab den HodschasFolgendes mit auf den Weg: »Jetzt müsst ihr diesemEsel einen Stall bauen und ihm einen Trog Gerste undeinen Trog Wasser hinstellen. Sieben Tage lang dürftihr nicht zu ihm gehen. Am siebten Tag wird der Stallbis unter das Dach mit Gold angefüllt sein.«Die Hodschas folgten den Anweisungen des Köse

ganz genau und gingen schließlich am siebten Tagzum Stall. Die Tür ließ sich nicht öffnen und da freutensich die Hodschas und dachten, der Esel habe ganzeArbeit geleistet und den Stall mit Gold gefüllt. Da öff-neten sie die Tür mit Gewalt und sahen, dass der Esel

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sich dagegengestemmt hatte, und von Gold gab eskeine Spur! »Wehe, du betrügerischer Köse! Dir wer-den wir den Garaus machen!«, riefen sie voller Zornund machten sich auf den Weg in das Dorf des Köse.An seinem Haus angekommen, fragten sie seine

Frau, wo denn der Köse sich aufhalte. Sie antwortete:»Er ist dort drüben, hinter dem Hügel, und pflügt dasFeld.« Die Hodschas erreichten bald den besagten Hü-gel. An diesem Tag hatte Köse einen Hasen gefangenund ihn in den Sack mit Saatgut gesteckt. Als sich dieHodschas ihm näherten, ging Köse zum Sack, holteden Hasen daraus hervor und flüsterte ihm etwas insOhr. Dann ließ er ihn frei. Wieder war die Neugierdeder Hodschas geweckt, und sie fragten ihn, warum erdenn den Hasen freigelassen habe. Der Köse antwor-tete, dass er den Hasen nach Hause geschickt habe, umseiner Frau aufzutragen, sie möge für die Gäste etwaszu essen vorbereiten. Die Hodschas fragten: »Warumläuft denn der Hase über Felder und Wiesen?« – »Erfürchtet sich vor den Hunden der Schäfer und meidetdeshalb die Wege.« Die Männer machten sich nungemeinsam auf den Weg zum Haus des Köse, wo sieerwarteten, ein Essen vorzufinden. Dort angekommen,band der Köse heimlich einen Beutel mit Blut um denHals seiner Frau. Laut und für die Hodschas deutlichhörbar rief er: »Ich habe dir doch eine Botschaft mitdem Hasen geschickt und dir mitteilen lassen, du mö-gest die Speisen für unsere Gäste zubereiten. Hast dues gemacht?« Die Frau erwiderte: »Hier ist kein Haseaufgetaucht.« Daraufhin schnappte sich der Köse einMesser, stürzte sich auf seine Frau und stach ihr dasMesser in den Hals. Dann nahm er eine Pfeife hervor,pfiff dreimal und siehe da: Die Frau war wieder am

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Leben! Die Hodschas glaubten sofort, dass die PfeifeZauberkräfte besitzen müsse. Sie wollten sie habenund baten den Köse, ihnen die Pfeife zu verkaufen.Dieser war einverstanden und forderte 300 Lira. DieHodschas bezahlten das Geld, nahmen die Pfeife undgingen in ihr Dorf zurück.Unterwegs unterhielten sie sich darüber, wie sie ihre

widerspenstigen Frauen abstechen würden, um ihneneine Lektion zu erteilen, und sie dann mittels derPfeife wieder zum Leben erwecken würden. Der ältes-te von ihnen nahm die Pfeife und ging zu seinemHaus. Vor der Haustür rief er laut nach seiner Frau, siesolle herauskommen. Als die Frau die Tür öffnete,schrie er sie an: »Du schamlose Frau, warum bist dunicht früher herausgekommen?« Damit packte er sieund schnitt ihr den Hals durch. Daraufhin nahm er diePfeife, pfiff dreimal auf ihr, auf dass die Frau aufstehenmöge. Aber sie blieb liegen und wurde nicht wiederlebendig. Der mittlere Hodscha rief: »Gott möge dichstrafen, du Elender! Du kannst ja nicht richtig pfeifen!Lasst uns in mein Haus gehen, dann zeige ich euch,wie ich meine Frau zum Leben erwecke.« Also gingensie zum Haus des zweiten Hodschas. Dieser rief seineFrau und verlangte von ihr, sie solle ihm Wasser brin-gen, denn er sei am Verdursten. Sie brachte ihm dasWasser und er packte sie und schnitt ihr den Halsdurch. Daraufhin nahm er die Pfeife, pfiff dreimal aufihr, aber die Frau kehrte nicht ins Leben zurück. Derdritte Hodscha machte sich über die anderen beidenlustig und rief: »Ihr könnt beide nicht auf der Pfeifepfeifen, lasst uns doch zu mir gehen, dann zeige icheuch, wie man pfeift!« Sie kamen zumHaus des jüngs-ten Hodschas, welcher seine Frau nach draußen rief.

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Auch sie wurde erstochen, sobald sie aus der Tür trat.Der Hodscha nahm nun die Pfeife, pfiff dreimal, aberauch seine Frau wurde nicht lebendig. Dieses Malkannte der Zorn der Hodschas keine Grenzen. »DieserTeufelskerl! Erst hat er uns unser Geld weggenommenund nun haben wir seinetwegen unsere Frauen getö-tet. Jetzt packen wir ihn und bringen ihn um!«Sie gingen in sein Dorf und fragten seine Frau, wo er

denn sei. Sie antwortete, dass er hinter dem Hügel dasFeld pflüge. Die drei Hodschas gingen gemeinsamzum Hügel, packten den Köse, steckten ihn in einenSack und banden ihn fest zu. Sie packten den Sack aufihre Schultern und gingen zum Fluss, um den Köse zuertränken.Unterwegs sahen sie aber einen Brautzug und ließen

den Sack amFlussufer liegen, umdemZug zuzuschau-en.DerKöse in seinemSack rief aber: »Ichwill sie nicht,ichwill sie nicht!« Ein Schäfer, derdies hörte, lief herbeiund fragte: »Was willst du denn nicht?« Köse antwor-tete: »Dort bringen sie mir eine Braut, aber ich will sienicht.«Dann entgegnete der Schäfer: »DuUnwürdiger!Steig aus dem Sack heraus! Dann setze ich mich hineinund nehme die Braut.« Mit diesen Worten öffnete erden Sack, ließ denKöse frei und schlüpfte selbst hinein.Köse hingegen nahm den Umhang des Schäfers undtriebdessenHerde vor sichher.Nachdemder Brautzugvorbeigezogen war, kehrten die Hodschas zum Flusszurück und hörten, wie die Stimme aus dem Sack rief:»Ich nehme sie, ich nehme sie.« Sie dachten, der Kösewolle sie wieder übers Ohr hauen, und warfen denSack in den Fluss. In dem Glauben, dass sie den Kösenun endlich los waren, wollten sie etwas essen. Als siesich an einem Abhang niederließen und ihr Brot aßen,

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sahen sie plötzlich, wie der Köse seine Herde zumFlussufer trieb und auf sie zukam. »Guten Tag, meineHerren Hodschas«, sagte er. In ihrer Verwirrung erwi-derten sie den Gruß und fragten sich: »Wir haben ihndoch in den Fluss geworfen! Wie kann es sein, dass erjetzt vor uns steht?« Der Köse sagte, dass es im Flusssehr viele Schafe gebe und dass er leider nur so vielehatte zusammentreiben können. Daraufhin baten dieHodschas: »Wirf uns auch hinein, damit wir auch einpaar Stück Vieh holen!« Da warf der Köse einen derHodschas in den Fluss, und als dieser nach Luftschnappte, rief der Köse: »Du brauchst keine Angst zuhaben, nimm auch die anderen mit!« Und mit diesenWortenwarf er auch die anderen zweiHodschas in denFluss.Dann aß und trank der Köse nach Herzenslust.Er hat das Ziel seiner Wünsche erreicht, und wir

lassen es uns auch wohlergehen!

Keloglan und die Tochter des Aga

E s war einmal, und doch war es keinmal. In einerZeit hatte ein Mann zwei Söhne. Als dieser Mann

starb, hinterließ er seinen Söhnen als Erbe eine Mütze,einen Gehstock, einen Tarnumhang, der seinen Träger

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unsichtbar machte, und einen fliegenden Teppich. Alssie sich das Erbe teilen sollten, konnten sich die Brü-der nicht einigen und verfielen in Streit miteinander.Da kam Keloglan des Weges und fragte sie, was dennder Grund für ihren Streit sei. Die Burschen erklärtenihm, worum es sich handelte. Keloglan sagte darauf:»Wenn ihr euch nicht einigen könnt, so werfe ich einenStein und wer von euch beiden den Stein zurück-bringt, dem sollen der Teppich und der Umhang ge-hören.« Die Brüder nahmen den Vorschlag an, Kel-oglan warf den Stein weit fort, und die beiden Jungenliefen los. Sofort schnappte sich Keloglan den Tarnum-hang, setzte sich auf den Teppich und flog davon. DieMütze und den Stock ließ er für die Brüder zurück.Keloglan flog und flog und kam in einem Dorf an.

Dieses Dorf gehörte einem Aga. Dieser Aga ließ ver-künden: »Meine Tochter hat an einer bestimmten Stel-le ihres Körpers ein Mal. Wer diese Stelle errät, demgebe ich sie zur Frau.« Nachdem Keloglan dies ver-nommen hatte, legte er sich den Tarnumhang um undbegab sich in den Garten des Aga. Da kam die Tochterdes Aga und pflückte sich einen Apfel. Während sieden Apfel aß, schlich Keloglan zu ihr hin und schnittein Stück von ihrem Kleid ab. Sobald das Mädchenmerkte, dass ein Stück von seinem Kleid abgerissenwar, eilte es ins Haus, um sich umzukleiden. Keloglan,der immer noch unsichtbar war, lief ihr hinterher undsah, dass sich das bewusste Mal oberhalb ihrer Brustbefand. Daraufhin ließ er dem Aga mitteilen, dass erwisse, wo das Mal sich befinde, und er die Tochternun heiraten wolle. Der Aga und seine Tochter wolltenihm nicht glauben. Doch Keloglan berichtete ihnen,was sich im Garten abgespielt hatte, und zeigte ihnen

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das Stück Stoff. Da mussten sie ihm wohl oder übelglauben.Es begab sich aber, dass der Sohn eines anderen Aga

ebenfalls um die Hand dieses Mädchens anhielt. DerVater des Mädchens wollte seine Tochter auf keinenFall mit diesem Keloglan verheiraten und griff deshalbzu einer List. Er erklärte: »In der Nacht werden für dieWerber zwei Betten aufgeschlagen. Und in wessen Bettmeine Tochter sich legt, dessen Frau wird sie.« Kel-oglan nahm die Bedingung an. Er besorgte sich Süßig-keiten, geröstete Kichererbsen und Rosenöl und gingdamit zum Haus des Aga. Die Mutter des anderenJungen ermahnte ihren Sohn: »Sei vorsichtig! DieserKeloglan ist sehr schlau. Was auch immer er tut, tue esihm gleich, dann wirst du das Mädchen bekommen.«Als es nun endlich Nacht wurde, legten sich die beidenJünglinge in ihre Betten. Da fragte der andere Jungeden Keloglan: »Was treibst du denn da?« Keloglanantwortete: »Ich verrichte mein Geschäft.« Und als derandere fragte, warum er dies im Bett tue, da sagteKeloglan: »Damit das Mädchen zu mir kommt.« Derandere Junge folgte den Worten seiner Mutter undglaubte Keloglan sofort, und so verrichtete er auch seinGeschäft, in der Überzeugung, dies würde das Mäd-chen zu ihm locken. Kurz darauf verteilte Keloglandas Rosenöl auf seinem Bett. Wieder fragte ihn derandere Junge, was er da mache, und Keloglan antwor-tete: »Ich habe mein Geschäft verrichtet und nun ver-teile ich es im Bett. Das führt das Mädchen zu mir.«Der andere glaubte Keloglan noch immer und folgteseinem Beispiel. Um Mitternacht betrat das Mädchendas Zimmer und ging wahllos auf eines der Betten zu.Es war das Bett des anderen Jünglings, aber da es

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entsetzlich stank, dachte das Mädchen bei sich, diesmüsse das Bett des Keloglan sein und legte sich indas andere. Ihr Vater hatte ihr zuvor aufgetragen, biszum Morgen in dem Bett zu bleiben, damit er kom-men und es mit eigenen Augen sehen könne. AmMorgen schließlich kam er in das Zimmer, und wassollte er da sehen: Der andere Junge lag da in seinemSchmutz und seine Tochter in den Armen des Kel-oglan! Da ergriffen sie den anderen Jungen undwarfenihn mitsamt seines Bettes aus dem Fenster. Das Mäd-chen wurde aber mit Keloglan vermählt und sie feier-ten vierzig Tage und vierzig Nächte ihre Hochzeit.Sie haben das Ziel ihrer Wünsche erreicht und wir

ruhen uns nun aus.Vom Himmel fielen drei Äpfel: einer für den Erzäh-

ler, einer für den Zuhörer und einer für alle Menschenmit einem guten Herz.

Keloglan fährt nach Jemen

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es gabeinmal in alter Zeit eine arme Frau, die einen Sohn

hatte. Derwurdewegen seines kahlenKopfes Keloglangenannt.Keloglan ging eines Tages in den Bergen jagen und

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erlegte eine Gazelle. Er packte die Gazelle auf seineSchulter und machte sich auf den Heimweg. Da traf erden Wesir des Reiches. Dieser fragte ihn, ob er dieGazelle verkaufen wolle, doch Keloglan antwortete:»Nein, sie ist nicht zu verkaufen. Ich werde sie demPadischah zum Geschenk machen.« Nachdem der We-sir sich entfernt hatte, ging Keloglan geradewegs zumPadischah und überreichte ihm die Gazelle. Der Pa-dischah freute sich sehr über die Gazelle und schenkteKeloglan dafür mehrere Beutel voll Gold. So wurdeKeloglan reich. Er ließ von dem Geld Häuser erbauenund kaufte sich Pferde, Wagen und Sklavinnen.Dem Wesir missfiel es aber, dass dieser Empor-

kömmling die Gunst des Padischahs genießen sollte,und er dachte darüber nach, wie er diesen Burschenloswerden könnte. Er trat vor den Padischah undsprach: »Mein Padischah, lasst uns diesen Keloglanherbeirufen und ihm eineAufgabe stellen. Er soll einenPalast aus Elfenbein errichten. Undwenn er dazu nichtimstande ist, so soll er dem Henker ausgeliefert wer-den.« Und so geschah es. Keloglan wurde vor denPadischah befohlen und man erklärte ihm seine Auf-gabe. Keloglan dachte nach und erbat sich eine Fristvon vierzig Tagen. Dann ging er zu seiner Mutter underzählte ihr, in welch unglücklicher Lage er sich be-fand. »Wie soll esmir nur gelingen?«, fragte er und fingan zu weinen. Da tröstete ihn seine Mutter und sagte:»Sei nicht traurig, mein Sohn. Verlange vom Padischaheine Schar Soldaten und vierzig Schläuche Wein. DenWein lade auf vierzig Kamele und fahre sie zu demunddem Ort, an dem sich der Berg der Elefanten befindet.Schütte denWein indenBergsee, ausdemdieElefantentrinken, und warte ab. Wenn die Elefanten zum See

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kommen, um ihren Durst zu stillen, werden sie denWein trinken und allesamt betrunken werden. Dannfallen ihnen sämtlicheZähne aus.Wenndies geschehenist, sammle die Zähne sofort ein und kehre zurück.«Keloglan freute sich sehr über die Worte seiner Mutter.Sogleich ging er zumPadischah und verlangte von ihmeine Schar Soldaten und vierzig Schläuche Wein, derauf vierzig Kamele geladen werden sollte. Der Padi-schah gewährte ihm alles. Keloglan nahmallesmit undmachte sich auf den Weg zum Berg der Elefanten.Nach einer langen Wanderung kam er zum Berg

und sah die Elefanten. Er schüttete den gesamtenWeinin den See, und sofort kamen die Elefanten herbei undtranken davon. Schon bald waren sie betrunken, undso verloren sie ihre Zähne. Keloglan sammelte dieZähne sofort ein, lud sie auf die Kamele und kehrtezum Padischah zurück. Er sagte: »Hier, mein Padi-schah, ich habedasElfenbeinherbeigeschafft, jetztwer-de ich den Palast erbauen.« Der Padischahwar von derLeistung des Keloglan sehr beeindruckt. Doch der We-sir war voller Neid und sprach erneut zum Padischah:»Mein Padischah, lasst uns eine weitere Aufgabe stel-len. Er soll die Tochter des Königs von Jemen hierher-bringen. Wir wollen sehen, ob ihm auch dies gelingt.«Der Padischah ließ sich wieder von den Worten des

Wesirs verleiten und ließ Keloglan ein weiteres Mal zusich rufen, um ihm seine zweite Aufgabe zu erklären.Keloglan erbat sich wieder eine Frist von vierzig Tagenund ging sogleich zu seiner Mutter. Als diese erfuhr,worin die zweite Aufgabe bestand, sagte sie: »MeinSohn, geh zum Padischah und verlange von ihm einSchiff, welches auf jeder Seite mit solchen Edelsteinenbesetzt ist, wie sie bisher noch nie gesehen wurden.

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Und verlange auch, dass man die Matrosen aus denReihen der schönstenMädchen des Landes auswählt.«Keloglan ging erneut zum Padischah, ließ sich einSchiff ausrüsten, wie es ihm seineMutter geraten hatte,und stach in See.Als sie sich der Küste Jemens näherten, sah Kel-

oglan, dass ein großer Fisch dabei war, einen kleinerenzu verschlingen. Sofort rettete Keloglan den kleinenFisch. Der kleine Fisch zog zweiHaare, die er zwischenseinen Schuppen verstaut hatte, hervor und sprach zuKeloglan: »Nimm diese beiden Haare! Wann immerdu in Not bist, reibe sie aneinander, und ich werde dirzu Hilfe eilen.« Mit diesenWorten sprang der Fisch insWasser und verschwand.Das Schiff segelte weiter und kam endlich in Jemen

an. Sie legten Anker vor dem Königspalast. Der Königwanderte vor seinem Palast umher, als er plötzlich dasschöne Schiff entdeckte. Er war sehr erstaunt darüberund ließ Keloglan zu sich rufen. »Woher kommst du,und was ist das für ein schönes Schiff?«, fragte derKönig. Keloglan hatte sich eine List ausgedacht undantwortete darum: »Ich bin ein Kaufmann und kom-me aus Istanbul.« Der König lud diesen unbekanntenKaufmann zu sich in den Palast ein und bereitete ihmein rauschendes Fest. Nach dem Essen reichte er ihmEdelsteine und Perlen in goldenen Gefäßen.Am nächsten Tag lud Keloglan den König auf das

Schiff ein und führte ihn überall herum. Er ließ allerleiVergnügungen für ihn veranstalten. Als der König dasSchiff verließ, sprach er zu Keloglan: »Ich habe eineTochter, die das Schiff sehr gerne besichtigen möchte.Wenn du es erlaubst, kommt sie morgen her.« Kel-oglan antwortete: »Sehr wohl, mein König. Selbstver-

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ständlich darf Eure Tochter das Schiff besichtigen. Siesoll morgen kommen.«Am folgenden Tag kam das Mädchen auf das Schiff

und begann, sich alles anzusehen. Keloglan nutzte dieGelegenheit und befahl, die Fahrt wieder aufzuneh-men, als die Prinzessin sich gerade im unteren Teil desSchiffes aufhielt. Nach einiger Zeit bemerkte das armeMädchen, dass es Abend geworden war, und begabsich wieder nach oben. Da erst sah es, dass sie auf offe-ner See waren und rief: »O weh, sie haben mich ent-führt!« Daraufhin fing es bitterlich zu weinen an. SeinVater aber hatte bereits von seiner Entführung erfah-ren und sofort Schiffe hinterhergeschickt. Als dieseSchiffe sich demjenigen des Keloglan näherten, nahmdas Mädchen einen Ring von seinem Finger und warfihn ins Meer. Da blieb das Schiff sofort stehen undbewegte sich nicht mehr von der Stelle. Als Keloglanbemerkte, dass die Schiffe des Königs sich näherten,nahm er sofort die beiden Haare aus seiner Tasche, dieihm der Fisch gegeben hatte, und rieb sie aneinander.Da sprang der Fisch aus dem Wasser und brachteKeloglan den Ring des Mädchens zurück. Und in die-sem Augenblick war der Zauber wieder gelöst, unddas Schiff raste davon und ließ die anderen hinter sich.Nach einigen Tagen erreichten sie Istanbul. Man

benachrichtigte den Padischah von ihrer Ankunft, undes wurden Kanonen zur Begrüßung abgefeuert. DieMänner des Padischahs nahmen das Mädchen inEmpfang und brachten es geradewegs in den Palast.Sobald der Padischah diese schöne Tochter des Königsvon Jemen erblickte, verlor er sein Herz an sie. Miteiner Hochzeit von vierzig Tagen und vierzig Nächtennahm er sie zur Frau. Seinen Wesir warf er aus dem

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Amt und setzte an seiner Stelle Keloglan ein, den erzudemmit einer großen Menge Geld entschädigte.So sind sie an das Ziel ihrer Wünsche gelangt, und

wir wollen es uns auch wohlergehen lassen!

DasMärchenvonMehmed dem Kahlen

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es wareneinmal zwei Brüder, die lebten mit ihrer alten

Mutter. Außer ihrer Mutter und der Armut hatten sieals Erbe von ihrem Vater ein paar Stück Vieh.Eines Tages fassten sie den Beschluss, das Erbe un-

ter sich aufzuteilen. Der jüngere der beiden, der kahl-köpfig war, trat vor seinen Bruder und sagte: »Bruder,siehst du diese beiden Ställe hier? Der eine ist neu, derandere verfallen. Lassen wir unsere Rinder frei: Dieje-nigen, die in den neuen Stall gehen, mögen mir, dieanderen dir gehören.« – »Nicht so, Mehmed«, entgeg-nete sein Bruder, »diejenigen sollen dir gehören, wel-che in den alten Stall hineingehen.« Mehmed der Kah-le gab sich auch damit zufrieden. Sie ließen noch amselben Tag ihre Rinder los und alle liefen in den neuenStall, nur ein schäbiges altes Rind, das zudem blind

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war, ging in den alten Stall. Mehmed sagte kein Wortund trieb das blinde Vieh tagtäglich auf die Weide; inder Frühe ging er weg, abends kehrte er heim.Eines Tages saß Mehmed amWegrand, als der Wind

durch das Laub eines großen Baumes fuhr und dieÄste laut knarren ließ. »He, du knarrendes Väter-chen«, fragte der Kahle den Baum, »hast du meinenBruder gesehen?« Der Baum knarrte weiter, ohne demJungen zu antworten. Auch als er ein zweites Malfragte, sagte der Baum nichts und knarrte nur weiter.Der Kahle wurde wütend und schlug mit seinem Beilauf den Baum ein, und da, plötzlich! – fielen aus demStamm lauter Goldstücke heraus! Unser kahler Jungenahm nun seinen wenigen Verstand in die Hand, gingnach Hause und verlangte von seinem Bruder nocheinen Ochsen, damit er diesen zusammen mit seinemeigenen ins Joch einspannen könne. Er nahm aucheinen Wagen und Säcke, die er mit Erde füllte, undfuhr zum Baum. Dort leerte er die Säcke aus und fülltedas Gold hinein. Dann fuhr er wieder nach Hause undzeigte seinem Bruder das Gold.Der Bruder erschrak beim Anblick des Goldes und

befürchtete schon, dass sein Bruder es gestohlen hatte.Doch Mehmed konnte ihn beruhigen und wollte dasGold nun aufteilen. Er lief zu einemNachbarn, um sichein Maß auszuleihen. Den Nachbarn wunderte es sehr,dass die beiden Brüder was zu messen hatten, undwollte unbedingt erfahren, was es war. Deshalb brach-te er auf dem Boden des Maßes etwas Wachs an undgab es dem Kahlen. Mehmed und sein Bruder maßennun das Gold. Am Wachs auf dem Boden blieb dabeieine Goldmünze haften. Als der Kahle dasMaßwiederzurückgab, sah der Nachbar nun, was dort im Haus

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dieser armen Leute gemessen wurde. Sofort erzählteer es seinem Nachbarn zur anderen Seite, und binnenkurzer Zeit wusste das ganze Dorf vom Goldschatzder Brüder. Bald merkten die beiden Brüder, dass dasganze Dorf über ihr Gold redete, und sie erschrakensehr, denn sie dachten, dass man sie vielleicht über-fallen und ihr Gold rauben würde, ja, dass man sie gartöten würde. Da hielten sie es für das Beste, das Goldzu vergraben und aus dem Dorf zu fliehen. Gesagt,getan! Nachdem sie das Gold vergraben hatten, zogensie aus und liefen in den Wald hinein.Und wie sie da so gingen, fiel dem älteren Bruder

ein, dass der Kahle womöglich die Tür nicht abge-sperrt hatte. Und dies traf auch tatsächlich zu. Da liefder Kahle zurück, um die Tür abzuschließen. Als eraber zuHause ankam,wollte er auch gleich nach seinerMutter sehen und sie baden, die war nämlich alt undgebrechlich. Er setzte das Badewasser auf, und als esendlich kochte, goss er den ganzen Kessel über seinerMutter aus, so dass sie ganz verbrüht war. Dann lehnteer sie an die Wand und stützte sie mit einem Besen.Schließlich hob er die Tür aus den Angeln und lud siesich auf die Schulter. Dann machte er sich wieder aufden Weg zu seinem Bruder, der im Wald wartete.Als der Bruder die Tür erblickte, ahnte er bereits,

dass sein Bruder wieder eine Dummheit begangenhatte. Der Kahle erzählte ihm, er habe die Tür mit-gebracht, damit niemand sie öffnen könne, und nach-dem er berichtet hatte, was er mit derMutter angestellthatte, da geriet der Bruder vollends in Zorn. Er wollteden Kahlen gerade zurechtweisen, als sie plötzlich dreiReiter des Weges kommen sahen. Beide dachten sie,dass es Nachbarn aus dem Dorf seien, die sie suchten,

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um aus ihnen das Versteck des Goldes herauszupres-sen, und kletterten schnell auf einen Baum. Die Reiterbemerkten sie nicht, da es Abend war. Sie wären aufdem Baum sicher gewesen, wenn der eine nicht einsolcher Narr gewesen wäre. Zuerst ließ er vom Baumseinen Segen herabfallen, der die Köpfe der Reiter traf.Diese hielten es für Regen. Dann schmerzte ihm derArm, auf dem er die Tür hatte, und er ließ sie hinunter-fallen. Da schrien die Männer: »Die Welt geht unter!«,und rannten davon. Der ältere hatte endlich genug vonden Taten seines Bruders, und er beschloss, sich vonihm zu trennen, und sagte: »Nun zieh alleine weiter,denn sonst bringst du noch mehr Unglück über mich!«Damit verließ er seinen Bruder.Da zog Mehmed der Kahle allein in die Welt. Er

wanderte so lange herum, bis er eines Tages endlich einDorf erreichte. Dort begab er sich zur Moschee undstellte sich vor das Tor. Von den Leuten, die aus derMoschee herauskamen, erhielt er ein paarMünzen undetwas zu essen. Da kam ein dünnbärtiges Männchenauf den kahlköpfigen Jungen zu und fragte, ob er nichtsein Diener werden wolle. »Das will ich gerne«, ant-wortete Mehmed, »wenn du mir versprichst, dass wireinander niemals zürnen dürfen. Wenn du mir zürnst,so töte ich dich, wenn ich dir zürne, so erlaube ich dir,dass du mich tötest.« Dem Dünnbart kamen die Wortedes Kahlen sonderbar vor, doch daman in jenemDorfenur schwer einen Diener fand, willigte er ein und führ-te ihn zu sich nach Hause. Zuerst sollte unser kahlköp-figer Junge die Hühner desMannes auf dieWiese brin-gen und sie füttern. Der Kahle erfüllte seine Aufgabe,indem er einige Hühner tötete, einige andere verkaufteunddie verbliebenen seinemHerrn zurückbrachte. Als

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dieser ihn fragte, was denn mit seinen Hühnern ge-schehen sei, antwortete er: »Herr, als ich die Hühnerhinaustrieb, sind sie in alle Richtungen davongelaufen.Ich bin ihnen zuerst hierhin und dann dorthin gefolgtund habe diese hier fangen können. Zürnst du mir,Meister?« Der Mann dachte an ihre Abmachung undrief: »Nein, warum sollte ich dir denn zürnen!« Nach-dem einige Tage vergangen waren, erteilte der Dünn-bart seinem Diener erneut einen Auftrag und schickteihn mit all seinen Schafen auf die Weide, damit sie vondem saftigen Gras fressen konnten. Der Kahle aberverfuhr mit den Schafen wie zuvor mit den Hühnernund kehrte mit einigen wenigen Schafen zurück. Sei-nem Meister erklärte er, Wölfe hätten einen Teil derSchafe gerissen und einige seien davongerannt. Wiezuvor fragte Mehmed seinen Herrn: »Zürnst du mir,Meister?«, und wieder rief sein Herr: »Nein, warumsollte ich denn zürnen?« Doch insgeheim nahm er sichvor, seinem Diener von nun an nichts mehr anzuver-trauen und sich vor ihm in acht zu nehmen.Der Dünnbart hatte auch Kinder, um die sich der

Kahle kümmern sollte. Doch es dauerte nicht lange, dakamen auch die Kinder zu Tode. Die Frau befürchtetenun, dass mit der Zeit auch sie an die Reihe kommenwürde; sie vertraute sich ihrem Gatten an, und heim-lich beschlossen sie, in der Nacht zu fliehen und sichvor diesem Narren zu retten. Aber Mehmed hatte vonder Sache Wind bekommen, kroch in eine Truhe, undals sein Herr nun dieselbe in seinem neuen Haus ineinem anderen Dorf öffnete, kroch der Narr hervor.Abermals besprach sich der Herr mit seiner Frau, dasssie nachts am Ufer eines Sees schlafen sollten. DenKahlen wollten sie mitnehmen, sein Lager nahe am

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Uferrand aufschlagen, und ihn in den See werfen,sobald er eingeschlafen war. Doch sie hatten die Rech-nung ohne den Kahlen gemacht, der die Pläne seinerHerrschaften durchschaut hatte. Als es nun Nachtwurde und man sich zu Bett begeben hatte, wartetender Mann und seine Frau eine Weile, bis der Kahleeingeschlafen war, und machten sich daran, ihn in denSee zu werfen. Der jedoch hatte so viel Verstand, dasser der Frau einen Tritt versetzte, woraufhin diese inden See stürzte. Auch dieses Mal fragte er seinenHerrn: »Zürnst du mir, Meister?« Dieser rief wutent-brannt: »Wie sollte ich dir nicht zürnen, du Elender!Mein Vieh hast du zugrunde gerichtet, hastmeine Frauund meine Kinder getötet und mich zum Bettler ge-macht!« Daraufhin ergriff ihn der Kahle, erinnerte ihnan ihren Vertrag und warf ihn dann in den See hinein,wo der unglückliche Mensch ertrank.Mehmed war nun wieder allein und setzte seine

Wanderschaft fort. Auf dem Wege fand er einmal eineMünze, kaufte sich dafür geröstete Kichererbsen, setz-te sich an einen Brunnen und nahm seine Erbsen. Alser sie zu kauen begann, ließ er eine halbe Erbse in denBrunnen fallen. Nun fing der Kahle an zu schreien:»Ich will meine halbe Erbse haben, ich will meinehalbe Erbse haben!« Auf dieses furchtbare Gebrüll ent-stieg dem Brunnen ein Araber, der so große Lippenhatte, dass er mit der einen die Erde, mit der andernden Himmel kehrte. »Was willst du?«, fragte er unse-ren Mehmed. »Ich will meine halbe Erbse haben, ichwill meine halbe Kichererbse haben!«, schrie der Kah-le. Der Araber stieg wieder in den Brunnen hinunter,und als er wieder erschien, hielt er in der Hand einTischlein. Er gab es dem Kahlen und sprach: »Sooft du

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hungrig bist, sprich: ›Tischlein deck dich!‹; wenn dudann satt bist, sprich: ›Tischlein schließ dich!‹«Mehmed nahm also das Tischlein, ging damit ins

nahe gelegene Dorf und ließ sich in einem Haus nie-der. Als er hungrig wurde, sprach er: »Deck dich,mein Tischlein!«, und da hatte er so viele teure Speisenvor sich, dass er nicht recht wusste, mit welcher erbeginnen sollte. »Na«, dachte sich der Bursche, »dasist was für die Dorfleute, sie sollen sich das Tischleinansehen und von den Speisen essen.« Er lief von Hauszu Haus und lud alle Dorfbewohner zu sich nachHause ein. Alle kamen sie herbei, blickten nach rechtsund blickten nach links, aber nirgends sahen sie Feuer,Töpfe oder gar Speisen. »Der will sich einen Spaß mituns erlauben«, dachten alle. Aber der kahlköpfige Jun-ge holte sein Tischlein herbei und sprach: »Tischleindeck dich!« Sogleich waren so viele Speisen da, wiesie keiner der Anwesenden je gesehen oder gekostethatte. Alle Gäste wurden übersatt, selbst die Diener-schaft hatte genug zu essen. Die Dorfleute berietenunter sich, auf welche Weise sie jeden Tag so speisenkönnten. »Nun«, meinte einer, »wir schleichen uns insein Haus und stehlen das Tischlein.« Es wurde einerunter ihnen auserwählt, der es entwenden sollte, undtags darauf stand Mehmed ohne sein Tischlein da.Was sollte er nun mit seinem hungrigen Magen

beginnen? Er eilte wieder zum Brunnen und begannzu schreien: »Ich will meine halbe Erbse haben, ichwill meine halbe Erbse haben!« – »Wo ist denn dasTischlein?« – »Man hat es mir gestohlen!« Der Araberstieg wieder hinab, und als er aus dem Brunnen zu-rückkehrte, hatte er eine kleine Mühle in der Hand. Ergab sie dem Kahlen und sprach: »Drehst du sie nach

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rechts, so mahlt sie Gold; linksherummahlt sie Silber.«Der Kahle trug nun seine Mühle nach Hause, drehtesie nach rechts, drehte sie nach links, und große Schät-ze entströmten der Mühle. Er wurde nun ein so rei-cher Mann, dass es weder im Dorf noch in der Stadteinen reicheren gab als ihn.Die Dorfleute erhielten auch von dieser Mühle

Kenntnis, und sie berieten sich erneut so lange, biseines Tages auch die Mühle verschwunden war. Aber-mals ging Mehmed zum Brunnen und schrie: »Ich willmeine halbe Erbse haben, ich will meine halbe Erbsehaben!« – »Wo ist die Mühle?«, fragte der Geist. »Auchsie hat man mir gestohlen!«, jammerte kläglich derKahle. Der Araber stieg wieder hinab und brachte ausdem Brunnen zwei Stöcke herauf. Er gab sie demKahlen und trug ihm streng auf, die Worte: »Schlagtzu, meine Knüppel!«, nur ja nicht auszusprechen.Mehmed nahm also die Stöcke in die Hand, drehte

sie nach rechts, drehte sie nach links, wusste abernichts mit ihnen anzufangen. Da kamen ihm dieWortedes Arabers in den Sinn, und er wurde so neugierig,dass er die Worte sprach: »Schlagt zu, meine Knüp-pel!« Sofort stürzten beide Stöcke auf ihn los undprügelten ihn tüchtig durch. »Haltet ein, Knüppel!«,rief er endlich, und siehe da: die Stöcke hielten mitdem Prügeln ein. Selbst in seinem großen Schmerzfreute sich Mehmed sehr, dass er eine gute Verwen-dung für seine Stöcke gefundenhatte und seinenNach-barn endlich eine Lektion erteilen konnte.Er eilte schleunigst nach Hause und rief alle Dorf-

bewohner zu sich, erwähnte aber mit keiner Silbe denGrund, warum er sie eingeladen hatte. Nach einigenStunden waren alle versammelt und harrten voller

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Neugier der kommenden Dinge. Mehmed trat nunmit seinen beiden Stöcken herbei und rief: »Schlagtzu, meine Knüppel!« Nun fielen furchtbare Hiebe, sodass die Leute kaum mehr imstande waren zu jam-mern. »So lange gibt’s kein Ende«, ermahnte sie Meh-med, »bis ihr mir nicht mein Tischlein und meineMühle zurückgebt!« Alles versprachen die gequältenDorfleute, holten das Tischlein und die Mühle herbeiund dann erst hieß es: »Haltet ein, meine Knüppel!«Mehmed nahm nun alle drei Zaubergeschenke an

sich und zog heim in sein Dorf. Und weil er nun Geldhatte, so war er auch klug und fand bald seinen Bru-der. Die beiden suchten sich zwei Jungfrauen aus, hei-rateten sie und lebten ein gutes Leben. Von nun an gabes keinen klügeren Menschen im Dorfe als Mehmed.

Die Leber

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es wareneinmal eine alte Frau und ihre Tochter. Die Frau

verspürte eines Tages ein Verlangen nach Leber. Siegab also ihrer Tochter einige Geldmünzen, damit siedafür eine Leber kaufe, sie im Teich wasche und dann

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nach Hause bringe. Das Mädchen ging auf den Markt,kaufte die Leber und trug sie zum Teich, um sie zuwaschen.Während es die Leber reinigte, flog plötzlich ein

Storch herbei, schnappte die Leber aus seiner Handund flog damit weg. Die Maid bat ihn: »Gib mir dieLeber zurück, o Storch, damit ich sie meiner Mutterbringe, sonst schlägt sie mich.« – »Wenn du mir Gerstedafür gibst, so gebe ich dir die Leber zurück«, versetzteder Storch. Die Maid ging zum Acker hin und sprach:»Acker, gib mir Gerste, die Gerste gebe ich dem Storch,der Storch gibt mir die Leber zurück, die trage ich zumeinemMütterchen.« Da sprach der Acker: »Wenn duzu Gott um Regen betest, so gebe ich dir Gerste.« Alssie nun betete: »Gib Regen, o du gütiger Gott, denRegen gebe ich dem Acker, der Acker gibt mir Gerste,die Gerste gebe ich dem Storch, der Storch gibt mir dieLeber zurück, die Leber gebe ich meinem Mütter-chen«, da kam ein Mensch und sagte ihr, dass ohneWeihrauch ihr Gebet nichts wert sei, sie solle sich vomKaufmann Weihrauch holen. Sie ging also zum Kauf-mann und sprach: »Kaufmann, gib mir Weihrauch,damit ich ihn vor Gott anzünde, Gott gibt dann Regen,Regen gebe ich dem Acker, der Acker gibt mir Gerste,die Gerste gebe ich dem Storch, der Storch gibt mir dieLeber zurück, die Leber gebe ich meiner Mutter.« –»Ich gebe ihn dir«, sprach der Kaufmann, »wenn dumir Stiefel vom Schuster bringst.« Die Maid ging zumSchuster und sprach zu ihm: »Schuster, gib mir Stiefel,Stiefel gebe ich dem Kaufmann, der Kaufmann gibtmir Weihrauch, Weihrauch spende ich Gott, Gott gibtmir Regen, Regen gebe ich dem Acker, der Acker gibtmir Gerste, Gerste gebe ich dem Storch, der Storch gibt

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mir die Leber zurück, die Leber gebe ich meiner Mut-ter!« Da sprach der Schuster: »Bring mir Ochsenleder,dann gebe ich dir Stiefel.« Die Maid ging zum Gerberund sagte ihm: »Gerber, gib mir Leder, das Leder gebeich dem Schuster, der Schuster gibt mir Stiefel, Stiefelgebe ich demKaufmann, der Kaufmann gibtmirWeih-rauch, Weihrauch spende ich Gott, Gott gibt mir Re-gen, Regen gebe ich dem Acker, der Acker gibt mirGerste, Gerste gebe ich dem Storch, der Storch gibt mirdie Leber zurück, die Leber bringe ichmeinemMütter-chen!« – »Bringst du mir ein Fell vom Ochsen, so gebeich dir Leder«, versetzte der Gerber. Die Maid gingzum Ochsen und sprach: »Ochse, gib mir Fell, Fellgebe ich dem Gerber, der Gerber gibt mir Leder, Ledergebe ich dem Schuster, der Schuster gibt mir Stiefel,Stiefel gebe ich dem Kaufmann, der Kaufmann gibtmir Weihrauch, Weihrauch spende ich Gott, Gott gibtmir Regen, Regen gebe ich dem Acker, der Acker gibtmir Gerste, Gerste gebe ich dem Storch, der Storch gibtmir die Leber zurück, die Leber bringe ich meinemMütterchen!« Sprach der Ochse: »Wenn du mir Strohbringst, so gebe ich dir dafür Fell.« Die Maid ging alsozu einem Bauern und sagte ihm: »Bauer, gib mir Stroh,Stroh gebe ich dem Ochsen, der Ochse gibt mir Fell,Fell gebe ich dem Gerber, der Gerber gibt mir Leder,Leder gebe ich dem Schuster, der Schuster gibt mirStiefel, Stiefel gebe ich dem Kaufmann, der Kaufmanngibt mir Weihrauch, Weihrauch spende ich Gott, Gottgibt mir Regen, Regen gebe ich dem Acker, der Ackergibt mir Gerste, Gerste gebe ich dem Storch, der Storchgibtmir die Leber zurück, die Leber bringe ichmeinemMütterchen!« Sprach der Bauer zur Maid: »Ich gebedir Stroh, wenn du mich küsst!« Die Maid dachte bei

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sich, dass sie ihn doch küssen müsse, sonst würde sieja ihr Ziel nicht erreichen. Sie trat daher an den Bauernheran, küsste ihn und bekam von ihm für den KussStroh. Das Stroh trug sie nun zum Ochsen, der Ochsegab ihr dafür ein Fell. Das Fell trug sie zumGerber, derihr dafür Leder gab. Das Leder gab sie für Stiefel demSchuster. Die Stiefel trug sie zum Kaufmann, der ihrdafür Weihrauch gab. Den Weihrauch spendete sieGott und betete: »Gib Regen, o du gütiger Gott; denRegen gebe ich dem Acker, damit er mir Gerste gebe.Die Gerste gebe ich dem Storch, damit er mir die Leberzurückgebe, die ich meiner Mutter nach Hause brin-gen will!« Gott gab ihr Regen. Den Regen gab sie demAcker, der Acker gab ihr Gerste. Die Gerste gab siedem Storch, der ihr nun die Leber zurückgab, dieLeber brachte sie ihrer Mutter. Sie kochten sie undaßen sie gemeinsam auf.Sie haben das Ziel ihrer Wünsche erreicht, und wir

lassen es uns auch schmecken!

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Tiermärchen

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Der Hase

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es gabeinmal einen Hasen.

Eines Tages drang ein Dorn in die Pfote des Hasen,und sie blutete. Der Hase blickte nach links und blick-te nach rechts und entdeckte in der Nähe ein Blatt. Ersagte zum Blatt: »He du, Blatt, komm her und wischdas Blut von meiner Pfote ab.« Das Blatt antwortete:»Ich liege hier so schön sauber, warum soll ich michmit deinem Blut beschmutzen?« Der Hase: »Wenn dudas Blut von meiner Pfote nicht abwischen willst,dann verrate ich dich an den Esel, und er kommt undfrisst dich.« Als das Blatt sich immer noch weigerte,das Blut abzuwischen, ging der Hase zum Esel undsagte: »O Esel, geh doch und friss jenes Blatt auf!«Der Esel erwiderte: »Ich habe hier frisches grünesGras, warum soll ich jenes vertrocknete Blatt fressen?«Der Hase sagte: »Wenn du das Blatt nicht fressenwillst, dann gehe ich zum Wolf und berichte ihm,damit er kommt und dich frisst.« Der Hase ging da-rauf zum Wolf und bat ihn: »O Wolf, geh doch undfriss diesen Esel.« Der Wolf hierauf: »Was?! Soll ich

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etwa mein schönes zartes Fleisch hier lassen und denzähen Esel fressen?« Der Hase wiederum: »Wenn dunicht auf mich hörst und den Esel nicht fressen willst,gehe ich zum Hund, und der kommt und frisst dich.«Der Hase ging zum Hund und sagte ihm: »Du Hund,geh doch und friss diesen Wolf dort!« Der Hund erwi-derte: »Mein köstliches Ayran soll ich gegen den Wolfeintauschen?« Und der Hase antwortete: »Wenn duden Wolf nicht fressen willst, dann gehe ich zu deinerHerrin, und sie kommt und erteilt dir eine Tracht Prü-gel.«Der Hase machte seine Drohung wahr und forderte

die Herrin auf, den Hund zu verprügeln. Diese ginghin und erteilte dem Hund die Prügel. Der Hundwurde wütend und griff darauf den Wolf an. Der Wolfwiederum rächte sich am Esel, welcher daraufhin be-gann, das Blatt aufzufressen. Das arme Blatt riss sichlos und das, was von ihm noch übrig war, wischtedem Hasen das Blut von der Pfote ab. Der Hase warnun endlich zufrieden, und wir sind es auch, unddamit ist unsere Geschichte zu Ende.

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Der schwanzlose Fuchs und der Bär

E s war einmal, und doch war es keinmal. Es wareinmal ein Fuchs, der hatte keinen Schwanz und

lief hungrig durch die Felder und um die Dörfer. Dochsosehr er auch suchte, er fand nichts zu fressen. Erhatte schon die Hoffnung aufgegeben und sich daraufeingestellt, mit leerem Magen schlafen zu gehen, alsseine Nase in der Nähe eines Hauses den Geruch vonLeber vernahm. Sofort sprang er über den Zaun inden Garten und sah dort die Leber. Doch man hattesie in eine Falle gelegt, deshalb war der Fuchs schlaugenug, nicht sofort über sie herzufallen, so verlockendsie auch sein mochte. Er konnte sich aber auch nichtvon ihr abwenden und verbrachte die Stunden biszumMorgen in dem Garten.Auf einmal kam ein Bär des Weges, und der Fuchs

rief ihn sogleich herbei und sagte: »Sieh mal, meinFreund, hier ist Leber.« Da fragte der Bär: »Warum isstdu sie denn nicht?« Der Fuchs antwortete: »Man sagtemir, es sei Fastenzeit, deshalb faste ich und esse auchdiese Leber nicht.« Der Bär glaubte dem Fuchs undgriff nach der Leber. Da schnappte die Falle zu und derBär war gefangen! Der Fuchs aber ließ sich die Leberschmecken. Der Bär fragte den Fuchs verblüfft: »Hat-test du nicht gesagt, dass du fastest?« Der Fuchs sagte:

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»Das habe ich auch, aber gerade haben die Kanonendas Ende der Fastenzeit angekündigt. Jetzt kann ichwieder essen.« Da wurde der Bär sehr wütend undrief: »Du bist doch der schwanzlose Fuchs! Na warte,dich werde ich schon finden, wo auch immer du dichversteckst!«Dem Fuchs wurde nun bange zumute, und er dach-

te darüber nach, wie er der Rache des Bären entgehenkönnte. Er musste einen Weg finden und es so einrich-ten, dass er nicht von anderen Füchsen unterschiedenwerden konnte. Da fiel ihm eine List ein, wie er dieanderen Füchse dazu bringen könnte, ihre Schwänzeabzureißen. Er begab sich in die Berge und versam-melte alle Füchse so um sich, dass sie seine Hinterseitenicht sehen konnten. Dann sagte er zu ihnen: »Andiesem und diesem Ort gibt es einen Birnbaum mitherrlichen Früchten. Lasst uns dorthin gehen und dieBirnen stehlen!« Die Füchse waren einverstanden undschlossen sich dem Schwanzlosen an. Der ließ dieanderen aber vorangehen, damit sie nicht sahen, dasser keinen Schwanz hatte. Als sie am besagten Baumankamen, kletterte unser Fuchs geschwind hinaufund warf eine nach der anderen die Birnen auf dieErde. Die anderen Füchse fraßen die Birnen aber so-fort auf. Da rief der Fuchs von oben: »So geht es abernicht, ihr fresst ja alle auf! Ich werde euch jetzt aneuren Schwänzen an den Baum binden, und wenn alleBirnen aufgesammelt sind, binde ich euch los und wirfressen sie alle zusammen!« Da ließen sich die Füchsean ihren Schwänzen aufhängen. Unser Fuchs stiegwieder hinauf und pflückte weiter die Birnen. Dannaber tat er so, als näherte sich der Besitzer des Baums.»Der Bauer kommt! Der Bauer kommt«, rief er und lief

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davon. Die anderen Füchse bekamen es mit der Angstzu tun und wanden und drehten sich so lange, bis sichihre Schwänze von ihnen lösten und sie auf die Erdefielen und ebenfalls wegrennen konnten. Kurz darauftrafen sie sich wieder und sprachen davon, was ihnenzugestoßen war. Da sagte unser Fuchs: »Und nach mirerkundigt ihr euch gar nicht! Als ich vom Baum hi-nunterspringen wollte, blieb mein Schwanz in einerAstgabel hängen und ich landete ohne Schwanz aufder Erde!«Auf diese Weise hatte sich der Fuchs unkenntlich

gemacht und konnte vom Bären nicht mehr erkanntwerden!

Fuchs, Krebs und Schildkröte

E s war einmal, und doch war es keinmal. EinesTages kamen ein Fuchs, ein Krebs und eine Schild-

kröte darin überein, dass sie gemeinschaftlich einStück Land bestellen wollten. Das Land befand sicham Fuß eines Berges, und als sich die drei Freunde andie Arbeit machen wollten, rief der Fuchs auf einmal:»Wartet! Einer von uns sollte diesen Berg hier stützen,damit er nicht zusammenbricht und unsere Arbeit ver-nichtet. Da ich der Größte und Kräftigste von uns

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dreien bin, sollte ich diese Aufgabe übernehmen.« Sei-ne beiden Freunde fanden auch, dies sei eine gute Idee.So lag der Fuchs von morgens bis abends faul imSchatten des Berges und überließ die mühselige Arbeitin der gleißenden Sonne dem Krebs und der Schild-kröte.Nachdem ein halbes Jahr vergangen war, konnte

endlich die Ernte eingebracht werden und Krebs undSchildkröte luden den Fuchs zum Teilen ein. Abermalsergriff der Fuchs das Wort und sagte: »Lasst es unsanders machen. Wir veranstalten einen Wettlauf umdie Ernte. Wer von uns der Schnellste ist, der nimmtden Weizen, der Zweite das Stroh, der Dritte aber, dergeht leer aus.« Erneut fügten sich der Krebs und dieSchildkröte dem Willen des Fuchses, und alle stelltensie sich nebeneinander auf.Die Schildkröte aber hatte eine weitere List des

Fuchses gewittert und zuvor ihrem Gatten Folgendesaufgetragen: »Gehe du auf das Feld und lege dichmitten in den Weizen hinein. Und wenn einer von denbeiden dort ankommt, tust du so, als würdest du schonden Weizen wiegen. Sie werden denken, dass ich vorihnen dort angekommen sei, und dann wird die ganzeErnte uns gehören.«Kurzum, sie waren bereit, der Fuchs gab das Start-

zeichen und lief los. Doch auch der Krebswollte sicher-gehen, dass er nicht leer ausging, und war ganz ge-schwind auf den Schwanz des Fuchses gesprungen.Der Fuchs kam keuchend, aber, wie er es für sich ge-plant hatte, als Erster am Ziel an. Doch was sollte er dasehen! Die Schildkröte war schon dabei, das Getreidezu wiegen. Da dachte sich der Fuchs: »Wenn ich schondas Getreide nicht bekomme, so will ich wenigstens

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das Strohmitnehmen.« Und drehte sich zum Stroh um.Doch was erwartete ihn dort? Aber als er sich auf dasStroh legen wollte, da hörte er die Stimme des Krebses:»He du, willst du mich etwa zerquetschen?«Da sah der Fuchs, dass alle List umsonst gewesen

war, und er mit leeren Händen dastand.

Die Krähe und der Holzsplitter

E s war einmal, und doch war es keinmal. Zu einerZeit gab es einmal eine Krähe, die flog in eine

Tischlerei. Dort fand sie einen schönen Gegenstandund wollte gerade nach ihm greifen und mit ihm weg-fliegen, als ihr auf einmal ein Holzsplitter in den Fußfuhr. Sie schrie vor Schmerz auf und flog geradewegszum Padischah des Reiches, auf dass dieser ihr helfe.Der Padischah aber fragte zunächst, wer denn da anseine Tür klopfe. Die Krähe antwortete: »Ich bin es, dieKrähe.« – »Was willst du?«, erwiderte darauf der Pa-dischah. »Nehmt diesen Splitter aus meinem Fuß undbewahrt ihn auf. Ich komme morgen und nehme ihnwieder mit, denn er gehört jetzt mir.« Der Padischahließ den Splitter aus dem Fuß der Krähe ziehen, trugseinen Dienern aber auf, ihn im Ofen zu verfeuern.

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Am nächsten Tag erschien die Krähe wieder und batum Einlass. »Wer bist du?«, fragte der Padischah. »Ichbin es, die Krähe«, war die Antwort. »Was willst du?«,entgegnete der Padischah erneut. »Meinen Splitter er-bitte ich zurück.« – »Ach, den haben wir doch in denOfen geworfen!« Darauf rief die Krähe: »Dann gebtmir den Ofen für meinen Splitter, den Ofen für meinenSplitter!« Und als sie nicht aufhören wollte, nach demOfen zu verlangen, da gab man ihn ihr schließlich. DieKrähe nahm den Ofen und flog mit ihm davon. KurzeZeit darauf kam sie wieder zurück und ließ den Ofenmit folgenden Worten im Palast zurück: »Behaltet ihnheute Nacht hier, morgen komme ich und nehme ihnwieder mit!« Die Diener aber trugen den Ofen in denViehstall, wo er von den Ochsen zertreten wurde.Tags darauf kehrte die Krähe zum Palast zurück.

»Wer bist du?«, hieß es erneut. »Ich bin es, die Krähe.« –»Was willst du?« – »Meinen Splitter, meinen Ofen.« –»Den Ofen haben wir in den Stall gestellt. Dort habenihn die Ochsen zertrampelt.« Darauf die Krähe: »Dannwill ich einen Ochsen für meinen Ofen, einen Ochsenfür meinen Ofen!« Immerzu forderte sie einen Ersatzfür den Ofen, bis ihr endlich, um sie zum Schweigenzu bringen, ein Ochse gewährt wurde. Mit diesem flogsie davon und kam erst am Abend zurück. Sie brachteden Ochsen zurück und bat darum, ihn bis zum nächs-ten Tag im Palast zu behalten und ihn ihr dann wiederauszuhändigen. Da zu jener Zeit aber die Hochzeit desSohnes des Padischahs gefeiert wurde, schlachteteman den Ochsen und bereitete aus seinem Fleisch eineMahlzeit für die Hochzeitsmusikanten zu.Am Morgen danach kam die Krähe wieder an die

Türdes Palastes und verlangte, eingelassen zuwerden.

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»Wer bist du?«, hieß es wie an den Tagen zuvor. »Ichbin es, die Krähe.« – »Was willst du?« – »Meinen Och-sen.« – »Den haben wir geschlachtet und den Hoch-zeitsmusikanten vorgesetzt.« Die Krähe aber wollteauch dieses Mal einen Ersatz und rief: »Den Ofen, denOchsen oder die Braut! Den Ofen, den Ochsen oder dieBraut!« Und sie rief so lange, bis der Padischah rief:»So gebt ihr die Braut. Wir wollen einmal sehen, wassie denn mit ihr anzustellen vermag.« Da packte dieKrähe die Braut, setzte sie sich auf den Rücken undflog mit ihr so schnell davon, dass der Padischah undseine Diener ganz verdutzt dastanden. Die Krähe aberbrachte die Braut auf einen hohen, einsamen Berg.Dort gab es nichts und niemanden außer einem Hir-ten, der auf seiner Flöte spielte. Da bot die Krähe demHirten die Braut zum Tausch gegen seine Flöte an.Dieser nahm das Angebot freudig an und überließder Krähe seine Flöte.Diese nahm die Flöte und kehrte mit ihr zum Palast

des Padischahs zurück. Dort fing sie an zu spielenund wollte gar nicht mehr damit aufhören. Der Pa-dischah rief seinen Diener und sagte: »Ich kann diesesFlötenspiel nicht mehr ertragen! Nimm diese Kräheund wirf sie ins Wasserbecken, auf dass sie dort ertrin-ke!« Der Diener packte die Krähe und tat, wie ihmgeheißen. Die Krähe aber trank das gesamte Wasserdes Beckens aus, stieg heraus und spielte weiter aufder Flöte. Der Padischah, der nun sehr wütend wurde,befahl seinem Diener, die Krähe ins Feuer zu werfen,damit sie verbrenne. Doch kaum loderten die Flam-men auf, da spie die Krähe das Wasser aus, das siezuvor getrunken hatte, und löschte damit das Feuer.Wieder ging sie zum Palast und spielte auf der Flöte.

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Diesmal ließ der Padischah sie in den Bienenstock ein-sperren, damit sie dort von den Bienen zu Tode gesto-chen wurde. Doch die Krähe verschlang alle Bienenund konnte sich auch aus dem Bienenstock befreien.Als der Padischah ihr Flötenspiel schon wieder ver-nahm, da rief er seinen Diener erneut zu sich undsprach: »Sperrt sie in den Pferdestall, damit die Pferdesie zu Tode trampeln!« Der Diener folgte seinemBefehlund sperrte die Krähe in den Pferdestall ein. Dort aberspuckte die Krähe die Bienen, die sie verschlungenhatte, wieder aus und ließ sie auf die Pferde los, so dassdiese von den Bienen zerstochen wurden. Die Kräheaber stellte sich wieder vor den Padischah und spieltefröhlich auf ihrer Flöte.Der Padischah war nun verzweifelt und wusste sich

keinen weiteren Ausweg mehr, als den Vogel schlach-ten zu lassen. Als der Diener ihren Hals durchtrennteund das Blut floss, da rief die Krähe vor Freude: »O,was für ein schönes, rotes Halsband, was für ein schö-nes, rotes Halsband!« Daraufhin rupfte der Diener ihreFedern und steckte sie in einen Topf. Während siekochte, sang sie: »Ah, was für ein schönes, warmesBad! Was für ein schönes, warmes Bad!« Als sie garwar, wurde sie auf Tellern dem Padischah aufgetragen.Während dieser sie verspeiste, rief sie: »O, was für einlanger, schmaler Weg, was für ein langer, schmalerWeg!« Und als er sie hinuntergeschluckt hatte, rief sieendlich: »O, was für eine Qual, was für eine Qual!« Dawar es auch dem Padischah wohl, und unsere Ge-schichte ist damit zu Ende.

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Die alte Frau und dieMaus

E s war einmal, und doch war es keinmal. In einerZeit gab es einmal eine alte Frau, die lebte allein

in einer Höhle, die sie nie fegte.Eines Tages aber wollte die Frau nun doch ihre

Höhle fegen und hatte gerade den Besen zur Handgenommen, als sie auf dem Boden eine Münze ent-deckte. Sie nahm das Geld, ging in den Helwa-Laden,kaufte sich dort ein wenig Helwa und aß die Hälfte.Die übrige Hälfte legte sie auf einen Schrank. Nacheiner Weile bemerkte sie aber, dass eine Maus die ver-bliebene Helwa gefressen hatte. Die Frau nahm einenStein, warf ihn nach der Maus und traf sie am Kopf.Die Maus aber versetzte der Frau einen solchen Schlagauf ein Auge, dass sie fortan auf diesem blind war.Da wandten sich beide an den Kadi. Die Frau rief:

»Ehrenwerter Kadi, ich habe eine Höhle, in der ich niefegte.« Darauf der Kadi: »Dann bist du ja ein Schmutz-fink, Mütterchen!« – »Heute aber habe ich gefegt undfand eine Münze.« – »Dann bist du ja ein Glückspilz,Mütterchen!« – »Mit dem Geld habe ich Helwa ge-kauft.« – »Dann bist du ein Schleckermaul, Mütter-chen!« – »Ich aß sie zur Hälfte und legte den Rest aufden Schrank.« – »Da bist du ja auch klug, Mütter-chen!« – »Die Maus fraß aber die andere Hälfte!« –»Dann bist du ein Pechvogel, Mütterchen!« – »Ich warf

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einen Stein nach ihr und spaltete ihren Schädel!« –»Dann bist du ja blutrünstig, Mütterchen!« – »DieMaus schlug mir aber ein Auge aus!« – »Dann seidihr ja quitt, Mütterchen!«, rief der Kadi, und damit istunser Märchen zu Ende!

Katz undMaus

E s war einmal, und doch war es keinmal. In sehralter Zeit, da gab es einmal eine schlaue Katze.

Eines Tages dachte sich diese Katze eine List aus, umwieder ein paar Mäuse zu fangen. Sie ließ allen Mäu-sen in ihrer Umgebung Folgendes mitteilen: »Kommtalle zu mir, denn ich habe euch etwas zu sagen.« Alsnun einigeMäuse versammelt waren, sprach die Katzezu ihnen: »Ich will mich auf eine Wallfahrt begebenund möchte mich deshalb, wie es das Gebot ist, vorhermit euch aussöhnen. Sagt dies auch euren Brüdern, dieheute nicht erschienen sind, damit ich mich auch vonihnen angemessen verabschieden kann.« Die Neuig-keit über die Wallfahrt verbreitete sich in Windeseile,und sie kam auch einer blinden Maus zu Ohren. Dieseaber erkannte die wahre Absicht der Katze undwarnteihre Freunde: »Meine Freunde, jene Katze ist eine Lüg-

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nerin. Glaubt ihr kein Wort, denn sie ist sehr listig undwill euch nur in eine Falle locken. Auch ich bin auf ihreList reingefallen und habe dadurch mein Augenlichtverloren.« Doch niemand beachtete die blinde Mausund ihre mahnenden Worte. Stattdessen taten sich alleMäuse zusammen und begaben sich an den verabrede-ten Ort. Als unsere Katze auch eingetroffen war undsich vergewissert hatte, dass auch alle Mäuse anwe-send waren, da sprach sie: »Ich habe meine Meinunggeändert und werde doch nicht auf Wallfahrt gehen.Ich bleibe hier und fresse euch alle auf!« Und mitdiesen Worten machte sie sich über die armen Mäuseher, die gar nicht mehr fliehen konnten, so schnellstürzte sich die Katze auf sie!Die Katze hat das Ziel ihrer Wünsche erreicht, und

wir können uns jetzt gemütlich zurücklehnen.

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Anhang

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Nachwort

Es war einmal, und doch war es keinmal. In alter Zeit, alsdie Kuppe noch über dem Badehaus stand, die KameleHerolde waren und die Mäuse Barbiere, da gab es …

So oder ähnlich beginnen türkische Volksmärchen, wiesie in Anatolien und darüber hinaus erzählt werden.Das seit Tausenden von Jahren besiedelte Anatolien

wurde erst im elften Jahrhundert von den Türkenerobert. Sie kamen in mehreren Migrationswellen ausihren angestammten Siedlungsgebieten im Altai-Gebirge und am Baikalsee. Zuvor machten sie Stationin der historischen Region Transoxanien, zwischenden Zwillingsflüssen Syr-Darja und Amu-Darja, die inden Aralsee münden. Hier, in den Ländern unter derHerrschaft arabischer Kalifen, begegneten sie auchdem Islam.Im äußersten Westen Anatoliens formierten die Os-

manen im frühen 14. Jahrhundert das OsmanischeReich, eine Weltmacht, die im Laufe ihrer Expansioneine Vielzahl von unterschiedlichen Völkerschaftenmit ihren Sprachen, Religionen und Traditionen auf-nahm und innerhalb ihrer Staatsgrenzen beherbergte.Seit ihrem Aufbruch aus Zentralasien befanden sich

die Türken in ständigem, wechselseitigem kulturellenAustausch mit ihren jeweiligen Nachbarvölkern. InAnatolien angekommen, wurde dieses bunte Mosaikum die hier seit jeher tradierten Elemente bereichert.Die so entstandene kulturelle Vielfalt spiegelt sich ins-

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besondere in der reichen mündlichen Tradition derTürken – und damit auch im Märchen. Mühelos wer-den eigene Stoffe und Motive mit solchen arabischen,persischen, durchaus auch indischen Ursprungs kom-biniert. Hinzu kommen Inhalte, wie sie uns aus derklassischen Antike bekannt sind. Mit der Ausdehnungdes Herrschaftsgebiets der Osmanen und der damitzusammenhängenden Besiedlung neuer Gebiete sindauch kulturelle Elemente mitgewandert. Es ist dahernicht verwunderlich, dass in einigen Nachbarstaatender heutigen Türkei, die einst zum ehemaligen Os-manischen Reich gehörten, ähnliche Märchenmotiveund -stoffe zu finden sind wie in Anatolien.Der vorliegende Band stellt eine repräsentative Aus-

wahl aus dem reichen Schatz türkischer Volksmärchendar, wie sie auch heute noch in Anatolien erzählt wer-den. Kunstmärchen, die schriftlichen Sammlungenentstammen, wie z. B. Kırk Vezir (›Die vierzig Wesire‹),Tutıname (›Das Papagaienbuch‹) und Humayunname(›Das Buch der Kaiser‹), sind nicht enthalten. Sie stel-len Übersetzungen von persischen Vorlagen dar undunterliegen bestimmten Normen der klassischen os-manischen Literatur. Es tauchen aber Motive aus die-sen und anderen orientalischen Sammlungen in denVolksmärchen auf. Dies ist, vorsichtig ausgedrückt,das Ergebnis eines Prozesses, in dem Inhalte schriftli-cher Traditionen sich zu selbstständigen Volksmärchenentwickeln können. Ein Beispiel hierfür ist unser Mär-chen ›Die schöne Sultanstochter und die vierzig Räu-ber‹, in dem der Leser verschiedene Motive aus ›AliBaba und die vierzig Räuber‹ aus den ›Märchen ausTausendundeiner Nacht‹ erkennen kann. Darüber hi-naus sei bemerkt, dass der Stoff dieses Märchens be-

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reits im 14. Jahrhundert n. Chr. in schriftlicher Form(Destan-ı Ahmet Haramî ›Die Legende von Ahmet demRäuber‹) belegt ist. Das Aufeinandertreffen vonschriftlicher und mündlicher Tradition lässt sich an-hand dieses Märchens gut beobachten, auch wenn indiesem Fall keine eindeutige Richtung der Beeinflus-sung nachgewiesen werden kann. Vielmehr muss voneinem gegenseitigen Austausch ausgegangen werden.Eine andere Art der Verarbeitung von Motiven be-

steht darin, Elemente aus unterschiedlichen Märchenzusammenzuführen und je nach den Erfordernissendes Milieus Motivreihen und damit sogar ganz neueMärchen zu bilden. Beispiele hierfür sind ›Die dreiOrangen-Peris‹ und ›Teuer wie Salz‹. In beiden Mär-chen werden dem Leser bereits bekannte Motive(AaTh 408, Drei Orangen, Zitronen etc., und 923, Liebe[zum Vater] so groß wie zu Salz) mit solchen aus demorientalischen Raum kombiniert. Durch die Möglich-keit, die vielfältig vorhandenen Motive und Stoffe im-mer wieder neu zu vermischen und gegeneinanderauszutauschen, besitzt die türkische Märchentraditioneine Besonderheit, die das Entstehen von zahlreichenneuen Märchentypen sowie die Einbettung mehrererMotive in Motivreihen begünstigt.

Die Welt des türkischen Märchens ist bunt und zeigteine Vielfalt von Figuren, die sowohl der irdischenWelt angehören als auch der der Zauberwesen.Der irdische Bereich besteht aus den gängigen Figu-

ren wie dem Padischah mit seinen Söhnen und Töch-tern – unter denen die jeweils dritten oder jüngstendie Hauptrolle spielen – und mit seinen Wesiren undLalas. Im Palast lebende Diener wie Köche und Gärt-

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ner sowie Sklavinnen und Sklaven können auch maß-geblich an der Märchenhandlung beteiligt sein. Ausdem einfachen Volk treffen wir den Holzfäller, denKammmacher, den Bauern und andere arme, alteMen-schen. Die Figuren sind gut oder böse und könneneinseitig überspitzt dargestellt sein. In der Regel genü-gen wenige Charaktereigenschaften und körperlicheMerkmale, um einen Menschen zu kennzeichnen. Umein Beispiel zu nennen: Die Schönheit eines Mädchenswird häufig mit der Metapher »wie der Mond amVierzehnten« beschrieben. Damit ist der Vollmondnach dem islamischen Kalender gemeint, der immer inderMitte desMonats erscheint.Herausragende Figuren sind in diesem Zusammen-

hang zum einen derKeloglan, wörtl. »kahlköpfiger Jun-ge«, der im Gegensatz zum Prinzen nicht über dieEigenschaften eines Helden verfügt, schon gar nichtüber Schönheit, sondern auf eigene Schlauheit undList zurückgreifen muss, womit er die Sympathie desPublikums – und nicht zuletzt einer Prinzessin – ge-winnt. Zum anderen ist da der Köse, ein Dünnbart, derzwar eine gewisse Gemeinheit besitzt, aber nie alswirklich böse charakterisiert wird. Märchenmit diesenbeiden Figuren haben oft einen satirischen Inhalt, derals Kritik an politischen, sozialen oder wirtschaftlichenUngerechtigkeiten betrachtet werden kann. Es findensich auch Parodien auf andere bekannte Zaubermär-chen, in denen der Keloglan die führende Rolle über-nimmt; das Märchen ›Keloglan fährt nach Jemen‹ stellteine parodierte Version der ›Geschichte vom Kristall-palast und dem Diamantschiff‹ dar. Es kommt auchvor, dass Helden anderer Märchen Züge eines Keloglanannehmen. In der ›Geschichte vom Smaragdphönix‹

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verkleidet sich ein Prinz, indem er eine Haut kauft undsie sich über den Kopf zieht. Damit wird er als Keloglanwahrgenommen, trägt aber dessen spezifischen Na-men nicht. In ›DasMärchen vonMehmed demKahlen‹begegnet uns ebenfalls ein Held, der nur einige We-sensmerkmale eines Keloglan aufweist, nicht aber dieFigur selbst darstellt.Besonders hervorzuheben ist auchdie Figurder Frau

aus einfachen Verhältnissen, die sich durch Verstand,Ausdauer und Durchsetzungsvermögen auszeichnet.Sie nimmt die Zügel in die Hand, um ihr eigenes Ge-schick zu leiten, und gewinnt das Herz eines Padi-schahs oder eines Prinzen. Oft übertrifft sie mit ihrenFähigkeiten die Männer. Die herausragende Selbst-ständigkeit der Frauen kann auch als ein Relikt aus dernomadischen Lebensweise der Türken angesehenwer-den. In diesem Zusammenhang sei auch bemerkt, dassim Osmanischen Reich Klassenunterschiede durcheigene Initiative einfacher zu überwinden waren alsbeispielsweise in europäischen Staatssystemen mitstarren Standesregelungen. Das Märchen ›Die Tochterdes Basilienkräutlers‹ sei hier als Beispiel genannt.Figuren aus der Welt der Zauberwesen sind in ers-

ter Linie die Peris und die Dews. Diese beiden über-natürlichen Gestalten stammen aus der iranischen li-terarischen Tradition und haben heute ihren festenPlatz im türkischen Märchen. Peris sind vergleichbarmit Feen, wobei diese auch männlich sein können. Siekönnen den Menschen wohl- oder übelgesinnt sein.Oft nehmen sie die Gestalt von Tieren, z. B. Tauben,an, die sie aber ablegen, sobald die Geliebte – wie in›Die Geschichte von den weinenden Granatäpfelnund den lachenden Quitten‹ – ein Bad in einem golde-

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nen Becken bereitet hat. Oder sie können als Orangenin einem Brunnen warten, bis ein Prinz kommt, sievon ihrem Dasein als Peri befreit und sie zur Fraunimmt (›Die drei Orangen-Peris‹).Der Dew ist eine Mischung aus einem Riesen und

einem Ungeheuer. Er ist meist böse und verlangt Men-schenfleisch als Nahrung. Wird ihm dies nicht ge-währt, ist er imstande, Brunnen und Quellen für im-mer versiegen zu lassen. Er kann sich aber auch kurz-zeitig demMenschen anschließen, um ihn jedoch balddarauf wieder zu verraten. Doch nicht jede Allianzzwischen einem Dew und einem menschlichen Prota-gonisten ist zum Scheitern verurteilt. Im Märchen ›Diedrei Orangen-Peris‹ kann sich der junge Held derUnterstützung von insgesamt einhundertundachtzigDews erfreuen. Der Dew in Rossgestalt entpuppt sichsogar als liebevoller Ehemann. Eine Dew-Mutter istebenfalls von riesenhafter Statur und böse, kann aberbesänftigt werden, indem man sie umarmt und sie»Mütterchen« nennt. Dann nimmt sie auch einenMen-schen wie eines ihrer eigenen Kinder auf.Drachen haben häufig sieben Köpfe, aus denen sie

Feuer und Rauch speien. Sie sind immer böse undbrauchen ebenfalls Menschenfleisch als Nahrung.Auch sie verfluchen Wasserquellen, und der Fluchwird nur dann aufgehoben, wenn sie mit nur einemeinzigen Schwerthieb getötet werden, ein weitererSchlagwürde sie wiederbeleben.Sowohl Dews als auch Drachen können einen soge-

nannten Talisman haben, der ihre Lebenskraft in sichbirgt und an einem vermeintlich sicheren Ort auf-bewahrt wird. Durch die Zerstörung des Talismanssiegt der Held über das Zauberwesen.

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Die Hexe führt gegen Bezahlung jeden noch so nie-deren Auftrag aus. Sie kann sich als alte hilflose Frauausgeben, um Jungfrauen in eine Falle zu locken odermännliche Gegner irrezuführen.Of ist der Name einer Gestalt, die fast ausschließlich

als arap »Araber« beschrieben wird und deren Ober-lippe zum Himmel, die Unterlippe bis zur Erde reicht.Sie erscheint immer dann, wenn jemand »Of« sagt,was etwa dem deutschen Laut »Uff« entspricht, denman nach Erledigung einer schweren Arbeit ausstößt.Of ist im Grunde eine neutrale Gestalt, die jedenWunsch im Handumdrehen erfüllen kann. Vorausset-zung ist aber, dass dieser Wunsch schnell ausgespro-chen wird. Andernfalls verlangt Of eine Entschädi-gung für die Ruhestörung.Aus der Zauberwelt sind außerdemmagische Pferde

zu nennen, die ihre Reiter mit dem Ausspruch »Schlie-ße die Augen, öffne die Augen« große Entfernungenzurücklegen lassen. Sie werden mit Nüssen und Ro-senwasser gefüttert und erscheinen, wenn ihre Besitzermit Zauberkräften versehene Haare aneinanderreibenoder das Pferd einfach rufen. Sie können aber auchverwandelteDew-Söhne sein. Im anatolischenMärchenspielt das Pferd nicht die Rolle des treuen Gefährtenfür den Helden, wie es bei anderen Turkvölkern, z. B.in Südsibirien oder bei den Kasachen und den Kirgi-sen, der Fall ist.Auch magische Vögel sind vertreten: Der Smaragd-

phönix hat eine solche Flügelspannweite, dass er damitdie Sonne verdunkeln kann, um dem schlafendenHelden, der zuvor seine Jungen gerettet hat, Schattenzu spenden.Eine rätselhafte Figur, die zwischen Zauber- und

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irdischer Welt steht, ist der Derwisch. Er kann als wei-ser Ratgeber auftreten und dem Padischah zum er-sehnten Thronfolger verhelfen (›Die drei Orangen-Pe-ris‹), er kann aber auch in die Rolle eines düsteren,strengen Zauberlehrers schlüpfen, der sich mit seinemLehrling ein unerbittliches Duell liefert, wie in unse-remMärchen ›Das Ali-Dschengis-Spiel‹.Neben menschlichen Wesen und Zaubergestalten

dürfen Zauberinstrumente nicht fehlen. Ein türkisches»Tischlein deck dich«, eine Mühle, die Gold und Silbermahlt sowie verzauberte Knüppel, mit denen unlieb-same Genossen verprügelt werden können, gehörenebenso dazu wie der fliegende Teppich und der Tarn-umhang. Auch ein »Geduldstein« und ein »Geduld-messer« sind vertreten.Magische Zahlen werden aufgrund ihrer hohen

Symbolkraft ebenfalls häufig verwendet. So tretenPrinzessinnen und Prinzen zu dritt auf, Drachen ha-ben sieben Köpfe und die vierzig Prinzen sind auf derSuche nach, selbstverständlich, vierzig Prinzessinnenund ihre Hochzeit dauert vierzig Tage und vierzigNächte.Tiere treten nicht nur als verwandelte Zauberwesen,

sondern auch als Hauptfiguren in sogenannten Tier-märchen auf.In unsere Auswahl haben wir auch zwei Kettenmär-

chen aufgenommen, je eines mit einem Menschen(›Die Leber‹) und einem Tier als Hauptcharakter (›DerHase‹). Diese spezielle Gattung zeichnet sich dadurchaus, dass ein Motiv in abgewandelter Form in mehre-ren Episoden wiederholt wird.Der Handlungsrahmen der Märchen ist im Wesent-

lichen auf die sesshaft gewordene türkische Gesell-

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schaft beschränkt. Schauplätze sind neben Palästen,Städten und Dörfern auch Marktplätze und Gärten.Quellen und Brunnen sind Orte, an denen die Hand-lung einen Wendepunkt erfährt. Die Märchen öst-licher, vor allem sibirischer Turkvölker spielen sich imGegensatz zum anatolischen Märchen in Steppen undin Jurten ab.Die Struktur des türkischen Märchens lässt sich

grob in drei Teile gliedern: Es besteht in der Regel auseiner Eingangsformel, der eigentlichen Erzählung undeiner Schlussformel. Im Hauptteil kommen darüberhinaus oft Überleitungsformeln und Wendungen zumSpannungsaufbau vor.Die Eingangsformel kann sehr kurz und einfach

sein, z. B. Bir varmıs, bir yokmus »Es war einmal, unddoch war es keinmal«. Sie kann aber auch beliebig –und nach Talent des Erzählers – erweitert werdendurch Zusätze wie zum Beispiel in unserem Märchen›Die drei Orangen-Peris‹: »Es war einmal, und dochwar es keinmal. In uralter Zeit, da lag das Sieb imStroh, dawar alles Lüge, was wahr war, undwahr, wasLüge war. Wir lebten im Überfluss, aßen und trankenden ganzen Tag und schliefen dennoch hungrig ein.«Diese Formeln, türkisch tekerleme, in etwa zu überset-zen mit »Wortspiel, Zungenbrecher«, sind aneinander-gereihte, inhaltlich sinnlose Sätze, die mit dem eigent-lichenMärchen nichts zu tun haben und lediglich dazudienen, die Aufmerksamkeit der Leser bzw. Zuhörerzu gewinnen, sie aus der realen Welt zu entfernen undauf die Märchenwelt einzustimmen.Thematische Übergänge werden oft gekennzeich-

net, indem der Erzähler sein Publikum persönlich da-zu auffordert, das bisher Erzählte auf sich beruhen zu

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lassen und sich nun einem anderen Handlungsstrangzuzuwenden. Am häufigsten geschieht dies durch ei-ne Wendung wie etwa in ›Bruder und Schwester‹:»Lassen wir die Sultanin im Bauch des Fisches undsehen, was die schwarze Sklavin trieb.« Bisweilenkann der Erzähler kurz innehalten, um die Spannungzu erhöhen. In diesen Pausen werden oft rhetorischeFragen des Typs »Und was sollte er/sie da sehen?«gestellt.Schlussformeln können, wie die Eingangsformeln,

recht einfach gehalten sein. Manchmal genügt es, denguten Ausgang eines Märchens mit der Ausrichtungeiner Hochzeit von »vierzig Tagen und vierzig Näch-ten« zu besiegeln. Der Erzähler kann sich aber aucham Schluss des Märchens noch einmal an sein Publi-kum wenden, nämlich mit Wünschen wie »Sie habendas Ziel ihrer Wünsche erreicht, möge euch/uns das-selbe beschert sein« oder »Sie haben das Ziel ihrerWünsche erreicht, und wir ruhen uns jetzt aus!«. Eskönnen auch Formeln erscheinen, die, ähnlich dentekerleme, in keinem Zusammenhang zum Inhalt desMärchens stehen, z. B. in ›Kamertaj, das Mondross‹:»Drei Äpfel fielen vomHimmel. Der eine gebührt demMärchenerzähler, der zweite dem Zuhörer und derdritte – nun der gehört mir.«

Die Erforschung des türkischen Märchens hat relativspät eingesetzt. In der Tat bestand in gelehrten Kreisender osmanischen Gesellschaft so gut wie kein Interessean der eigenen Volksliteratur. Erste Untersuchungenwurden von Ausländern durchgeführt. Besonders zuerwähnen ist die reichhaltige Sammlung des ungari-schen Folkloristen Ignácz Kúnos, die Ende des 19. und

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Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen ist (Budapest1887, Leiden 1905). In Deutschland haben sich GeorgJacob und Theodor Menzel der türkischen Märchenangenommen und eine zweibändige Sammlung he-rausgegeben (Hannover 1923, 1924). Erst nach derAuflösung des Osmanischen Reiches und mit derGründung der Türkischen Republik entstand ein Be-wusstsein für das eigene Volksgut. Ab den 1930er Jah-ren entstanden in der Türkei zahlreiche Werke unter-schiedlicher Art, in denen u. a. auch Märchen abge-druckt wurden. Pertev Naili Boratav hat maßgeblichenAnteil an der Etablierung der türkischen Volksliteraturals Gegenstand der Wissenschaft. Unter seinen Beiträ-gen zur türkischen Märchenforschung sind u. a. dieSammlungen Zaman zaman içinde (Istanbul 1958) und›Türkische Volksmärchen‹ (Berlin 1967) zu nennen. InZusammenarbeit mit Wolfram Eberhard ist 1954 dasVerzeichnis ›Typen türkischer Volksmärchen‹ (TTV),ein Referenzwerk für die Einteilung türkischer Mär-chentypen, erschienen.

Vom Himmel fielen drei Äpfel, der eine für den Leser, derandere für den Erzähler und der dritte – der ist für uns …

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Glossar

Kurze Erläuterungen zur Aussprache türkischer Laute:

c wie deutsch dschç wie deutsch tschg wird kaum ausge-

sprochen; meist Län-gung des vorangehen-den Vokals, wie h in»fuhren«

ı wie e in »klauen«s wie deutsch schv wie deutsch wz wie s in »Sand«

Aga Herr; begüterter Landbesitzer; tü. agaAyran Erfrischungsgetränk aus verdünntem Jo-

ghurt; tü. ayranBey Herr, Stammesoberhaupt; dt. auch »Beg,

Bey, Bei«; tü. beyDerwisch Angehöriger eines islamischen mysti-

schen Ordens; Asket; kann im Märchenauch dunkle Züge haben; tü. dervis

Dew Mischung aus Riese und Ungeheuer; istnicht ausschließlich böse, sondern kannsich im Märchen auch gütig zeigen; be-sitzt die Fähigkeit, unterschiedliche Ge-stalten anzunehmen; tü. dev

Dschinn Geist der Zauberwelt; tü. cinDschirit-Spiel traditionelles türkisches Kampfspiel zu

Pferde, bei dem Wurfspeere zum Einsatzkommen; tü. cirit oyunu aus cirit »Speer«und oyun »Spiel«

Elif, Be Namen der ersten beiden Buchstaben desarabischen Alphabets, das in der Türkei1928 vom lateinischen abgelöst wurde.

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Die Bezeichnungen »Strich« und »Bot-tich« beziehen sich auf die Form der bei-den Schriftzeichen (Elif) und (Be).

gak, guk lautmalerische Worte für Stimmen vongroßen Vögeln

Han Herberge; tü. hanHarem abgeschlossener, für Fremde unzugäng-

licher Trakt eines Hauses, in dem sichEhefrauen und Dienerinnen des Haus-herrn aufhalten; tü. harem

Helwa süße Paste, aus den Grundzutaten Mehlund Zucker; weitere Zutaten wie Nüssesind möglich; tü. helva

Helwa-Abend gesellige Abendgesellschaften (meist imWinter), bei denen Helwa gereicht undreihum Geschichten erzählt wurden; tü.helva sohbeti aus helva »Helwa« und sohbet»Unterhaltung«

Hırsız Tahir Eigenname einer Märchenfigur; bedeutetwörtlich »Tahir, der Dieb«

Hodscha Geistlicher; Vorbeter in der Moschee;auch: Lehrer; tü. hoca

In nicht zu übersetzen; kommt als Echowortfast ausschließlich zusammen mit cin»Dschinn« in festen Wendungen vor, z. B.In misin, cin misin? »Bist du ein In oder einDschinn?«; tü. in

Kadi Richter; früher: nach islamischem GesetzRecht sprechender Gelehrter, das Amtexistiert in der modernen Türkei nichtmehr; tü. kadı

Kamertaj Name eines Zauberpferdes; in manchenMärchen auch »Mondpferd«; tü. Kamertayaus kamer »Mond« (heute ay) und tay»junges Pferd, Fohlen«

Keloglan wörtlich »kahlköpfiger Junge«; aus kel»kahl, Kahlkopf« und oglan »Junge«

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Kismet Geschick, Schicksal, Vorausbestimmung;auch: Heiratspartie; tü. kısmet

Konak (herrschaftliches) Haus, Unterkunft; tü.konak

Köse Bartloser, Dünnbärtiger; tü. köseLala (Prinzen-)Erzieher; auch: väterlicher Rat-

geber; tü. lâlâMond amVierzehnten

Vollmondnachdem islamischenKalender;Metapher zur Beschreibung der Schönheiteines Mädchens (oder Jünglings)

Of Lautmalerischer Ausruf zum Ausdruckvon Erleichterung (nach getaner Arbeit,bei Ermüdung etc.), gleichzeitig Name ei-nes Geistes imMärchen

Opferfest muslimisches Fest in Anlehnung an dieGeschichte Abrahams und Isaaks

Padischah Herrscher, König; tü. padisahPeri weibliches oder männliches Zauberwe-

sen; Fee; tü. periSchah Herrscher, König (vornehmlich in Persien,

Afghanistan); tü. sahSelâmın aleyküm aus dem Arabischen übernommene gän-

gige türkische Grußformel mit der Bedeu-tung »Friede sei mit euch!«

Smaragdphönix Übergroße Vogelgestalt in Legenden undMärchen; tü. u. a. zümrüdüanka

Sultan Herrscher (vornehmlich im OsmanischenReich); tü. sultan

Talisman Tier oder Gegenstand, der die Lebenskrafteines Drachen oder eines Dew in sichbirgt; tü. tılsım

Tschampalak Eigenname eines DrachenTschinimatschin Name eines Landes imMärchenVe aleyküm selâm Anwort auf Selâmın aleyküm: »Und Friede

sei auch mit euch!«Wesir Minister (im Osmanischen Reich): tü. ve-

zir

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Quellennachweis

Im Folgenden sind die Quellen, aus denen wir die Märchenausgewählt haben, angegeben. Bei der Überarbeitung sämt-licher Märchen aus Kúnos (1905) wurde das türkische Origi-nal Kúnos (1887) hinzugezogen. Die Literaturangaben sowieweiterführende Literaturhinweise befinden sich im An-schluss an den Quellennachweis.Die Typisierung der Märchen folgt dem türkischen Ver-

zeichnis von Boratav & Eberhard (1953), abgekürzt TTV, unddem internationalen System von Aarne & Thompson (1961),abgekürzt AaTh. Im Fall von Märchen, die nicht eindeutiganhand von TTV und AaTh zu klassifizieren waren, habenwir uns auf nahestehende Varianten beschränkt. ArabischeZiffern geben die jeweiligen Märchentypen an, römischederen Varianten. Zugunsten einer besseren Differenzierungsind zusätzlich die Motive des jeweiligen Märchenkernsnach dem Motivindex von Thompson (1955–1958) aufge-führt; diese Motivangaben bestehen aus einer Kombinationvon Großbuchstaben und Zahlen.

1. Die drei Orangen-Perisüberarbeitet nach Kúnos (1905: 17–28)TTV 89; AaTh 408

2. Die vierzig Prinzen und der siebenköpfige Dracheüberarbeitet nach Kúnos (1905: 164–171)Nähe zu TTV 213 und 215; AaTh 303A, AaTh 300; T69.1

3. Die Geschichte von den weinenden Granatäpfeln und denlachenden Quittenüberarbeitet nach Menzel (1923: 47–70); dort »Die Ge-schichte von dem weinenden Granat-Apfel und der la-chenden Quitte«TTV 97; AaTh 514; B401, H301, H310

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4. Die Geschichte vom Kristallpalast und dem Diamantschiffüberarbeitet nach Menzel (1923: 1–17); dort »Die Ge-schichte vom Kristall-Kiosk und dem diamantenenSchiff«TTV 187; AaTh 891A

5. Der Pferdeprinzüberarbeitet nach Kúnos (1905: 114–124); dort »Der Pfer-desohn«TTV 215 III, IV; AaTh 300, 301 und 301 A; T512.2, miteinigen Motiven aus TTV 72

6. Bruder und Schwesterüberarbeitet nach Kúnos (1905: 3–10); dort »Brüderchenund Schwesterchen«TTV 168; AaTh 450

7. Die Geschichte vom Smaragdphönixüberarbeitet nach Menzel (1923: 115–142); dort »Die Ge-schichte vom Smaragd-Phönix«TTV 72; AaTh 301A, AaTh 314 V, VI

8. Der Dew in Rossgestaltüberarbeitet nach Kúnos (1905: 88–94); dort »Der Ross-Dew und die Hexe«TTV 98; AaTh 425A und B

9. Kamertaj, das Mondrossüberarbeitet nach Kúnos (1905: 172–180)Einige Motive aus TTV 81, 98 V, 152 III, 153 III, 156; B41.2,H522.1.1; vgl. Aarne (1930)

10. Die schöne Sultanstochter und die vierzig Räuberübersetzt aus Tezel (1990: 106–126)TTV 153; AaTh 956 B

11. Teuer wie Salzübersetzt aus Tezel (1990: 98–105)Kombination von TTV 136 und TTV 256 III; AaTh923

12. Das Ali-Dschengis-Spielüberarbeitet nach Menzel (1923: 172–175); dort »Die Ge-schichte von Ali-Dschengiz«TTV 169; AaTh 325

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13. Geduldstein und Geduldmesserüberarbeitet nach Kúnos (1905: 215–220); dort »Geduld-stein, Geduldmesser«TTV 185; AaTh 894

14. Das schöne Helwa-Mädchenüberarbeitet nach Kúnos (1905: 383–390)TTV 245; AaTh 883A

15. Die Tochter des Basilienkräutlersüberarbeitet nach Kúnos (1905: 159–163); dort »DasPfingstrosen-Mädchen«TTV 192; AaTh 879

16. Die Tochter des Holzhackersübersetzt aus Boratav (1958: 157–161). © Korkut BoratavNähe zu TTV 152, 157; AaTh 363

17. Der Bauer und Sultan Mahmutübersetzt aus Boratav (1958: 205). © Korkut BoratavTTV 310 III.3; fehlt in AaTh

18. Das Märchen von der Schlauheit der Frauenübersetzt aus Caferoglu (1994: 242–246). © Türk Dil Ku-rumuNähe zu TTV 279; fehlt in AaTh; P210, T210, T211.2, T 80

19. Das Märchen vom Köseübersetzt aus Caferoglu (1943: 83–85). © Türk Dil Kuru-muTTV 351; AaTh 1539

20. Keloglan und die Tochter des Agaübersetzt aus Yardımcı (1996: 247–248). © MehmetYardımcıfehlt in TTVund AaTh; Verknüpfung von einzelnen Mo-tiven und Motivreihen: D1053, D1155, H50, H525, T121

21. Keloglan fährt nach Jemenübersetzt aus Tezel (1971: 261–264)in den Hauptzügen Nähe zu TTV 207 III; bei diesemMärchen handelt es sich um eine Parodie auf Nr. 4, DieGeschichte vom Kristallpalast und dem Diamantschiff (TTV187)

22. Das Märchen von Mehmed dem Kahlen

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überarbeitet nach Kúnos (1905: 38–44); dort »Mehmed,der Kahlköpfige«Nähe zu TTV 323 und TTV 176; D812

23. Die Leberüberarbeitet nach Kúnos (1905: 104–106)Kettenmärchen; Z 41.1

24. Der Haseübersetzt aus Alptekin (1991: 165–166). © Ali Berat Alp-tekinKettenmärchen; Z 40

25. Der schwanzlose Fuchs und der Bärübersetzt aus Demircioglu (1934: 81–82)TTV 3; fehlt in AaTh

26. Fuchs, Krebs und Schildkröteübersetzt aus Demircioglu (1934: 62–63)TTV 4; AaTh 1074 und AaTh 275

27. Die Krähe und der Holzsplitterteilweise frei übersetzt aus Alptekin (1991: 159–162).© Ali Berat AlptekinTTV 19, AaTh 1655

28. Die alte Frau und die Mausteilweise frei übersetzt aus Alptekin (1991: 130–131).© Ali Berat Alptekinfehlt in TTVund AaTh; B272.1, P510

29. Katz und Mausteilweise frei übersetzt aus Alptekin (1991: 85). © AliBerat Alptekinfehlt in TTVund AaTh; K815.13

Literatur:Aarne, Antti & Thompson, Stith. The types of the folktale.A classification and bibliography (= FF Communications184). Helsinki 1961.

Aarne, Antti. Die magische Flucht. Eine Märchenstudie(= FF Communications 92). Helsinki 1930.

Alptekin, Ali Berat. Hayvan masalları. Ankara1991.

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Caferoglu, Ahmet. Anadolu agızlarından toplamalar. Kastamo-nu, Çankırı, Çorum, Amasya, Nigde Ilbaylıkları agızları, Ka-laycı argosu ve Geygelli Yürüklerinin gizli dili. Istanbul 1943.

Caferoglu, Ahmet. Kuzeydogu illerimiz agızlarından toplama-lar. Ordu, Giresun, Trabzon, Rize ve yöresi agızları. Ankara1994.

Demircioglu, Yusuf Ziya. Yürükler ve köylülerde hikâyeler –masallar. Istanbul 1934.

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Kúnos, Ignácz. Türkische Volksmärchen aus Stambul. Leiden1905.

Menzel, Theodor. Türkische Märchen I. Billur Köschk (DerKristall-Kiosk). Hannover 1923.

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Page 289: Türkische Volksmärchen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. 2008