TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN FRANZ LEMMERMEYER Trigonometrie ist die Lehre von der Dreiecksmessung. Bereits in der Antike wa- ren Kenntnisse der elementaren Trigonometrie Grundlage der Vermessungskunst. Im 6. Jahrhundert v.Chr. haben die Griechen einen Tunnel zur Wasserversorgung einer Stadt durch einen Berg auf der Insel Samos getrieben, und zwar von beiden Seiten gleichseitig. Im Jahre 80 n.Chr. bauten die R¨ omer eine 100 km lange Wasser- leitung (Aqu¨ adukt) zur Versorgung der Stadt K¨ oln (damals Colonia Claudia Ara Agrippinensium), die sogenannte Eifelwasserleitung. In der Neuzeit hat man begonnen, Europa mit Hilfe von Triangulierungen genau zu vermessen. Frankreich hat Ende des 18. Jahrhunderts den Meter als den 40- millionsten Teil des Erdumfangs entlang eines Meridians festgelegt und dazu die Entfernung zwischen D¨ unkirchen im Norden Frankreichs und Barcelona vermes- sen. Dies ist der Grund, warum der Erdumfang in erster N¨ aherung heute gleich 40.000 km ist. 1. Definition der trigonometrischen Funktionen Gegeben sei ein rechtwinkliges Dreieck mit den Katheten A und G, sowie der Hy- potenuse H. Vom Winkel α aus betrachtet nennt man G die Gegenkathete und A die Ankathete des Dreiecks. Das Verh¨ altnis G : A h¨ angt jetzt nur von α und nicht von der Gr¨ oße des Dreiecks ab, denn nach dem Strahlensatz ist G : A = g : a. Daher k¨ onnen wir definieren sin α = G H , cos α = A H , tan α = G A , cot α = A G . Die beiden noch fehlenden Verh¨ altnisse H A und H G werden im angloamerikanischen Sprachraum mit Sekans und Kosekans bezeichnet, spielen aber bei uns keine Rol- le. Etwas ungl¨ ucklich dagegen ist die Abschaffung des Kotangens in der deut- schen Schulmathematik, vor allem, weil der Kotangens vom funktionentheoretischen Aspekt her die nat¨ urlichste aller trigonometrischen Funktionen ist. Leider sind die meisten Didaktiker in ihrem Mathematikstudium nicht so weit gekommen . . . Weil in einem rechtwinkligen Dreieck die Hypotenuse immer die l¨ angste Seite ist, muss A H < 1 und G H < 1 gelten: Satz 1. F¨ ur Winkel 0 ◦ <α< 90 ◦ gilt 0 < sin α< 1 und 0 < cos α< 1. Da die trigonometrischen Funktionen am rechtwinkligen Dreieck definiert worden sind, gilt auch der Satz des Pythagoras A 2 + G 2 = H 2 . Division durch H 2 ergibt wegen A H = cos α und G H = sin α den folgenden 1
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TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN
FRANZ LEMMERMEYER
Trigonometrie ist die Lehre von der Dreiecksmessung. Bereits in der Antike wa-ren Kenntnisse der elementaren Trigonometrie Grundlage der Vermessungskunst.Im 6. Jahrhundert v.Chr. haben die Griechen einen Tunnel zur Wasserversorgungeiner Stadt durch einen Berg auf der Insel Samos getrieben, und zwar von beidenSeiten gleichseitig. Im Jahre 80 n.Chr. bauten die Romer eine 100 km lange Wasser-leitung (Aquadukt) zur Versorgung der Stadt Koln (damals Colonia Claudia AraAgrippinensium), die sogenannte Eifelwasserleitung.
In der Neuzeit hat man begonnen, Europa mit Hilfe von Triangulierungen genauzu vermessen. Frankreich hat Ende des 18. Jahrhunderts den Meter als den 40-millionsten Teil des Erdumfangs entlang eines Meridians festgelegt und dazu dieEntfernung zwischen Dunkirchen im Norden Frankreichs und Barcelona vermes-sen. Dies ist der Grund, warum der Erdumfang in erster Naherung heute gleich40.000 km ist.
1. Definition der trigonometrischen Funktionen
Gegeben sei ein rechtwinkliges Dreieck mit den Katheten A und G, sowie der Hy-potenuse H. Vom Winkel α aus betrachtet nennt man G die Gegenkathete und Adie Ankathete des Dreiecks. Das Verhaltnis G : A hangt jetzt nur von α und nichtvon der Große des Dreiecks ab, denn nach dem Strahlensatz ist G : A = g : a.Daher konnen wir definieren
sinα =G
H, cosα =
A
H, tanα =
G
A, cotα =
A
G.
Die beiden noch fehlenden Verhaltnisse HA und H
G werden im angloamerikanischenSprachraum mit Sekans und Kosekans bezeichnet, spielen aber bei uns keine Rol-le. Etwas unglucklich dagegen ist die Abschaffung des Kotangens in der deut-schen Schulmathematik, vor allem, weil der Kotangens vom funktionentheoretischenAspekt her die naturlichste aller trigonometrischen Funktionen ist. Leider sind diemeisten Didaktiker in ihrem Mathematikstudium nicht so weit gekommen . . .
Weil in einem rechtwinkligen Dreieck die Hypotenuse immer die langste Seite ist,muss A
Da die trigonometrischen Funktionen am rechtwinkligen Dreieck definiert wordensind, gilt auch der Satz des Pythagoras A2 + G2 = H2. Division durch H2 ergibtwegen A
Abbildung 1. Trigonometrische Funktionen am rechtwinkligen Dreieck
Satz 2. Es gilt der”trigonometrische Satz des Pythagoras“
cos2 α+ sin2 α = 1.
Dies bedeutet, dass man sinα berechnen kann, wenn man cosα kennt, und umge-kehrt. Bei Licht besehen ist das trivial, denn es gilt ja
sinα =G
H= cosβ = cos(90◦ − α).
Satz 3. Fur alle Winkel α mit 0◦ < α < 90◦ gilt sinα = cos(90◦ − α).
Eine weitere fundamentale Beziehung erhalt man, wenn man sinα durch cosα di-vidiert; man findet dann (Erweitere den Bruch mit H)
sinα
cotα=
GHAH
=G
A= tanα.
Satz 4. Fur alle Winkel α mit 0◦ < α < 90◦ gilt
tanα =sinα
cosα.
Ubungen
(1) Zeige, dass tan2 x+ 1 = cos2 x gilt.
2. Besondere Werte
Die Berechnung von Werten der trigonometrischen Funktionen ist ein Thema fursich. Die ersten bekannten trigonometrischen Tabellen wurden von Ptolemaus, ei-nem griechischen Astronomen aus Alexandria, im ersten Jahrhundert n.Chr. veroffent-licht. Wir begnugen uns hier mit einigen wenigen Beispielen, in denen die Berech-nung ohne Naherungen auskommt.
Am einfachsten ist die Lage im gleichschenkligen rechtwinkligen Dreieck.,m alsodemjenigen mit α = β = 45◦. Dort ist A = G und folglich tan 45◦ = G
A = 1. Nach
dem Satz des Pythagoras ist H2 = G2 + A2 = 2G2 und daher H =√
2 · G. Alsofolgt
sin 45◦ =G
H=
G√2 ·G
=1√2
=
√2
2,
TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN 3
wobei wir im letzten Schritt den Nenner durch Erweitern mit√
2 rational gemacht
haben. Wegen cos 45◦ = sin 45◦ ist auch cos 45◦ =√22 .
Abbildung 2. Dreiecke mit α = 45◦ und α = 30◦.
Auch das Dreieck mit α = 30◦ und β = 60◦ lasst sich leicht berechnen, wenn manerkennt, dass ein solches Dreieck ein halbes gleichseitiges Dreieck ist. Dann folgtnamlich G = 1
2H und damit sin 30◦ = cos 60◦ = 12 .
Der Satz des Pythagoras liefert weiter H2 = G2 +A2 = 14H
2 +A2, also A2 = 34H
2
und damit A =√32 H. Daraus ergibt sich sin 60◦ = cos 30◦ =
√32 . Insbesondere ist
tan 30◦ =sin 30◦
cos 30◦=
12√32
=1√3
und tan 60◦ =√
3.
Tragen wir diese Werte in eine Tabelle ein, so erhalten wir
α sinα cosα tanα
30◦√12
√32
1√3
45◦√22
√22 1
60◦√32
√12
√3
Mit der Halbierungsformel lassen sich weitere Werte trigonometrischer Funktionenberechnen, und tatsachlich wurden die ersten Tabellen von Funktionswerten die-ser Funktionen damit berechnet. Um diese formel herzuleiten, betrachten wir eingleichschenkliges Dreieck mit Schenkeln der Lange 1 und einem Winkel 2α an derSpitze. Wir werden dessen Flacheninhalt A auf zwei verschiedene Arten berechnen.Einerseits ist A = 1
2aha und sinα = 12a, also A = ha sinα. Wegen cosα = ha finden
Wurzelziehen liefert cos(2α) = ±(2 cos2 α−1). Nun ist cos(2α) > 0 fur 0 < α < 45◦
und cos(2α) < 0 fur 45◦ < α < 90◦; auf der anderen Seite ist 2 cos2 α − 1 > 0 fur0 < α < 45◦ und 2 cos2 α− 1 < 0 fur 45◦ < α < 90◦. Also gilt
Satz 5. Fur alle Winkel 0 < α < 90◦ gilt
sin(2α) = 2 sinα cosα,
cos(2α) =√
2 cos2 α− 1.
Lost man die letzte Gleichung nach cosα auf, findet man
cosα =
√1 + cos(2α)
2.
Setzt man hier α = 22, 5◦, so folgt
cos 22, 5◦ =
√1 +
√22
2=
√2 +√
2
2.
Mit den weiter unten besprochenen Additionsformeln erhalt man auf ahnliche Artund Weise folgende Tabelle von Werten der Kosinusfunktion.
α cosα
0◦ 1
7, 5◦√
2+√
2+√3
2
15◦√6+√2
4
22, 5◦√
2+√2
2
30◦√32
37, 5◦√
2+√
2−√3
2
α cosα
45◦√22
52, 5◦√
2−√
2−√3
2
60◦ 12
67, 5◦√
2−√2
2
75◦√6−√2
4
82, 5◦√
2−√
2+√3
2
Ubungen
(1) Zeige, dass sinα =√
1−cos(2α)2 gilt.
(2) Zeige, dass tanα = 1−cos(2α)sin(2α) gilt.
TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN 5
(3) Das Rechteck in der folgenden Abbildung besteht aus zwei gleichschenkligen
rechtwinkligen Dreiecken mit den Katheten 1 bzw.√
3, und zwei weiterenrechtwinkligen Dreiecken. Berechne die Langen aller auftretenden Streckenund alle Winkel, und leite aus dem Ergebnis den exakten Wert von sin 15◦
her.
3. Trigonometrische Funktionen am Einheitskreis
Die Definition der trigonometrischen Funktionen am rechtwinkligen Dreieck hatden Nachteil, dass sie nur fur Winkel < 90◦ gultig ist. Selbst fur den Kosinussatz(eine Verallgemeinerung des Satzes von Pythagoras auf beliebige Dreiecke) brauchtman aber die Werte der Kosinusfunktion fur Winkel > 90◦, und zur Beschreibungperiodischer Vorgange in der Physik und in der Astronomie sind trigonometrischeFunktionen fur beliebige Winkel unverzichtbar.
Obwohl nicht unbedingt notig, fuhren wir zusammen mit den trigonometrischenFunktionen am Einheitskreis auch ein neues Winkelmaß ein, das Bogenmaß. Dieklassische Einteilung des Vollwinkels in 360◦ stammt aus der Astronomie und gehtauf die Babylonier zuruck; bei dieser Einteilung hat zum einen das auf der Basis 60aufgebaute Zahlensystem der Babylonier Pate gestanden, zum andern die Tatsache,dass das Jahr grob 360 Tage besitzt und die Sonne daher mit einer Winkelgeschwin-digkeit von 1◦ durch die Sternbilder des Tierkreises wandert.
Das Bogenmaß misst einen Winkel durch die Lange des Kreisbogens, den der Winkelaus dem Einheitskreis ausschneidet. Damit entsprechen den 360◦ des Vollwinkelsdas Bogenmaß 2π (im Englischen wird die Einheit oft als radian bezeichnet, imDeutschen seltener als Radiant), und alle anderen Winkel kann man daraus mitdem Dreisatz berechnen. Merken sollte man sich, dass 180◦ = π und 90◦ = π
2 sind.
Legt man A(1|0) auf dem Einheitskreis fest, dann ist der Winkel α = ∠AOP durcheinen Punkt P auf dem Kreis festgelegt, und es ist α die Lange des KreisbogensAP .
6 FRANZ LEMMERMEYER
Abbildung 3. Bogenmaß
Sei F der Lotfußpunkt von P auf der x-Achse. Dann ist nach der Definition vonSinus und Cosinus im rechtwinkligen Dreieck FOP
sinα =PF
OP= PF , cosα =
OF
OP= OF,
weil ja am Einheitskreis OP = 1 ist. Mit anderen Worten: der Punkt P , der denWinkel α festlegt, hat Koordinaten P (cosα| sinα).
Der Punkt P (1|0) entspricht dem Winkel α = 0, folglich ist cos 0 = 1 und sin 0 = 0.Der Punkt P (0|1) gehort zu α = π
2 , folglich ist cos π2 = 0 und sin π2 = 1 usw.
Damit kann man die Sinus- und Kosinusfunktion fur alle Werte des Winkels xbestimmen und erhalt die Schaubilder aus Abb. 4. Offenbar wiederholen sich dieWerte dieser Funktion, wenn man zu einem beliebigen Winkel x den Vollwinkel 2πaddiert; also ist sin(x+ 2π) = sin(x) und cos(x+ 2π) = cos(x).
Abbildung 4. Schaubilder der Sinus- und Kosinusfunktion
Auf dieser Webseite kann (und sollte) man sich ansehen, wie diese Schaubilder ausden Winkeln am Einheitskreis entstehen. Dazu klicke man links oben die Funktionan, fur die man sich interessiert, und bewege dann mit der Maus den Punkt aufdem Einheitskreis.
Das Schaubild der Tangensfunktion ist komplizierter, weil deren Funktionswertebeliebig groß werden konnen. In der Nahe der Nullstellen der Kosinusfunktion (alsovon π
2 , 3π2 usw.) wachst der Tangens uber alle Grenzen, und in den Nullstellen
der Kosinusfunktion hat die Tangensfunktion senkrechte Asymptoten. Zu beachten
ist auch, dass f(x) = tanx Periode π hat; Verschieben von Sinus und Kosinusverwandelt diese in ihre Negativen, der Quotient bleibt dabei gleich:
tan(x− π) =sin(x− π)
cos(x− π)=− sin(x)
− cos(x)=
sin(x)
cos(x)= tan(x).
Abbildung 5. Schaubild der Tangensfunktion
Direkt aus der Definition der trigonometrischen Funktionen am Einheitskreis erhaltman
Satz 6. Es gilt sin(−α) = − sinα und cos(−α) = cos(α).
In der Tat: den zu −α gehorigen Punkt P− erhalt man durch Spiegeln an derx-Achse; ist P (cosα| sinα), so ist P−(cosα| − sinα).
Nur wenig schwieriger zu beweisen ist
Satz 7. Es gilt sin(α− π2 ) = cosα und cos(α− π
2 ) = − sin(α).
Abbildung 6. Veranschaulichung von Satz 7
Dies folgt daraus, dass die Subtraktion eines Winkels von π2 = 90◦ dazu fuhrt, dass
aus den Koordinaten von P (cosα| sinα) die Koordinaten P ∗(sinα|−cosα) werden.
8 FRANZ LEMMERMEYER
Ubungen.
(1) Vereinfache folgende Ausdrucke.
a) tanα · cosα b) (1 + sinβ)(1− sinβ)
c) 1cos2 α − 1 d) sin2 α
1−cosαe) sin4 α− cos4 α f) tanα−1
sinα−cosα
4. Trigonometrische Gleichungen
Die einfachsten trigonometrischen Gleichungen, und gleichzeitig auch die einzigen,die man ohne Taschenrechner losen konnen muss, sind die Gleichungen sinx =−1, 0,+1 und cosx = −1, 0,+1 im Intervall [0, 2π].
Die Gleichung sin(x) = 0 fragt nach allen Nullstellen der Sinusfunktion im Intervall[0, 2π]; ein Blick auf das Schaubild verrat, dass die einzigen Losungen x1 = 0, x2 = πund x3 = 2π sind. Genauso einfach liest man die Losungen mit 0 ≤ x ≤ 2π deranderen Gleichungen ab:
sinx = −1 x1 = 3π2
sinx = 0 x1 = 0, x2 = π, x3 = 2πsinx = +1 x1 = π
2cosx = −1 x1 = πcosx = 0 x1 = x1 = π
2 , x2 = 3π2
cosx = +1 x1 = 0, x2 = 2π
Etwas komplizierter ist die Losung einer Gleichung wie sin(2x − π2 ) = 0 fur 0 ≤
x ≤ π. In einem solchen Fall substituiert man den Ausdruck in der Klammer, setztalso z = 2x − π
2 . Dies liefert sin z = 0 und damit z1 = 0, z2 = π und z3 = 2π.Resubstitution ergibt
2x− π2 = 0, x1 =
π
4;
2x− π2 = π, x2 =
3π
4;
2x− π2 = 2π, x3 =
5π
4.
Weil der letzte Wert nicht im Intervall [0, π] liegt, sind nur x1 und x2 Losungen.
Die”Standardgleichungen“ im Zusammenhang mit trigonometrischen Funktionen
sind solche des folgenden Typs:
(sinx)2 − 2 sin(x) = 0,
(sinx)2 − 3 sin(x) + 2 = 0.
Die erste Gleichung lost man durch Ausklammern:
sin(x) · (sin(x)− 2) = 0
fuhrt auf sin(x) = 0 mit den bekannten Losungen, wahrend die Gleichung sin(x) =2 keine Losung besitzt, weil die Sinusfunktion nur Werte zwischen −1 und +1annimmt.
TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN 9
Die zweite Gleichung lost man durch Substitution: mit z = sinx erhalten wir z2 −3z + 2 = 0, also z1 = 1 und z2 = 2; Resubstition ergibt sinx = 1 und sinx = 2; dieerste Gleichung hat die Losung x = π
2 , die zweite hat keine Losung.
5. Additionsformeln
Jetzt betrachten wir zwei Winkel β = ∠AOP und α = ∠AOQ am Einheitskreis(Abb. 7). Die beiden Punkte P und Q haben die Koordinaten P (cosβ| sinβ) undQ(cosα| sinα), ihr Abstand d ist folglich gegeben durch
(1) d2 = PQ = (cosα− cosβ)2 + (sinα− sinβ)2.
Abbildung 7. Additionsformel fur die Kosinusfunktion
Wenn wir jetzt das Dreieck POQ betrachten, dann ist ∠POQ = α−β, die Hohe desDreiecks ist h = QF = sin(α− β), und der Abstand d ergibt sich nach Pythagoraszu
(2) d2 = QF2
+ FP2
= sin2(α− β) + (1− cos(α− β))2.
Jetzt multiplizieren wir beide Gleichungen aus. Wir erhalten aus (1)
Dazu setzen wir in die Additions- und Subtraktionsformeln fur den Sinus α = x+u2
und β = x−u2 und finden wegen α+ β = x und α− β = u
sin(x) = sinx+ u
2cos
x− u2
+ cosx+ u
2sin
x− u2
,
sin(u) = sinx+ u
2cos
x− u2− cos
x+ u
2sin
x− u2
,
woraus sich die behauptete Identitat (3) durch Subtraktion der beiden Gleichungenergibt.
Ubungen
(1) In der folgenden Zeichnung hat die Hypotenuse des rechtwinkligen Drei-ecks im Innern des Rechtecks die Lange 1. Man berechne alle Winkel undStrecken in dieser Figur in Abhangigkeit von α und β und leite aus diesemErgebnis die Additionsformel fur den Sinus und den Kosinus her.
TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN 11
(2) In der folgenden Figur ist OA = 1 und ∠OEA = ∠OCA = ∠ODE = 90◦.Verifiziere die einzelnen Schritte in folgendem Beweis der Additionsformelfur die Sinusfunktion.
sin(α+ β) = AC
= AB +BC
= AB + ED
= AE · cosβ +OE · sinβ= sinα cosβ + cosα sinβ.
6. Die Ableitung trigonometrischer Funktionen
Nach Definition ist
f ′(x) = limu→x
sin(x)− sin(u)
x− u.
Hier konnen wir nicht mehr hoffen, aus dem Zahler durch einfache Umformungenein x − u auszuklammern. Zum Umformen des Zahlers benutzen wir die Identitat(3); damit finden wir
f ′(x) = limu→x
sin(x)− sin(u)
x− u= limu→x
2 sin(x−u2 ) cos(x+u2 )
x− u
= limu→x
2 sin(x−u2 )
x− u· limu→x
cos(x+ u
2
)= cos(x) · lim
u→x
sin(x−u2 )x−u2
.
Die Ableitung der Sinusfunktion ist also das Produkt aus der Kosinusfunktion undeinem Grenzwert; schreiben wir h = x−u, so ist u→ x gleichbedeutend mit h→ 0,
12 FRANZ LEMMERMEYER
d.h. es ist
limu→x
sin(x−u2 )x−u2
= limh→0
sinh
h.
Wir wollen zeigen, dass dieser Grenzwert = 1 ist, allerdings nur, wenn der Winkelx in Bogenmaß gemessen wird! In der Tat ist die einfache Formel (sinx)′ = cosxvielleicht nicht der einzige, aber sicher der wesentliche Grund, weshlab man dasBogenmaß eingefuhrt hat.
Dazu betrachten wir die Definition von sinx am Einheitskreis. Dort wird der Win-kel x in Bogenmaß gemessen, d.h. x ist die Lange des vom Winkel festgelegtenKreisbogens.
Die Flache des kleinen Dreiecks ist offenbar 12 sin(x) cos(x), die des großen Dreiecks
12 tanx = sin x
2 cos x , und die des Kreisausschnitts gleich x2π · π = x
2 . Also gilt dieoffensichtliche Ungleichung
1
2sin(x) cos(x) <
x
2<
sin(x)
2 cos(x).
Division durch sin x2 liefert
cos(x) <x
sinx<
1
cosx.
Bildet man die Kehrwerte, wird daraus
1
cosx>
sinx
x> cos(x), also cos(x) <
sinx
x<
1
cos(x).
Lasst man hier x → 0 gehen, so geht cos(x) → 1, und der Term sin xx in der Mitte
ist zwischen zwei Großen eingeschlossen, die beide gehen 1 gehen. Also muss derGrenzwert von sin x
x gleich 1 sein.
Satz 9. Es gilt
limx→0
sinx
x= 1.
Damit haben wir bewiesen:
Satz 10. Die Ableitung der Sinusfunktion f(x) = sinx ist f ′(x) = cosx.
Die Ableitung der Kosinusfunktion erhalten wir daraus fast ohne weitere Rechnung.Verschieben wir die Sinusfunktion um π
2 nach rechts, erhalten wir
sin(x− π2 ) = cos(x).
TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN 13
Die Ableitung von cos(x) ist also die um π2 nach rechts verschobene Ableitung der
Sinusfunktion:(cosx)′ = cos(x− π
2 ) = − sin(x).
Satz 11. Die Ableitung der Kosinusfunktion f(x) = cosx ist f ′(x) = − sinx.
7. Die Taylorreihe
Die Tangente in x = 0 an das Schaubild der Kosinusfunktion ist y = 1 wegen f(0) =cos(0) = 1 und m = f ′(0) = sin(0) = 0. Weil die Kosinusfunktion in der Nahe vonx = 0 eher wie eine Parabel aussieht, konnten wir versuchen, statt der Tangenteeine Naherungsparabel zu finden. Weil wir die Tangente mit f(0) = cos(0) = 1und f ′(0) = sin(0) = 0 gefunden haben (hier stimmen also die nullte und die ersteAbleitung von Gerade und Kosinusfunktion uberein), liegt es nahe, eine Parabelf(x) = ax2 + bx+ c zu suchen, die außerdem f ′′(0) = − cos(0) = −1 erfullt. Mit
f(x) = ax2 + bx+ c f(0) = c,
f ′(x) = 2ax+ b f ′(0) = b,
f ′′(x) = 2a f ′′(0) = 2a
folgt also c = 1, b = 0 und a = − 12 , d.h. die Naherungsparabel ist durch f2(x) =
1− x2
2 gegeben.
Abbildung 8. Naherungsparabel an die Kosinusfunktion
Weil die Kosinusfunktion symmetrisch bezuglich der y-Achse ist, wird sie von nichtachsensymmetrischen Funktionen nur schlecht approximiert. Versucht man trotz-dem den Ansatz f(x) = ax3 + bx2 + cx+ d und verlangt, dass f , f ′, f ′′ und f ′′′ inx = 0 dieselben Werte annimmt wie die ersten Ableitungen der Kosinusfunktion,dann ergibt sich a = 0 und die Naherungsparabel von oben.
Die Naherungsfunktion vom Grad 4 dagegen ergibt sich zu
f4(x) = 1− x2
2+x4
24.
Betrachten wir nun allgemein eine Naherungsfunktion
Die ungeraden Ableitungen der Kosinusfunktion sin ± sin(x) und haben folglichden Wert 0 in x = 0, d.h. es muss
a1 = a3 = . . . = a2n−1 = 0
gelten. Die geraden Ableitungen haben abwechselnd den Wert +1 und −1, dennmit g(x) = cos(x) ist g(0) = 1, g′′(0) = − cos(0) = −1, g(4)(0) = cos(0) = +1 usw.
Wir erhalten so die Gleichungen
a0 = +1,
1 · 2 · a2 = −1,
1 · 2 · 3 · 4 · a4 = +1,
1 · 2 · 3 · 4 · 5 · 6 · a6 = −1,
. . . = . . . ,
(2n)!a2n = (−1)n.
wobei wir zur Abkurzung n! = 1 · 2 · 3 · · ·n gesetzt haben (n! wird”n Fakultat‘
ausgesprochen).
Also gilt
a0 = 1, a2 = − 1
2!, a4 =
1
4!, a6 = − 1
6!usw.
Bereits die Funktion
f6(x) = 1− x2
2!+x4
4!− x6
6!
ist mit dem bloßen Auge von der Kosinusfunktion auf dem Intervall [−π2 ,π2 ] nicht
mehr zu unterscheiden.
TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN 15
Abbildung 10. Naherungspolynom f6
Die hier gegebenen Approximationen beruhen auf der Differentialrechnung. Gehtman von den Naherungspolynomen zur Reihe
f∞(x) = 1− x2
2!+x4
4!− x6
6!+ · · ·
uber, so kann man zeigen (wenn auch nicht mit den Mitteln der heutigen Schulma-thematik), dass f∞(x) = cos(x) ist. Insbesondere ist sinx = −f ′∞(x), also
sinx = x− x3
3!+x5
5!− · · ·
Aus dieser Formel erhalt man ubrigens auch leicht den Grenzwert
limx→0
sinx
x= limx→0
(1− x2
3!+x4
5!− · · ·
)= 1
zuruck.
8. Bhaskaras Formel
Die folgende Naherung fur die Sinusfunktion geht auf den indischen MathematikerBhaskara I (ca. 600 n.Chr.) zuruck:
sin a ≈ 4a(180− a)
40500− a(180− a),
wo a in Grad angegeben ist. Wir wollen diese Formel herleiten, indem wir denAnsatz
sinα ≈ s(α) mit s(α) =a+ bα+ cα2
d+ eα+ fα2
machen und die sechs Unbekannte durch Einsetzen geeignet gewahlter Punkte be-stimmen. Zum einen durfen wir, nach Kurzen mit d, einfach d = 1 annehmen;zweitens wollen wir Achsensymmetrie haben, also, wenn wir ab jetzt den Winkel inBogenmaß messen und ihn mit x statt α bezeichnen, s(α) = s(π − α); man kannzeigen, dass das fur Quotienten von quadratischen Polynomen dann und nur dann
16 FRANZ LEMMERMEYER
der Fall ist, wenn sowohl Zahler wie Nenner diese Symmetrie haben; damit folgendie Gleichungen
a+ bx+ cx2 = a+ b(π − x) + c(π − x)2,
d+ ex+ fx2 = d+ e(π − x) + f(π − x)2,
also
a+ bx+ cx2 = a+ bπ + cπ2 − (b+ 2πc)x+ cx2,
d+ ex+ fx2 = d+ eπ + fπ2 − (e+ 2πf)x+ fx2,
und damit durch Koeffizientenvergleich
0 = b+ πc und 0 = e+ πf.
Einsetzen des Punktes (0|0) ergibt a = 0, was zusammen mit d = 1 auf die Funktion
s(x) =cx(x− π)
1− πfx+ fx2
fuhrt. Die restlichen beiden Unbekannten erhalten wir durch Einsetzen der Punkte(π6,
1
2
)und
(π2, 1).
Dies liefert nacheinander die Gleichungen
1
2=
π6 · c(
π6 − π)
1− π2
6 f + π2
36 f=
−c365π2 − f
und 1 =π2 · c(
π2 − π)
1− π2
2 f + π2
4 f=
−c4π2 − f
.
Wegschaffen der Nenner ergibt
2c = f − 36
5π2und c = f − 4
π2,
was nach Elimination von f auf
c = − 16
5π2und damit f =
4
5π2
fuhrt. Damit erhalten wir
s(x) =16x(π − x)
4x2 − 4πx+ 5π2
Diese Naherung ist so gut, dass man zeichnerisch im Intervall [0;π] keinen Unter-schied sehen kann!
Abbildung 11. Die Funktionen sin(x) und s(x)
TRIGONOMETRISCHE FUNKTIONEN 17
Lediglich die dickeren Linien am linken und rechten Rand deuten darauf hin, dassdie Funktionen dort auseinanderzulaufen beginnen. Naturlich kann s(x) “global”,also fur alle x, keine gute Naherung der Sinusfunktion sein, weil s(x) genau zweiNullstellen (die Sinusfunktion unendlich viele) hat und außerdem im Gegensatz zurSinusfunktion eine waagrechte Asymptote (namlich y = −4) besitzt.
Die Differenz von Sinusfunktion und Naherung hat, wie die nachste Skizze zeigt,Funktionswerte unterhalb von 0,002, d.h. der Fehler ist kleiner als 2 Promille: