Paul Michel (Universität Zürich) Transformation und Augmentation bei Petrarca und seinem Meister 1. Petrarcas Remedia utriusque fortunae An De Remediis utriusque fortunae hat Petrarca (1304–1374) von 1354 bis 1367 gearbeitet. Der Begriff fortuna hat zwei Bedeutungen: ‘Glück’ / ‘blindwütendes Geschick’. 1 Nach beiden Aspekten gliedert Petrarca sein Werk: Im ersten Teil (122 Kapitel) weist die personifizierte Vernunft (Ratio) nach, daß alles, was den Menschen glücklich zu machen scheint, eitel ist. Im zweiten Teil (132 Kapitel) führt die Vernunft Trostgründe gegen das vermeintliche Übel an. Der eine Aspekt der Fortuna ist zu beargwöhnen, der andere auszuhalten. Im einen Fall sagt Ratio warnend ‘das ist aber kein Wert!’, im anderen Fall palliativ: ‘das braucht dich aber nicht anzufechten!’ Der Text ist pseudo-dialogisch organisiert. Es sprechen die Personifikationen von Grundemotionen: im ersten Teil tragen Gaudium, Spes (ab I, 109) die Anlässe der ‘fortuna prospera’ vor; im zweiten Teil Dolor, Metus (II, 91. 92. 115–117 2 ) die Anlässe der ‘fortuna adversa’. 3 In jedem Kapitel läßt Ratio einen Hagel von Argumenten auf Gaudium bzw. Dolor niederprasseln. 1.1. Aufbau Die Anordnung der einzelnen Kapitel erfolgt assoziativ. 4 Es lassen sich Kapitelverbünde ausmachen, z.B. Muße und Vergnügungen (I, 18–43, wo der Bücherbesitz überleitet zum Schiftstellerruhm und sich ein Block mit Ehren anschließt; dann werden aber die Luxusgüter wieder aufgenommen I, 60–64). Es gibt eine Gruppe 1 Schottländer 1988, 27 verweist auf Cicero, de officiis II, vi, 29. 2 Vgl Lesarten bei Carraud 2002, 1062. 3 Grundlegend ist das Buch von Fraenger 1930. Vorzüglich ist das knappe Nachwort von Manfred Lemmer zum Reprint 1984, 181–209. 4 Solch assoziative Anordnungen des Materials von Enzyklopädien kennen wir beispielsweise aus den frühen Ausgaben der Officinia des Ravisius Textor (Jean Tixier de Ravisi, 1480–1524), die von späteren Herausgebern systematisiert wurden. Ebenso assoziativ geordnet ist des Comenius Janua linguarum reserata (1631; umgearbeitet 1649).
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Transformation und Augmentation bei Petrarca und seinem ... · Paradossi. des Ortensio Lando (1543) 5, in des Boistuau . ... daß Lando entsprechende Partien aus dem ersten und zweiten
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Paul Michel (Universität Zürich)
Transformation und Augmentation bei Petrarcaund seinem Meister
1. Petrarcas Remedia utriusque fortunae
An De Remediis utriusque fortunae hat Petrarca (1304–1374) von 1354 bis 1367
gearbeitet. Der Begriff fortuna hat zwei Bedeutungen: ‘Glück’ / ‘blindwütendes
Geschick’.1 Nach beiden Aspekten gliedert Petrarca sein Werk: Im ersten Teil (122
Kapitel) weist die personifizierte Vernunft (Ratio) nach, daß alles, was den Menschen
glücklich zu machen scheint, eitel ist. Im zweiten Teil (132 Kapitel) führt die Vernunft
Trostgründe gegen das vermeintliche Übel an. Der eine Aspekt der Fortuna ist zu
beargwöhnen, der andere auszuhalten. Im einen Fall sagt Ratio warnend ‘das ist aber
kein Wert!’, im anderen Fall palliativ: ‘das braucht dich aber nicht anzufechten!’ Der
Text ist pseudo-dialogisch organisiert. Es sprechen die Personifikationen von
Grundemotionen: im ersten Teil tragen Gaudium, Spes (ab I, 109) die Anlässe der
‘fortuna prospera’ vor; im zweiten Teil Dolor, Metus (II, 91. 92. 115–1172) die Anlässe
der ‘fortuna adversa’.3 In jedem Kapitel läßt Ratio einen Hagel von Argumenten auf
Gaudium bzw. Dolor niederprasseln.
1.1. Aufbau
Die Anordnung der einzelnen Kapitel erfolgt assoziativ.4 Es lassen sich
Kapitelverbünde ausmachen, z.B. Muße und Vergnügungen (I, 18–43, wo der
Bücherbesitz überleitet zum Schiftstellerruhm und sich ein Block mit Ehren anschließt;
dann werden aber die Luxusgüter wieder aufgenommen I, 60–64). Es gibt eine Gruppe
1 Schottländer 1988, 27 verweist auf Cicero, de officiis II, vi, 29.
2 Vgl Lesarten bei Carraud 2002, 1062.
3 Grundlegend ist das Buch von Fraenger 1930. Vorzüglich ist das knappe Nachwort von Manfred
Lemmer zum Reprint 1984, 181–209.
4 Solch assoziative Anordnungen des Materials von Enzyklopädien kennen wir beispielsweise aus
den frühen Ausgaben der Officinia des Ravisius Textor (Jean Tixier de Ravisi, 1480–1524), die von
späteren Herausgebern systematisiert wurden. Ebenso assoziativ geordnet ist des Comenius Janua
linguarum reserata (1631; umgearbeitet 1649).
Unbekannt
Dieser Aufsatz ist erschienen in: Martin Schierbaum (Hg.), Enzyklopädistik 1550–1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens (Reihe: Pluralisierung & Autorität, hg. vom Sonderforschungsbereich 573 der LMU München, Band 18), Münster/Westf.: LIT-Verlag 2009, S. 349–377. (Dieser PDF-File ist abgeschlossen und nicht ausdruckbar.)
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zum Thema Frauenliebe (I, 65–69), an den sich Kindersegen und Lob des Herkommens
anschließt. Der Schluß des ersten Buchs ist der (ungerechtfertigten, versteht sich)
Hoffnung gewidmet (I, 113–122). – Ebenso gibt es im zweiten Buch thematische
Vergesellschaftungen, etwa die Reihe der Sieben Todsünden (II, 105–111) und am Ende
eine lange Reihe von Kapiteln über den Tod (II, 117–132).
Punktuell gibt es in den beiden Teilen Pendants, ja es läßt sich feststellen, daß sich die
‘Heilmittel’ gegen das gute Glück und diejenigen gegen das widerwärtige gelegentlich
gleichsam auslöschen, ähnlich wie wir dies von Ovids Remedia amoris her kennen oder
aus des Andreas Capellanus de amore oder später in den Paradossi des Ortensio Lando
(1543)5, in des Boistuau Théâtre du Monde (1558) und Grimmelshausens Satyrischem
Pilgram (1667). Beispiele: I, 2 Schönheit – II, 1 Häßlichkeit; I, 5 Stärke des Leibs (§ 8:
Elefant) – II, 2 Schwäche des Leibes (§ 16: Elefant); I, 3 Gesundheit – II, 3 Krankheit;
I, 15 de patria gloriosa – II, 4 de ignobili patria; I, 16 adlige Geburt – II, 5 de originis
obscuritate; I, 17 de origine fortunata – II, 6 illegitime Geburt; I, 70 Kindersegen – II,
22 eine unfruchtbare Frau; I, 50 Freunde haben – II, 32 Feinde haben.
1.2. Dialogform
Auf die Dialogform sollte man nicht zu viel Gewicht legen. Bei den Problemen, die die
‘Dramatis personae’ vorbringen, handelt es sich meist um stereotype – gelegentlich
stilistisch variierte – Wiederholungen; sie sind immer affirmativ, statisch, hin und
wieder in eine rhetorische Frage gekleidet; die personifizierten Leidenschaften lassen
sich von Ratio nicht überzeugen, sie dienen nur als Stichsatz-Souffleure, ihre
wiederholten Einwürfe halten beim Leser das Bewußtsein wach, daß den
Leidenschaften schwer beizukommen sei, daß die von ihnen Besessenen unbelehrbar
sind. Es gibt kein Kapitel, in dem eine Leidenschaft am Ende eine Einsicht zeigen
würde. Der zweite deutsche Übersetzer, Vigilius, läßt die Dialogisierung nach wenigen
Kapiteln weg und ersetzt sie durch abstrakt formulierte Marginalglossen.
1.3. Argumentationsweise
Die Argumentationsweise der Ratio bei der Dämpfung der Freude wie für den Trost der
Gepeinigten gibt einen zentralen Einblick in das Werk.
5 Vgl. Kuhn, Heinrich H. (2004): „Spannungen und Spannendes in Petrarcas Schrift über die
Heilmittel gegen beiderlei Fortuna“. Internetpublikation: http://wwww.phil-hum-ren.uni-
muenchen.de/SekLit/P2004A/Kuhn htm (Zugriff 16.6.05). Er macht (bei Anm. 63) darauf aufmerksam,
daß Lando entsprechende Partien aus dem ersten und zweiten Teil des Werks von Petrarca
zusammenstellt.
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Gegen Gaudium gewandt argumentiert Ratio folgendermaßen: Übertriebene Freude
oder Hoffnung wird herabgemindert, indem Ratio das positivierte Gut in ein Verhältnis
zu höheren Gütern setzt. – Geschenke der fortuna sind insofern verdächtig, als sie nicht
selbst erworben sind. – Immer wieder wird gesagt, daß die Güter der Fortuna
vergänglich sind, und daß ihr Verlust schmerzen wird. – Glücksgüter, die dem Körper
nützen, schaden dem Geist, und das ist gravierender.
Die Argumentation von Ratio gegenüber Dolor folgt solchen Mustern: Das
vermeintliche Übel wird geradezu als ein Gut hingestellt: es ist für dich besser so, sonst
würdest du sündigen oder hättest im Alter die Folgen davon zu tragen. – Ratio legt dar,
daß die Einstellung zu einem genannten Übel diese nur verschlimmert: es tut dir mehr
weh dich aufzulehnen, als wenn du dich darein ergibst. – Ratio gibt zynisch zu
bedenken: Was man als Mangel beklagt, ist geradezu eine Chance, ein Ansporn (das
Handicap als Challenge!). – Ratio tröstet über das Fehlen eines Glücksguts so: besser ist
es ein Gut nie gehabt zu haben, als es später leidvoll verlieren. – Verlust ist geradezu als
Befreiung zu deuten.
Gegen Freude wie Schmerz einsetzbar sind folgende Argumente: Ratio rät, die Dinge
von einer anderen Perspektive her zu betrachten: was gut scheint, kann (unter anderem
Gesichtspunkt) übel sein und umgekehrt. Bedenke die Kehrseite, die Nach- bzw. die
Vorteile der Sache. Am stärksten ist natürlich eine Betrachtung sub specie aeternitatis. –
Die Meinung des Dialogpartners wird als kurzsichtig oder gar falsch erwiesen (II, 120):
was du lobst bzw. beklagst, darauf kommt es gerade nicht an.
Die Argumentationen wirken auf uns oft grotesk, so wenn Ratio abwiegelt, Zahnweh sei
nützlich, da es zu Schweigen und zur Abstinenz beim Küssen zwinge, oder Bettflöhe
seien lobenswert, weil sie vor üppigem Schlaf bewahren.
1.4. Traditionen
Petrarca profitiert von verschiedenen Traditionen, aus denen er etwas Neues bildet:
Bereits Seneca hatte ein (nur teilweise überliefertes) Werk De remediis fortuitorum
(Von den Heilmitteln gegen Zufälligkeiten, ‘Kontingenzbewältigungsstrategien’ würden
wir heute titeln) verfaßt. Ferner steht im Hintergrund die Florilegienliteratur6, in der
Sentenzen und Exempla gesammelt und unter übergeordneten Gesichtspunkten (Topoi)
zusammengestellt werden – erinnert sei an den antiken Valerius Maximus und an den
6 Vgl. zur Übersicht den Artikel „Florilegien“ mehrerer Autoren im Artemis-Lexikon des
Mittelalters, Band IV, 566ff. – Rouse, Richard H. & Mary A. (1979): Preachers, Florilegia and Sermons.
Studies on the ‘Manipulus florum’ of Thomas of Ireland, Toronto: The Pontifical Institute of Mediaeval
Studies.
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mittelalterlichen Peraldus (Guillaume Peyraut † 1271) – eine Tradition, in die sich von
1500 an dann Erasmus (De duplici copia, Adagia), Domenico Nano Mirabelli,
Lycosthenes, Theodor Zwinger und Beyerlinck einreihen werden. Für den zweiten Teil
von De remediis ist die umfangreiche Trostliteratur zu nennen, allen voran des Boethius
Consolatio.7
1.5. Geisteshaltung
Der Tenor ist die ‘tranquillitas animi’; Leitfigur ist der stoische Weise, der durch die
Argumente der Vernunft zu einem guten Leben geführt werden soll. (Die ratgebende
Ratio huldigt gelegentlich auch einem biederen Zweckpessimismus.) Petrarca entwirft
nicht eine verpflichtende Ethik, die auf wenigen grundlegende Prinzipien aufbaute.
Christliches Denken ist kaum spürbar.8 Nach Lektüre einiger Kapitel in beiden Teilen
des Buches muß der Leser feststellen: Es gibt weder echtes Glück noch wirkliches
Unglück. Er ist aber kaum vergnügt, daß beides – Liebes wie Leides – aus Gottes
Händen quillt. Der Eklektizismus9 hängt innerlich mit der Textsorte zusammen.
1.6. Ein Fall von enzyklopädischem Schrifttum
De remediis utriusque fortunae gehört sicherlich zur wissensvermittelnden Literatur,
deren Kennzeichen ist, daß sie nicht als Ganzschriftlektüre10, sondern zum
Nachschlagen dient und eine bunte Fülle in sich nicht zwingend zusammenhängender
Auskünfte bietet. Das Werk kann zum Auffinden von Warnungen für sich über einen
Glücksfall überheblich Freuende (1. Teil) als auch von Trostargumenten für
7 Hierzu von Moos, Peter (1971/1972.): Consolatio. Studien zur mittellat. Trostliteratur über den
Tod und zum Problem der christlichen Trauer. 4 Bände, München.
8 Zur Frage der Vermittlung einer heidnisch-antiken und einer christlichen Position vgl. Heitmann
1958, dessen These eines durch und durch christlichen Petrarca ich nicht zu folgen vermag.
9 Stierle, Karl Heinz (2003): Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14.
Jahrhunderts. München: Hanser (S. 222–226 zu de remediis) spricht von „entfesselter Vielheit“; damit
bin ich einverstanden. Das Glücksbuch würde ich aber nicht in eine Reihe mit der provozierenden
Vielaspektigkeit von Montaigne in eine Reihe stellen.
10 Es gibt freilich auch Stellen, die gegen die These sprechen, das Werk diene zum Nachschlagen. So
heißt es I, 5 relege. II, 118: erst hattest du Angst vor dem Tod, nun hast du Verlangen nach ihm, was auf
das vorausgehnde Kapitel II, 117 verweist und somit eine kontinuierliche Lektüre unterstellt. In I, 101
wird von einem vor kurzem zitierten Ausspruch des Hadrianus gesprochen, welcher in I, 96 (§ 32)
erwähnt wurde.
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Niedergeschlagene (2. Teil) konsultiert11 werden. Der in der Vorrede (§ 11) verwendete
Topos, das Buch diene als Bibliotheksersatz (ne armarium evolvere … sit necesse), und
die Metapher, der Leser habe hier alles in einer kleinen Büchse schnell parat (in exigua
pixide … in promptu) werden im enzyklopädischen Schrifttum gerne verwendet.
Tatsächlich hat Petrarca die erreichbare Literatur ausgeschrieben, fragmentiert und
unter neuen Gesichtspunkten (‘loci’) neu zusammengestellt. Das ganze Buch ist
unsystematisch, wie bei Topiken üblich12. Für jedes Problem wird eine Fülle von ad-
hoc-Argumenten angeboten; der Leser soll instand gesetzt werden, zu jeder
Zweifelsfrage allgemeinverbindliche und geschliffen formulierte Argumente
beizubringen. Es gibt keinen einheitlichen Skopus, keine Basissätze, aus denen sich
deduktiv etwas ableiten ließe, sondern es wird eine ‘copia rerum et verborum’
angeboten, in der das aktuell Passende gemäß der Inventio-Technik aufgespürt werden
kann. Topossammlungen sind die Basis vieler Enzyklopädien.
1.7. Übersetzungen und Erweiterungen
Das Buch hatte in den Nationalsprachen großen Erfolg. Eine erste deutsche
Übersetzung von Peter Stahel (für den ersten Teil) und Georg Spalatin (nach Stahels
Tod für den zweiten Teil) erschien – nachdem das Projekt der Verleger Grimm und
Wirsung nicht zustande gekommen war – 1532 bei Steiner in Augsburg mit den
Holzschnitten des unbekannten Meisters. Von der zweiten Auflage an (1539) wird eine
neue, flüssigere Übersetzung von Stephanus Vigilius verwendet.13 Das Buch bekommt
ein Inhalts-Register. Es wird (erstmals 1539; nach Fiske Nr. 69) jedem Kapitel ein
lateinisches Distichon mit deutscher Übersetzung in vier paargereimten Knittelversen
beigegeben, so daß sich ein emblem-ähnliches Ensemble ergibt: Überschrift – Bild –
11 Das Konsultieren als wichtigstes Kennzeichen der enzyklopädischen Literatur hat herausgestellt
Blair, Ann (2003): „Reading Strategies for Coping with Information Overload ca. 1500–1700“, in:
Journal of the History of Ideas 64/1, 11–28.
12 von Moos, Peter (1988): Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur
Neuzeit und die historiae im ‘Policraticus’ Johanns von Salisbury. Hildesheim: Olms; insbesondere § 79:
„‘Copia exemplorum’: Der Reiz der Vielfalt und Unordnung“. – Bornscheuer, Lothar (1976): Topik. Zur
Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 26–108; bes. S. 98: „Es gibt
keine generelle Prioritäten, keine systematisierbare Kohärenz innerhalb der Topik […], derselbe Topos
kann bei derselben Problemfrage beiden Kontrahenten nützlich sein.“
13 Vigilius schreibt in der (auf 1534 datierten) Widmungsvorrede, er habe sich oft gewundert über
die ihm vorliegende Übersetzung, vor allem diejenige des ersten Teils; viele Dinge habe er erst durch
Rückgriff auf den lateinischen Text verstanden (a ij); er berichtet von seiner Plackerei beim Übersetzen (a
iiij). – Zur Übersetzungstechnik bei den insgesamt vier deutschen Übersetzern vgl. Knape 1986.
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Kapiteltext; die Distichen stammen gemäß St. Vigilius (Ausgabe 1539) von Johann
Pinitian (1478–1542). Die lateinischen Verse erscheinen dann in einer lateinischen
Ausgabe erstmals in Bern 1605 (Fiske Nr. 20). Oft wird das Buch mit Petrarcas De
rebus memorandis in der Übersetzung von Vigilius von 1541 (Gedenckbuch; 2. Auflage
1566) zusammengebunden. – Nach Steiners Bankrott (1548) druckt Christian Egenolff
in Frankfurt das deutsche ‘Glück-Buch’ 1551, 1559, 1572, 1583, 1584 und 1596. Noch
1604, 1620, 1637 gibt es Nachdrucke.
1.8. Die Bebilderung
Die deutschen Übersetzungen seit 1532 enthalten 261 Holzschnitte eines unbekannten
Meisters, die (aber diese Datierung14 ist mit Vorsicht aufzunehmen) aus den Jahren vor
1522 stammen, aber erst rund ein Jahrzehnt später zum Druck gelangten. Der Meister
hat seit 1514 mehrere Bücher illustriert, Musper hat 733 einzelne Holzschnitte
identifiziert. – Mehrere Holzschnitte kommen in verschiedenen Büchern vor, die bei
Steiner in Augsburg bis zu seinem Bankrott 1548 und später in anderen Verlagen
verwendet wurden, wobei es durchaus möglich ist, daß Bilder zuerst in Drucken
verwendet wurden, für deren Texte sie nicht ursprünglich vorgesehen waren. (So
erscheint bereits 1526 Johannes Paulis Schimpff und Ernst mit Illustrationen, die später
im Trostspiegel und im Cicero Verwendung finden.) Das heißt: es ist möglich, daß die
Ikonographie eines Bildes zu dem Text, in den es eingebunden ist, nicht recht paßt, weil
es zur Illustration eines andern Texts konzipiert wurde.15
Gemäß der Vorrede des Druckers 1532 hat Sebastian Brant († 1521) das Bild-
Programm bestimmt. Steiner habe Kosten und Mühe nicht gescheut und das (erste)
Buch mit vil zierlichen vnd wunder lustparlichen figurenn / so nach visierlicher16
14 Die Zusammenhörigkeit ist aufgrund des Stils evident. Der erste Holzschnitt erscheint 1514
(Musper 1937, L1). – Spalatinus datiert seine Vorrede zu seiner Übersetzung auf den 8. September 1521;
nimmt man an, daß dieser Termin in der Nähe des geplanten Druckbeginns gelegen haben, so müßten aus
umbruchtechnischen Gründen damals auch schon die Holzschnitte vorgelegen haben. Die Kanone auf
dem Bild zu I, 99 trägt die Jahrzahl 1519; der Sarkophag auf dem letzten Bild (II, 132) die Jahrzahl 1520.
– In der anonymen Vorrede zu Schwartzenbergs Übertragung von Ciceros De officiis (1531, mit hundert
Holzschnitten des Meisters) heißt es, dieser habe das Buch mitt sampt den Fygurenn […] vor zehen jaren
zuo trucken geben, dann habe sich die Sache aber verzögert. – Die Übersetzung von Ciceros de senectute
erscheint bei Grimm 1522 (Musper L 88). – Dann erscheinen bis 1524 noch einige Bücher bei Grimm mit
weniger bedeutenden Bildern.
15 Michel 1989.
16 Das Verb visieren nach Grimms Deutschem Wörterbuch XII/2 (1951): ‘scharf ins Auge fassen,
messend entwerfen, eine Vorzeichnung machen’.
P. Michel, Petrarcameister 7
angebung des Hochgelerten Doctors Sebastiani Brandt seligen / auf jeglichs Capitel
gestellet sind / nit vmm ain klein gelt erkauft (nämlich vom Verleger Grimm; der hatte
1527 das Geschäft verpfänden müssen). Brant hatte bei der Bebilderung von Texten viel
Erfahrung: zwischen 1488 und 1504 verfaßt er illustrierte Flugblätter, das Narrenschiff
erscheint 1494, seine illustrierte Fabel-Ausgab159017, die illustrierte Boethius-
Ausgabe 1501; die illustrierte Vergil-Ausgabe 150218, Brant hat auch bei einer Petrarca-
Sammelausgabe, die 1496 bei Amerbach in Basel erschien, mitgewirkt19, kannte also
wohl auch den Text schon länger.
Die Aufgabe einer visirliche[n] angebung20 für den Graphiker war eine vertrackte.
Offenbar verlangten die Herausgeber (Grimm und Wirsung), daß jedes Kapitel des
Glücksbuches ein Bild enthalte. Dabei ging es nicht um die ‘mimetische’ Illustration
narrativer Ensembles (wie bei Tierfabeln, biblischen Szenen oder in einem
Geschichtsbuch) oder um die Wiedergabe von Pflanzen oder Portraits oder
Stadtveduten oder von Handwerkern bei der Arbeit , sondern um das Ins-Bild-Bringen
abstrakter Größen, nämlich die Demaskierung und Umwertung von Freude und Leid,
was für Petrarcas Text zentral ist. Es geht um „die Illustrierung bloßen Raisonnements“,
schreibt Röttinger21, wozu es drei Möglichkeiten gebe: „Die Allegorie, das historische
17 Ebenfalls mit schwierigen Bildaufgaben: Wie zeichnet man die Bildrede Jesu (Luk 6,42) vom
Balken im eigenen und dem Splitter in des Bruders Auge? Hier in Kapitel 3 bewerkstelligt!
18 In der Vergilausgabe 1502, im separat foliierten Teil des XIII. Buchs, fol XXXIII verso schreibt
sich Brant die Leistung des Illustrators zu: Mit einem schlichten Bild und mit Zeichnungen wollte er den
Vergil für die Ungebildeten und einfachen Leute herausgeben. Und doch sei die Mühe hier nicht
vergeudet, nicht gänzlich vergeblich, denn durch das Bild erhält das Buch seine erinnernde
Vorstellungsweise. Virgilium exponant alij sermone diserto | Et calamo pueris: tradere et ore iuuet. |
Pictura agresti voluit Brant: atque tabellis: | Edere eum indoctis: rusticolisque viris. | Nec tamen
abiectus labor hic: nec prorsus inanis. | Nam memori seruat mente figura librum.
19 Librorum Francisci Petrarchae Basileae Impressorum Annotatio. Bucolicum Carmen … De Vita
solitaria... De Remedijs utriusque Fortunae... Libri quem Secretum: siue de Conflictu curarum suarum
inscripsit.[…]. Basileae: Amerbach 1496; dazu Geiß 2002.
20 Seit längerem bekannt sind die Vorzeichnungen Brants und Dürers auf den Rückseiten der
Druckstöcke für die Terenzausgabe, vgl.Wilhelmi 2002. Fraenger 1930 bietet als weiteres Beispiel den
Entwurf von Conrad Celtes zum Titelblatt seiner Quatuor libri amorum (1502). Die visierlichen
Angebungen dürften nach Fraenger aus einem schematischen Bildentwurf mit erläuternden Beischriften
bestanden haben, was ich ebenfalls annehme.
21 Vgl. Röttinger, Heinrich (1937): „Hans Weiditz, der Straßburger Holzschnittzeichner“, in: Elsaß-
Lothringisches Jahrbuch, XVI. Band, Frankfurt / M., 75–125, hier S. 84. Dieses Konzept wird hier
verfeinert.
P. Michel, Petrarcameister 8
Beispiel und die Abschilderung des beklagten Zustandes“. Solche Bildaufgaben gab es
vor 1520 – man sehe die Bände von Schramm, Bartsch, Geisberg durch – recht selten.
1.9. Methodisches zum Thema der medialen Transformation
Bei einer ‘medialen Transformation’ – ich habe hier nur die Richtung vom Text zum
Bild im Visier, die ja beim Petrarcameister gegeben ist – greifen verschiedene
Dimensionen ineinander:
1. Dimension: Kein Bild entsteht aus dem Nichts, auch nicht aus der Anschauung
‘der Realität’. Bild-Muster, -Modelle, -Konventionen gehen der Wahrnehmung und der
Darstellung voran.22 Im Aspekt der Rezeption: Zum Verständnis von Bildern
(insbesondere aus anderen Kulturen und abgelegenen Epochen) ist es oft unabdingbar,
diese Muster zu kennen.
2. Dimension: Bei der Erforschung von Techniken des ‘Brückenschlags’ vom
Text zum Bild fragen wir nach dem visuellen Potential des Texts.23 Wenn es sich nicht
um eine Person, einen Gegenstand, eine ‘realistisch vorstellbare’ Szene handelt, ergibt
sich oft ein Anknüpfungspunkt in Metaphern, idiomatischen Wendungen, Exempeln,
die im Text vorkommen oder auf die er anspielt.
3. Dimension: Die Medien Text und Bild unterliegen bekanntlich spezifischen
Möglichkeiten, Zwängen und Defiziten. So muss man bei der bildlichen Darstellung
eines Menschen entscheiden, ob man ihn barhäuptig oder mit einer Kopfbedeckung
zeigt (und welche Vielfalt von Hüten kennt der Petrarcameister!), und die hatten in
älteren Zeiten Zeichencharakter. Im Medium Bild fehlen logische Operatoren wie die
Negation (Pictogramme mit durchgestrichenen Gegenständen sind sehr jung.)
4. Dimension: Das Medium Bild hat eine eigene Rhetorik. Stichwortartig seien