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Kapitel 8
Grundlagen derEntwicklungspsychologie
8.1 Gegenstand und Aufgaben derEntwicklungspsychologie 113
8.2 Die Entwicklungspsychologieder Lebensspanne nach P. Baltes
113
8.3 Entwicklungsaufgaben 115
8.4 Entwicklungsverläufe 116
8.5 Entwicklungsfaktoren 117
8.6 Kognitive Entwicklung nachJean Piaget 120
8.7 Psychosoziale Entwicklungnach E.H. Erikson 123
aus: Ekert u.a., Psychologie für Pflegeberufe (ISBN
9783131389633) © 2014 Georg Thieme Verlag KG
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8 Grundlagen der Entwicklungspsychologie
„Denn das ist eben die große und gute Einrichtung
dermenschlichen Natur, dass in ihr alles im Keim da ist undnur auf
eine Entwicklung wartet.“ Johann Gottfried vonHerder (1744–1803),
Dichter, Übersetzer, Theologe
●XExamensschwerpunkteGegenstand und Aufgaben der
Entwicklungspsychologie(S.113), Entwicklungspsychologie der
Lebensspannenach P. Baltes (S.113), Entwicklungsaufgaben
(S.115),Entwicklungsverläufe (S.116), Entwicklungsfaktoren(S.120),
Kognitive Entwicklung nach J. Piaget (S.120),Psychosoziale
Entwicklung nach E.H. Erikson (S.123).
8.1 Gegenstand und Aufgaben derEntwicklungspsychologieDie
Entwicklung eines Menschen zu beobachten, ist einespannende
Angelegenheit, denn Leben bedeutet Verände-rung von der Zeugung bis
zum Tod.
●LDefinitionDie Entwicklungspsychologie ist eine Teildisziplin
derPsychologie, die den Blick auf das Verhalten und Erlebendes
Menschen richtet, wie es sich von der vorgeburtli-chen (pränatalen)
Zeit bis zum Lebensende verändert. Eswird versucht,
Gesetzmäßigkeiten zu finden, Entwick-lungsphasen zu beschreiben und
unter bestimmten Vo-raussetzungen einen Entwicklungsverlauf
vorherzusa-gen. Bedingungen, die menschliche Verhaltens- und
Er-lebensweisen beeinflussen, sie fördern, schädigen
oderverhindern, werden erforscht.
So ist z. B. die körperliche Reifung des Nervensystems undder
Muskulatur Voraussetzung dafür, dass ein Kind grei-fen, laufen und
sprechen lernt. Das an biologische Ent-wicklungsprozesse gebundene
Verhalten eines gesundenKindes, lässt sich vorhersagen:
entsprechend der körper-lichen Entwicklung wird es sich im Alter
von etwa einemJahr zum Stehen aufrichten, erste Schritte wagen,
einigeWörter verstehen und erste Wörter sprechen.
●PAufgabe1 Betrachten Sie ein Foto aus Ihrer Kinderzeit. Was
hatsich von damals bis heute verändert? Sammeln Sie Ver-änderungen
und Entwicklungen aus Ihrem Leben. Tra-gen Sie die Ergebnisse in
der Gruppe zusammen und ver-suchen Sie, das Vielerlei etwas zu
ordnen.
Alle menschlichen Lebensläufe ähneln sich in gewisserWeise und
doch gibt es kaum etwas Verschiedeneres aufder Welt als zwei
Menschenleben. Alle Menschen werdengeboren und sterben – und doch,
wie verschieden gestal-ten sich Anfang und Ende und das Leben
selbst! Obwohljeder Mensch etwa zum gleichen Zeitpunkt das
Stehen,Laufen, Sprechen beginnt, ist er schon in diesem Altereine
kleine Persönlichkeit geworden, die sich eindeutigvon anderen
unterscheidet. Das Leben eines alten Men-schen kann ganz im Zeichen
von Abbau und Defizit ste-hen, ein anderer erfreut sich bis ins
hohe Alter einer gu-ten Gesundheit und Leistungsfähigkeit.
In dem Spannungsfeld zwischen der den Menschen ge-meinsamen
Entwicklung und deren Individualität stehtdie
Entwicklungspsychologie. Psychologen beobachtenGesetzmäßigkeiten,
die bestimmten Altersstufen zuge-ordnet werden können. Sie
diagnostizieren, ob ein Ent-wicklungsstand altersentsprechend, also
„normal“ ist, obein Entwicklungsrückstand oder ein
Entwicklungsvor-sprung vorliegt. Eine solche Diagnose hilft, eine
passendeund damit wirkungsvolle Entwicklungsförderung
ein-zuleiten.
Der menschliche Lebenslauf mit all seinen Veränderun-gen ist in
der Psychologie seit etwa 1850 beliebter For-schungsgegenstand.
Psychologen konzentrierten sich an-fangs auf die menschliche
Entwicklung im Kindes- undJugendalter. Heute hat sich der
Forschungsbereich aus-gedehnt: Die ganze Entwicklung von der
vorgeburtlichen(pränatalen) Zeit bis zum hohen Alter ist von
Interesse.Um die einzelnen Lebensabschnitte besser zu
verstehen,betrachtet man den gesamten Lebenslauf.
Auch in früheren Zeiten gab es ein Nachdenken überdie einzelnen
Altersstufen und den ganzen Lebenslauf. Inunserer Zeit gibt es ein
wachsendes Interesse an der Le-bensspannen-Sicht.
8.2 Die Entwicklungspsychologieder Lebensspanne nach P.
BaltesPaul Baltes, Psychologe und Gerontologe, lebte von 1939bis
2006. Bei seiner Arbeit in Deutschland und Amerikaging er der Frage
nach: „Wie geschieht Entwicklung überden ganzen Lebenslauf hinweg?“
In gemeinsamer Arbeitmit seiner Frau, Margret Baltes, ebenfalls
Psychologin undGerontologin, wurde das Altern erforscht und ein
Kon-zept für erfolgreiches Altern entwickelt – das
SOK-Modell(S.114).
Paul Baltes entwickelte 7 Leitsätze einer
Entwicklungs-psychologie der Lebensspanne:1. Lebenslange
Entwicklung,2. Multidirektionalität,3. Entwicklung als Gewinn und
Verlust,4. Plastizität,5. Geschichtliche Einbettung,6.
Kontextualismus,7. Multidisziplinäre Betrachtung.
8.2 Die Entwicklungspsychologie der Lebensspanne nach P.
Baltes
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▶ 1. Lebenslange Entwicklung. Der erste Leitsatz gehtdavon aus,
dass Entwicklung lebenslang stattfindet. Erle-ben und Verhalten
eines Menschen können sich zu jedemZeitpunkt des Lebenslaufs
verändern. Leben geht mit Ent-wicklung und Veränderung einher. Vom
Lebensbeginn biszum Lebensende ist Entwicklung möglich.
▶ 2. Multidirektionalität. Multidirektionalität (lat.: mul-tus =
viel, zahlreich; directio = Richtung) besagt, dass
dieEntwicklungsprozesse in verschiedene Richtungen gehenkönnen. Ein
Beispiel aus dem Bereich der Intelligenz: In-telligenz kann sich in
der Lebensspanne verändern. DieIntelligenzkurve der fluiden
Intelligenz zeigt zunächst ei-nen Anstieg bis ins Erwachsenenalter.
Nach einer stabilenPhase fällt sie mit dem Älterwerden ab. Die
kristalline In-telligenz (S.86) steigt auch nach dem
Erwachsenenalterweiter an.
Bei Kindern findet derzeit leider oft eine
unerfreulicheEntwicklung statt: Während viele Kinder sich im
Bereichder Feinmotorik durch Computerspiele verbessern,
ver-schlechtert sich durch den Bewegungsmangel die
Ganz-körpermotorik.
●IFallbeispielMultidirektionalität Peter ist 10 Jahre alt. Für
seineHausaufgaben benutzt er immer öfter und gekonnt dasInternet.
Täglich verbringt er mit Spielen mehrere Stun-den am Computer.
Seine Finger bewegen sich auf derTastatur mit großem Geschick und
einer beachtlichenGeschwindigkeit. Im Sportunterricht ist er
hingegennicht in der Lage, mit geschlossenen Füßen über einenBalken
zu springen.
▶ 3. Entwicklung als Gewinn und Verlust. Entwicklungbedeutet
nicht nur Wachstum und Gewinn im Sinne vonimmer besserem,
erfolgreicherem Verhalten, sondern ver-läuft zwischen Gewinn
(Wachstum) und Verlust (Abbau).So ist in der
Lebensspannenpsychologie der Gedankewichtig, dass Altern nicht nur
(im biologischen Sinn) alsAbbau, sondern (im psychologischen Sinn)
auch alsWachstum gesehen wird (Expertentum, Weisheit).
●IFallbeispielGewinn und Verlust Gesundheits- und
KrankenpflegerinAnke arbeitete, bis sie im Alter von 57 Jahren
einenschweren Bandscheibenvorfall erlitt, in einer chirurgi-schen
Abteilung. Da es ihr danach körperlich nicht mehrmöglich war,
schwer zu heben und zu tragen, machtesie eine Weiterbildung und
verschiedene Fortbildungenin Wundmanagement und arbeitet nun gerne
und zu-frieden in dieser Funktion.
Baltes und Baltes (1989) beschreiben in ihrem SOK-Mo-dell des
„erfolgreichen Alterns“ ein gutes Konzept, ummit negativen
Veränderungen umzugehen:
● Selektion beschreibt die Strategie, aus den verbleiben-den
Möglichkeiten solche auszuwählen, die noch mög-lich sind, anstatt
dem Unmöglichen nachzutrauern.
● Optimierung bedeutet, sich in den ausgewählten Berei-chen zu
steigern, zu verbessern, „Experte“ zu werden.
● Kompensation bedeutet, was nicht mehr möglich istdurch
Hilfestellung, Hilfsmittel zu ermöglichen oderseine Interessen und
Einstellungen zu verändern.
Gesundheits- und Krankenpflegerin Anke wählte aus
denverbleibenden Möglichkeiten den Bereich des Wundma-nagements aus
(Selektion). Diesen optimierte sie durchFort- und Weiterbildungen.
Bei der Wundversorgungschwerer Patienten nimmt sie gerne die
Unterstützungihrer Kolleginnen und Kollegen in Anspruch
(Kompensa-tion).
●HMerkeEntwicklung geht mit Wachstum und Abbau, Gewinnund
Verlust einher.
▶ 4. Plastizität (Veränderbarkeit). Verhalten und Erle-ben sind
veränderbar. Lebenslanges Lernen bringt Verän-derung in jedem
Lebensalter mit sich. Bis ins hohe Alterkönnen körperliche und
kognitive Leistungen trainiertwerden. Plastizität kann zu einer
Optimierung des Lebensim Alter beitragen. Die
Lebensspannenpsychologie er-forscht die Möglichkeiten und die
Grenzen der Veränder-barkeit.
●IFallbeispielPlastizität Im Alter von 88 Jahren hat Herr Decker
er-folgreich an einem Computerkurs teilgenommen.
▶ 5. Geschichtliche Einbettung. Die geschichtliche Ein-bettung
eines Lebenslaufs, der historische Kontext, bildeteinen Rahmen für
die individuelle Entwicklung des Men-schen. Sie ist Bedingungen
unterworfen, die aus der his-torischen Zeit hervorgehen. In Kriegs-
oder Bürgerkriegs-zeiten ist Lebenszeit damit ausgefüllt, Leben zu
schützenund zu erhalten. In politisch stabilen Zeiten kann ein
Le-benslauf andere Ziele verfolgen, z. B. Bildung,
Gesundheit,materielle und ideelle Werte. Es gibt heute mehr
Pflicht-schuljahre als früher. Dadurch hat sich, z. B. aufgrund
vonWissenszuwachs, das schulische Bildungsniveau verbes-sert. Die
individuelle Entwicklung wird also durch his-torische und
gesellschaftliche Faktoren bestimmt.
▶ 6. Kontextualismus. Kontextualismus (lat.: con= zu-sammen,
textus = gewebt, gefügt) meint die Tatsache,dass das Lebensalter
eines Menschen einiges über seinenEntwicklungsverlauf aussagt, aber
nicht alles. Neben demhistorischen gibt es weitere Kontexte.
Entwicklung stehtauch im Zusammenhang mit kritischen Ereignissen,
dieim Lebenslauf weniger Menschen geschehen (nicht nor-mativ).
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●IFallbeispielKontextualismus Familie Bauer adoptierte Karin,
ein 2-jähriges Mädchen, das aus schwierigsten sozialen
Ver-hältnissen kam und zu diesem Zeitpunkt noch kein Wortsprach und
auch in der Motorik deutlich entwicklungs-verzögert war. Nach 4
Jahren konnte das Kind einge-schult werden und hatte den
Entwicklungsrückstandaufgeholt. Vor ihrem Hintergrund (Kontext) war
das eineenorme Leistung.
Lebenslange Entwicklung geschieht in vielerlei Zusam-menhängen,
z. B. im Zusammenhang mit dem Lebens-alter, im Zusammenhang mit
kritischen Lebensereignis-sen und im Zusammenhang mit der
geschichtlichen Si-tuation. In diesem Drei-Faktoren-Gefüge von
Einflussgrö-ßen ist die Entwicklung eines Menschen zu
betrachten.
▶ 7. Multidisziplinäre Betrachtung. Entwicklung ge-schieht in
verschiedenen Bereichen, z. B. körperlich, intel-lektuell und
sozial. Eine multidisziplinäre Betrachtung(lat.: disciplina = Lehr-
und Unterrichtsfach) entsprichtder Vielschichtigkeit der
Entwicklung in einer Lebens-spanne. Unterschiedliche Wissenschaften
beleuchten denVerlauf der Entwicklung eines Menschen aus
unter-schiedlichen Blickwinkeln. Wenn z. B. Soziologie,
Biologie,Psychologie, Medizin und Pflegewissenschaft ihre
Er-kenntnisse zusammentragen, ergibt sich ein vielfältigesBild, was
einem menschlichen Leben besser gerecht wird.
●IFallbeispielMultidisziplinäre Betrachtung Tim ist 10 Jahre
alt. We-gen zunehmender Verhaltensauffälligkeiten wenden sichTims
Eltern an das Jugendamt. Im Rahmen einer Hilfe-
plankonferenz, an der auch Tim teilnimmt, tauschen sichEltern,
Lehrerin, Psychologe, Schulsozialarbeiter und Kin-derarzt aus, um
ein umfassendes Bild von Tim und seinerSituation zu gewinnen. Ziel
der Konferenz ist es, einenHilfeplan zur Förderung einer positiven
Entwicklung desJungen zu erstellen.
●HMerkeDen entwicklungspsychologischen Blick auf die
Lebens-spanne zu richten, bedeutet, Veränderungen des Erlebensund
Verhaltens unter neuen Blickwinkeln zu betrachten:
Veränderungen geschehen lebenslänglich und in vie-lerlei
Richtungen (Multidirektionalität), sie bestehen ausGewinnen und
Verlusten, sie sind veränderbar (Plastizi-tät), sie sind in den
historischen und andere Kontexteeingebettet und werden von ihnen
beeinflusst. Sie zu er-forschen, bedarf es der Beiträge
verschiedener Wissen-schaften (Multidisziplinäre Betrachtung).
●PAufgabe2 Finden Sie für jeden der sieben Leitsätze ein
eigenesBeispiel.3 Erklären Sie den Begriff „Plastizität“ am
Beispiel der In-telligenz
8.3 EntwicklungsaufgabenIn jeder Lebensphase sollen bestimmte
Entwicklungszieleerreicht werden. Im dann folgenden
Lebensabschnittwerden neue Ziele verfolgt. Die Übergänge sind
fließend.Die Entwicklung vieler psychischer Funktionen ziehensich
auch über mehrere Abschnitte hin (▶ Tab. 8.1).
Tab. 8.1 Entwicklungsaufgaben nach R. J. Havighurst
Lebensphase Entwicklungsaufgaben nach Havighurst
Säuglingsalter ● Lernen von Nahrungsaufnahme,● beginnende
Sprachentwicklung.
Kindheit ● Erwerb der Geschlechtsrolle,● Lernen von sozialer
Kooperation,● Lernen von Basiskompetenzen im Lesen, Schreiben,
Rechnen,● Entwicklung von Moral und Werten.
Adoleszenz ● Akzeptieren der körperlichen Reifung,● Erwerb einer
Geschlechtsrollen-Identität,● Gestalten von Peer-Beziehungen.
Frühes Erwachsenenalter ● Partnerwahl/Ehe,●
Familiengründung/Kinder,● Beginn einer Berufskarriere.
Erwachsenenalter ● Übernahme sozialer und öffentlicher
Verantwortung,● Kindererziehung,● Entwicklung der
Berufskarriere.
Hohes Alter Anpassung an:● Nachlassen von Körperkräften,●
Ruhestand und Rollenveränderung,● Tod von Lebenspartnern.
8.3 Entwicklungsaufgaben
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●LDefinitionEntwicklungsziele, die auf der Zeitachse des
Lebensalterserreicht werden sollten, nennt man auch
Entwicklungs-aufgaben. Dieser Begriff umfasst biologische,
soziologi-sche und psychologische Aspekte. In den einzelnen
Le-bensabschnitten müssen bestimmte Aufgaben bewältigtwerden: z. B.
in der Kindheit Greifen, Sprechen, Lesenund Schreiben, im
Jugendalter eine eigene Identität fin-den und im höheren
Lebensalter Alltagsanforderungenbei gesundheitlichen
Einschränkungen bewältigen.
8.4 EntwicklungsverläufeDas Wort „Entwicklung“ wird in vielerlei
Zusammenhän-gen verwendet. Entwicklung auf dem Gebiet der
Techniklässt uns von vorneherein annehmen, dass es sich umetwas in
seiner Art Besseres, Schöneres oder völlig Neu-artiges handelt. In
der Werbung wird Entwicklung meistin Verbindung mit den Begriffen
„neu“ oder „besser“ ver-wendet.
●LDefinitionIn der Psychologie meint Entwicklung dagegen –
zu-nächst ohne jede Bewertung – alle Veränderungen, dieim
zeitlichen Verlauf des menschlichen Lebens, von derZeugung bis zum
Tod, auftreten.
Dabei kann es durchaus vorkommen, dass eine
spätereVerhaltensweise eine Einschränkung einer früheren
dar-stellt.
Beispiele für Bereiche, die eine Entwicklung durchlau-fen,
sind:● Sprache,● Wahrnehmung,● Motorik,● Gefühle.
8.4.1 SpracheDie Sprachentwicklung zeigt, dass der
Entwicklungspro-zess vom Kind zum Erwachsenen von einfachen
Verhal-tensweisen zu einer zunehmenden Variabilität des Ver-haltens
führt.
In der „Sprache“ eines 9 Monate alten Babys findensich sämtliche
Lautkombinationen aller Sprachen derWelt, in der Sprache des
6-jährigen Kindes nur noch dieseiner eigenen Sprache. Aus dem
gemeinsamen „Sprach-schatz“ aller Babys gehen die einzelnen,
jeweils verwen-deten Sprachen hervor. Erst durch oft mühsames
Erlernenkönnen Lautkombinationen verschiedener Sprachen spä-ter
wieder erworben werden.
Die vielen neuen Wörter, die ein Kind in den ersten
Le-bensjahren verstehen und sprechen lernt, bleiben in derweiteren
Entwicklung nicht ungeordnet nebeneinander
stehen, sondern werden nach und nach in grammatika-lischer Form
strukturiert und in schriftlicher und mündli-cher Form verwendet.
Aus der Vielfalt an Verhaltensmög-lichkeiten wird einiges
ausgewählt, andere Möglichkeitengehen verloren. Die
Anpassungsfähigkeit ist in den erstenEntwicklungsstadien am größten
und geht nach und nachzu Gunsten der Differenzierung und
Spezialisierung ver-loren.
●HMerkeEntwicklung geht zunächst mit zunehmender
Differen-zierung einher: Erleben und Verhalten entwickeln sichvom
Undifferenzierten zum Differenzierten.
8.4.2 WahrnehmungIm optischen Bereich besteht nach der Geburt
die Fähig-keit Hell und Dunkel zu sehen, dann folgt das Erkennenvon
Bewegungen, später von Formen und Farben bis sichschließlich ein
nahezu vollständiges Bild unserer sicht-baren Umwelt ergibt. Das im
Auge entstandene Bild wirddurch das Gedächtnis ergänzt und
erweitert.
8.4.3 MotorikIm Bereich der Grob- und Feinmotorik, beim Laufen
undGreifen, bei der Mimik und Gestik finden wir den glei-chen
Ablauf der Entwicklung vom Ganzheitlichen, Ein-fachen zum
Differenzierten und zum gesteuerten Einsatz(▶Abb. 8.1). Das
Neugeborene reagiert auf angenehmeund unangenehme Reize mit dem
ganzen Körper. Diewillkürliche Muskulatur nimmt an dieser
primitiven Reiz-beantwortung teil. Empfindet ein Säugling an einer
Stelleseines Körpers Schmerz, reagiert er mit Schreien und
Be-wegung des ganzen Körpers. Später kann der Menscheine
schmerzende Stelle gezielt bewegen oder benennen.Aus den
Ganzkörperbewegungen („Bewegungssturm“)wird ein zielsicheres
Greifen, ein verneinendes Kopf-schütteln oder ein Lächeln. Aus
einer diffusen, ganzheitli-chen Bewegung wird eine Vielzahl
variabler, sehr diffe-renzierter Bewegungen. Auch durch ungewohnte
Bewe-gungsabläufe findet die weitere Differenzierung derGrobmotorik
statt (▶Abb. 8.2)
Vielfältig sind beim Erwachsenen die motorischenMöglichkeiten z.
B. der Hand oder die mimischen Aus-drucksformen: das verächtliche
Herabziehen der Mund-winkel, das nachdenkliche Runzeln der Stirn,
der fragen-de, gleichgültige oder bohrende Blick, der durch
kleinsteMuskelveränderungen der Augenpartien entsteht.
8.4.4 GefühleDie Gefühlsskala ist beim Säugling bipolar, sie
umfasst zu-nächst Wohlbefinden und Unwohlsein (in älterer
analyti-scher Sprache: Lust und Unlust). Im Verlauf der
emotiona-len Entwicklung differenzieren sie sich zu einer
Vielzahlvon Emotionen. Ein erwachsener Mensch kennt Gefühle
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wie Freude, Liebe, Wut, Ehrgeiz, Begeisterung,
Eifersucht,Trauer, Mitleid und viele andere.
●PAufgabe4 Zeigen Sie an einem weiteren Entwicklungsgeschehen,z.
B. am Sozialverhalten, an der Musikalität, an den sport-lichen
Fähigkeiten oder an der Intelligenz, dass Entwick-lung mit
zunehmender Differenzierung einhergeht.
8.5 EntwicklungsfaktorenWodurch werden Entwicklungsprozesse
ausgelöst? Wastreibt die Entwicklung weiter? Was lenkt sie in eine
be-stimmte Richtung?
●LDefinitionMit dem Begriff Entwicklungsfaktoren bezeichnet
mandie Faktoren, die Entwicklung in Gang setzen, aufrecht-erhalten
und positiv oder negativ beeinflussen.
Die Frage nach den Faktoren, die die Entwicklung beein-flussen,
bewegt vor allem Eltern und Erzieher: WelcheRolle spielen
genetische Anlagen und welche die Umge-bung, in der ein Mensch
aufwächst (Umwelt)? Heute wer-den drei Entwicklungsfaktoren
unterschieden, die sichgegenseitig beeinflussen können:1.
genetische Anlagen,2. Umweltfaktoren,3. Eigenaktivität.
8.5.1 Genetische AnlagenJeder kennt die stolze oder anklagende
Bemerkung: „Dashat das Kind vom Vater, jenes von der Mutter
geerbt.“
Wie hoch ist der Anteil der genetischen Anlage undwie stark ist
der Umwelteinfluss eines Verhaltensmerk-mals? Diese Frage ist noch
ungeklärt.
Während der genetische Anteil bei einigen körper-lichen
Merkmalen, wie z. B. der Augenfarbe, eindeutignachgewiesen ist, ist
er besonders im Bereich der Persön-lichkeitsmerkmale äußerst
umstritten. Es gibt im Bereichdes menschlichen Verhaltens keine
Methode, um dieseFrage eindeutig zu beantworten.
fetale Haltung Kinn anheben Brust anheben greifen, aber
verfehlen sitzen mit Unterstützung
sitzen im Kinderstuhl, sich bewegendes Objekt ergreifen
allein sitzen
stehen mit festhalten
stehen mit Unterstützung
krabbeln gehen mit Unterstützung
Treppen hinaufklettern
sich zum Stand emporziehen
alleinstehen
allein gehen
sitzen im Schoß, Objekt er-greifen
13 Monate 14 Monate 15 Monate
5 Monate 6 Monate 7 Monate 8 Monate
Geburt 1 Monat 2 Monate 3 Monate 4 Monate
9 Monate 10 Monate 11 Monate 12 Monate
Abb. 8.1 Differenzierung der Motorik von der fetalen Haltung bis
zum freien Gehen (nach Zimbardo)
8.5 Entwicklungsfaktoren
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ReifungsprozesseEs stellt sich die Frage, welche Rolle
körperliche Reifungbeim Entwicklungsgeschehen spielt und wie weit
sich dieUmwelt hier fördernd oder hindernd auswirkt. Ent-wickeln
sich manche Verhaltensweisen ohne mitmensch-lichen Einfluss? In
vielen Bereichen existieren genetischvorprogrammierte
Reifungsprozesse, bei denen Umwelt-prozesse eher eine
untergeordnete Rolle spielen.
Fehlt die Voraussetzung der körperlichen Reifung, dannwird sich
eine neue Verhaltensweise, der nächste Ent-wicklungsschritt, auch
bei intensiver Förderung nicht ein-stellen. So viel eine ehrgeizige
Mutter ihr 6 Monate altesBaby auch auf die Beine stellt und zum
Laufen ermuntert,es wird es nicht tun, weil die biologische Reife
noch nichtvorhanden ist: Muskulatur und Knochenbau bieten nochnicht
die notwendigen Voraussetzungen.
●HMerkeVoraussetzung für die motorische Entwicklung ist
dieReifung des Nervensystems, der Muskulatur und der Sin-nesorgane.
Die einzelnen auf biologischer Reifung beru-henden
Entwicklungsschritte treten bei gesunden Men-schen etwa im gleichen
Lebensalter auf. Beim Laufen ler-nen handelt es sich um einen
Entwicklungsvorgang, derstark von der körperlichen Reifung
abhängt.
Besonders im ersten Lebensjahr finden sich
Entwick-lungsprozesse, die biologische Reifung voraussetzen.
Siewerden mit zunehmendem Alter immer seltener.
8.5.2 UmweltfaktorenPsychische Merkmale sind komplexer als
biologischeMerkmale wie Größe oder Haarfarbe. Es ist bekannt,
dassMerkmale wie Geiz, Misstrauen, Nervosität und viele an-dere
familiär gehäuft auftreten können. Dabei ist oftschwer erkennbar,
ob dies auf genetische Anlagen oderauf Lernprozesse zurückzuführen
ist.
▶ Verhaltenstradition. „Großmutter war so nervös,Mutter ist
nervös und jetzt zeigen sich schon Anzeichenvon Nervosität bei dem
kleinen Jungen.“ Schnell wird nungefolgert: „Das liegt in der
Familie!“ In der Tat gibt es eineVerhaltenstradition in der
Familie: Auf unruhiges mütter-liches Verhalten reagiert eben auch
ein Kind mit Unruheund Nervosität (ohne dass eine genetische Anlage
dafürverantwortlich sein muss) und ruft dadurch möglicher-weise bei
der Mutter wieder Ungeduld hervor.
▶ Modelle. Außerdem lernen Kinder an den Modellenihrer Umgebung.
So werden Verhaltensweisen, die sichspäter zu eigenen
Persönlichkeitsmerkmalen entwickelnkönnen, z. B. von den Eltern,
von Geschwistern, Lehrern,Freunden, Großeltern oder auch von
Personen aus demBereich der Medien abgeschaut.
▶ Chancen. Die Umgebung ist für die Entwicklung einesMenschen
sehr wichtig. Hier werden Einstellungen ge-prägt und
unterschiedliche Chancen zur Weiterentwick-lung bereitgestellt:
Welche Schulen gibt es, welche Ver-eine? Gibt es die Möglichkeit
ein Studium zu finanzieren?Welche Freunde, Kollegen usw. umgeben
den Menschen?All diese Faktoren können die Entwicklung massiv
beein-flussen. Jedoch ist auch die Bereitstellung der
bestenMöglichkeiten keine Garantie für einen
reibungslosenEntwicklungsverlauf.
8.5.3 EigenaktivitätHeute wird Entwicklung nicht nur als ein
Resultat von ge-netischer Anlage und Umweltbedingungen
betrachtet.Schließlich ist jeder Mensch auch selbst an seiner
Ent-wicklung beteiligt. Er kann mit steuern, was aus ihmwird.
Abb. 8.2 Hüpfen und Springen fördern die Entwicklung
derGrobmotorik.
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●LDefinitionDie Eigenaktivität beschreibt die Art und Weise, in
derein Mensch auf Entwicklungsreize antwortet: Wie er
sieverarbeitet, Neues ausprobiert, in seine
Verhaltensmög-lichkeiten aufnimmt, Lust an der Wiederholung
undÜbung hat und sich schließlich am Erfolg freuen kann.
Zu den Entwicklungsfaktoren Anlage, Reifung und Um-welt kommt
also ein dritter, den Vorgang der Entwick-lung beeinflussender
Aspekt hinzu: Die Eigenaktivitäthält, durch die angeborene Neugier
bei der Begegnungdes Kindes mit seiner Umwelt – spontan und ohne
Hilfevon anderen Personen – die Entwicklung in Gang.
Auch ein Kind, das alleine in einem Zimmer ist, wirdsich
irgendwann auf den Weg machen, um seine Umge-bung zu erforschen.
Ohne mitmenschliche Unterstützung,allein durch Interaktion mit
Gegenständen, die eckig oderrund, hart oder weich, leicht oder
schwer sind und he-runterfallen oder die ein Geräusch von sich
geben, wennman sie bewegt, schreitet Entwicklung fort.
Fast alle Kinder malen einen Menschen zunächst alsKopffüßler
(▶Abb. 8.3). Diese undifferenzierte Gestalt re-präsentiert den
Menschen auf dieser Wahrnehmungs-und Gestaltungsstufe. Eines Tages
erlebt das Kind (auchohne Korrektur durch die Eltern!), dass das
gezeichneteBild dem Wahrgenommenen nicht mehr entspricht. Eslöst
spontan (Eigenaktivität) diesen Konflikt, indem esseine Zeichnung
der objektiven Menschenfigur etwasmehr annähert (Arme und Beine
werden gezeichnet).
8.5.4 Zusammenwirken von geneti-scher Anlage, Umweltfaktoren
undEigenaktivitätEntwicklung ist ein kompliziertes Geschehen.
GenetischeAnlage, körperliche Reifung, fördernde oder
einschrän-kende Umwelteinflüsse, gegenständliche und
mit-menschliche Umgebung und die Eigenaktivität sind insich
ergänzender Weise am Entwicklungsgeschehen be-teiligt (▶Abb.
8.4).
▶ Sprachentwicklung.. Das Zusammenspiel all dieserFaktoren wird
hier exemplarisch am Beispiel der Sprach-entwicklung dargestellt.
Im Alter von etwa einem Jahrsind i. d. R. folgende Voraussetzungen
erfüllt:● muskuläre und neuronale Beherrschung der Lautbil-dung
durch Mund, Kiefer, Zunge und Stimmbänder(Reifung),
● Hören und Verstehen einzelner Wörter
(sensorischeVoraussetzung),
● Förderung durch Menschen, die mit dem Kind
sprechen(Umwelt),
● Wiederholung einzelner Wörter wie „Mama“, „Papa“,„Auto“. Das
Kind freut sich an der Verständigung undführt sie immer wieder
herbei, es hat Lust am Sprechen(Eigenaktivität).
Eine gute Sprachentwicklung wird durch das
gelungeneZusammenwirken dieser verschiedenen Entwicklungs-faktoren
ermöglicht.
●IFallbeispielGenetische Anlage, Umweltfaktoren,
EigenaktivitätAnna ist ein auffallend hübsches Mädchen. Sie ist
groß,schlank, hat schöne blonde Haare und blaue Augen (ge-netische
Anlage). Annas Mutter ist Modedesignerin undhat früh Annas
Interesse an schöner Kleidung geweckt.Bereits in der Grundschule
hatte Anna Freundinnen (Um-welt), die sich nachmittags trafen, um
sich gegenseitigzu schminken. Durch diese Umgebung wurde
AnnasNeugier für diesen Bereich immer stärker. Als in der
Dis-kothek eine „Miss-Wahl“ angekündigt wird, meldet An-na sich als
Kandidatin an (Eigenaktivität).Abb. 8.3 Kinderzeichnung: der Mensch
als Kopffüßler.
�������������������
���������������� ���������������
������������� ��������� �����������
Abb. 8.4 Zusammenwirken der Entwick-lungsfaktoren.
8.5 Entwicklungsfaktoren
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●HMerkeWir fassen zusammen: Entwicklung ist ein Zusammen-spiel
von Reifungsfaktoren, psychischen und soziokul-turellen Faktoren.
Die motorische und sensorische Ent-wicklung, die Umwelteinflüsse
und die Eigenaktivität desKindes wirken dabei wechselseitig
aufeinander ein. Dasgenetische Erbe stellt den Rahmen dar, in dem
durchUmwelteinflüsse und Eigenaktivität
unterschiedlicheAusprägungen erreicht werden.
●PAufgabe5 Sophie ist 13 Monate alt. Sie ist ein
temperamentvollesKind und bewegt sich seit 5 Monaten schnell und
sicherdurch Krabbeln fort. Seit einigen Tagen zieht sie sich anden
Möbeln hoch und geht mit Festhalten an den Hän-den einige Schritte.
Als sie eines Tages wieder eifrig„übt“, gelingt es ihr, drei
Schrittchen frei zu gehen. Sieist selbst erstaunt, ihre Eltern und
Geschwister klatschenin die Hände. Sogleich versucht Sophie, die
neue Art derFortbewegung zu wiederholen, wieder zu aller Freude.
Inkurzer Zeit beherrscht sie das freie Laufen.
Analysieren Sie das Geschehen. Beschreiben Sie dasZusammenspiel
von motorischen und sensorischen Rei-fungsvorgängen, von
Umweltfaktoren und Lernaktivitätdes Kindes.6 Zeigen Sie, dass
Entwicklung auch im hohen Lebens-alter von Anlagen,
Umwelteinflüssen und Eigenaktivitätbeeinflusst wird.
8.6 Kognitive Entwicklung nachJean PiagetDer Schweizer
Entwicklungspsychologe Jean Piaget lebtevon 1896 bis 1980. Viele
Jahrzehnte seines Lebens ver-brachte er mit der Erforschung der
kindlichen Entwick-lung. Schon früh stellte er die spannende Frage:
Wiekommt der Mensch zu Erkenntnissen und Wissen überdie Welt? Er
wollte wissen, wo die Anfänge der kogniti-ven (erkennenden)
Fähigkeiten liegen, und wie das Welt-bild eines Kindes zustande
kommt. Unermüdlich beob-achtete und befragte er Kinder, auch seine
eigenen, undwar dabei fasziniert davon, wie Kinder die sie
umgebendeWelt wahrnehmen und über sie denken, und wie sich
diekognitiven Fähigkeiten immer wieder verändern und imLaufe der
kindlichen Entwicklung immer weiter fort-schreiten.
●LDefinitionUnter Kognition versteht man alle Prozesse, die
mitWahrnehmen, Erkennen und Denken zu tun haben.
Alle Funktionen, die das Erkennen und Erfassen der
Weltermöglichen, sind kognitive Fähigkeiten, z. B.: Wahrneh-men,
Denken, Sprache, Gedächtnis und Intelligenz(▶Abb. 8.5). Sie sind
Gegenstand des lebenslangen Inte-resses von Jean Piaget. Am
psychologischen Institut inGenf betrieb er seine wissenschaftlichen
Forschungenund sammelte und veröffentlichte die Ergebnisse
zahlrei-cher Studien.
Er kommt zu dem Schluss, dass Kinder anders denkenals
Erwachsene, und dass sich ihr Denken in verschiede-nen, voneinander
unterscheidbaren Phasen entwickelt.
8.6.1 Phasen der kognitivenEntwicklungNach Jean Piaget lässt
sich die kognitive Entwicklung in 4Phasen einteilen. Eine Phase
baut auf der anderen auf. DieEntwicklung läuft also immer in der
gleichen Reihenfolgeab. Die Übergänge können fließend sein, d. h.,
es werdennoch die alten kognitiven Strukturen (z. B. Greifen mit
derganzen Hand) verwendet, während die neuen (z. B.
derZweifingergriff) schon ausprobiert werden, bis sie so si-cher
funktionieren, dass die alten abgelegt werden. DieAltersangaben
können von Kind zu Kind variieren.
Sensomotorische Phase (ca. 0–2 Jahre)In dieser Phase geht es um
Sinneswahrnehmung und Be-wegung. Von Geburt an stehen dem Menschen
Möglich-keiten zur Verfügung, der ihn umgebenden Welt zu
be-gegnen:● Sinnesfunktionen wie Sehen, Hören, Fühlen,● Motorik in
Form von Reflexen wie Suchen, Saugen,Schlucken.
Abb. 8.5 Alle Funktionen, die das Erkennen und Erfassender Welt
ermöglichen, sind kognitive Funktionen.
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aus: Ekert u.a., Psychologie für Pflegeberufe (ISBN
9783131389633) © 2014 Georg Thieme Verlag KG
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Durch eigenes Verhalten werden mit der Zeit gezielt an-genehme
Erlebnisse herbeigeführt: Das Baby kann diebunte über sein Bettchen
gespannte Kugelkette anschau-en (Sinneswahrnehmung). Durch ein
zunächst zufälligesHändeklatschen auf die Bettdecke, gerät die
Holzkette mitGlöckchen in Bewegung und gibt Töne von sich. Das
Kindführt nach einigen Wiederholungen der Bewegungen dasVergnügen
daran selbst aktiv herbei. Schon in dem sehrfrühen Alter bemerkt
das Kind seine eigene Wirkung aufdie Umwelt. Durch eigenes
Verhalten kann es Reaktionenvon Gegenständen oder Menschen
erreichen.
Während der ersten Lebensmonate erlebt das Baby ei-nen
versteckten Gegenstand als verschwunden. Zu seinenKenntnissen über
die Welt gehört etwa ab dem 6. Lebens-monat, dass auch noch
existiert, was im Moment nichtsichtbar ist. Piaget nennt diese neue
Erkenntnis Objekt-permanenz.
●IFallbeispielObjektpermanenz In einem unbeobachteten Momenthat
der 7 Monate alte Benjamin aus der Kitteltasche desArztes einen
Kugelschreiber genommen und will ihn inden Mund stecken. Es gelingt
dem Arzt, den Kugel-schreiber an sich zu nehmen. In der Absicht,
dass sichder Vorgang nicht wiederholt, lässt er ihn in einer
Schub-lade verschwinden. Wäre Benjamin 4 oder 5 Monate alt,wäre die
Angelegenheit nach dem Motto „aus den Au-gen, aus dem Sinn“
erledigt. Der kleine Junge aber be-ginnt sofort, aktiv den
Kugelschreiber zu suchen.
Das 7 Monate alte Kind hat i. d. R. eine Vorstellung voneinem
vorher sichtbaren Gegenstand, auch dann noch,wenn dieser im Moment
nicht mehr sichtbar ist. Hierkommt die kognitive Funktion des
Gedächtnisses zumTragen.
Präoperationale Phase (ca. 2–7 Jahre)In dieser Zeit steht dem
Kind als neue kognitive Funktiondie Sprache zur Verfügung.
Unabhängig von den realenGegenständen und Handlungen entwickelt es
Vorstellun-gen von den Dingen. Jetzt stehen Wörter für die
konkre-ten Dinge und Handlungen. Wörter symbolisieren dierealen
Dinge (symbolisches Denken).
Wenn das Kind in der sensomotorischen Phase einenGegenstand
haben wollte, musste es danach greifen; jetztkann es ihn mit Worten
fordern: „Gib mir den Teddy!“
Ohne einen Hund vor Augen zu haben, kann man mitihm über einen
Hund reden, weil es eine Vorstellung voneinem Hund entwickelt
hat.
In diesem Entwicklungsstadium sieht das Kind dieWelt nur aus
seiner eigenen Perspektive. In seinem Welt-bild hat die Sichtweise
anderer Menschen auf die gleicheGegebenheit noch keinen Platz.
Diesen sog. Egozentris-mus des Kindes veranschaulichte Piaget in
seinem „Drei-Berge-Versuch“ (▶Abb. 8.6): Vor einem Modell mit
dreinach Höhe und Form unterschiedlich gestalteten Bergensitzt ein
Kind in Position 1. Es beschreibt seine Sicht der
Bergelandschaft. Werden Kinder im Alter der präopera-tionalen
Phase aufgefordert zu beschreiben, was eine Per-son aus den
Positionen 2 oder 3 sieht, geben sie ihre eige-ne Darstellung
wieder. Sie sind noch nicht in der Lage,sich eine Situation aus der
Perspektive einer anderen Per-son vorzustellen.
▶ Animismus. (lat.: anima = Seele). Zu den Vorstellungenvon der
Welt gehört, dass alles, was sich bewegt, als le-bendig erachtet
wird und auch die Eigenschaften von Le-bewesen hat. Es kann
wachsen, böse oder lieb sein. DasBlatt im Wind versucht, vor dem
Kind davonzulaufen.Sonnenstrahlen wollen mit ihm spielen. Ein
kleiner Steinist noch nicht so gewachsen wie ein großer. In dem
hierbesprochenen Alter hält das Kind die Welt für „beseelt“,also
lebendig. Es wird später bemerken, dass diese An-nahme nicht den
Tatsachen entspricht, seine kognitiveStruktur erweitern und
zwischen lebendig und leblos un-terscheiden können.
Das Denken ist in diesem Alter stark an die Anschau-ung
gebunden, wie folgender Versuch, den jeder leichtmit Kindern dieser
Altersgruppe durchführen kann, deut-lich macht:
Wird vor den Augen des Kindes Wasser von einem Glasin ein gleich
großes und gleich geformtes Glas gefüllt, er-kennt das Kind, dass
es sich um die gleiche Flüssigkeits-menge handelt. Auch wenn es
beobachten kann, dass diegleiche Wassermenge in ein schmäleres
hohes Glas ge-schüttet wird, urteilt es nach dem anschaulich
gegebenenWasserspiegel: „In diesem Glas ist mehr drin (▶Abb.
8.7).“
●HMerkeSinnesfunktionen und Motorik bestimmten im
Säug-lingsalter die Interaktionen mit der erfahrbaren Welt.Die 2-
bis 7-Jährigen verfügen über neue Denkstruktu-ren: Symbolisches und
anschauliches Denken sind Merk-male der präoperationalen Phase.
Position 1
Position 2Position 3
Abb. 8.6 Piagets 3-Berge-Versuch (nach Oerter u.
Montada2002).
8.6 Kognitive Entwicklung nach Jean Piaget
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Phase der konkreten Operationen7–11 JahreWissen und Erkenntnis
über die Welt erfahren etwa mitBeginn des Schulalters einen
deutlichen Fortschritt. Dasbisher an die Anschauung gebundene
Denken kann nunmehrere Merkmale der Umgebung einbeziehen.
BeimUmfüllen der Flüssigkeit (s. o.) von einem Gefäß in ein Ge-fäß
mit einer anderen Form, bezieht das Kind nun auchdie Breite und
Höhe des zweiten Gefäßes ein; es kann sichauch gedanklich
vorstellen, die Flüssigkeit in das ersteGefäß zurückzugeben und
urteilt: „Es ist die gleiche Men-ge, egal in welchem Gefäß.“ Zu
solchen Denkoperationenbraucht es zwar die konkrete Situation, aber
hat sich inseiner Einschätzung des Vorgangs von der reinen
An-schauung (Höhe des Wasserspiegels) gelöst. Der „Denk-fehler“ der
präoperationalen Phase ist durch die richtigeSchlussfolgerung
überwunden.
Die kognitive Struktur erweitert sich enorm durch dieEntwicklung
der Sprache, des Gedächtnisses und der Vor-stellungsfähigkeit. So
können nun auch Objekte, Situatio-nen und Probleme aus dem
Blickwinkel einer anderenPerson gesehen werden (s. o.
3-Berge-Versuch).
Auch die Zeitperspektive gewinnt an Umfang. Vorherwar die
Wahrnehmung der Gegenwart beherrschend,jetzt weitet sie sich in
Richtung Vergangenheit und Zu-kunft.
Die kognitive Struktur ist jetzt in der Lage, eine
gewisseOrdnung in die Vielfalt der Welt zu bringen, indem Dingein
Gruppierungen zusammengefasst und Oberbegriffe ge-bildet werden.
Das Kind beherrscht die Fähigkeit, nachverschiedenen Kriterien
Ähnliches in Klassen zusammen-zufassen.
●IFallbeispielGruppierungen Auf die Frage: „Was ist ein Pferd?“
sagtdas jüngere Kind im präoperationalen Stadium: „DerMax ist ein
Pferd; er gehört meinem Opa.“ Ein Kind imAlter zwischen 7 und 12
Jahren erwidert mit einemOberbegriff: „Ein Pferd ist ein Tier.“
Kinder können nun auch gedanklich mit der Hierarchievon Klassen
umgehen. Ein Pferd gehört zu der höherenKlasse „Lebewesen“,
„Säugetier“ und es gibt Untergrup-pen wie Reitpferd, Arbeitspferd,
Stute, Hengst, Fohlen.
Dr. Sauter ist ein Arzt, aber es gibt verschiedene Unter-gruppen
von Ärzten, z. B. Augenarzt, Zahnarzt, Hausarzt.
Logische Denkoperationen werden durchgeführt, z. B.:„Alle Pferde
sind Säugetiere, sie ernähren sich vegeta-risch. Max ist ein Pferd,
also ist Max ein Säugetier.“
Phase der formalen Operationen(ab ca. 12 Jahren)Mit Beginn des
Jugendalters wird die kognitive Strukturnoch komplexer. Das Denken
löst sich von Anschauungund konkreter Situation. Es abstrahiert
sich von dem, wasunmittelbar vor Augen ist und ist immer besser in
der La-ge, einzelne Informationen miteinander zu kombinierenund
Schlussfolgerungen zu ziehen. Das logische, abstrakteDenken gewinnt
an Beweglichkeit. Dies zeigt sich z. B. ander zunehmenden
Fähigkeit, Probleme „im Kopf“, alsonur durch Nachdenken von
verschiedenen Seiten zu be-trachten, Annahmen aufzustellen und
wieder zu verwer-fen, Vorausgegangenes einzubeziehen und
Zukünftigesvorauszusagen. In Gedanken kann eine kommende
Ent-wicklung vorweggenommen werden. Es gelingt jetzt im-mer besser,
eine Handlung nicht erst selbst durchzufüh-ren, sondern ihr
Ergebnis zu antizipieren.
●IFallbeispielLogisches, abstraktes Denken Jutta ist 17 Jahre
alt undleidet seit 3 Jahren an Diabetes mellitus. Sie weiß
genau:„Wenn ich heute Nachmittag Kuchen esse, muss ich
dieInsulinmenge anpassen, sonst wird es mir schlecht ge-hen.“ Jutta
muss dies nicht selbst ausprobieren, sie kanndie Folgen gedanklich
vorwegnehmen.
Es ist jetzt auch möglich, eine Sache von einem
fremdenStandpunkt aus zu beurteilen und die Sicht einer
anderenPerson einzunehmen. Die egozentrische Weltsicht
verliertsich. Auch die eigene Meinung kann überdacht
werden.Jugendliche können über sich selbst, ihre eigenen
Einstel-lungen und Handlungen nachdenken
Mit seiner Forschung hat Jean Piaget viele Erkenntnisseüber die
Art, wie Kinder und Jugendliche denken, gewon-nen. Er hat Licht in
die sog. „Denkfehler“ von Kindern ge-bracht und dabei ihre
Vorstellungen von der Welt ken-nengelernt. Die Ergebnisse seiner
Studien helfen allen, dieKinder verstehen wollen. Pflegende können
besser mitKindern umgehen und ihnen verständlicher etwas erklä-ren,
wenn sie die kognitiven Strukturen der Kinder ken-nen.
A B B‘
?
Abb. 8.7 Bei der Beurteilung von Mengen lassen sich dieKinder
von dem Merkmal leiten, was anschaulich unddeutlich sichtbar
ist.
Grundlagen der Entwicklungspsychologie
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8 Grundlagen der EntwicklungspsychologieGegenstand und Aufgaben
der EntwicklungspsychologieDie Entwicklungspsychologie der
Lebensspanne nach P.
BaltesEntwicklungsaufgabenEntwicklungsverläufeSpracheWahrnehmungMotorikGefühle
EntwicklungsfaktorenGenetische Anlagen
UmweltfaktorenEigenaktivitätZusammenwirken von genetischer Anlage,
Umweltfaktoren und Eigenaktivität
Kognitive Entwicklung nach Jean PiagetPhasen der kognitiven
Entwicklung
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