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Chico Mello Teil III (Ausschnitt) der Dissertation Mimesis und
musikalische Konstruktion (2008) Parte III (extrato) da tese de
doutorado Mimesis e construção musical Part III (excerpt) of the
dissertation Mimesis and music construction Parte III (extracto) de
la tesis de doctorado Mímesis y construcción musical Teil III:
Mimesis und kulturelle bzw. künstlerische Identität 6.
Kompositorische und kulturelle Identität
Die Entwicklung kompositorischer Identitäten hängt, wie bereits
angedeutet, na-turgemäß eng mit kultureller Identität zusammen.1
Wie bei der Entwicklung ei-ner eigenständigen persönlichen
Identität, spielt hier die Auseinandersetzung mit Vorbildern eine
wichtige Rolle. Während bei der persönlichen Entwicklung eine
mimetische Auseinandersetzung zwischen Generationen im Spiel ist,
ist bei der kulturellen Identität eine historische und
geopolitische Auseinandersetzung zwi-schen Weltregionen, Nationen
und Ethnien im Spiel. Die oben beschriebenen mimetischen Prozesse,
welche bei der künstlerischen Identitätsfindung eine Rol-le
spielen, können nur innerhalb eines kulturellen Rahmens
stattfinden, sie wer-den von der Kultur bestimmt. Offenkundig ist
die Suche eines/er Komponi-sten/in nach einer profilierten,
„authentischen“ Identität eine Charakteristik der westlichen
Kultur. Diese Suche ist in westlichen Subkulturen – wie
Popularmu-sik, Jazz, improvisierte Musik – allerdings weniger
individuell als in der klassi-schen „ernsten“ Musik, sondern findet
eher kollektiv statt, da die Identität der Gruppe eine wichtige
Rolle spielt. In anderen Kulturen, in welchen es die
Unter-scheidung Komponist-Improvisator-Musiker gar nicht gibt,
findet die Suche nach dem Persönlichen immer innerhalb eines
kollektiven Systems statt, und nicht in der Entwicklung einer
ausschließlich persönlichen Musiksprache.2 1 Vgl. Abschn. 3.2
dieses Teils. 2 Diesbezüglich schreibt der in Indien geborene und
seit seiner Kindheit in Europa lebende Komponisten Sandeep
Bhagwati: „Es gibt derzeit einige wichtige indische Musiker, die
das theoretische und klangliche Spektrum der indischen Musik
erweitern möchten. [...] Sie suchen entweder eine Musik jenseits
der raags, greifen die raueren Klang-Ideale der Volksmusik auf,
oder suchen nach einem indischen Weg zur Mehrstimmigkeit etc.
Manche haben auch den Dialog mit der westlichen Neuen Musik
aufgenommen – diese erscheint ihnen offener als die historische
Klassik. Allen ist aber gemeinsam, dass sie dabei nicht an eine
persönliche Musik-sprache denken: Stets öffnen sie Wege, die so
angelegt sind, dass andere auf ihnen weiter wandern können als sie
selbst.“ (Sandeep Bhagwati, „Neue Musik in Indien?“ in: Christine
Fischer (Hg.), Grenzenlos. ISCM World New Music Festival 2006,
Stuttgart 2006, S. 49.)
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Demnach werde ich mich im Folgenden auf die kulturellen
mimetischen Prozes-se, die bei der kompositorischen
Identitätsfindung eine Rolle spielen, konzen-trieren. Um diese
Prozesse deutlicher zu skizzieren, werde ich die Situation
la-teinamerikanischer Komponisten erörtern, zumal ich ebenfalls in
dieser Kultur aufgewachsen bin und in der Entwicklung meiner
kompositorischen Identität entscheidend von ihr geprägt wurde.3
6.1. Kolonisierungsprozess
Die Macht musikalischer europäischer Standards korreliert nicht
zufällig mit der ökonomischen Macht. Die sogenannte ernste Musik
war immer die Musik der europäischen herrschenden Klasse und ging
Hand in Hand mit dem technologi-schen Fortschritt in Europa. In
Lateinamerika war sie von Anbeginn die Musik der Herrscher und
wurde, zusammen mit ihrem christlichen Glauben, in der Form
geistlicher Musik als Unterdrückungsmittel zwecks kultureller
Expansion angewendet – dies besonders effizient in der jesuitischen
Katechese. Doch die herrschende Klasse war in Amerika insgesamt
zahlenmäßig nicht groß genug, daher blieb diese Musik eher
peripher.4 Die Musik der im Laufe der Jahrhunderte aus Europa nach
Südamerika ausge-wanderten unteren Klassen war aber die
Popularmusik. Wie im Kontext der Analyse des Samba-Stücks Luz Negra
von Nelson Cavaquinho im Teil II bereits erwähnt 5, fand ein
mimetischer Prozess in Form von Akkulturation eher zwi-schen den
autochtonen musikalischen Kulturen, der zwangsemigrierten
afrikani-schen Musik und der Musik der europäischen Unterschicht
statt. Die ersten In-dizien einer musikalischen kulturellen
Identität – eine Mestizen-Musik – finden sich in diesem Kontakt.
Die Mestizen-Musik ist auch durch Machtverhältnisse gekennzeichnet,
da die Dominanz der europäischen – wenn auch populären – Musik
ebenfalls als Kolonisationsstrategie diente. Als
Überlebensstrategie ent-
3 In der unten ausgeführten Deutung folge ich einigen Ideen des
uruguayschen Komponisten Coriún Aharonián, dessen Werk ich später
erörtern werde. 4 „[I]m Prinzip gelangen längere Zeit keine
Mitglieder der herrschenden Klasse in die Ameri-kas, solche Leute
befinden sich sehr selten in den Zentren Amerikas, und lokale
Musiker – oft Mestizen – lernen den Umgang mit Interpretations- und
Kompositionsaufgaben fast nur im religiösen Bereich. Kurz, es gibt
kein Einwanderungspublikum für ernste Musik und auch kein
einheimisches. Mestizen wird sie nicht beigebracht. Eingeborene
Indianer können abso-lut nichts mit ihr anfangen und
‚eingewanderte’ Afrikaner auch nicht. Und kein importierter
menschlicher Funktionär-Apparat würde ausreichen, um eine reguläre
Produktion und Kon-sumption von ernster Musik zu gewährleisten.“
(Coriún Aharonián, „Sehr wahrscheinlich werde ich aber allein
bleiben. Musik, Revolution und Abhängigkeit in Lateinamerika“, in:
MusikTexte, Bd. 43, Köln 1992, S. 51.) 5 Vgl. Teil II, Abschnitte
1.3.3.1 und 1.3.3.2.
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wickelten die unterdrückten Kulturen Täuschungsmanöver und
andere mimeti-sche Verhaltensweisen. Da die Herrschenden die Musik
und religiöse Rituale zum großen Teil verboten, waren die
zwangsemigrierten Afrikaner gezwungen, das kulturelle Gut der
herrschenden Europäer zu benutzen, dies jedoch in einer Weise, dass
sie ihre Identität – ihre religiöse und musikalische Tradition –
nicht völlig aufgeben mussten. Bekanntlich entstanden durch
mimetische Verschmel-zung sowie auch durch Täuschungsmanöver
synchretische Religionen (z.B. bra-silianischer Candomblé und die
kubanische Santeria) sowie die unzähligen Stile
lateinamerikanischer Popularmusik. Ein besonderes Beispiel dieser
scheinbaren kulturellen Anpassung ist die Strategie der
Cuna-Indianer aus Panamá und dem Grenzgebiet zu Kolumbien. Sie
erhalten ihre Identität gerade durch Assimilie-rung: „Der
Ethnolinguist Joel Sherzer hebt [...] hervor, dass trotz aller
Verände-rungen wie der Arbeit der Männer in der Kanalzone (und
vorher auf den Schif-fen der Weißen), des Gebrauchs neuer
Technologien wie des Kassettenrecor-ders, des Erlernens fremder
Sprachen usw., solche Veränderungen in das Leben integriert werden,
analog zu den ‚Designs’ auf den Blusen, die Cunafrauen in
traditioneller Weise sticken und in die sie Mäusefallen,
Mondlandefähren und Baseballspiele einarbeiten – die berühmnten
molas, das internationale Zeichen der Cuna-Identität.“6 Nach
Taussig konnten die Cunas dankt dieser Politik von Mimesis und
Alterität in vierhundert Jahren westeuropäischer und
US-amerikanischer Kolonialismus überleben. In ihrer peripheren
Position konnten sie aus den Konflikten der verschiedenen
Machtgruppierungen untereinander immer einen Vorteil für sich
ziehen. Solche mimetische Verschiebung ist auch in der allmählich
veränderten Spiel-weise der aus der europäischen Kultur stammenden
Musikinstrumente zu beo-bachten: Die im Körper aufbewahrten
Eigenschaften der unterdruckten Kultur verändern die Kopie – das
nachgeahmte Spiel. Von dieser Aneignung seitens der Kolonisierten
gibt es zahlreiche Beispiele auf dem ganzen amerikanischen
Kontinent, wie etwa das Gitarren-, Bandoneon-, Saxophonspiel sowie
das Spiel sämtlicher Schlaginstrumente.7 Um die Rolle als
Komponist/in „ernster“ Musik auszufüllen, muss man die eu-ropäische
Tradition erlernen. In diesem Lernprozess werden Machtverhältnisse
mimetisch internalisiert. Dies betrifft neben der historischen
hohen Position des Komponisten auch die westliche musikalische
Tradition, sowie ihr Fortschritt –
6 M. Taussig, Mimesis und Alterität, Hamburg 1997, S. 137. Vgl.
auch ebd., S. 141-144. 7 Vgl. C. Aharonián, Tradición y futuro, y
la ética del componer, in: http://www.latinoame-rica-musica.net
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je fortschrittlicher desto wertvoller und somit mächtiger.8 Das
Lernen dieser Tradition zudem meistens in einem institutionellen
Rahmen, dessen Hierarchien verinnerlicht werden.9 Diese
Institutionen – Hochschulen, Universitäten – fol-gen, dem
Kolonisierungsprozess entsprechend, europäischen Modellen, wie alle
Institutionen in Lateinamerika allgemein. Diese Modelle werden
adaptiert und transformiert. Doch oftmals verändern sich
institutionelle Strukturen in Latein-amerika langsamer als jene in
den Machtzentren, während die ökonomische Technologie und die damit
verbundene Kulturindustrie eher „up to date“ ist. Dies spielt bei
der Verbreitung von Information und bei der Verinnerlichung von
Modellen mit ihren Konsequenzen für die Pädagogik eine wichtige
Rolle. Wenn der Zugang zu Information nur von rückständigen, aber
meinungsbilden-den Musikpädagogen bzw. Kompositionslehrern
gesteuert wird, wird einerseits eine veraltete europäische
Tradition konserviert, andererseits kommt es zur Di-stanzierung von
den bestehenden musikalischen Kulturen und der klanglichen
Umgebung, wie etwa der reichlich vorhandenen Popularmusik, die als
minder-wertig und ästhetisch irrelevant angesehen wird. Ein
Beispiel dafür ist die Weiterverbreitung der Verbindung von
Neoklassizis-mus und folkloristischen Elementen. Diese Art der
kulturellen Aneignung ist ein Überrest der Strategie der
Konstitution und künstlichen Konstruktion kultureller Identität der
europäischen modernen Staaten – und auch der neuen Staaten der so
genannten Dritten Welt – und überträgt musikalisch asymmetrische
Macht-verhältnisse: Die Musik der „kleinen Anderen“ wird in einen
großen, gehobenen Diskurs gelehrter Musik „integriert“, das heißt
aber nichts anders als: Sie wird
8 Man erinnert sich, dass mimetische Prozesse beim Lernen
größtenteils eher unbewusst ver-laufen, wie bereits oben im Kontext
der Ich-Bildung erörtert wurde. Psychologische Phäno-mene wie
Identifizierung und Verwandlung, welche dem eigenen Begehren als
„Begehren des Anderen“ unterworfen sind, sind immer im Gang. Diese,
wie auch der Ansteckungsprozess, lassen sich nur teilweise steuern.
Gebauer und Wulf schreiben über soziale Mimesis – das zwischen den
Menschen immer wechselseitige Mimetische – und ihre
Unkontrollierbarkeit folgendes: „Soziale Mimesis steht für die
Verbindung von Ästhetik und Handeln; sie löst sich nicht vom
Materiellen, vom Sinnlichen, von Begehren und Wünschen ab; sie
verbindet sich mit Machtgeschichtspunkten und ist von Spuren der
Geschichtlichkeit markiert. Vor allem sind Prozesse sozialer
Mimesis kaum zu kontrollieren.“ (G. Gebauer/Ch. Wulf, Mimetische
Weltzugänge (wie Anm. 186), S. 114) 9 „Mimetische Prozesse
vollziehen sich in sozialen Institutionen wie Familie, Schule und
Be-trieb, deren jeweilige Strukturen die Möglichkeit und Grenzen
der mimetischen Prozesse bestimmen. [...] In den jeweiligen
institutionellen Strukturen kommen Machtkonstellationen zum
Ausdruck, die in Prozessen sozialer Mimesis weitervermittelt
werden. Mit Hilfe symbo-lischer Kodierungen werden die sozialen
Normen und Werte der Institutionen festgelegt und bewusst oder
unbewusst weitervermittelt.“ (Ebd., S. 113.)
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von ihm verschlungen.10 In dieser
folkloristisch-neoklassizistischen Musik bleibt die europäische
Vergangenheit maßgebend, ihre Identität als „hohe“ musikali-sche
Instanz wird nicht in Frage gestellt. Sie dient, wegen der
Verbindung von romantischem Gestus mit klischeehaftem Kolorit, als
Projektionsfläche für die Mitglieder der herrschenden europäischen
Kultur. Diese europäisch geprägte herrschende Kultur, welche sich
in Lateinamerika als Idealisierungsinstanz kon-stituiert, nennt der
kubanische Komponist Leo Brower die „Kultur der Unter-drückung“.
Gerard Béhague erkennt darin folgenden Züge: der einfache und
vermarktete Exotismus sogenannter nationalistischer Musik, die
strikte Nach-ahmung der internationalen Musikstile à la Mode und
einzelne Elemente oder musikalische Formeln internationaler
kommerzieller Musik, welche als Vehikel der Konsumgesellschaft
fungiert. 11 Durch die rasche Verbreitung der neuen Medien
verschieben sich solche Identi-fikationsmechanismen zunehmend zur
Pop-Musik hin, so dass Praxis und Re-zeption traditioneller
klassischer Musik allmählich von der westlichen Kulturin-dustrie
verdrängt bzw. von deren Vermarktungsstrategien vereinnahmt wird.
Zwar ist dieses mediale Phänomen auch in der sogenannten Ersten
Welt zuneh-mend zu beobachten, doch in Lateinamerika ist es noch
extremer. Hier ist jedoch zu betonen, dass die musikalischen
Kulturen Lateinamerikas nach wie vor vielfältig sind. Strategien,
sie durch den erwähnten verzögerten neuklassizistischen
Folklorismus im Bereich der Kunstmusik oder durch Pro-duktionen
sogenannter Welt-Musik im Bereich der Popularmusik zu
homogeni-sieren, belegen unsymmetrische Machtverhältnisse und
beruhen auf der zäh-menden organisierten Mimesis im Sinne Adornos.
Dies erfolgt einerseits durch die Vorbildfunktion rückständiger
Gelehrter und andererseits durch die Macht aktueller
wirtschaftlicher Interessen.
10 Bei der Entwicklung nationaler Identitäten bzw. nationaler
Staaten wird das kulturelle Erbe von Minderheiten, je nach
Interesse der Mächtigen, einfach übernommen und zu einer ganzen
Nation verallgemeinert. Solche Verallgemeinerungen entwickeln sich
oft zu Identitätskli-schees. Die Strategie aller kolonisierenden
Metropolen zielte immer auf die Homogenisierung der eroberten
Kulturen: Je geringer die Verschiedenheit, d.h. je größer die
„Einheit“, desto leichter wird die Beherrschbarkeit. Jedoch – wie
im Falle der Cuna-Indianer – bestimmen die Machtverhältnisse
zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten , durch Mimesis und
Alterität, die Aufbewahrung, Verwandlungen und Preisgabe von
Identitäten: „Begriffe wie Tradition, Transformation und Anpassung
(ohne Aufgabe der eigenen Kultur) [...] sind [...] nur Glossen zu
einer grundlegenderen Behandlung der Identität, die man nicht als
Ding-an-sich betrachten sollte, sondern als ein Beziehungsgeflecht
aus Mimesis und Alterität innerhalb kolonialer
Re-präsentationsfelder.“ (M. Taussig, Mimesis und Alterität,
Hamburg 1997, S. 137) 11 Vgl. Gerard Behágue, „Fundamento
sócio-cultural da criação musical“, in: Art 019, Revista da Escola
de Música da Univ. Fed. da Bahia, 08/1992, S. 15-16.
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6.2. Globalisierung
Diese asymmetrische Machtverteilung erweitert sich noch durch
die Globalisie-rung: „[Eine] Expansion der westlichen Lebensform,
die außereuropäische Kul-turen verdrängt, eine Entwicklung, die in
Zusammenhang steht mit einer zu-nehmenden Vernetzung der
Wirtschaft.“12 Solche wirtschaftliche Homogenisie-rung durch
Vermarktung einerseits und kulturelle Heterogenität andererseits
führt zu einer Pluralität der Moderne, d.h. zu unterschiedlichen
Wegen, auf de-nen sich die westliche Moderne durchsetzt. Diese
vielen Modernen strahlen von den urbanen Zentren aus, welche als
Schnittstelle von modernen und traditionel-len Lebensformen
fungieren.13 Wenn man den Gedanken von Taussig folgt, veranlasst
diese Vielheit post-kolonialer Zeiten eine Steigerung des
mimetischen Vermögens. Dementspre-chend beleuchtet er zwei Aspekte
der Mimesisauffassung Adornos: einerseits die Organisation der
Mimesis, die als Instrument der Unterdrückung im
„Zivili-sations“-Projekt der Aufklärung diente, und andererseits
die Fähigkeit des mi-metischen Vermögens, durch die Zusammenführung
von Sinnlichkeit und Ko-pie, „sich ins Konkrete versenken zu
können, [...] [was notwendig] ist [...] um endgültig mit den
Fetischen und Mythen der nur über Waren vermittelten Frei-heit zu
brechen.“14 Taussig nennt diese Möglichkeit „mimetischen Exzess“.
Dieser wird nach ihm gerade durch den post-kolonialen
„‚Zweitkontakt’ [verursacht], der zu einer ganz anderen Grenze
zwischen dem Westen und dem Rest, zwischen der Zivili-sation und
ihren Anderen führt.“15 Dies erzeugt einen merkwürdigen Kontakt
zwischen dem Westen und seiner durch Kolonisierung im Anderen
eingeschrie- 12 Ralf Alexander Kohler, „Globalisierung und Freiheit
der Künste“, in: C. Fischer (Hg.), Grenzenlos (wie Anm. 190), S.
51. 13 Vgl. ebd. Rolf Eberfeld bemerkt, dass die Bereiche der
europäischen Moderne – Staatssy-stem, Wirtschaftsystem,
Kunstsystem, Religionssystem, Rechtssystem, Technik – von
nicht-europäischen Ländern relativ unabhängig voneinander
übernommen werden, so dass „[a]lte Traditionen und neu übernommene
Bereiche [...] oft gleichzeitig und ohne direkten Zusam-menhang
[existieren].“ (Vgl. R. Eberfeld, „Multimodernität“, in Positionen
63, Berlin 2005, S. 4). Eberfeld bezeichnet diese Situation als
eine Multimodernität: „Mit dieser Bezeichnung ist nicht nur der
Versuch verbunden, die gegenwärtigen Prozesse der Globalisierung
neu zu verstehen, sondern auch die Absicht, die zentrale Schwäche
des Begriffs Postmoderne zu be-heben, nämlich letztlich nur von
Europa und den USA als einzigen Maßstäben der Moderne auszugehen.“
(Vgl. ebd., S. 2). Auch wenn dieser Begriff versucht, die vertikale
Richtung – von Norden nach Süden – der Verbreitung der Moderne zu
relativieren und somit auf den un-terschiedlichen Hybridismus der
Moderne aufmerksam zu machen, ist es meines Erachtens offenkundig,
dass zwei zentrale Bereiche der westlichen Kultur bei aller
Modernen vorausge-setzt sind, nämlich Technik und Wirtschaft, d.h.
Kapitalismus. 14 M. Taussig, Mimesis und Alterität, Hamburg 1997,
S. 253. 15 Ebd., S. 250.
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benen Eigenschaften: „[D]ementsprechend wendet sich heute
Mimesis, das na-türliche Vermögen, und Mimesis, das historische
Produkt, wie niemals zuvor gegeneinander.“16 Daraus entsteht ein
Verfließen des Begriffs „kultureller Iden-tität“, welcher zwischen
Essentialismus und Konstruktivismus hin und her geris-sen ist. Doch
ein solcher mimetischer Exzess ermöglicht nach Taussig eine gewisse
be-wusste Manipulation des Scheins, der die Grundlage der
symbolischen Wirk-lichkeit bildet.17 Somit liegt „die Entscheidung,
wie sehr wir mit unseren unter-schiedlichen Charakteren und
Lebensläufen heute von diesem mimetischen Ex-zess ergriffen werden,
[...] in hohem Maße in unserer Hand und nicht allein in der eines
Mediums oder der Medien.“ Man könnte sagen, dieser mimetische
Exzess eröffnet, wird er bewusst einge-setzt, andere innere
Repräsentationsräume, welche in der prozesshaften bzw.
patchworkartigen Konstruktion der eigenen kulturellen Identität
auch Wider-stand gegenüber den herrschenden kapitalistischen
Verführungs- bzw. Verbrei-tungsmechanismen leisten können. Wichtig
dabei ist eine Art Selbstethnologie, welche den Kontakt mit den
durch Konditionierung unterdrückten kulturellen Eigenschaften
ermöglicht. Dies erfordert auch eine distanzierte Beobachtung des
unaufhörlich sich erzeugenden mimetischen Begehrens, welches eng
mit inter-nalisierten Machtverhältnissen zwischen kulturellen
Schichten zusammenhängt. Solche reflexive Praxis ist dennoch
begrenzt: Das Bewusstwerden dieser mime-tischen Spirale ist nur
teilweise möglich, so dass ein solches ethisch begründetes Vorhaben
auch zu trügerischen Ergebnissen führen kann.
6.3. Mimesis an die kulturelle gesellschaftliche
Konstitution
Einem/einer lateinamerikanischen Komponisten/in sogenannter
Neuer Musik in Lateinamerika, der/die sensibel für die oben
beschriebenen Machtverhältnisse innerhalb der kolonialen
Repräsentationsmechanismen ist, ist der Umgang mit einem solchen
„mimetischen Exzess“ eher bekannt. So versteht beispielsweise
Coriún Aharonián das Komponieren in Lateinamerika als kulturellen
Wider-stand bzw. als Identitätskonstruktion. Im Bewusstsein solcher
oben beschriebe-nen mimetischen Mechanismen vertritt er die
Überzeugung, dass Widerstand Gegenmodelle verlangt, will man die
Richtung mimetischer Prozesse umkehren. Und dies setzt, von Seiten
des Komponisten, ein aktualisiertes Wissen über die
16 Ebd. 17 „Mit dem mimetischen Exzess kehrt man zu heiligen
Handlungen zurück, fügt sich in das Puzzle ein, das Mimesis zu
jeder Zeit und an jedem Ort Macht verliehen hat – nämlich die Macht
zu verdoppeln.“ (Ebd., S. 253.)
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Modelle der Machtzentren voraus,18 so dass die Neue Musik,
ursprünglich euro-päischer Herkunft, mimetisch eher die
lateinamerikanische Wirklichkeit wider-spiegeln soll. Somit soll,
als klangliche Repräsentation der Vielfalt musikali-scher Kulturen,
die Kunstmusik in Lateinamerika anders klingen als in Europa – sie
soll mestizisch sein: „Da die Lateinamerikaner Mestizen sind,
müsste auch die Musik Lateinamerikas mestizisch sein. Die
vielfältige, komplexe Kreuzung der Kulturen, die sich in
Lateinamerika vollzogen hat, ist die einzige Form, in der dieser
Kontinent kulturell überleben kann.“ 19 Weniger als ein neuer
Folklorismus plädiert dieses Konzept für eine Dezentrali-sation
musikalischer Hierarchien. Während der Folklorismus die
Vorherrschaft rückständiger europäischer Kunstmusik darstellt,
dienen hier die modernen eu-ropäischen Errungenschaften
(formal/tech-nologisch) dazu, Brücken zwischen den verschiedenen
musikalischen Kulturen zu schaffen. Die experimentelle europäische
Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts hat die Macht ihrer eigenen
Konventionen und ihre grammatikalischen zentralistischen Ansprüche
zunehmend in Frage gestellt. Man denke hier an das
deterritorialisie-rende Projekt moderner Kunst (Dadaismus,
Surrealismus, Abstrakter Expressio-nismus, Fluxus), welches das
postmoderne pluralistische politische Denken be-einflusst hat.20
Dieses reflexive Infragestellen der eigenen Regeln und
Hierarchi-en, welche immer wieder zu Experimenten mit neuen
Strukturen und Materiali-en führte, prägte bekanntlich die
Entwicklung der Musik des zwanzigsten Jahr-hunderts. Dieses
Reflexive steht in einem mimetischen Verhältnis zur Wirklich-keit:
Die in der Kunst symbolisch erzeugte Welt reagiert auf die soziale
Welt, sie zeigt dabei andere Wahrnehmungsarten und neue Zugänge zur
„wirklichen“ Welt auf und kann auch neue gesellschaftliche Modelle
hervorbringen. Man er-innere sich hier an die Formen der Mimesis
bei Paul Ricœur: Mimesis I (der Be-zug des Werkes auf die
gesellschaftliche Praxis), Mimesis II (die Herstellung des Werkes),
Mimesis III (Rekonstruktion bzw. Wiederbelebung der Werkes durch
den Rezipienten). Hier ist auch die Cagesche Verknüpfung
innermusikali-scher grammatikalischer Enthierarchisierung als
Modell einer anarchistischen
18 Nach ihm sind alle Revolutionen in diesem Punkt gescheitert.
(Vgl. C. Aharonián, ebd., S. 53.) „Wir haben eine doppelte Aufgabe:
Im Hinblick auf unsere koloniale Situation müssen wir die Modelle
der Metropolen kennen lernen und beherrschen, damit wir nicht der
geistigen Sünde der Naivität anheim fallen und mit der
erforderlichen Kraft Gegenmodelle entwickeln können. Erst wenn wir
‚à jour’ sind, können wir neue Konzepte ausarbeiten, durch die wir
unsere Umgebung sensibel wahrnehmen und in dem, was wir tun,
reflektieren.“ (Aharonián, C., zitiert in Monika Fürst-Heidtmann,
„Militancia cultural“, in: MusikTexte Bd. 43, Köln 1992, S. 41) 19
Ebd., S. 43. 20 Vgl. Anmerkung 161.
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Gesellschaft zu erwähnen: „Seine spätere Musik wollte Cage nicht
mehr als Selbstdarstellung verstanden haben, sondern als Medium zum
Verändern der Einstellung, mit der man der Welt begegnet. Die
Aufgabe der Kunst für das Le-ben wandelt sich von einer reinen
Kontemplation zu einer ‚Art Labor, in dem man das Leben
ausprobiert’.“21 Statt europäische Modelle nachzuahmen, verbinden
einige lateinamerikanischen Komponisten den experimentellen Ansatz
mit politischem Widerstandsgeist, da sie sich der engen Verbindung
zwischen sozialen Machtstrukturen und musikali-schen Strukturen
bewusst sind.22 Musik könnte als reflexive mimetische Instanz eine
symmetrischere soziokulturelle Machtverteilung begünstigen. Bei
einer solchen befreienden experimentellen Haltung ist das Erkennen
bzw. Anwenden struktureller Prinzipien anderer musikalischen
Kulturen wichtig, damit die dabei entstandene Musik nicht Gefahr
läuft, wieder hierarchisch der europäischen Mu-sik untergeordnet zu
sein. Dies hat dennoch paradoxe Züge, da die experimen-telle Musik
(die „befreiende“) aus einer eher links orientierten Subkultur der
un-terdrückenden europäischen Kultur stammt und ihre internen
Grenzen nicht im-mer deutlich sind. Deswegen kann sich ihre
strikte, unreflektierte Nachahmung wieder in Beherrschung
verkehren. Das Phänomen ist auch in der Kommerziali-sierung lokaler
Popularmusik zu beobachten, wenn diese sich der strukturellen
Eigenschaften der internationalen Musikindustrie unterordnet. Dies
wird durch die Klassifikation Krister Malms überschaubar. Auf das
transnationale musikali-sche Industriesystem bezogen, unterscheidet
er vier Stufen der Interaktion zwi-schen musikalischen Kulturen,
mit aufsteigender asymmetrischer Machtvertei-lung: 1) kultureller
Austausch – auf persönliche Basis durch informelle Kontak-te und
Zirkulieren der Musiker; 2) kulturelle Beherrschung –
Unterdrückung, mehr oder weniger organisiert, seitens einer Kultur
– z.B. die jesuitische Mis-sionierung durch Musik; 3) kultureller
Imperialismus – der Beherrschungspro-
21 Vgl. Teil II, Abschnitt 1.3.3.3. sowie Doris Kösterke, Kunst
als Zeitkritik und Lebensmo-dell, Regensburg 1996, S. 291) 22 Um
einige davon zu nennen: Cergio Prudencio (Bolivien), Oscar Bazán,
Eduardo Bertola (Argentinien), Joaquín Orellana (Guatemala),
William Ortiz (Puerto Rico), Jacqueline Nova (Kolumbien), Graciela
Paraskevaídis (Uruguay), Gilberto Mendes (Brasil). Dazu Wilhelm
Zobl: „Für mich war es interessant zu beobachten, dass viele
Komponisten aus dem Bereich der sogenannten ernsten Musik, die sich
mit dem Problem einer neuen Identität beschäftigen, mit der
endgültigen Überwindung kolonialer Abhängigkeiten, dies mit einem
wachen Interes-se an populären Musikformen, musikethnologischen
Fragestellungen und genauen Analysen von soziokulturellen Prozessen
im Weltmaßstab tun. Ebenso haben auch Musiker aus dem
Populärmusikbereich ein ungewöhnliches Interesse an diesen Fragen.
In manchen lateiname-rikanischen Ländern ist dadurch eine
grundsätzliche und folgenreiche Diskussion zwischen Musikern aus
unterschiedlichen Bereichen entstanden.“ (Wilhelm Zobl,
Komponierende Wirklichkeit - Wirklichkeit des Komponierens, in:
http://www.latinoamerica-musica.net)
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zess wird durch finanziellen Transfer bzw. Profit erhöht; 4)
Transkulturation – durch Kombination heterogener Elemente werden,
um einen möglichst großen Markt zu erreichen, musikalisch kleinste
gemeinsame Nenner entwickelt (z.B. Disco-Musik in den siebziger
Jahren).23 Die grundsätzliche Frage ist dann, wie kann eine
mestizische Musik entstehen, ohne dass eine Musik-Kultur – nämlich
die europäische – die anderen dominiert und kulturelle Ausbeutung
bzw. Aneignung entsteht. Zwei Faktoren verkompli-zieren die
Ausführung dieses Konzepts. Zum einem wird eine solche Musik von in
europäischer Musik ausgebildeten Komponisten/innen komponiert, zum
an-deren wird diese Musik in Lateinamerika oder Europa auf
Festivals Neuer Mu-sik gespielt, wo sie oftmals, wie die frühen
Nationalismen, weiter als „exotisch“ oder als „national“ rezipiert
bzw. abgestempelt werden kann. Der erste Faktor kann gemindert
werden, wenn der/die Komponist/in alle musikalischen Kultu-ren, die
er/sie anwendet, gut kennt bzw. lernt – besser noch wenn er/sie
diese Musiken in sich, in seinem/ihrem Mestize-Sein selbst erkennt.
Zu dem zweiten Faktor ist zu erwähnen, dass durch die wachsende
Mobilität zwischen den Spar-ten und zwischen den neuen
Künstler-Generationen wachsende Interdisziplinari-tät immer mehr
nicht-kommerzielle Aufführungsorte bzw. Aufführungsmög-lichkeiten
entstehen, in welchen die Unterschiede zwischen Hoch- und
Niedrigkultur, experimenteller und Popularmusik tendenziell
aufgehoben werden können. Als Zeichen des oben erwähnten
mimetischen Exzesses befähigen solche fließenden Grenzen die
Konstruktion künstlerischer Identitäten mit eher symmetrischer
kultureller Machtverteilung, auch wenn sie, wegen ihrer
wirtschaftlichen Vorteile, von der Entwicklung des globalen
Kapitalismus her-vorgerufen wurden. In der urbanen Popularmusik
Lateinamerikas findet sich so von Anbeginn eine ausgeglichene
Mischung, da die kulturellen Kräfte eher horizontal ausgehandelt
wurden. Erst durch das wirtschaftliche Interesse der Musikindustrie
ging diese Balance verloren. In der westlichen Kunstmusik ist eine
allmähliche Befreiung von den traditionellen westlichen
Konstruktionsprinzipien – Diskursivität, Kon-trast (Konflikt),
Kontrapunkt, thematische Arbeit – erst seit Satie und Debussy zu
erkennen, und dies dank ihres Interesses an nicht-europäischer
Musik. Später stellten Cage und Fluxus-Komponisten wie Nam June
Paik und La Monte Young alle Paradigmen der Kunstmusik in Frage –
und noch einmal war nicht-europäische Musik bzw. Philosophie und
Religion ein wichtiger Ausgangs-punkt. Es ist jedoch bemerkenswert,
dass die zuletzt genannten radikalsten De- 23 Vgl. Marta T. Ulhôa,
„Nova história, velhos sons: notas para ouvir e pensar a música
brasi-leira popular“, in: Debates n°1- Cadernos do programa de
pós-graduação em música, Rio de Janeiro 1997, S. 85.
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konstruktionen europäischer Musik vom amerikanischen Kontinent
ausgingen. Ungeachtet ihrer Anlehnung an den Orient, waren sie auch
Antworten auf eine Identitätsfrage eines kulturell hybriden
Kontinents.24 Die Verarbeitung bzw. Aneignung europäischer
experimenteller Kultur und ihre Verbindung mit lokalen
musikalischen Kulturen, um Gegenmodelle zu etablie-ren, erinnert an
die Strategie der brasilianischen Modernismus-Bewe-gung der
zwanziger Jahre: kultureller Kannibalismus als Metapher für einen
vielfältigen mimetischen Prozess.
„Als […] das Kannibalismus-Thema im Kreis Pariser Surrealisten
kursierte, war auch ein Paar aus Brasilien zugegen, das darin
schnell eine Möglichkeit erkannte, sich selbst eine
unverwechselbare Identität zu geben. Der modernistische Dichter
Oswald de Andrade und die Malerin Tarsila do Amaral propagierten
den angeblichen Kanni-balismus der brasilianischen Indianer […] nun
als Metapher für ihr persönliches Ziel: die Einverleibung der
Pariser Avantgarde, um zu einem eigenen, brasilianischen Weg in die
Moderne zu gelangen.“25
Diese fruchtbare mimetische Strategie erzielte mit ihrer eher
ironischen Distanz eine Nähe zu den unterdrückten Schichten des
brasilianischen kulturellen Ima-ginären, so dass gleichzeitig die
Kultur des Eroberers, des „Feindes“, in der Konstruktion
brasilianischer künstlerischer Identität als Stärkung dienen
könnte. Diese Metapher hat sich als langlebig er-wiesen – viele
brasilianische Künstler-Generationen nahmen auf sie Bezug. Eine
neue Aktualität gewinnt sie gerade in der heutigen internationalen
Diskussion über kulturelle Identität in Verbindung mit Mobilität
und somit auch in der Be-ziehung von Zentrum und Peripherie – ganz
im Sinne des von Taussig postulier-ten „Zweitkontakts“ zwischen dem
„Westen und dem Rest“. Zwei Positionen lassen sich in dieser
Diskussion unterscheiden. Die eine besagt, kulturelle Authentizität
sei wegen den allzu fließenden Identitäten nicht mehr möglich:
„[D]ie Kannibalismus-Metapher [ist] neben Recycling, Hybridisierung
und Translatio […] ein Schlüsselbegriff für den interkulturellen
Austausch.“26 Diese Termini haben gemeinsam, „dass sie Kategorien
wie Original und Kopie, Reinheit, Authentizität und Ursprung in
Frage stellen und demgegenüber das kreative Moment von Zitat,
Übersetzung und Nachahmung betonen.“27 Die 24 Vgl. oben, Abschn.
4.2.3 Exkurs: Cage, der Zufall, das Unbewusste und die Mimesis. 25
Michel Scholz-Hänsel, „Stereotypen als ‚Motoren’ im
interkulturellen Austausch? Vom Siegeszug des Kannibalismus und der
Notwendigkeit romantischer Bilder“, in: Eliana de Si-mone/Henry
Thorau (Hrsg.), Kulturelle Identität im Zeitalter der Mobilität:
zum portugie-sischsprachigen Theater der Gegenwart und zur Präsenz
zeitgenössischer brasilianischer und portugiesischer Kunst in
Deutschland, Frankfurt/M. 2000, S. 295-296. 26 Ebd., S. 296. 27
Ebd.
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12
„Verspeisung des Fremden“ diente hier somit nicht mehr der
Schöpfung bzw. Bewahrung kultureller Authentizitäten. Die andere
Position erkennt – und sie wird von den oben erwähnten
lateiname-rikanischen Komponisten geteilt –, dass trotz erhöhten
kulturellen Austauschs immer noch unvermeidliche Spuren von
Ursprüngen und somit von Authenti-schem zu finden sind. Dies hängt
eng mit dem Paradox des mimetischen Ver-mögens zusammen. Das
ständige Oszillieren von Mimesis und Alterität – der „mimetische
Exzess“ Taussigs – ist in der prozesshaften Identitätsbildung, in
al-lerdings nur geringem Ausmaß, lenkbar, was jedoch keine leichte
Aufgabe ist:
„Sie zieht dich einmal dahin und einmal dorthin: Mimesis trickst
ständig damit, zwi-schen dem Selben und dem ganz Anderen zu
tänzeln. Unmöglich, aber notwendig, in der Tat alltäglich, erfasst
Mimesis beides, Gleichheit wie Differenz, ähnlich und An-der(e) zu
sein. Beständigkeit aus dieser Instabilität zu schaffen ist keine
einfache Auf-gabe, doch darum geht es bei aller Identitätsbildung.
Das Problem bei dieser Tätigkeit, die an Kraft gewinnt, je länger
sie geübt wird, ist weniger, das Selbe zu bleiben, als Gleichheit
durch Alterität zu bewahren.“28
Taussig bezieht sich hier auf den paradoxen, aber effektiven
kulturellen Wider-stand der Cuna, deren „Geschichten“ er unter
verschiedenen mimetischen Per-spektiven erörterte. Ich zitiere ihn
hier weiter:
„Die vorliegende Geschichten der Cuna werfen ein merkwürdiges
Licht auf die Logik dieses Vorgangs. Weil sie völlig ‚sie selbst’
bleiben, absolut anders dem alten Europa gegenüber und – man achte
genau darauf – deren schwarzen Sklaven, sind die Cuna fähig, in
einer sich stark ändernden Welt‚ gleich zu bleiben’.“29
Um diese Gleichheit zu bewahren, ist die kannibalistische
kulturelle Vereinah-mung des Feindes – also der Alterität – eine
Strategie, welche doch Authentizi-tät stiften kann. Ebenso sind
innovative Arten, mit Authentizität umzugehen, trotz aller
Mobilität unserer Zeit, auch heute eher an einen bestimmten Ort
ge-bunden.30 Eine Selbst-Beobachtung im Sinne einer
Selbstethnologie würde mei-nes Erachtens eine solche Art sein.
28 M. Taussig, Mimesis und Alterität (wie Anm. 194), S.134. 29
Ebd. Taussig macht darauf aufmerksam, dass diese starke Identität
den Cuna politische Vorteile bringt. Er zitiert dabei eine
vergleichende Studie von Philippe Bourgeois: „Dass sie ihre
indianische Identität stärker [als die Guyami-Indianer, auf der
Plantagen in Panama] her-ausstellen und nicht im Gegenteil
zurückdrängten, half ihnen, der Diskriminierung zu entge-hen, die
sich gegen nordamerikanische Indianer richtet.“ (Zitiert in ebd.,
S. 266) 30 Hierzu Michael Scholz-Hänsels kritische Haltung
gegenüber einer Überschätzung der Mo-bilität: „Durs Grünbein
urteilte kürzlich über den Wunsch, ein europäisches Kino gegen den
US-amerikanischen Markt zu verteidigen: ‚Das Nationale aber, das
Heimische sind keine äs-thetischen Kategorien, allenfalls
Sehnsüchte, Triebkräfte zweifelhafter Natur. Kulturelle Iden-
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6.4. Coriún Aharonián
In diesem Zusammenhang ist die Musik des uruguayschen
Komponisten Coriún Aharonían, zu erwähnen. Als Sohn einer aus
Armenien eingewanderten Familie, die den Völkermord von 1915
überlebte, war er früh für die Frage der kulturel-len Identität
sensibilisiert:
„Zu manchen der musikalischen Werke Coriún Aharoniáns kann man
eine Geschichte erzählen. Sie handelt von Gewalt und Widerstand,
von Macht, Unterdrückung und an-fänglich zaghaften und
vereinzelten, dann aber verstärkten und immer mutiger und
beharrlicher werdenden Versuchen der Auflehnung. So zeigt zum
Beispiel die 1972 komponierte ‚Música para cinco’ – Musik für fünf
– des Uruguayers Signaturen des damals sein Land beherrschenden
‚inneren Kriegs’ zwischen Staatsgewalt und auf-ständischen Gruppen,
kündet aber gleichermaßen vom Kampf um das kulturelle (Über-)Leben
in bedrohten Zeiten und verweist damit direkt auf die Geschichte
ihres Urhebers.“31
Somit näherte sich der europäisch ausgebildete Komponist
mimetisch sowohl der Musik der längst ausgerotteten einheimischen
Bevölkerung Uruguays als auch der Popularmusik, die er als
Arrangeur und durch Kontakt mit Musikern gut kannte. Seine
Anlehnung an diese Musik-Kulturen ist eine ethische: Durch seine
Musik lässt er andere kulturelle Stimmen „sprechen“. Diese Stimmen
kennt er gut und hört sie teilweise in sich selbst und in seiner
unmittelbaren Umgebung. Sie wer-den in seiner Praxis umgesetzt, so
dass einige ihrer strukturellen Eigenschaften als Basis seiner
kompositorischen Konstruktionen dienen und nicht als bloßes Kolorit
fungieren. Man könnte sagen, seine experimentelle Musik hebt durch
eine aktive Mimesis an die Popularmusik den Vorrang des westlichen
Komposi-tionskanons auf und schafft dadurch eine gewisse
Gleichberechtigung zwischen den musikalischen Grammatiken. Das
Mimetische ist in dieser Musik mehr-schichtig:
tität ist die Neurose minderer Künstler.’ Nun, ich würde darauf
antworten, dass man die posi-tive Wirkung dieser Triebkräfte nicht
unterschätzen sollte. Auch scheinen mir wirklich inno-vative
Ansätze öfter in Auseinandersetzung mit einem bestimmten Ort und
dessen Tradition als auf permanenten Reisen entstanden zu sein. Bei
Ernst Bloch jedenfalls, einem noch zum Nomandentun Gezwungenen, war
die Vorstellung von Utopie nicht zu Unrecht mit einem starken
Heimatbegriff verbunden.“ (M. Scholz-Hänsel, „Stereotypen als
‚Motoren’ im inter-kulturellen Austausch? Vom Siegeszug des
Kannibalismus und der Notwendigkeit romanti-scher Bilder“, (wie
Anm. 213), S. 306.) 31 Monika Fürst-Heidtmann, „Militancia
cultural“ (wie Anm. 206), S. 39.
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(1) Die allgemeine Strukturierung der Musik und ihre Anlehnung
an das Sozia-le: Die unterschiedlichen Materialien fungieren wie
Akteure,32 welche sozialen bzw. kulturellen Akteuren metaphorisch
entsprechen, auch wenn dabei keine di-rekte Programmatik intendiert
ist. Anders als bei Cage, bei dem das Politische im Eliminieren
einer zentral kontrollierenden Instanz – unabhängig vom Materi-al
–, besteht, ist bei Aharonián die Erkennbarkeit der kulturellen
„Akteure“ und die Ausgewogenheit ihrer Positionen wichtig. (2) In
Aharoniáns Musik kommen klangliche Abbildungen in unterschiedlichen
Parametern vor. Die verwendeten formalen Strukturen und Figuren
erweisen sich als Verdoppelungen, Zeichen einer nicht mehr
anwesenden Musik. So fun-gieren rhythmische Figuren des Tangos
nicht als Tango selbst, sondern als iko-nische Zeichen, also als
Referenz zu einer anderen Musik. (3) Die Statik in Verbindung mit
Wiederholung, Stille und leiser Dynamik schafft eine Atmosphäre des
Mangels, der Nostalgie, fast wie eine Art stehende
„Klangfotografie“, trotz der eventuell kontrastierenden
Forte-Stellen: Die ur-sprüngliche Musik, das „Original“ ist nicht
mehr vorhanden. (4) Dieses „Photographische“ wird durch das
Alternieren von wenigen stati-schen Blöcken noch deutlicher, so
dass die „Geschichte“, d.h. die Regel des Spiels ziemlich früh
offen gelegt wird: Man weiß, worum es geht, aber nicht ge-nau, wie
es weiter geht. Die Blöcke, die eine sehr klare Kontur und Prägnanz
haben, fungieren wie scharf charakterisierte Akteure, die die
klangliche Bühne abwechselnd betreten und verlassen, so dass sie
sich nur ausnahmsweise begeg-nen. (5) Die Referenz auf die Musik
der Anderen beruht nicht auf wörtlichen Zitaten, sondern auf
„erfundenen“ Zitaten, so dass eine Art doppelte Mimesis entsteht.33
32 Der Begriff „Aktorialität“ für das Verhalten der musikalischen
Themen und Motive hat Ee-ro Tarasti in Anlehnung an die Semiotik
von A. J. Greimas formuliert. Damit ist gemeint, dass ein Thema
sich narrativ wie eine menschliche dramatische Figur (der Akteur)
verhält, mit ihren damit verbundenen Potenzialitäten: wollen,
müssen, können, wissen, also grund-sätzlichen Eigenschaften des
Seins und des Machens. (Vgl. E. Tarasti, A Theory of Musical
Semiotics, Bloomington 1994, S. 106.) 33 Dies hat er besonders in
Gente (1990) für Kammerensemble und Mestizo für Orchester (1993)
ausgearbeitet. In Una canción (1998) verwendet Aharonián hingegen
wörtliche Zitate. Allerdings werden sie fragmentarisch verarbeitet
und so in die oben beschriebenen Konstruk-tionsprinzipien des
Komponisten integriert, dass auch sie wie „erfundene“ Zitate
fungieren. Ein Grenzfall bildet das elektroakustische Stück Secas
las pilas de todos los timbres (1995). Hier wird montageartig mit
deutlich als Zitate erkennbaren Fragmenten komponiert, deren
Quellen jedoch nicht unbedingt erkennbar werden. Der Komponist
nähert sich diesen histo-risch-musikalischen Dokumenten mehrfach
mimetisch: 1. durch empathischen Kontakt nicht nur mit dieser
Musik, sondern auch mit ihren Erfindern (Der Titel – dt. [Wenn] die
Batterien aller Klingeln leer sind –, bezieht sich auf einen Tango
von Enrique Santos Discépolo und
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Man könnte sagen, der Komponist erhöht den sinnlichen Kontakt
mit diesen Musiken, ohne sie sich dabei anzueignen.34 (6)
Aharoniáns Kunstmusik ist stark regional geprägt, das westliche
„internatio-nale“ Experimentieren wird auf die Musik und Klänge der
unmittelbaren Umge-bung fokussiert. Die daraus entstehenden
Experimente sind somit immer mit ei-ner emotionalen Nähe und
Intimität verbunden, auch wenn die Strukturierungs-konzepte ein
gewisses Kalkül enthalten. Seine kompositorische Tätigkeit dient
der ästhetischen Reflexion seiner sozialen Konstitution und der
sozialen Mime-sis.35 (7) Die Reduktion der Materialien und der
Strukturierungsmittel ist sowohl äs-thetisches wie politisches
Programm: Sie verweist auf eine „música pobre“, wie der
argentinische Komponist Oscar Bazán in den siebziger Jahren
formulierte, eine Musik, welche die Diskrepanz zwischen der
rasenden technologischen Entwicklung und der unaufhaltsam
wachsenden Armut in Lateinamerika mime-tisch darstellen sollte.
Man könnte sagen, dieses prägnante ästhetische Gegenmodell
Aharoniáns und anderer lateinamerikanischer Komponisten36 leistet
dadurch Widerstand, dass ihre Elemente als Symbol (Emblem)
unterdrückter Kulturen erkannt werden können. Statt sich als
Außenseiter diese Elemente anzueignen, um eine „exoti-sche“ Musik
zu schaffen, werden die grundlegenden Eigenschaften dieser Mu-
verweist auf eine Gesellschaft, in welcher Solidarität schwer zu
finden ist); 2. Durch Rekontextualisierung des eigenen emotionalen
Gedächtnisses; 3. Durch metonymische Ver-kettung (Montage)
latinoamerikanischer Musiken aus sehr unterschiedlicher
Provenienzen (kulturelle bzw. musikalische Akteure) erfindet oder
konstruiert er symbolisch (Repräsentati-on) seine
Latinoamerikanizität. (Vgl. Abschn. 6.5.) 34 Diese Mimesis durch
sinnlichen Kontakt deutet auf die ethische Herangehensweise
Aharo-niáns hin. Auch wenn er sich dem Tango ikonisch nähert,
eignet er sich ihn nicht an, sondern bleibt immer bei seinen
eigenen Möglichkeiten bzw. bei der für sich definierten Identität
als Komponist Neuer Musik: „Man muss sich entscheiden, in welcher
der beiden Sprachen man komponiert; es gibt keine Möglichkeit, sich
in der Mitte dazwischen aufzuhalten. Ich selbst komponiere keine
Popularmusik, glaube auch, keine Konditionen dafür zu besitzen,
aber ich arbeite mit Musikern dieser Richtung zusammen, bin ihr
Freund und Lehrer, helfe ihnen Kon-zepte zu diskutieren und
auszuarbeiten und mache manchmal Arrangements.“ (C. Aharonián,
zitiert in M. Fürst-Heidtmann, „Militancia cultural“ (wie Anm.
206), S. 43) 35 „Soziale Mimesis richtet sich auf symbolisch
kodierte und normativ bestimmte Körperbe-wegungen, zu denen unter
anderem Gesten, Rhythmen und Laute gehören. Über die sinnliche
Wahrnehmung und Anähnlichung gehen diese in das praktische Wissen
des sich mimetisch Verhaltenden ein. Soziale Verhaltensweisen
werden nachvollzogen und gehen als Bilder, Lautfolgen oder
Bewegungssequenzen in das Innere von Personen ein. Sie werden Teil
der inneren Bilder-, Klang- und Bewegungswelt, setzen sich in der
Imagination fest und können in neuen Zusammenhängen aktiviert und
modifiziert werden.“ (G. Gebauer/Ch. Wulf, Mime-tische Weltzugänge
(wie Anm. 187), S. 113.) 36 Siehe Anm. 211.
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sik-Kulturen von „Innenseitern“ herausgefiltert, verarbeitet,
komprimiert, redu-ziert, so dass sie zu indexikalischen Symbolen
(Emblemen) dieser Kulturen werden. Im Kontext der europäisch
tradierten Neuen Musik dienen sie der Ver-teidigung von kulturellem
Besitz und kultureller Identität.37 Dieses Emblemati-sche ist
allerdings nicht mit verallgemeinernden politischen Slogans zu
ver-wechseln: Es handelt sich dabei eher um gemeinsame strukturelle
Charakteristi-ken, welche auf ganz unterschiedliche Weise
persönlich verarbeitet und einge-setzt werden. Aharonián
unterscheidet folgende Merkmale lateinamerikanischer Musik:38
– kurze und konzentrierte Zeitverläufe – Tendenz zur Strenge
bzw. größtmöglichen Ausnutzung der Elemente – nicht-diskursive
Konstruktion – Sinnlichkeit der rhythmischen Gestaltung –
Wiederholung, die nicht mit mechanischer Repetition zu verwechseln
ist.
Alle diese Eigenschaften könnte man im Bereich der Neuen Musik
als mimeti-sche Umsetzung von musikalischen Elementen
nicht-europäischer Musik ver-stehen.39 Die Kürze der Stücke hängt
meines Erachtens mit der Tradition der 37 Elizabeth B. Coleman
bemerkt, dass die Kunst australischer Ureinwohner eher Kennzei-chen
(insignia), d.h. Embleme sind, und vergleicht sie u.a. mit der
indexikalischen kenn-zeichnenden Funktion westlicher Wappenbilder.
Da nach Coleman insignia für die Konstitu-tion von Identitäten
innerhalb gesellschaftlicher Institutionen wichtig sind, ist die
westliche Aneignung der Kunst der Aborigines – ihrer Embleme – eine
Aneignung ihrer Identität. (Vgl. Elizabeth B. Coleman, Aboriginal
Art, Identiy and Appropriation, Burlington 2005.) 38 Aharonián ist
jedoch mit solchen allgemeinen musikalischen Charakterisierungen
für einen ganzen Sub-Kontinent eher vorsichtig. Er will mit der
Betonung der gemeinsamen Eigen-schaften die Erfindung – die
mimetische Konstruktion – einer gemeinsamen Identität zwecks
politischem bzw. kulturellem Widerstand erreichen: „La
latinoamericanicidad no es un hecho objetivo: existe un margen de
latinoamericanicidad objetiva, existe una serie de características
genéricas de toda un área continental, existen muchos factores
comunes a este espectro conti-nental, pero no son tantos como se
quiere sino que son menos de los que necesitamos. El pro-blema de
la latinoamericanicidad es pues fundamentalmente una necesidad
histórica por razo-nes de autodefensa.“ (Die Latinoamerikanizität
ist keine objektive Tatsache: es gibt eher eine Objektivitätsspanne
an der Latinoamerikanizität, es gibt eine Reihe von allgemeinen
Eigen-schaften eines ganzen Kontinentalareals, ihm sind viele
Faktoren gemeinsam, aber diese sind nicht so viele, wie man sich
wünscht, sondern eher weniger, als wir benötigen. Das Problem der
Latinoamerikanizität ist sodann im Wesentlichen eine aus
Selbstverteidigungsgründen historische Notwendigkeit.“ (C.
Aharonián, Conversaciones sobre música, cultura e identi-dad,
Montevideo 1992, S. 47. Übersetzung von mir. Vgl. dazu auch M.
Fürst-Heidtmann, „Militancia cultural“ (wie Anm. 206), S. 42.) 39
Als Reaktion auf die Dominanz der europäischen seriellen Musik
verarbeitet auch der US-amerikanische Minimalismus der sechziger
Jahre nicht-europäische musikalische Elemente in der
experimentellen Musik. Die Komponisten dieser Richtung waren, in
Anlehnung an das Cagesche Denken, an einer Ausdehnung der
musikalischen Zeit interessiert, mittels allgemei-
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Popularmusik zusammen, welche von der Kürze der Liedform geprägt
ist. Die Tendenz zur Strenge und größtmöglichen Ausnutzung der
Elemente ist in der afrikanischen und in der indianischen Musik
immer anwesend, in welcher, auf eine reduzierte Art, wenige
Elemente sich variierend wiederholen. Diese schein-baren
Wiederholungen werden minimal variiert, allerdings kaum im Bereich
der Tonhöhe, sondern eher rhythmisch und in der Klangfarbe, so dass
daraus eine nicht-diskursive Syntax entsteht. Man könnte sagen, die
Nicht-Diskursivität – der Verzicht auf sprachähnliche motivartige
Entwicklung – hängt mehr mit einer Mimesis an den Körper als mit
mathematischen formalen Konzepten zusammen.40 Auch wenn
mathematische oder statistische Konzepte zur formalen Konstruktion
eingesetzt werden, haben sie tendenziell einen mimetischen Bezug
zum Körper, so dass sie einer Art Eth-nologie des eigenen mestizen
Körpers dienen.41
6.5. Analytische Annäherung: Mimesis des Körpers
Bei der Analyse des Stücks Los cadadias (1980)42 für Klarinette,
Posaune, Kla-vier und Violoncello, kann man sich ein klareres Bild
verschaffen, wie sich sol-che Elemente verbinden. ner Verlängerung
der Dauern und Wiederholungen. Diese Zeitausdehnung kam aber nicht
nur aus Fernost: La Monte Young beispielsweise war in den fünfziger
Jahren Jazz-Musiker und verdankt die Entwicklung seiner
kompositorischen Identität nicht nur der indischen Musik, sondern
auch dem Blues (vgl. Damien Sausset, Interview de La Monte Young,
in:
http://www.exporevue.com/magazine/fr/interview_monte-young.html).
Die mimetische An-näherung an die Popularmusik ist demnach auf dem
ganzen amerikanischen Kontinent eine wichtige identitätsstiftende
Quelle für experimentelle Komponisten. 40 Zum Verhältnis von Musik,
Sprache und Mathematik vgl. Teil I, Abschn. 5 sowie Teil III,
Abschn. 4.2.1. 41 Bezüglich des unterschwelligen Einflusses der
afrikanischen Kultur auf die Körperlichkeit Lateinamerikas schreibt
Aharonán: „En toda América una cantidad de hechos culturales está
‚negreada’ en un alto porcentaje. Ese ‚negreamiento’ es también
absolutamente irreversible. Aunque fuésemos de aquéllos que dicen
‚no quedan negros en el Uruguay; yo qué tengo que ver con los
negritos’, nos quedaría una menuda pregunta planteada: hasta qué
punto yo no tengo algo de negro en la forma en que estoy caminando
por la calle o en la forma que me vis-to o en la forma en que
hablo.“ („In ganz Amerika ist eine große Menge an kulturellen
Fakten ‚verschwärzt’, und dies in hohem Prozentsatz. Solche
‚Verschwärzung’ ist zudem durchaus irreversibel. Auch wenn wir zu
denen gehörten, welche sagen, ‚es sind keine Schwarzen in Uruguay
geblieben; ich habe nichts mit den negritos zu tun’, blieb eine
Frage in der Luft: Inwiefern habe ich nicht etwas vom Schwarzen in
der Art und Weise, wie ich auf der Straße gehe oder in der Art, wie
ich mich kleide oder spreche.“ C. Aharonián, Conversaciones sobre
música, cultura e identidad, Montevideo 1992, S. 40. Übersetzung
von mir.) 42 „Der Titel ‚Los cadadías’ kann als ‚Die
Alltäglichkeiten’ übersetzt werden. Das Wort habe ich durch Bildung
des Plurals eines Kunstworts erfunden: ‚cada dia’ (jeden Tag) wurde
zu ‚cadadía’ und schliesslich ‚cadadías’“ (Zitiert in: M.
Fürst-Heidtmann, „Militancia cultural“ (wie Anm. 206), S. 44)
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Es fällt zuerst die Reduktion des Materials und die Kürze des
Stückes (5’18’’) auf: eine einzige klar definierte Tonhöhe (D), ein
geräuschhafter perkussiver Klavier-Cluster-Ostinato (Ais, B, C),
ein geräuschhaftes Bartók-Pizzicato, ein klar definiertes Geräusch
auf dem Violoncello (tango-artiges Kratzen des Bo-gens hinter dem
Steg) und Stille.
Abb. 47 – Coriún Aharonián, Los cadadias, für Klarinette,
Posaune, Klavier und Violoncello T. 1-29 (© Coriún Aharonián)
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Abb. 48 – Coriún Aharonián, Los cadadias, für Klarinette,
Posaune, Klavier und Violoncello T. 30-64 (© Coriún Aharonián)
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20
Die Begrenzung auf eine einzige Tonhöhe bewirkt, dass die
traditionell melodi-schen Instrumente eher wie
Perkussionsinstrumente fungieren, so dass eine kul-turelle
Akzent-Verschiebung stattfindet: Die in der europäischen Tradition
eher untergeordneten Ebenen des Rhythmus und der Klangfarbe stehen
im Vorder-grund. In der Anwesenheit des Klavier-Ostinatos werden
die Nuancen der rhythmischen Figuren besonders deutlich, eine
Charakteristik eher afrikanischer Herkunft: Mikroverschiebung –
„Synkopen“ – der Betonungen durch Koexi-stenz asymmetrischer
Unterteilungen innerhalb eines gemeinsamen Metrums. Statt diese
Verschiebung eurozentrisch als Synkopen zu verstehen – der
vorü-bergehende Verstoß gegen das normierende Metrum –, fallen
asymmetrische Gruppierungen abwechselnd in kometrische (cométrica)
oder gegenmetrische (contramétrica) Positionen. Dies hängt eng mit
der polyrhythmischen Organisa-tion afrikanischer Musik zusammen.
Nach Arthur Morris Jones ist die westliche Rhythmik divisiv,
teilend, sie basiert auf der Unterteilung einer bestimmten Dauer in
gleiche Werte (Ganze, Halbe, Viertel). Dagegen ist die afrikanische
Rhythmik additiv, sie erreicht eine bestimmte Dauer durch die Summe
kleinerer Werte, welche neue Einheiten bilden und oft keinen
gemeinsamen Teiler haben (z.B. 3+3+2). Die Summe solcher Zweier-
und Dreier-Gruppierung ergibt, nach Simha Arom, immer eine gerade
rhythmische Periode (z.B. 3+3+2 = 8). Jedoch, wenn man versucht,
diese geraden Perioden in zwei Hälften zu teilen, ergeben sich
immer zwei ungerade Teile (z.B. 8 = 3+5), was Arom als rhythmische
Im-parität bezeichnet.43 Die Materialien in Los cadadias werden
durch minimale Addition bzw. Subtrak-tion variiert, „entwickeln“
sich jedoch nicht. Beispielsweise führen die melodi-schen
Instrumente meistens paarweise oder abwechselnd gehaltene Töne auf,
werden minimal variiert, hören wieder auf, bleiben eine Weile
still, fangen wie-der an, so dass die Dauer der Spiel- und
Stille-Phasen ständig variiert. Jedoch ist eine gewisse
erzählerische Dramaturgie, eine zeitliche Linearität europäischer
Herkunft zu erkennen, die sich mit der Referenz zur Korporalität
verbinden lässt: die Mimesis – Darstellung – des Körpers durch
allmähliche Inszenierung von Tanzgesten.44
43 Diese Bemerkungen referiert Carlos Sandroni in seinen Studien
über die Veränderung der rhythmischen Patterns von urbaner
Samba-Musik. Die Erhöhung der Kontrametrizität in der Popularmusik
in Rio in den dreißiger Jahren verbindet er mit einer Affirmation
kultureller Identität der brasilianischen Schwarzen. (Vgl. Carlos
Sandroni, Feitiço Decente, Rio de Janei-ro 2001, S. 24-28.) 44 “Los
cadadias is the response to a challenge proposed by Zygmunt Krauze:
to compose a dance in my own ‘here and now’ to be performed by the
‘Warsaw Music Workshop’ quartet in the remote ‘Warsaw Autumn’
festival on September 23, 1980. It was not easy for me to cope with
the reference to what is danceable within my language options. That
is why I ac-
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21
Durch die prägnante Gegenüberstellung von solistischem,
schnellem, rhythmi-schem ‚Kratzen’ einerseits und stehenden Tönen
bzw. Stille andererseits wirkt diese Körperlichkeit am Anfang des
Stückes (T.1-20) eher abstrakt, distanziert: Als ob in dieser
Zeitlosigkeit die referierte Musik nicht mehr oder noch nicht da
ist. Durch das unvorbereitete Einsetzen und die hartnäckige
Fortführung des Klavier-Ostinatos (ab T.21 bis zum Schluss, mit nur
zwei Unterbrechungen) verändert sich die Wahrnehmung, so dass die
Zeit nun in Verbindung zum Kör-per wahrgenommen wird – das tiefe
Register ist dafür entscheidend –, jedoch nicht als muskuläre
Bewegung, sondern eher als messbare innere Dauer inner-halb sich
ändernder Klangfarben. Anzeichen von Tanzgesten werden nur in den
seltener und kürzer gewordenen ‚Kratz’-Figuren und im kurzen und
ebenfalls seltenen gemeinsamen Spiel der rhythmischen Figuren
erkennbar (T.35, 59). Letzteres bewirkt, durch die unerwartete
Verschiebung bzw. Unterteilung des Klavier-Pulses, eine Verrückung
des klanglichen „Fundaments“, so dass die körperliche Assoziation
zu Tanzschritten nahe liegt: Die abstrakte Musik wird punktuell
hier und da konkret, d.h. muskulär fassbar. Diese Fassbarkeit
erhöht sich ab der gemeinsamen Verrückung in Takt 58: Die
„Kratz“-Figuren (ab T. 61) tauchen wieder auf und deuten
indexikalisch auf kommende Veränderungen; Instrumentierung bzw.
Klangfarbe der liegenden Töne wechselt öfter und eine neue
rhythmische Bewegung – eine Milonga-Pattern (3+3+2) –, zuerst im
Takt 66 angedeutet, löst sich von dem liegenden Hintergrund ab und
taucht in Takt 79 deutlich im Mezzoforte auf – der stehende
Hintergrund wird langsam zur beweglichen rhythmischen Figur. Diese
fungiert ebenfalls als indexikalisches Vorzeichen des Höhepunktes,
welcher im Takt 91, genau auf dem Goldenen Schnitt, erreicht wird.
Hier (T. 91-102) drängt schlag-artig der stehende Hintergrund als
gemeinsamer Tango-Pattern in den Vorder-grund, so dass ein Maximum
an Korporalität erreicht wird. Diese zweitaktigen Figuren werden
von Klarinette, Posaune und Violoncello (Bartók-Pizz.)
kon-trametrisch, im Fortissimo, gegen den Klavier-Puls gespielt.
Darauf folgt eine „dramatische“ Generalpause, deren erwartungsvolle
Spannung durch die dop-pelte Wiederholung des Tango-Patterns
ausgiebig „erfüllt“ wird. Man könnte hier eine Deutung wagen: In
dieser fortissimo getragenen Stelle wird das plötz-liche
Aufschreien einer unterdrückten afrikanischen Kultur indexikalisch
darge-stellt. Das darauf folgende veränderte Wiedereinsetzen des
„Kratzen“-Motivs – eine Art Solo-Protagonist des Stückes – schließt
den Abschnitt und deutet, als Über-
cepted the challenge, and why I took it up again four years
later in a piece for solo piano.” (C. Aharonán, Los cadadías,
Tacuabé, Serie Música Nueva, T/E 35, CD Booklet, S. 10)
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22
gang, auf die neuen Transformationen – Verlängerung und
Unterteilung – der rhythmischen Patterns, welche tendenziell
„tänzerischer“ werden (ab T.103). Einen zusätzlichen,
unterschwelligen Faktor für die zunehmende Referenz auf
Körperlichkeit im Verlauf des Stückes bilden die Zeitproportionen.
So werden die Ereignisse bzw. die „Phrasen“ bezüglich ihrer
Taktanzahl bis Takt 66 ten-denziell nach Fibonacci-Proportionen
gegliedert, so dass Unregelmäßigkeit ent-steht:
T. 1– 20: 5+3+2+1 / 5+3+1 T.21– 65: 5+3+2 / 5+3+2 / 8 / 5+3 / 4
/ 3+2
Ab Takt 66, beim Einsatz des Milonga-Pattern, wird die
Takt-Gliederung re-gelmäßiger, erfolgt in geraden Zahlen:
T.66–90: 4 / 4 / 2+3 / 4 / 6 (3+3) / 2
Deutlich wird dies im Höhepunktabschnitt:
T. 91-102: 2 / 2 / 4 / 2 / 2
Diese symmetrische Gliederung besteht bis zum Schluss
(T.103-146), sie weist ikonisch auf pendelnde Körperbewegungen bzw.
alternierende Tanzschritte hin:
T.103–146: 4 / 2 / 2/ 8(4+4) / 8 (3+3+2) / 4 / 2 / 6
Auch die neuen rhythmischen Figuren (T.103–118) neigen zur
fließenden Re-gelmäßigkeit, mit der Unterteilung der ungeraden
Milonga-Pattern (zwei punk-tierte Viertel plus ein Viertel) in
Achtel und mit dem Einsatz alternierender Ak-zente bei den langen
Tönen. Diese tänzerischen, pendelnden Bewegungen treten von Takt
125 bis zur Generalpause (T.139-140) allmählich wieder in den
Hin-tergrund. Ein Sforzato mit langem Nachklang dient als ein fern
an den Höhen-punkt erinnernder Epilog (T.141–146).
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23
Abb. 49 – Coriún Aharonián, Los cadadias, T. 65-102 (© Coriún
Aharonián)
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24
Abb. 50 – Coriún Aharonián, Los cadadias, T. 103-146 = Ende
(rechts) (© Coriún Aharonián)
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Aharonián konstruiert und erfindet in „Los cadadías“ eine
mestizische Musik: Sie ist in ihrem großen formalen Plan – durch
die gut dosierte Verarbeitung neu-er Informationen und die
Inszenierung eines Höhepunktes –, mit der europäi-schen Kunstmusik
verbunden. Jedoch sind das Klangmaterial und ihre inneren
Mikrorelationen – z.B. rhythmische Variationstechniken,
Klangfarben-Kombination – ausschließlich nicht-europäischer
Provenienz. Indem Aharonián die rhythmischen Aspekte der Tango- und
Milonga-Musik fokussiert und ihre typischen melodisch-harmonischen
europäischen Charakteristiken weglässt, hebt er ihre afrikanischen
Ursprünge ästhetisch wie ethisch hervor. Der Verzicht auf jegliche
polyphone Textur durch die Reduktion auf eine einzige Tonhöhe
verstärkt dies noch mehr. Gleichzeitig verweisen die sich
verändernden Klang-farben auf die stehenden Flächen der Musik
mancher indianischen Kulturen. Aharonián erfindet, mittels
persönlicher musikalischer Bezugnahme auf seine unmittelbare
soziokulturelle Umgebung – diejenige der Rio-de-la-Plata-Region –,
eine lokale Neue Musik. Diese fungiert wie ein mimetisches
Repräsentations-feld, in welchem die kulturelle Anatomie untersucht
und aufgespürt wird, so als ob die kulturellen Konstituenten sich
musikalisch gegenseitig abbildeten. Diese lokale
Rekontextualisierung unterschiedlicher Musikkulturen – die
europäischer, die indianischer und afrikanischer Herkunft – hebt
Ähnlichkeiten innerhalb ei-nes gemeinsamen lateinamerikanischen
Imaginären hervor und trägt zu der symbolischen Erfindung einer
identitätstiftenden Lateinamerikanizität bei. Sein bewusster Umgang
mit der lateinamerikanischen Mestizität trägt dazu bei, die ihr
innewohnenden unbewussten und überschüssigen mimetischen Prozesse
mit den damit verbundenen Machtverhältnissen aufzuklären und diese
Prozesse möglicherweise sogar zu lenken.