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[t]akteDas Bärenreiter-Magazin
[t]akteDas Bärenreiter-Magazin
2I2019Informationen für
Bühne und Orchester
Widerläufer zwischen Nord und Süd: Manfred Trojahn wird 70 Der
bekannte Unbekannte: Engelbert Humperdincks OpernDie sinfonischen
Dichtungen von Camille Saint-Saëns
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2I2019
[t]akte 2I2019 32 [t]akte 2I2019
[t]akte
Titelbild
Georg Friedrich Händels Rodrigo bei den Internatio-nalen
Händel-Festspielen Göttingen 2019 (Musika-lische Leitung: Laurence
Cummings, Inszenierung: Walter Sutcliff) – (Foto: Alciro Theodoro
da Silva)
Übersetzungen
S. 4 / 26: Ina RudisileS. 7: Michael HaagS. 8: Annette Thein
Cilea oder Die Wahrheit des GesangsDie Opern Francesco Cileas
(Teil 1)
Francesco Cileas schmales Opernschaffen nimmt eine singuläre
Position im veristi-schen Musiktheater ein.
Ein Widerläufer zwischen Nord und Süd Einiges über Manfred
Trojahn: seine Positionen, Orchestermu-sik und Opern
Am 22. Oktober wird Manfred Trojahn 70 Jahre alt. Für eine
Lebens- und Schaffensbilanz ist es zu früh. Gerhard R. Koch aber
zeichnet Linien und Weg-marken im Werk des Komponi-sten nach.
Drachen gibt es auch heute nochPaul Dessaus Oper „Lanzelot“ wird
wieder aufgeführt
Fünfzig Jahre nach der Urauf-führung gelangt Paul Dessaus Oper
„Lanzelot“ in der ur-sprünglichen Fassung wieder auf die Bühne. Die
Theater in Weimar und Erfurt nehmen sich ihrer an.
LebensstürmeZum Tode des Komponisten Heinz Winbeck
Heinz Winbeck starb im März 2019 in Regensburg. Leonhard
Scheuch, der Verleger des Bärenreiter-Verlags, erinnert sich an die
Anfänge und die langen Jahre der Verlagsbe-ziehung zu dem
Komponis-ten.
Neue Musik
Innere StimmenZwei neue Werke von Beat Furrer 17
Zum Tode Georg Katzers 17
Gold, Silber, PurpurDer Abschluss von Matthias Pintschers
Hohelied-Zyklus 22
Befreiung zum EgoismusĽubica Čekovskás Orchester-stück zum
Gedenken an die Samtene Revolution 23
Mahlers GeisterAndrea Lorenzo Scartazzinis „Spiriti“ für
Orchester 24
Philipp Maintz – aktuell 24
Arkadien atmet aufHändels „Il pastor fido“ in der Hallischen
Händel-Ausgabe
In seiner Anlage ist Händels „Il pastor fido“ ein eher
be-scheidenes Werk. Musik und Handlung aber bieten vielfäl-tige
Möglichkeiten zu einem effektvollen Theatererlebnis.
Nicht immer nur die „Danse macabre“Die symphonischen Dichtungen
von Camille Saint-Saëns
Mit seinen vier symphoni-schen Dichtungen stellt sich Camille
Saint-Saëns ent-schieden in die Tradition von Hector Berlioz und
Franz Liszt. Die kritischen Erstausgaben bieten Gelegenheit für
neue Interpretationen auf verlässli-cher Quellengrundlage, nicht
nur im Gedenkjahr 2021 (100. Todestag).
Der bekannte Unbekannte Engelbert Humperdinck vor dem 100.
Todestag am 27. September 2021
„Hänsel und Gretel“ hat seinen Stammplatz unter den
meistgespielten Opern. Aber darüber hinaus bieten Humperdincks
Märchenopern, Schauspielmusiken und Orchesterwerke reichlich
Gele-genheit zu Entdeckungen.
„Pure Freude, dieses Stück zu spielen“Frank Peter Zimmermann
über Bohuslav Martinůs Violinkon-zerte
Mit den Berliner Philharmoni-kern hat Frank Peter Zimmer-mann
schon beide Violinkon-zerte von Bohuslav Martinů aufgeführt. Im
Interview spricht der Geiger über die Schönheiten und
Herausforde-rungen dieser Werke.
Oper
Arkadien atmet aufHändels „Il pastor fido“ in der Hallischen
Händel-Ausgabe 4
Fragment und Frühfassung zugleichGeorg Friedrich Händels
„Fernando“ 5
Sängerische Herausforderung damals wie heuteGlucks „Atto di
Bauci e Filemone“ 6
„Faust est ressuscité! Faust vient de renaître!“Die
Wiederentdeckung der Dialogfassung von Gounods „Faust“ auf der
Bühne und auf CD 8
Oper
Der bekannte Unbekannte Engelbert Humperdinck vor dem 100.
Todestag 12
Cilea oder Die Wahrheit des Gesangs (Teil 1)Die Opern Francesco
Cileas 14
Drachen gibt es auch heute nochPaul Dessaus Oper „Lanzelot“ wird
wieder aufgeführt 16
Porträt
Ein Widerläufer zwischen Nord und Süd Einiges über Manfred
Trojahn: seine Positionen, Orchestermu-sik und Opern 18
LebensstürmeZum Tode des Komponisten Heinz Winbeck 20
Publikationen / Nachrichten / Termine
Arien eines RevolutionärsEine vierbändige Reihe mit Glucks Arien
aus französi- schen Opern 7
Nachrichten 23
Ein ganz Großer tritt ab: Bernard Haitink 28
Neue Bücher 29
Neue Aufnahmen 30
TermineOktober 2019 – April 2020 31
Orchester
Nicht immer nur die „Danse macabre“Die symphonischen Dichtungen
von Camille Saint-Saëns 9
Dvořáks beliebtestes geistliches WerkNeuedition der Messe D-Dur
op. 86 10
„Pure Freude, dieses Stück zu spielen“Frank Peter Zimmermann
über Bohuslav Martinůs Violin-konzerte 11
Neue Musik
Dieter Ammann – aktuell 25
Charlotte Seither – aktuell 25
Reise in die UnterweltDie Kurzoper „Cave“ von Tansy Davies
26
Lucia im hellen Wald der SpracheZwei neue Musiktheaterwerke von
Lucia Ronchetti 27
14 16 18 20 4 9 11 12
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[t]akte 2I2019 54 [t]akte 2I2019
[t]akte 2I2019Arkadien atmet aufHändels „Il pastor fido“ in der
Hallischen Händel-Ausgabe
In seiner Anlage ist Händels „Il pastor fido“ ein eher
bescheidenes Werk. Musik und Handlung aber bieten vielfältige
Möglichkeiten zu einem effektvollen Theatererlebnis.
Fragment und Frühfassung zugleichGeorg Friedrich Händels
„Fernando“
Händels Il pastor fido ist die bescheidenste unter seinen
italienischen Opern: Mit Nummern, die mindestens zur Hälfte
musikalisches Material aus Händels frühen italienischen Kantaten
übernehmen, rückt sie sich bewusst in die Nähe italienischer
Serenaten in pasto-ralem Stil. Um die Schlichtheit der pastoralen
Formen-sprache einzufangen, bediente sich Händel verschie-dener
Techniken: des konventionellen Einsatzes hoher Stimmlagen
(lediglich eine Arie wird nicht von Sopran oder Alt gesungen), der
großflächigen Verwendung monothematischer Da-capo-Arien, einer
hohen Dichte von zurückgenommenen Arien, z. B. Continuo-Arien,
Arien all’unisono (Geigen und/oder Oboen doppeln die Singstimme,
keine Begleitung des Continuos) und Arien all’ottave (Continuo
oktaviert die Streicher).
Dieses so zurückhaltende Werk wird leicht von Händels größeren
Opern überschattet und ist damit Guarinis Tragicommedia (1590)
diametral entgegen-gesetzt, die nicht nur in ihrer Länge, sondern
auch in ihrer Bedeutung für Theater, Literatur und Musikge-
schichte gewaltig ist. Zur kleinen Anlage des Il pas-tor fido
mag wohl auch die schwierige finanzielle Lage der London
Opern-gesellschaft in der Saison 1712/13 beigetragen haben.
Es leuchtet ein, wes-halb Il pastor fido nicht als populärere
Vorlage für Opernadaptionen herhal-ten konnte: Die originale
Textvorlage auf den Um-fang eines Librettos ein-zudampfen, stellte
eine immense Aufgabe dar. Unter den drastischen Kürzungen von
Händels Librettist Rossi wurden aus fünf Akten mit acht-zehn
Charakteren drei Akte mit sechs Rollen. Das
Libretto, nur noch ein dürftiges Gerüst des komplexen Dramas,
geriet in die Kritik. Doch Rossi hatte das Beste daraus gemacht, um
der Geschichte einen roten Faden zu verleihen und zumindest einen
Teil von Guarinis poetischer Sprache zu bewahren.
Die vereinfachte Handlung: Arkadien leidet unter dem von einer
untreuen Nymphe hervorgerufenen Fluch, wobei Göttin Diana
alljährlich das Opfer einer Jungfrau verlangt und untreue Frauen
mit dem Tod bestraft. Ein Orakel prophezeit, dass, wenn zwei
Kin-der des Himmels in Liebe vereint seien, ein Schäfer den Fluch
brechen wird. Die Nymphe Amarilli, eine Nachfahrin Pans, und der
Jäger Silvio, ein Nachkomme
Herkules’, wurden auserwählt zu heiraten, um Diana zu
besänftigen. Doch Silvio interessiert sich nur für die Jagd,
während Amarilli eigentlich den fremden Schäfer Mirtillo liebt. Als
Silvio von der Nymphe Dorina durch die Wälder gejagt wird, plant
die hinterhältige Nymphe Eurilla, die ebenfalls in Mirtillo
verliebt ist, Amarilli zu beseitigen. Sie sorgt dafür, dass die
beiden Liebenden zusammen erwischt werden, woraufhin Amarilli zum
Tode verurteilt wird. Mirtillo will an ihrer statt ster-ben, wird
aber verschont, als ans Licht kommt, dass er Silvios lang
verschollener Bruder ist. Der blinde Seher Tirenio erkennt Mirtillo
als den treuen Schäfer, den das Orakel geweissagt hat. Mirtillo
heiratet Amarilli, Silvio heiratet Dorinda, und Arkadien atmet
auf.
Mirtillos Musik ist vorwiegend melancholisch, Amarilli und
Dorinda streifen zuweilen das Tragische. Im Gegensatz dazu wird
Silvio leicht überzeichnet dargestellt. Der bemerkenswerteste Part
jedoch ist der von Eurilla, dessen Dynamik Eurillas Rolle als
handlungstreibende Figur des Dramas gerecht wird: Sie hat einen
großen Anteil an den Bravourarien, die strahlender, brillanter und
üppiger orchestriert sind als die der übrigen Charaktere. Das am
reichsten ins-trumentierte Stück der Oper ist jedoch die Ouvertüre,
die weder Teil des Autographs war, noch der Partitur in Händels
Sammlung. Es ist ein ausgewachsenes Concerto in sechs Sätzen, das
wahrscheinlich im Zuge einer früheren Komposition entstand.
Die Edition der Hallischen Händel-Ausgabe ver-gleicht mehrere
Quellen, die Chrysander nicht zur Verfügung standen, und ist
insofern bemerkenswert, als sie die erste moderne Edition der
kompletten Ouver-türe bereitstellt, ebenso die vollständigen
Bühnenan-weisungen des Librettos und das alternative Ende für
Mirtillos und Amarillis Duett im dritten Akt.
Suzana Ograjenšek
Georg Friedrich HändelIl pastor fido. Opera in tre atti. HWV 8a.
Fassung der Uraufführung, London 1712. Hrsg. von Suzana Ograjenšek
(Hallische Händel-Ausgabe II/5)Erstaufführung nach der Neuedition:
1.6.2019, Goethe-Theater Bad Lauchstädt (Händel-Fest- spiele
Halle), {oh!} Orkiestra Historyczna, Leitung: Martyna Pastuszka
& Marcin Świątkiewicz, Inszenierung: Daniel Pfluger Besetzung:
Mirtillo (Sopran), Silvio (Kontraalt), Amarilli (Sopran), Dorinda
(Alt), Eurilla (Sopran), Tirenio (Bass)Orchester: Flauto traverso
I, II, Ob I, II, Fag I, II, Vl I, II, Va, Vc, Kb, B. c. (Vc, Kb,
Fag, Cemb)Verlag: Bärenreiter, BA 10714, Aufführungsmate-rial
leihweise
Verwirrung allüberall: „Il pastor fido“ in Bad Lauchstädt (Foto:
Magdalena Halas)
Als Händel im Dezember 1731 nach Ezio mit der Kom-position einer
weiteren neuen Oper begann, wollte er zunächst das geografische und
historische Milieu des Vorlagelibrettos Dionisio, Re di Portogallo
(Florenz 1707, Antonio Salvi) beibehalten. Unter dem Titel
Fernando, Re di Castiglia begann Händel, die Geschichte um einen
Machtkampf zwischen König Dionisio und Königssohn Alfonso zu
vertonen, in den der kastilische König Fer-nando eingreift. Die
Handlung spielt in der früheren portugiesischen Hauptstadt Coimbra
und deren Umge-bung und kann aufgrund der Vermengung historischer
und fiktiver Ereignisse und Personen nur grob in die Zeit um 1300
eingeordnet werden.
Damit hat Fernando, Re di Castiglia das „modernste“ Sujet aller
Händel-Opern nach Tamerlano. Gerade diese Modernität, die
Darstellung eines Vater-Sohn-Konflik-tes im Herrschermilieu mit
Parallelen zur englischen Situation in der Entstehungszeit der
Oper, der Hand-lungsort im mit England traditionell verbündeten
Portugal sowie die Konfliktlösung durch das Eingreifen eines
Herrschers des mit England und Portugal ebenso traditionell
verfeindeten Spanien, werden Händel und seinen unbekannten
literarischen Mitarbeiter mitten im Kompositionsprozess bewogen
haben, die Hand-lung in ein unverfängliches orientalisches Milieu
zu verlegen. So wurde die Oper bis kurz vor dem Ende des zweiten
Aktes als Fernando, Re di Castiglia komponiert, dann aber als
Sosarme, Re di Media vollendet.
Fernando ist damit Fragment und Frühfassung zugleich. Der
Herausgeber Michael Pacholke legte im Rahmen der Hallischen
Händel-Ausgabe von Sosarme das Fragment Fernando in musikalisch und
philolo-gisch nachvollziehbarer und aufführbarer Form vor. Im
Bärenreiter-Verlag erscheinen in Kürze leihweise Dirigierpartitur
und Stimmen. Der käufliche Klavier-auszug zu Sosarme enthält
sämtliche Fernando-Anteile und komplettiert damit das
Aufführungsmaterial.
Tobias Gebauer
Georg Friedrich HändelFernando, Re di Castiglia (Fragment).
Hrsg. von Mi-chael Pacholke (Hallische Händel-Ausgabe
II/27.2)Erstaufführung (konzertant) nach der Neuedition: 1.4.2020
London (London Handel Festival), Opera Settecento, Musikalische
Leitung: Leo Duarte (auch 5.6.2020 Händel-Festspiele
Halle)Besetzung: Dionisio (Tenor), Isabella (Kontraalt), Alfonso
(Kontraalt), Elvida (Sopran), Sancio (Kon-traalt), Fernando
(Kontraalt), Altomaro (Bass)Orchester: Ob I, II, Cor I, II, Tr I,
II, Vl I, II, III, Va, Kb, B.c. (Vc, Kb, Fag, Cemb)Verlag:
Bärenreiter, BA 10713, BA 10260, Auffüh-rungsmaterial leihweise
Irr
tum
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isänd
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g und
Lief
erun
gsm
öglic
hkeit
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alten
Jean-Philippe RameauOpera omnia
Lieferbare Bühnenwerke:
AnacréonBallet héroïque en un acte (1754)BA 8851 Part. OOR IV/25
und KlA (BA 8851-90) käu ich
Castor et Pollux Tragédie en cinq actes (1754, compléments de
1763-1764)BA 8864
Daphnis et ÉgléPastorale héroïque BA 8862 Part. OOR IV/22 und
KlA (BA 8862-90) käu ich
DardanusTragédie en un prologue et cinq actes (1739, 1744)BA
8854 Part. OOR IV/5 (1739) und KlA (BA 8854-90) käu ich
Les Fêtes de l’Hymen et de l‘AmourBallet héroïqueen un prologue
et trois entréesBA 8858 Part. OOR IV/14 und KlA (BA 8858-90) käu
ich
Hippolyte et AricieTragédie en cinq actes (1757, 1742)BA 8853
Part. OOR IV/6 und KlA (BA 8853-90) käu ich
Les Indes galantesBallet héroïque en un prologue et quatre
actesBA 8860-01 Part. OOR IV/2,7 und KlA (BA 8860-90) käu ich
NaïsOpéra en un prologue et trois actesBA 8857 Part. OOR IV/18
und KlA (BA 8857-90) käu ich
Les PaladinsComédie-ballet en trois actesBA 8870
PigmalionActe de balletBA 8861-01 Part. OOR IV/16 käu ich
Platée Ballet bou on en un prologue et trois actesBA 8852 Part.
OOR IV/10 und KlA (BA 8852-90) käu ich
Le Temple de la GloireFête en un prologue et trois actesBA
8859
ZaïsBallet héroïque en un prologue et quatre actesBA 8856 Part.
OOR IV/15 und KlA (BA 8856-90) käu ich
ZoroastreTragédie en cinq actesBA 8867
Au� ührungsmaterial leihweise
OOR = Opera omnia RameauKritische Gesamtausgabe der
musikalischen WerkePart. = PartiturKlA = Klavierauszug
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BärenreiterAuslieferung weltweit:
Ausführliche Werkeinführungen zu den Titeln � nden Sie unter
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[t]akte 2I2019 76 [t]akte 2I2019
[t]akte 2I2019Dem österreichisch-spanischen Hochzeitsanlass
gemäß wird aus dem alten Ehepaar Philemon und Baucis ein junges
Paar. Glucks Einakter „Atto di Bauci e Filemone“ mit seinen
Bravourarien ver-dient Wiederaufführungen.
Sängerische Herausforde-rung damals wie heuteGlucks „Atto di
Bauci e Filemone“
Die nicht zu überschätzende Wirkung der Opern Christoph
Willibald Glucks ist allgemein bekannt. Eine Reihe mit vier Alben,
nach Stimmlagen sor-tiert, macht seine Arien jetzt für Unterricht
und Aufführung zugänglich.
Arien eines RevolutionärsEine vierbändige Reihe mit Glucks Arien
aus französischen Opern
Glucks Atto di Bauci e Filemone wurde im Rahmen prächtiger
Hochzeitsfeierlichkeiten für die Erzherzogin Maria Amalia mit dem
Infanten Ferdinand von Spanien im Sommer 1769 zum ersten Mal am
Hoftheater in Par-ma aufgeführt. Er ist Teil seiner Feste d’Apollo,
eines Auf-tragswerks Kaiserin Maria Theresias für die Hochzeit
ihrer Tochter, das aus mehreren Einaktern besteht, die als
Allegorien auf die Feierlichkeiten Bezug nehmen. Auf einen Prologo
folgen drei thematisch unabhängige Akte pastoralen Charakters, der
Atto di Bauci e Filemone, der Atto d‘Aristeo und der abschließende
Atto d‘Orfeo.
Das Libretto zum Atto di Bauci e Filemone stammt von Luca
Antonio Pagnini und basiert auf Ovids Me-tamorphosen. Die aus der
griechischen Mythologie stammende Geschichte um das alternde
Liebespaar Philemon und Baucis wird von ihm aber insofern
modi-fiziert, als er aus dem alternden ein junges Paar macht.
Göttervater Giove kommt als Reisender verkleidet nach Phrygien, um
die Einwohner für ihre Frevel zu bestra-fen. In ländlicher Gegend
trifft er auf das Schäferpaar, das ihn in ihrer einfachen Hütte
willkommen heißt. Giove gibt sich daraufhin zu erkennen und teilt
ihnen bei der Hochzeit mit, dass sie künftig in seinem Tempel
zusammenleben und bei ihrem Tod Halbgötter und Beschützer der
Region werden.
Das Werk besteht aus fünf Szenen, in denen sich nach einer
einleitenden Introduzione vier Arien, zwei Duet-te, vier Chöre und
ein Instrumentalstück (Tempesta) mit Rezitativen abwechseln. Von
den zwölf geschlos-senen Nummern hat Gluck die Hälfte entsprechend
überarbeitet aus früheren seiner Werke übernommen; fünf hat er in
seinen späteren französischen Werken wiederverwendet. Das
Hoftheater von Parma war un-ter seinem Intendanten, dem
französischen Minister Guillaume Du Tillot, sehr interessiert
daran, französi-sche und italienische Kultur miteinander zu
verbinden,
und das Herzogtum Parma wurde insbesondere in seiner Amtszeit ab
1759 zu einem Schmelztiegel beider Kulturen. So spielen in den
Feste d’Apollo und auch im Atto di Bauci e Filemone neben virtuosen
italienischen Arien und der Verpflichtung eines Soprankastraten die
nach französischem Vorbild in die Handlung integrierten und
überwiegend getanzten Chöre eine wichtige Rolle.
Bei den in Parma gefeierten Hochzeitsfeierlich-keiten hatte man
für die Rolle der Bauci die damals 26-jährige Sopranistin Lucrezia
Agujari verpflichtet. Die Stimme der in ganz Europa auftretenden
Opern-sängerin erreichte eine außergewöhnliche Höhe. Ihre große
dreiteilige Bravourarie „Il mio pastor tu sei” in der dritten Szene
reicht bis zum g‘‘‘. Leopold Mozart, der sie zusammen mit seinem
Sohn Wolfgang in Par-ma gehört hatte, äußerte sich in einem Brief
vom 24. März 1770 zu ihrem außergewöhnlichen stimmlichen Talent:
„In Parma hat uns die Sgra Guari … zum speisen eingeladen, und hat
uns 3 Arien gesungen. daß Sie bis ins c Sopraacuto solle hinauf
singen, war mir nicht zu glauben möglich: allein die ohren haben
mich dessen überzeuget.“ Als Liebhaber Filemone hatte man den
Soprankastraten Vincenzo Caselli engagiert. Dieser hatte bei der
Uraufführung des Antigono 1755 bereits als Seconda donna Ismene in
einer Gluck-Oper mitge-wirkt. Mozart hörte ihn 1770 in Mantua und
berichtete brieflich an seine Schwester: „die opera zu mantua ist
hübsch gewesen, sie haben den Demetrio gespillet, … il primo uomo,
il musico, singt schön, aber einne ungleiche stime, er nent sich
Casselli“. Die Partie des Göttervaters Giove sang der Tenor Gaetano
Ottani, der ebenfalls für Gluck kein Unbekannter war, hatte er doch
in seiner Clemenza di Tito 1752 am Teatro San Carlo in Neapel die
Titelrolle gesungen.
Wie damals in Italien üblich, sind weder Partitur noch
Stimmenmaterial des Atto di Bauci e Filemone im Druck erschienen
und nur in zeitgenössischen Hand-schriften überliefert. Im Rahmen
der Gluck-Gesamtaus-gabe wurden die kompletten Feste d’Apollo
inzwischen als wissenschaftlich-kritische Edition erarbeitet.
Gabriele Buschmeier
Christoph Willibald GluckAtto di Bauci e Filemone (Parma 1769).
Hrsg. von Gabriele Buschmeier. Gluck: Sämtliche Werke III/28,
Teilband a.Besetzung: Bauci (Sopran), Filemone (Sopran), Giove
(Tenore), Chor (SATB)Orchester: Flauto I,II, Oboe I,II, Fagotto
I,II; Corno I,II, Tromba I,II; Violino I,II, Viola, Bassi,
CembaloVerlag: Bärenreiter BA 5840, Aufführungsmate-rial
leihweiseJupiter und Merkur im Hause von Philemon und Baucis.
Gemälde von
Jacob Jordaens. North Carolina Museum of Art
Christoph Willibald Gluck (1714–1787) gilt als der große
Opernreformator in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Mit Ranieri
de’ Calzabigi brachte er eine Reform der itali-enischen Opera seria
auf den Weg, wie sie in seinem Orfeo (1762) verwirklicht wurde. Mit
Calzabigi sowie der Unterstützung durch den Choreographen Gasparo
Angiolini hatte er bereits einige Monate zuvor Don Juan ou Le
Festin de pierre als erstes Beispiel für ein Handlungsballett
entworfen. Unter dem Einfluss der Dauphine und späteren Königin
Marie-Antoinette ließ er sich 1773 in Paris nieder. Dort gelang es
ihm mit der Hilfe einiger Librettisten und Übersetzer wie
Pierre-Louis Moline, François-Louis Gand Le Bland Du Roullet oder
Nicolas-François Guillard innerhalb we-niger Jahre, die Gattung der
französischen „tragédie en musique“ zu erneuern. Glucks Iphigénie
en Aulide (1774) war ein noch größerer ästhetischer Schock für das
Publikum als seinerzeit Rameaus Hippolyte et Aricie. Die Vertonung
von Armide, dem Hauptwerk Philippe Quinaults, verdrängte
Jean-Baptiste Lullys Musik und stellte die Wirkung seiner eigenen
unter Beweis. Mit weniger als zehn Opern, die bei Hofe und in Paris
zwischen 1774 und 1779 gespielt wurden – Neu-kompositionen
oder Bearbeitungen wie im Falle von Orphée et Eurydice (1774),
Cythère assiégée (1775), L’Arbre enchanté (1775) und Alceste (1776)
– verhalf Gluck der französischen Oper zum Aufbruch in eine neue
Zeit. Allerdings wurde sein Stil von den Anhängern der
italienischen Musik, deren Galionsfiguren Piccinni und Sacchini
hießen, der Kälte und Härte bezichtigt, was den Streit zwischen den
Gluckisten und Piccinnisten (1778–1779) heraufbeschwor. In der Tat
stieß Gluck das Publikum der Académie royale de musique durch den
Verzicht auf alte, aus dem 17. Jahrhundert stammende, aber
mittlerweile überholte Gepflogenheiten vor den Kopf: Die Anzahl der
Ballette wurde reduziert, und sie wurden in die Bühnenhandlung
integriert. Rezitative wurden durchgängig begleitet und flüssig und
ohne Verzierungen vorgetragen. Der Chor nahm unmittelbar am
Dramengeschehen teil. Die Arien, entweder aus-drucksstarke
Kavatinen oder leidenschaftliche Stücke, erwiesen sich als von nie
zuvor gehörter Intensität.
Glucks Kunst wurde in Paris von einigen seiner Schüler wie
Lemoyne, Vogel oder Salieri fortgeführt und erregte bis in die
Mitte des folgenden Jahrhunderts große Bewunderung, allen voran
diejenige von Hector Berlioz. Durch die Anhebung des Stimmtones und
die zunehmend größeren Säle und Orchester verschwan-den seine Werke
jedoch bis zur Mitte des 19. Jahrhun-derts aus dem Repertoire
der Opéra. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurden Glucks
französische Opern, insbesondere dank der Anstrengungen Berlioz’,
der 1859 Orphée et Eurydice für die Mezzosopranistin Pauline
Viardot bearbeitete, indem er die Wiener und Pariser Versionen
mischte, wieder im Repertoire ver-
ankert und kehrten allmählich auf die Bühnen zurück. Sie wurden
in viele Sprachen übersetzt und erfreuten sich nicht zuletzt in
Deutschland großer Beliebtheit. Für Beethoven, Weber und
insbesondere für Wag-ner galt Gluck als einer der Gründerväter der
modernen Oper. Aber vor allem die his-torische Aufführungspraxis
der 1970er Jahre, die neu-en Interpretationsansätze und der Einsatz
historischer Instrumente in authenti-scher Stimmung verschaff-ten
Gluck neue Aktualität. Heutzutage auf modernen und barocken
Instrumenten gleichermaßen gespielt, ernten seine französischen
Opern nun allgemeine Be-wunderung und zählen ne-ben Mozarts
Bühnenwerken zu den meistgespielten des 18. Jahrhunderts.
Seit ihrer Entstehung in den 1770er Jahren sind Glucks
französische Opern- arien wie „J’ai perdu mon Eurydice“ (Orphée),
„Divi-nités du Styx“ (Alceste) oder „Ô malheureuse Iphigénie“
(Iphigénie en Tauride) zu un- verzichtbaren Stücken für
Gesangsunterricht, Konzer- te, Vorsingen und – in jüngster Zeit –
CD-Recitals ge-worden.
Erstmals sind nun sämtliche Arien in Form von Kla-vierauszügen,
größtenteils auf Basis der Gluck-Gesamt-ausgabe (Christoph
Willibald Gluck, Sämtliche Werke, Bärenreiter-Verlag), in vier
zweisprachig angelegten (fr./engl.) und nach Stimmlagen geordneten
Bänden (Sopran, dramatischer Sopran/Mezzosopran, Tenor und Bariton)
versammelt. Benoît Dratwicki
Christoph Willibald GluckAirs d’opéra français / French Operatic
Arias. Dessus et grand dessus / Soprano and Mezzo- soprano. Hrsg.
von Benoît Dratwicki. Koproduk-tion Centre de musique baroque de
Versailles/Bärenreiter-Verlag 2019. BA 8167. Klavierauszug €
47,95.In Vorbereitung: Dessus/Soprano (BA 8166), Haute- contre /
Tenor (BA 8168), Basse-taille / Baritone (BA 8169)
Dorothea Röschmann als Alceste in Sidi Larbi Cherkaouis
Inszenierung von Glucks „Alceste“ an der Bayerischen Staatsoper
(Musikal. Leitung Antonello Manacorda) (Foto: Wilfried Hösl)
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[t]akte 2I2019 98 [t]akte 2I2019
[t]akte 2I2019
Nach der konzertanten Erstaufführung der Dia-logfassung von
Charles Gounods „Faust“ ist nun die CD der Pariser Premiere
erschienen, und in den USA hat die szenische Erstaufführung
stattgefun-den.
„Faust est ressuscité! Faust vient de renaître!“Die
Wiederentdeckung der Dialogfassung von Gounods „Faust“ auf der
Bühne und auf CD
In den 1870er Jahren ging es Camille Saint-Saëns im Umfeld der
gerade gegründeten „Société nationale de musique“ darum, in der
Instrumentalmusik Anschluss an die großen deutschen romantischen
Orchesterwerke zu finden und für Frankreich ein genuines Repertoire
zu entwickeln. Mit der Wahl der Gattung positionierte sich der
Komponist zugleich musikpolitisch, nämlich auf der Seite der
Neudeutschen, der „Zukunftsmusiker“, gegen reaktionäre Haltungen –
und schürte damit, wie die frühen Presseberichte dokumentieren, in
Paris damals gerade antideutsche Ressentiments. Diesen so
spannenden wie kontroversen Prozess beschreibt ein spezielles Essay
zur Rezeption des Editionsleiters Michael Stegemann im
Gesamtausgaben-Band.
Le Rouet d‘Omphale (Das Spinnrad der Omphale) war zunächst als
ein Werk für zwei Klaviere konzipiert, und auch eine Fassung für
Klavier solo erschien im Druck, bevor Saint-Saëns sein „Scherzo“ im
März 1872 orche-strierte. Bereits am 14. April brachte es Jules
Pasdeloup zur Aufführung. In einer der gedruckten Partitur
vor-angestellten Notiz erläutert der Komponist: „Sujet ist die
weibliche Verführungskraft, der triumphierende Sieg der Schwäche
über die Stärke. Das Spinnrad ist nur ein Vorwand, gewählt aus
rhythmischen Überlegungen und wegen der grundsätzlichen Bewegtheit
des Stü-ckes. Wer sich für solche Details interessiert, kann
beobachten, wie Herakles unter den Fesseln, die er nicht zerreißen
kann, ächzt, und wie Omphale über die verzweifelten Versuche des
Helden spottet.“
Phaéton hob Édouard Colonne am 7. Dezember 1873 im Théâtre du
Châtelet aus der Taufe. „Der Kerngedanke von Phaéton ist der
Hochmut, so wie der Kerngedan-ke von Le Rouet d’Omphale die Wollust
ist“, erklärte Saint-Saëns. Als Quelle diente Saint-Saëns wohl der
Phaeton-Mythos aus Ovids Metamorphosen. Phaeton war es gestattet,
im Wagen seines Vaters, des Sonnen-gottes, durch den Himmel zu
fahren. Doch verloren seine ungeübten Hände die Kontrolle über die
Pferde. Der brennende Wagen kam vom Kurs ab und stürzte beinahe auf
die Erde. Das gesamte Universum hätte in Flammen aufgehen können,
hätte Zeus nicht den leicht-sinnigen Phaeton mit seinem Blitz
niedergestreckt.
Die Danse macabre, heute wohl das bekannteste musikalische
Totentanzstück überhaupt, hat ihren Ursprung in einem gleichnamigen
Lied, das Saint-Saëns im August 1872 auf ein Gedicht mit dem Titel
„Égalité – Fraternité“ von Henri Cazalis komponiert hatte. Nach dem
Erfolg seiner beiden früheren symphonischen Dichtungen komponierte
Saint-Saëns 1874 diese dritte als Erweiterung des Liedes. Der
Partitur stellt er einen Ausschnitt aus dem Gedicht voran:
Zig et zig et zag, la mort en cadence / Frappant une tombe avec
son talon, / La mort à minuit joue un air de danse, / Zig et zig et
zag, sur son violon.
Édouard Colonne di-rigierte, von der Presse wenig enthusiastisch
aufgenommen, die ers-te Aufführung am 24. Januar 1875 im Concert du
Châtelet sowie die Wiederholung am 7. Fe-bruar. Als Pasdeloup das
Werk a m 24 . Ok tober 1875 dirigierte, reagierte das Publikum gar
mit Pfiffen und Buhs; viel-leicht dachte das Publi-kum schlicht,
dass die verstimmte Geige falsch spielte? Die E-Saite der
Solovioline nämlich, die die teuflische Seite der Musik verkörpert,
ist auf Es heruntergestimmt und bildet so mit der leeren A-Saite
das „diabolische” Intervall des Tritonus; an keiner Stelle geht der
So-lopart höher als bis zum es2, so dass die Saite nur leer
angespielt wird. Beson-ders ist auch der erstmalige Einsatz eines
Xylophons im Orchester, das zu der ganz spezifischen Klangfarbe
beiträgt.
Saint-Saëns komponierte La Jeunesse d‘Hercule im Winter 1876/77
und am 28. Januar 1877 fand die Ur-aufführung unter der Leitung von
Édouard Colonne statt. Die Xenophons Memorabilia entnommene Fabel
erzählt, wie Herakles sich am Anfang seines Lebens zwischen zwei
Wegen entscheiden muss: demjenigen der Lebensfreude und demjenigen
der Tugend. Den Verführungskünsten der Nymphen und Bacchantin-nen
gegenüber unempfänglich, macht der Held sich auf seinen Lebensweg
voller Kämpfe und Herausfor-derungen, an dessen Ende ihm durch die
Flammen des Scheiterhaufens als Lohn die Unsterblichkeit winkt.
Hugh Macdonald / Annette Thein
Camille Saint-SaënsLe Rouet d’Omphale, op. 31, Phaéton, op. 39,
Danse macabre, op. 40, La Jeunesse d’Hercule, op. 50. Édités par
Hugh Macdonald. Œuvres instrumen-tales complètes I/4. Verlag:
Bärenreiter. BA 10307-01, Aufführungs-material käuflich (Danse
macabre), leihweise (op. 31, 39, 50)
Nicht immer nur die „Danse macabre“Die symphonischen Dichtungen
von Camille Saint-Saëns
Mit seinen vier symphonischen Dichtungen stellt sich Camille
Saint-Saëns entschieden in die Tradi-tion von Hector Berlioz und
Franz Liszt. Die kriti-schen Erstausgaben bieten Gelegenheit für
neue Interpretationen auf verlässlicher Quellengrund- lage, nicht
nur im Gedenkjahr 2021 (100. Todestag).
„Danse macabre“. Titelseite der Ausgabe für Singstimme und
Klavier (Paris, Énoch 1873)
Die konzertante Erstaufführung von Gounods Faust in seiner
frühen, 1859 für das Pariser Théâtre-Lyrique entstandenen Fassung,
mit wunderbaren, bislang un-bekannten Melodramen und Rezitativen
war eines der
Präsente zu Gounods 200. Geburtstag. In-zwischen ist die
Einspielung der Erstauf-führung vom 14. Juni 2018 mit Véronique
Gens (Marguerite), Benjamin Bernheim (Faust), Andrew
Foster-Williams (Mé-phistophélès), dem Flemish Radio Choir und den
Talens Lyriques unter der Lei-tung von Christophe Rousset auf CD in
der Reihe Opéra français des Palazzetto Bru Zane erschienen. Auch
die szenische Erstaufführung der Neuausgabe von Paul Prévost fand
am 14. April 2019 in Omaha (Nebraska) statt.
Pressestimmen
„Faust est ressuscité! Faust vient de renaître! – „Faust ist
auferstanden! Faust ist wiedergeboren! Die Unterschie-de gegenüber
der üblicherweise aufgeführten Fassung sind zahlreich, vor allem
ist es die Anwesenheit der gesprochenen Dialoge und der Mélodrames,
die den generellen Tonfall des Werks verändern. Entsprechend den
Prinzipien des Cromwell-Vorworts schrieben die Librettisten Jules
Barbier und Michel Carré ein roman-tisches Drama, in dem das
Groteske an das Erhabene grenzt, in dem sich Katholizismus mit
französischem Witz mischt. Das Wort überlassen sie vor allem zwei
Charakteren, die in der Fassung von 1869 eher diskret bzw. fast
ganz gestrichen wurden: Wagner, ein Schüler Fausts, und Marthe,
Marguerites Nachbarin. Beide sind Rollen der ,Opéra-comique‘, und
wenn Méphisto noch mit teuflischem Schalk hinzukommt, so sind
etliche Lacher sicher – was in der späteren Fassung eher nicht der
Fall ist. […] Akt I, Bild 1 enthält ein substantielles Trio
Faust-Siebel-Wagner. Im zweiten Bild bietet der Abschied von
Marguerite und Valentin Anlass für ein kleines Duo. Während der
Kirchweih singt Méphisto die ,Chanson de Maître Scarabée‘ (die 1869
durch das ,Ronde du Veau d’or‘ ersetzt wurde). Im Garten-Akt sind
Siebels Couplets mit gesprochenen Passagen durchsetzt. Und im Bild
in Marguerites Kammer singt der junge Student nicht ,Si le bonheur
à sourire t’invite‘, sondern die sehr schöne Arie ,Versez vos
chagrins dans mon âme‘. In der Szene in der Kirche unterbricht der
Chor mehrmals; und als Valentin aus dem Krieg heimkehrt, stürzt er,
ein weit größerer Haudegen als in der bekannten Fassung, sich in
martialische Couplets (die später der berühmte Soldatenchor
ersetzt). Die Apothéose schließlich ist
weit mehr ausgearbeitet und gibt dem Orchester deut-lich mehr
Gewicht.“
Jacques Bonnaure, Opéra Magazine September 2018
„Prévosts Arbeit ist unter musikologischem Gesichts-punkt
faszinierend, aber, wichtiger noch, sie ist auch theatralisch
nutzbar, wie diese berauschende Erstaufführung mit Christophe
Rousset und den Ta-lens Lyriques demonstriert, die mit der ihr
eigenen Leichtigkeit und Präzision und einer toll schroffen
Bläserabteilung auf zeitgenössischen Instrumenten spielen. Die
traditionelle Eichen-Mahagoni-Orchest-rierung des Werks macht
lichteren Farben und klare-ren Linien Platz. Mit neuer Energie
tanzt es in neuem Geist – nicht als die bekannte Tragödie, sondern
mit der sprunghaften Energie einer Opéra demi-caractère. […]
Vielleicht noch bemerkenswerter als die neue Musik aber ist der
neue Geist, den diese Änderungen dem Werk einhauchen.
Méphistophélès wird beinahe eine komische Rolle – ein städtischer,
witziger Lebemann, der mit zahlreichen Spötteleien das Publikum
umwirbt – assistiert von der aufgepeppten Rolle der geschwätzi-gen
Nachbarin Dame Marthe. […] Dieser „neue“ Faust ist eine Offenbarung
– eine faszinierende Ergänzung der bekannten Fassung von 1869 und
zugleich eine aufregende Alternative.“
Alexandra Coghlan, Opera September 2018
Charles GounodFaust. Oper in 5 Akten. Erstfassung 1859 mit
Di-alogen. Hrsg. von Paul Prévost. L’Opéra français. Verlag:
Bärenreiter, BA 8714 (Aufführungsmate-rial leihweise)
„Die Opera Omaha gab der wiederhergestellten Fassung von ,Faust‘
ein himmlisches Debüt“ (World Herald 13.4.2019). Szenenfoto aus der
szenischen Erstaufführung am 12. April 2019 (Musikalische Leitung:
Steven White, Inszeneriung: Lileana Blain-Cruz)
-
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[t]akte 2I2019 1110 [t]akte 2I2019
[t]akte 2I2019Auf der Basis einer bisher nicht berücksichtigten
Quelle legt Haig Utidjian die Orgelversion von Dvořáks D-Dur-Messe
vor, erstmals ergänzt um Violoncello- und Kontrabassstimmen.
Dvořáks beliebtestes geistliches WerkNeuedition der Messe D-Dur
op. 86
Die Umstände, unter denen Antonín Dvořáks beliebte D-Dur-Messe
entstanden ist, sind weitgehend bekannt. Das Werk entstand auf
Anregung des bedeutenden tschechischen Architekten und Kunstmäzens
Josef Hlávka, des späteren Begründers und ersten Präsiden-ten der
Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Hlávka ließ sich 1886 in
der Nähe seines Sommersitzes
– eines Schlosses im westböhmischen Lužany – eine neue Kapelle
errich-ten und bat seinen Freund Antonín Dvořák, für ihre Weihe
eine neue Mes-se zu komponieren. Dvořák erfüllte ihm diesen Wunsch
gern und schuf eine Messe für Soli, Chor und Orgel. Unter
Berücksichtigung des Zwecks, zu dem die Messe komponiert wurde, und
im Wissen um die begrenzten Interpretationsmöglichkeiten der
Aufführung teils durch Amateure wählte er eine einfache formale
Glie-
derung und achtete auf eine übersichtliche Faktur der
Gesangsparts und auf die Möglichkeit, dass Solostellen von
Chorsängern übernommen wurden. Aufgrund des kleinen Raumes in der
Kapelle von Lužany beschränkte er überdies die
Instrumentalbegleitung nur auf die Orgel. Doch auch mit diesen
bescheidenen Mitteln gelang es ihm, ein eigenwilliges Opus zu
schaffen, das aufgrund seiner außerordentlichen musikalischen
Qualitäten den Charakter eines Gelegenheitswerkes bei Weitem
übersteigt.
Die Weihe der Kapelle, bei der das Werk erstmals aufgeführt
wurde, fand am 11. September 1887 statt. Das Werk wurde von Dvořák
selbst dirigiert, den Part des Sopransolos übernahm Hlávkas Frau
Zdenka, den des Alts wiederum die Gattin des Komponisten Anna.
Zur ersten öffentlichen Aufführung kam es dann in Pilsen, jedoch
nicht in einer Kirche, sondern im Stadttheater, wo es keine Orgel
gab. Stattdessen stellte man zwei Harmoniums zur Verfügung, und so
schrieb Dvořák aus praktischen Gründen für diese Aufführung
Violoncello- und Kontrabassstimmen hinzu, die die Pedale ersetzen
sollten.
Nach der erfolgreichen Aufführung erklang die Messe mit den
hinzugefügten Stimmen auch im Prager Rudolfinum, obwohl im Saal
eine 16´-Register-Orgel stand. Diese Version des Werkes befindet
sich in einer bisher von Musikwissenschaftlern vernachlässigten
Quelle – der zweiten Abschrift des Schreibers Jan Elsnic mit den
von Dvořák eigenhändig hinzugefügten Stim-men der tieferen
Streicher. Und gerade diese Abschrift legte der Komponist dem
Londoner Verlag Novello zur Veröffentlichung vor. Auch wenn dieser
die Partitur bezahlte, gab er diese Version schließlich nicht
heraus
und verlangte von Dvořák eine Orchesterversion, die dann 1893
erschien.
Haig Utidjian hat diese Abschrift aus dem Eigentum des Verlags
Novello (nun aufbewahrt in der British Library) als Hauptquelle für
eine Neuedition gewählt und verändert so die bisherige Auffassung
vom Kam-merklang dieses Werkes. Auch nach den Forschungen des
bedeutenden Dvořák-Forschers David Beveridge handelt es sich um
eine Version, die Dvořák als end-gültig ansah, ehe er 1892 die
Orchestrierung in Angriff nahm. Utidjian untersuchte die neue
Version im Rah-men eines Doktorandenprojekts an der
Karlsuniversität Prag und gelangte zu dem Schluss, dass die Edition
der Orgelversion, die im Rahmen der Dvořák-Gesamt-ausgabe (hrsg.
von Jarmil Burghauser und Antonín Čubr 1970 bei Supraphon) sehr
umstritten sei, da den Editoren die von Dvořák autorisierten und
ergänzten Abschriften nicht zur Verfügung gestanden hätten. Die
neuere Edition von Michael Pilgington (Novello 2000) greife zwar
auf sie zurück, werte sie jedoch falsch aus, somit sei die Edition
für eine praktische Nutzung un-geeignet. Dvořák habe eindeutig die
Aufführung der Orgelversion mit Begleitstimmen der tiefen Streicher
den Vorzug gegeben. Deshalb müssten jede weitere Edition und
Aufführung dieser Messe diesen Umstand berücksichtigen.
In der Neuedition wurde neben der Londoner Quelle außerdem noch
eine neu entdeckte Quelle herangezo-gen: ein kompletter Satz von
vier Vokalparts, der im Schloss in Lužany gefunden wurde. Im Lichte
dieser Quellen schuf der Herausgeber eine Neuedition der
Kammerversion, die entweder nur mit Orgel – also als „reine“
Orgelversion – oder mit den hinzugefügten Stimmen für Violoncello
und Kontrabass aufgeführt werden kann. Die ganze Edition bietet
eine maximal mögliche praktische Nutzung – neben der Partitur
umfasst sie überdies einen Orgelauszug (ohne Strei-cherstimmen) und
eine Chorpartitur, die auch mit der späteren Orchesterversion
kompatibel sind. Die neueste Urtext-Edition bietet somit die
einzigartige Möglichkeit, ein Werk in drei Versionen
aufzuführen.
Eva Velická
Antonín DvořákMesse D-Dur für Soli, Chor und Orgel mit der
Violoncello- und Kontrabassstimme ad libitum op. 86. Hrsg. von Haig
Utidjian. Bärenreiter Praha, BA 10434. Partitur,
Violoncellostimme/Kontrabassstimme, Orgelauszug, Chorpartitur –
Kompatibles Leihmaterial zur Orchesterfassung H 4839-72
„Pure Freude, dieses Stück zu spielen“Frank Peter Zimmermann
über Bohuslav Martinůs Violinkonzerte
Mit den Berliner Philharmonikern hat Frank Peter Zimmermann
schon beide Violinkonzerte von Bohuslav Martinů aufgeführt. Im
Interview spricht der Geiger über die Schönheiten und
Herausforderungen dieser Werke.
Martinů gehört zu den großen Komponisten des 20. Jahr-hunderts.
Warum werden seine Violinkonzerte so selten aufgeführt?Martinů hat
eine ganz eigene Tonsprache. Seine Musik lässt sich in keine
Schublade stecken, weil sie so wan-delbar ist: mal
impressionistisch, mal expressiv, mal perkussiv, dann wieder sehr
gesanglich und lyrisch. Sie widersetzt sich jeder stilistischen
Einordnung. Hinzu kommt noch das tschechische Idiom von Martinůs
Musik. Diese böhmischen Tanzrhythmen mit ihren vertrackten
metrischen Verschiebungen! Die sind schwer zu realisieren.
2012 haben Sie bereits das zweite Violinkonzert von Martinů mit
den Philharmonikern aufgeführt. Jetzt in-terpretieren sie das
erste. Worin unterscheiden sich die beiden Werke?Das zweite
Violinkonzert steht ganz in der Tradition des großen romantischen
Konzerts. Martinů schrieb es 1943 im amerikanischen Exil für Mischa
Elman, einen Geiger alter Schule. Ganz anders dagegen das erste
Konzert, das zehn Jahre früher in Paris entstand: Martinů setzte
sich damals intensiv mit dem Werk Igor Strawinskys auseinander und
der Einfluss des russischen Komponisten ist vor allem in den beiden
Ecksätzen des Konzerts stark zu spüren, zumal das Stück für einen
Geiger geschrieben wurde, der viel und eng mit Strawinsky
zusammengearbeitet hat: Samuel Dushkin, der u. a. die Uraufführung
von Strawinskys Violinkonzert spielte. Außerdem beschäftigte sich
Martinů zu der Zeit mit der barocken Form des Concerto grosso. Auch
das schlägt sich in der Komposition des Konzerts nieder.
Wie stark merkt man dem Stück an, dass es für Samuel Dushkin
geschrieben wurde? Gibt es Passagen, die typisch für sein Spiel
sind?Dushkin und Martinů hatten einen regen Meinungs-austausch. Der
Geiger war allerdings nicht einfach zufriedenzustellen, weil er
seinen Part sehr virtuos haben wollte. So gehen die dreistimmigen
Akkord-passagen auf ihn zurück. Um diese zum Klingen zu bringen,
muss man den Bogen sehr stark auf die Geige pressen. Das kommt für
mein Empfinden fast einer „Vergewaltigung“ des Instruments gleich.
Und dann gibt es viele Quartintervalle und extrem weite Sprünge bis
zur dreizehnten, vierzehnten Lage. Dabei den Ton sauber zu treffen,
ist fast wie ein Lottogewinn (lacht). Ich denke, auch diese
Intervallsprünge waren Dushkins Idee. Übrigens hat Dushkin das
Konzert nie gespielt. Die Partitur ging verloren und tauchte erst
Jahrzehnte später wieder auf. Erst 1973 wurde das Konzert von Josef
Suk uraufgeführt. Martinů war selbst ein professio-neller
Geiger.
Wie hat diese Tatsache die Komposition seines Violinkon-zerts
beeinflusst?Das ist ja das Schöne daran! Man spürt sofort, dass
dieses Werk von einem Geiger komponiert wurde. Trotz aller
Schwierigkeiten ist es sehr geigerisch konzipiert. Es ist pure
Freude, dieses Stück zu spielen.
Was lieben Sie an diesem Konzert besonders? Wo liegen für Sie
die Herausforderungen?Ich habe das Stück als 13-Jähriger mit Josef
Suk als Solist gehört und war sofort davon fasziniert. Diese
unbändige musikantisch-böhmische Musizierlust, die das Stück
besitzt, ist einfach mitrei-ßend. Darin liegt gleichzeitig die
He-rausforderung für uns Interpreten. Jeder − egal, ob So-list,
Dirigent oder Orchestermusiker − muss diese kom-plizierte Rhythmik
mit ihren metri-sc hen Versc h ie-bungen, die von der tschechischen
Tanzmusik inspi-riert ist, verinner-licht haben. Es gibt Stellen,
bei denen sonst die Gefahr besteht, dass das Ganze
auseinanderbricht. Ich habe mir diese Stellen ganz pragmatisch mit
dem Metronom erarbeitet.
Wie gestaltet sich in diesem Konzert das Zusammenspiel zwischen
Solist und Orchester?Das Orchester muss sehr durchsichtig, leicht
und trans-parent spielen. Das Konzert sollte fast wie ein Stück aus
der Barockzeit behandelt werden.
Das Interview erschien 2018 auf der Website der Stiftung
Berliner Philharmoniker, Wiederveröffentlichung mit freundlicher
Genehmigung der Stiftung.
Bohuslav MartinůKonzert Nr. 1 für Violine und Orchester H
226Konzert Nr. 2 für Violine und Orchester H 293Verlag:
Bärenreiter, Partitur und Aufführungsma-terial jeweils leihweise,
Klavierauszug käuflich (BA 11527-90 / BA 11529-90)
Frank Peter Zimmermann spielt Martinů mit den Berliner
Philharmonikern unter der Leitung von Jakub Hrůša (Foto: Stephan
Rabold)
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[t]akte 2I2019 1312 [t]akte 2I2019
[t]akte 2I2019Der bekannte Unbekannte Engelbert Humperdinck vor
dem 100. Todestag am 27. September 2021.
„Hänsel und Gretel“ hat seinen Stammplatz unter den
meistgespielten Opern. Aber darüber hinaus bieten Humperdincks
Märchenopern, Schauspiel-musiken und Orchesterwerke reichlich
Gelegenheit zu Entdeckungen.
Es gibt Komponisten, die weltbekannt sind, mit deren Namen aber
nur ein einziges Stück verbunden ist, obwohl ihr Œuvre
vielfältiger, reicher und farbiger ist. Für Dramaturgen,
Programmplaner und Interpreten sind solche Komponisten eine Chance,
da zumindest der Name auf den Programmen Publikum anzulocken
verspricht. Für die Interpreten bietet sich die Chance, Neuland zu
erkunden und doch schon vorher zu wissen, welcher Dialekt dort
gesprochen wird.
Als Engelbert Humperdinck mit der Märchenoper Hänsel und Gretel
seine über ein Jahrzehnt dauernde und durch sein ausführliches
Engagement für die Musik Richard Wagners ausgelöste Schaffenskrise
beenden konnte, war sicher weder ihm noch seinen Verwandten und
Freunden klar, dass hier ein Welter-folg, Kassenschlager und
gleichzeitig auch ein künst-lerischer Fluch geboren war, der
Humperdinck bis an sein Berufsende verfolgen sollte. Natürlich war
mit der Oper eine große Last von Humperdincks Schultern genommen.
Der Erfolg verselbständigte sich in kurzer Zeit so weit, dass
finanzielle Sorgen nicht mehr zu be-fürchten waren. Gleichzeitig
war aber der Druck über-mächtig, etwas dem Stück Ebenbürtiges zu
schaffen. Dabei war es nicht so, dass der Komponist sich nicht in
verschiedenen Genres mit unterschiedlichen Ideen und innovativer
Schöpferkraft als kreativer Tonsetzer bewiesen hätte. Alleine der
große zweite Wurf wollte und sollte nicht gelingen.
Im Abstand von nun über hundert Jahren muss man das Werk
Humperdincks allerdings umfassender betrachten und sieht, auch
durch mittlerweile erfolgte Wiederaufführungen von unbekannteren
Werken und Aufnahmen fast des gesamten Œuvres, mit breiterem Blick
auf sein Schaffen. Und hier gibt es nach wie vor Schätze zu
entdecken.
Erst in diesem Jahr wagte Michael Hofstetter mit seinem Gießener
Theaterorchester und Ensemble einen ersten Versuch, die
Melodramfassung von Königskinder, Humperdincks zweiter großer
Märchenoper, wieder ins Repertoire zu holen. Die Spätfassung des
Werkes ist ja bereits seit einigen Jahren mit Aufführungen nicht
nur an den großen Opernhäusern wieder fest im Werkekanon der
Musiktheaterbühnen verankert. Die Frühfassung ist in ihrer
innovativen Verbindung des später von Arnold Schönberg
aufgegriffenen musikalisch notierten Sprechens mit dem
spätro-mantischen, überragend instrumentierten typischen
Humperdinck-Klang eine beachtliche Herausforde-rung, besonders
dadurch, dass sie Darsteller erfordert, die der hochartifiziellen
Kunstform des Sprechens auf einer vorgegebenen Sprachmelodie und
einem aus-komponierten Sprachrhythmus gewachsen sind. Das Stück
harrt einer aktuellen szenischen Interpretation und wäre in solcher
Form sicher eine Chance gerade für kleinere Bühnen, sich
überregionale Aufmerksamkeit
zu verschaffen. Bereits die Ouvertüre zu dieser Fassung ist
bemerkenswert, nimmt sie doch in ihrer Dimension vieles von der
späteren Konzertouvertüre vorweg. Auch sie ist also eine Entdeckung
für sinfonische Programme wert, ebenso wie man aus dieser Fassung
hervorragend eine circa fünfundzwanzigminütige symphonische Suite
mit den drei Stücken Vorspiel – „Hellafest und Kinderreigen“,
„Verdorben, gestorben“, „Spielmanns letzter Gesang“ – extrahieren
kann.
Ein weiteres gewichtiges und wunderschönes Werk aus der Feder
des Komponisten ist die unterschätzte Märchenoper Dornröschen.
Manchem mögen die fünf Tonbilder, die ab und zu den Weg in die
Konzertsäle finden, bekannt sein. Das komplette Werk gibt es
je-doch extrem selten. Eine konzertante Aufführung des Münchner
Rundfunkorchesters ist 2011 als Aufnahme erschienen. 2014 wagte das
Nordharzer Städtebund- theater eine szenische Aufführung der zu
Unrecht ver-gessenen Oper. Problematisch bleibt wohl das Libretto
des Werkes, welches das grimmsche Märchen durch ei-nige neu
eingeführte Umwege des Helden zu verlängern sucht. Eine Aufführung
jedoch, die damit bewusst und kreativ umgeht, wird mit dem
märchenhaften Schwung dieses musikalisch opulenten Musiktheaters
und seiner reizvollen Mischung aus Gesang und notierter
Sprach-melodie unzweifelhaft Erfolg haben.
Von einer weiteren Oper ist es vor allem die Ouver-türe, die für
Konzertprogramme von großem Interesse sein kann. Musikalisch ist
Die Heirat wider Willen so etwas wie Humperdincks Rosenkavalier.
Sein Humor und seine unvergleichliche Fähigkeit, Leichtigkeit zu
komponieren in einer Zeit, in der alles schwer am Boden haftet,
wird in diesem wunderschönen Vorspiel besonders gut deutlich.
Für das Konzertpublikum nach wie vor fast unbe-kannt sind
Humperdincks zauberhafte Schauspielmu-siken. Ideal geeignet für
kurzweilige Programme, her-vorragend zur Kombination mit Texten
geeignet, sind gerade die Shakespeare-Musiken wahrlich eine
Wie-derentdeckung wert. Die mendelssohnsche Leichtig- keit, die
Humperdinck im Tanz der Luft- und Wasser-geister aus Der Sturm
findet, die an Wagner gemahnen-de Innigkeit der Liebesszene „In
solcher Nacht“ aus Der Kaufmann von Venedig und die Richard
Strauss‘ Spätstil vorwegnehmende Serenade aus Was ihr wollt zeigen
die Früchte der engen Zusammenarbeit des Komponisten mit dem
Regisseur Max Reinhardt.
Nicht zu vergessen ist natürlich Humperdincks wichtigstes und
größtes sinfonisches Werk, die knapp vierzigminütige Maurische
Rhapsodie. Die drei überaus farbigen Sätze „Tarifa“, „Tanger“ und
„Tetuan“ brauchen den Vergleich mit den Tondichtungen von Richard
Strauss nicht zu scheuen. Jedes groß besetzte Orchester wird in
diesem Stück eine dankbare Herausforderung sehen und jedes Publikum
wird mit dankbarer Gänse-
haut auf das zweite Thema im abschließenden Wüsten-ritt
reagieren. Humperdincks Instrumentationskunst kommt hier zur vollen
Blüte und sein sympathischer und unverwechselbarer Humor begleitet
uns durch das belebte Café in Tanger bis zu den Zwölftolen der
letzten Fata Morgana.
Dass Engelbert Humperdinck zu den Komponisten gehörte, die nach
einem ersten übergroßen Erfolg nie an diesen anknüpfen konnten, mag
bedauerlich sein. Auf der anderen Seite wartet dadurch auf uns
Interpre-ten eine wahre Schatztruhe an Möglichkeiten. Denn der
Tonsetzer war auch ein Aufführungspraktiker. All seine Werke bieten
hervorragende Anknüpfungspunk-te für diverse Konzertformate, die
eine reine Rampensi-tuation aufbrechen wollen. Zum einen ist da die
Volks-tümlichkeit seiner Musik. Das Erfolgsrezept seiner
bekanntesten Märchenoper hat Humperdinck durch sein ganzes
Komponistenleben beibehalten und Musik geschaffen, die in
Erinnerung bleibt, die auch nach dem Konzert weiterschwingt. Seine
Theateraffinität, der Wunsch, Text und Musik zu Einheiten zu
verschmelzen, bieten unzählige Möglichkeiten, Poesie und Musik in
Konzerten und Theaterproduktionen miteinander zu verweben. Indes
ist Engelbert Humperdinck eben der bekannte Unbekannte, der
vertraute Fremde. Und als solcher passt er gerade mit der
Publikumsnähe seiner Werke, seinem immer für die Musik
begeisternden musikvermittlerischen Ansatz als Komponist
hervor-ragend in unsere Gegenwart. Florian Ludwig
Florian Ludwig, der Autor dieses Beitrags, leitet am 24.5.2020
im Detmolder Konzerthaus eine konzertante Aufführung von
„Dornröschen“ mit Vokalsolisten, einem Sprecher, dem Detmolder
Oratorienchor sowie der Nord-westdeutschen Philharmonie.
Engelbert Humperdincks Werke bei Brockhaus (Auswahl)
Dornröschen. Märchenoper in drei AktenKönigskinder. Melodram in
drei Akten Königskinder. Märchenoper in drei AktenMaurische
RhapsodieMusik zu „Der Kaufmann von Venedig“Musik zu „Das
Wintermärchen“Musik zu „Der Sturm“Musik zu „Was ihr
wollt“Shakespeare-Suiten Nr. 1 und Nr. 2Ouvertüre zu „Die Heirat
wider Willen“Schauspielmusik zu Maeterlincks „Der Blaue Vogel“
Verleih: Bärenreiter · Alkor
Humperdincks „Königskinder“ am Musiktheater im Revier,
Gelsenkirchen, Premiere: 24.11.2018, Musikalische Leitung, Rasmus
Baumann, Inszenie-rung: Tobias Ribitzki (Foto: Bettina Stöß)
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[t]akte 2I2019 1514 [t]akte 2I2019
[t]akte 2I2019Cilea oder Die Wahrheit des GesangsDie Opern
Francesco Cileas (Teil 1)
Francesco Cileas schmales Opernschaffen nimmt eine singuläre
Position im veristischen Musik- theater ein.
Francesco Cilea (1866–1950) zählt neben Pietro Mascag-ni,
Ruggero Leoncavallo und Umberto Giordano zu den
wichtigen Vertretern der sog. „Gio-vane scuola italiana“, jener
jungen Komponistengeneration, die sich im letzten Jahrzehnt des 19.
Jahrhunderts aufmachte, dem italienischen Musik-theater neue
Perspektiven zu eröff-nen. Man wandte sich entschieden gegen
Wagners Gesamtkunstwerk, in gleicher Weise aber auch gegen die
Vorrangstellung des französischen Drame lyrique und die „Überväter“
des italienischen Musiktheaters Ros-sini, Donizetti und Verdi.
Dieser Weg führte über die Auseinandersetzung mit den Werken des
literarischen Ver-ismo. Mit Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana
fand der musikalische Veris-mo seine idealtypische
Formulierung,
mit Ruggero Leoncavallos Pagliacci sein musikästheti-sches
Manifest.
Unter den Komponisten des veristischen Musikthea-ters nimmt
Francesco Cilea eine singuläre Position ein. Sein Œuvre ist schmal,
es umfasst einige Instrumental-werke, wenige Lieder und fünf
Opern.
„Gina“ und „La Tilda“
Cilea komponierte zum Abschluss seiner erfolgreichen Studien am
Konservatorium San Pietro a Majella in Neapel seine erste Oper Gina
nach einem Libretto von Enrico Golisciani. Nach der erfolgreichen
Urauffüh-rung 1889 dort machte Cileas Lehrer Paolo Serrao den
Komponisten mit dem Mailänder Verleger Edoardo Sonzogno bekannt.
Sonzogno, Initiator und Förderer des musikalischen Verismo,
erkannte in Cileas Erst-lingsoper die im szenischen Bereich
angesiedelten Möglichkeiten des Komponisten und band ihn durch
einen Kompositionsauftrag an sein Verlagshaus. Ci-lea komponiert
daraufhin nach einem Libretto von Anneldo Graziani (Pseudonym von
Angelo Zanardini) die Oper La Tilda; ein dreiaktiges Melodramma,
das sich in mehrfacher Hinsicht an Pietro Mascagnis veristischem
Prototyp Cavalleria rusticana orientiert und dessen normsetzenden
Charakter unterstreicht. Einerseits kreist La Tilda inhaltlich um
das bäuerliche Leben vor den Toren Roms in der Campagna und fragt
wie Cavalleria rusticana nach dem Gelingen und Schei-tern von Liebe
in den Norm- und Moralvorstellungen einer bäuerlichen Gemeinschaft.
Andererseits folgt Cilea dem Vorbild, wenn er die Dramaturgie der
Oper auf die klassische Nummernabfolge des italienischen
Musiktheaters gründet, die Nummern in der Mehrzahl
aber sog. zitierte Lieder darstellen: Lieder und Tänze wie
Ballata, Stornello und Saltarello durchziehen die Oper; die
Titelheldin Tilda – eine Sängerin und Tänzerin – stellt sich mit
einer gitarrenbegleiteten Canzone vor; eine weit ausladende
Gebetsszene, eine Preghiera und ein „Ave Maria“ garantieren
hingegen den für La Tilda zentralen Religioso-Ton. Indes greift
Cilea insbeson-dere dann über Pietro Mascagni hinaus, wenn er auch
traditionelle Formen wie Duette und Terzette „zitiert“, diese aber
bis zur Unkenntlichkeit transformiert und in den Dienst einer
detailreichen Figurencharakteristik stellt: Hier ereignet sich die
Individualisierung der Figuren, hier finden die Protagonisten
musikalisch zu sich selbst, und damit erweist sich Cilea schon in
seiner ersten großen Arbeit fürs Musiktheater als ein Komponist
präziser musikalischer Psychologie.
La Tilda wurde am 7. April 1892 im florentinischen Teatro
Pagliano uraufgeführt. Die Premiere war für Cilea kein Erfolg, und
selbst die Teilnahme an der von Edoardo Sonzogno organisierten
Europa-Tournee mit veristischen Opern 1892 in Wien, Paris und
Berlin vermochte La Tilda nicht dauerhaft im Repertoire zu
verankern.
„Adriana Lecouvreur“
Den ersehnten Durchbruch erlebte Francesco Cilea am 6. November
1902, als am Teatro Lirico in Mailand die Oper Adriana Lecouvreur
nach einem Libretto von Arturo Colautti uraufgeführt wurde – eine
Oper, die innerhalb weniger Jahre an allen großen Häusern weltweit
aufgeführt wurde und Cileas Ruf als einer der führenden
italienischen Komponisten der Zeit begründete.
Adriana Lecouvreur ist ein Werk des historischen Verismo. Der
Oper liegt das fünfaktige Schauspiel von Eugène Scribe und
Ernest-Wilfried Legouvé zugrunde, in dem der Skandal um den
mysteriösen Tod der Schau-spielerin Adrienne Lecouvreur im Jahre
1730 themati-siert wird. Die Autoren haben dabei zwar die
histori-sche Wirklichkeit auf die Bühne gebracht, allerdings
greifen bereits die Stoffbearbeitung und die Funktion des
Schauspiels über die Idee einer bloßen Widerspie-gelung historisch
gesicherter Realität hinaus. Scribe und Legouvé bearbeiteten den
Stoff – konzentriert auf die Lecouvreur im Spannungsfeld zwischen
ihrer künstlerischen Gegenspielerin Mademoiselle Duclos und ihrer
privaten Gegenspielerin um die Gunst des Moritz von Sachsen: der
Herzogin von Bouillon – unter Anlehnung an die historische Wahrheit
für die fran-zösische Schauspielerin Elisa Rachel; einer Tragödin,
die seit 1838 an der Comédie-Française brillierte und auf
internationalen Tourneen vor allem mit Dramen Racines Weltruhm
erlangte. Das Leben einer Schauspie-
lerin, dramatisiert für die Bühne und als Paraderolle für eine
Tragödin des 19. Jahrhunderts konzipiert, wird schließlich zu einem
Opernstoff. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion beginnen zu
verschwimmen, es entwickelt sich ein kunstvolles Spiel der
Realitäts- und Fiktionsebenen. Und es ist gerade dieses Changieren,
das der Oper eine herausragende Position innerhalb der Geschichte
des veristischen Musiktheaters garantiert. Bereits die Eröffnung
der Oper gibt dafür ein sinnfäl-liges Beispiel ab. Eine
Schauspieltruppe bereitet die Vorstellung zweier Werke vor: Bajazet
von Jean Racine und Les Folies Amoureuses von Jean-François Regnard
– und es ist zugleich ein verschlüsselter Prolog. Bajazet ist eine
im Serail des Großvesirs von Konstantinopel angesiedelte Tragödie,
Les Folies Amoureuses hingegen eine Komödie, so dass die
Kontrastierung der Werke in direkter Beziehung zum Commedia-dramma
Adriana Lecouvreur steht. Darüber hinaus antizipieren die bei-den
Schauspiele dramaturgisch nicht nur den weiteren Fortgang der
Handlung, sondern auch das tragische Ende der Lecouvreur.
Eng mit dem Wechsel der Fiktionsebenen ist das dramaturgische
Problem der Darstellung einer Schau-spieltragödin auf der
Opernbühne verknüpft. Colautti und Cilea haben diesen Sachverhalt
bereits mit dem ersten Erscheinen Adrianas thematisiert und
insofern zugleich ihre Ästhetik formuliert. Adriana tritt als
Roxane in orientalischem Kostüm auf und deklamiert als Einstimmung
auf die bevorstehende Aufführung bedächtig die zweite Szene aus dem
zweiten Akt von Bajazet, in der Roxane ihren Widerstand gegen den
Sultan aufgibt. Adriana unterbricht sich selbst nach dem ersten
Vers und erhebt ihre Stimme zum Gesang. Die gesprochene Sprache
erweist sich dabei unter rezeptionsästhetischem Aspekt im Kontext
einer Oper als gleichsam zweite fiktionale Ebene, und sie ist in
ihrem Realitätsgehalt insofern dem gesungenen Wort nachgeordnet,
als die von Adriana angestrebte Interpretation des Textes mit der
gespro-chenen Sprache nicht realisiert werden kann. Erst das
gesungene Wort kann den wahren Gehalt des Textes vergegenwärtigen.
Als Antwort auf die Reaktion der anwesenden Schauspielerkollegen
formuliert Adria-na das Credo ihres Künstlertums in der Arie „Io
son l’umile ancella“. Sie versteht sich und ihre Stimme als ein
Instrument des Dichters, das einzig der Wahrheit zu folgen hat; die
unverstellte und authentische Äu-ßerung der Emotion im Gesang ist
aber nicht nur Ziel der Protagonistin, sondern ästhetisches
Paradigma des Verismo überhaupt.
Maßgeblich für die musikdramaturgische Konzepti-on von Adriana
Lecouvreur ist Cileas Verpflichtung auf die Idee des historischen
Verismo. Eine authentische Musik des 18. Jahrhunderts soll der
Historie zur Verge-genwärtigung verhelfen. Zahlreiche
Themenformulie-
rungen spielen darauf an, Raum und Zeit finden ihren Widerhall
in leitmotivisch gesetzten Tanzgesten der Barockzeit, schließlich
nutzt Cilea das Ausdrucks- und Formenspektrum des Settecento – wie
sie John Brown in den Lettres on the Italien Opera (1791)
beschrieben hat: von der Aria cantabile über die Aria di
mezzocarattere und die Aria di portamento bis hin zur Aria
parlan-te. Überdies setzt Cilea die Rhetorik der Affekte der
neapolitanischen Oper ein. Der historische Verismo in Adriana
Lecouvreur ist insofern nicht nur einer der Handlung, der Figuren
oder des Ambientes, sondern ein historischer Verismo der Musik: Der
musikalische Gestus und die musikalischen Formprinzipien der
Par-titur orientieren sich am historisch präfigurierten Stil.
Francesco Cilea hat auch Adriana Lecouvreur überar-beitet; die
revidierte Fassung kam am 22. März 1930 am Teatro San Carlo in
Neapel zur Aufführung. Bis heute ist die Oper Teil des
internationalen Repertoires – nicht zu-letzt aufgrund der Tatsache,
dass die Titelpartie zu den bedeutenden Primadonnen-Rollen des
italienischen Musiktheaters zählt. Magda Olivero gilt bis heute als
maßstabsetzende Interpretin der Adriana Lecouvreur.
Hans-Joachim Wagner
Die Opern Francesco Cileas
GinaL’ArlesianaAdriana LecouvreurGloria (Colautti)Verlag: Casa
Musicale Sonzogno · Vertrieb: Bären-reiter · Alkor
„Adriana Lecouvreur“ an der Oper Frankfurt, Wiederaufnahme im
Mai 2019 (Musikali-sche Leitung: Steven Sloane, Inszenierung:
Vincent Boussard, Foto: Barbara Aumüller)
-
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[t]akte 2I2019 1716 [t]akte 2I2019
[t]akte 2I2019Drachen gibt es auch heute nochPaul Dessaus Oper
„Lanzelot“ wird wieder aufgeführt
Fünfzig Jahre nach der Uraufführung gelangt Paul Dessaus Oper
„Lanzelot“ in der ursprüngli-chen Fassung wieder auf die Bühne. Die
Theater in Weimar und Erfurt nehmen sich ihrer an.
Nachdem Paul Dessau für seine ersten beiden Musik-theaterwerke
Die Verurteilung des Lukullus (1951) und Puntila (1966) auf
Vorlagen von Bertolt Brecht zurück-greifen konnte, wählte er für
seine dritte, im Dezember 1969 an der Deutschen Staatsoper Berlin
uraufgeführte Oper Lanzelot ein Märchenstück des russischen
Drama-tikers Jewgeni Schwarz. Die Parabel Der Drache wurde 1943 vor
dem Hintergrund des Naziterrors geschrieben und war wegen der allzu
deutlichen Kritik am tota-litären Regime Stalins in der Sowjetunion
zunächst 17 Jahre lang verboten. 1965 brachte Benno Besson das
Stück über den Drachentöter in einer legendären Inszenierung am
Deutschen Theater in Berlin heraus. Dessau entdeckte darin eine
operntaugliche Vorlage mit den für ihn so wichtigen
gesellschaftspolitischen Bezügen: Ein freier „Held“ möchte die
Drachenstadt von seinem inhumanen, Angst und Schrecken
verbreiten-den Usurpator befreien, doch er stößt auf Desinteresse
bei den Stadtoberen und der Bevölkerung, die sich „fressend,
verdauend, fernsehend“ mit den bestehen-den Verhältnissen
arrangiert hat. Die Gleichgültigkeit schlägt in Feindseligkeit um,
als Lanzelot den Drachen besiegt. Die offene Diktatur des Drachen
wird umge-münzt in eine verdeckte Ausbeutung der Bevölkerung, in
eine Herrschaft weniger über viele. Für die Liebe Elsas kehrt
Lanzelot noch einmal zurück und vollendet sein Werk der
Befreiung.
Als Librettist wählte sich Paul Dessau (nicht ohne politische
Brisanz) den befreundeten Dramatiker Hei-ner Müller, der wegen
allzu großer Kritik am sozialisti-schen System seit 1961 aus dem
Deutschen Schriftstel-lerverband ausgeschlossen war und dessen
Werke nicht mehr auf DDR-Bühnen gespielt werden durften. Zu der
vielschichtigen textlichen Vorlage Müllers schuf Des-sau eine
ebenso vielfältige Musik: In ihren Grundzügen ist sie dodekaphon
gearbeitet, der Drache wird mit bruitistischen Klängen des
überbordenden Schlagap-parats charakterisiert, daneben gibt es
lyrische und karikaturistische Momente, eine Barockmusikparodie,
Beat-Klänge, Mozart-Allusionen, Chopin-, Rossini-, Wagner- und
nicht zuletzt Eigenzitate von Dessau. Das Finale erinnert in seiner
dramaturgischen Anlage an Mozarts Zauberflöte: Letzter
verzweifelter Vorstoß der Bösewichter, die Vernichtung des Bösen,
glanzvoller, hymnischer Schlussgesang der Befreiten „Der Rest ist
Freude. Freude der Rest“. Dem Finale ist in der ursprüng-lichen
Fassung ein Epilog angefügt. In einem großen Di-minuendo entfernen
sich die Menschen von der Bühne, bis ein kleinen Kind übrig bleibt,
das noch einmal die Schlussworte wiederholt, die „Freude“ aber
gleichsam in Frage stellt. Nach der Uraufführung entzündete sich
Kritik an diesem reduzierten, an Alban Bergs Wozzeck erinnernden
Schluss. Dessau selbst scheint mit dieser dramaturgischen Lösung
auch nicht zufrieden gewesen zu sein. Für die folgenden
Produktionen – in München
(April 1971) und Dresden (1971/72) – schrieb er wenige Wochen
nach den Berliner Aufführungen die letzten Takte neu, so dass
Lanzelot mit einem großen Chor- und Ensemblegesang optimistisch
endet.
Die Gattung der Oper war für Paul Dessau das „ausdrucksstärkste
Genre, um die großen gesellschaft-lichen Probleme unserer Zeit
künstlerisch zu beleuch-ten“. Es spricht für Lanzelot, dass auch
nach 50 Jahren die darin thematisierten Probleme und die enthaltene
Gesellschaftskritik kaum an Aktualität verloren haben, denn Drachen
gibt es auch heute und wird es immer wieder geben. Robert
Krampe
Paul DessauLanzelot. Oper in fünfzehn Bildern. Libretto: Heiner
Müller und Ginka Tscholakowa (nach Mo-tiven von Hans Christian
Andersen und Jewgeni Schwarz‘ Märchenkomödie „Der Drache“)Premiere:
23.11.2019 Weimar (Nationaltheater), Musikalische Leitung: Dominik
Beykirch, Regie: Peter Konwitschny, Premiere Theater Erfurt:
16.5.2020Besetzung: Lanzelot (Bariton), Drache (Bass), Elsa
(Sopran), Charlesmagne (Bass), Bürgermeister (Tenor), Heinrich
(Tenor), Kater (Sopran), 24 Ne-benrollen, 5 Tänzer/Pantomimen,
Chorsolisten, großer Chor, KinderchorOrchester: 4 (4 Picc, Afl), 3
(Eh), 3 (Bklar), Es-Klar, 2Sax (S, A, T, Bar), 3 (Kfg) – 4,4,3,2 –
Pk, Schlg – 2 Hfe, Git, Md – Klav (normales und präp. Klav), 2
Cemb. od. präp. Klav (auf Tonband), elOrg (auf Tonband), Cel, Akk,
Harm – StrVerlag: Henschel Musik, Vertrieb: Bärenreiter · Alkor
In mia vita da vuolp
„In meinem Leben als Fuchs / war ich alles und alles / war ich
auch das Licht / die Sonne mein Antlitz / ma-kellos …“ Die
faszinierende Dichtung der Schweizerin Leta Semadeni wird zum
Ausgangspunkt von Beat Fur-
rers In mia vita da vuolp (Uraufführung: 14.9.2019 Rümlingen mit
Rinnat Moriah [Sopran] und Marcus Weiss [Saxophon]). Aus der
gleichnamigen Sammlung der Lyrikerin komponiert er fünf Texte,
deren weitere Titel lauten: „Erinnerung an ein erschlagenes Pferd“,
„Kasimir hat Liebes-kummer“, „Im Weltraum“, „In den Näch-ten“
– alle gleichermaßen enigmatisch und bilderreich. Beat Furrer
fächert für den Farbenreichtum des Saxophons den Tonraum noch
weiter auf als bisher: Ein einziges unaufhaltsames Glissando zieht
in der ersten dieser Allegorien des Todes
den Klangraum in den Abgrund, in den Abwärtsbewe-gungen treten
immer andere Klanglichkeiten des Saxo-phons hervor. Wie ein
Schatten, der in immer anderen Erscheinungsweisen den Gesang
begleitet, färbt das Instrument in vielfach aufgefächerten
Spielweisen den Gesang. „In den Nächten / am Rande des Dorfes / wo
ich wohne / am Rande der Dinge / schnappen / die Klingen / des
Winters / nach mir“ – endet das letzte Lied. Wie ein Schatten, der
in immer anderen Erscheinungswei-sen den Gesang begleitet, färbt
das Saxophon diesen in vielfach aufgefächerten Spielweisen. Der
Schluss lässt die Gesangsstimme in Saxophonmehrklängen mit
komplexer Harmonik gleichsam verschwinden.
Ensemblestück mit Klarinette für Donaueschingen
Einem eng verwandten und doch grundverschiedenen Instrument
widmet Beat Furrer sich in seinem neuen Werk für Klarinette und
Ensemble für das Ensemble intercontemporain. Darin geht es ihm um
die „Linie der Klarinette, um die Erscheinung dieses
Soloinstru-ments. Alles wird Teil dieser Linie.“ Die Aufsplitterung
der Solostimme in ganz verschiedene Klangqualitäten vollzieht sich
in der ersten Phase des Werks. Die Klari-nette wird in ihrer
linearen Bewegung durch einzeln hinzutretende Instrumente verfärbt.
Im großformalen Ablauf vollzieht sich ein Auffächern der Solostimme
in komplexe klangliche Strukturen. Zwei Strukturen sind ineinander
geführt, eine linear verlaufende und eine „kaleidoskopische“. Auf
eine Verschiebung der Zeitlich-keiten zielt dieses Ineinander
vielfacher Schichten. Das Stück entwickelt sich hin zu einem
Unisono, in eine Quasi-Kadenz am Schluss, in der das ganz Ensemble
in der Linie der Klarinette aufgeht. MLM
Beat Furrer – aktuell
20.10.2019 Donaueschingen (Musiktage), Neues Werk für
Klarinette und Ensemble (Urauffüh-rung), Jérome Comte (Klarinette),
Ensemble Intercontemporain, Leitung: Matthias Pintscher +++
15.11.2019 Dortmund, Studie II für Klavier (Uraufführung), Sergej
Babayan, Klavier +++ 12.12.2019 München, XENOS III, Münchner
Kammerorchester, Leitung: Ilan Volkov +++
11.1.2020 Köln, Phaos für Orchester, WDR Sinfo-nieorchester,
Leitung: Michael Wendeberg +++ 10./12.1.2020 Berlin
(Staatsoper), Violetter Schnee. Oper. Text von Händl Klaus
basierend auf einer Vorlage von Wladimir Sorokin, Musikalische
Leitung: Matthias Pintscher/Beat Furrer, Insze-nierung: Claus Guth
+++ 9.6.2020 Paris, Enigma I, III und VI (Frz.
Erstaufführung), SWR Vokal- ensemble, Leitung: Yuval
Weinberg
Innere StimmenZwei neue Werke von Beat Furrer
Zum Tode Georg Katzers
Der Komponist Georg Katzer, geboren am 10. Januar 1935 in
Schlesien, ist am 7. Mai 2019 in Berlin gestorben. Er studierte
Komposition bei Rudolf Wagner-Régeny und Ruth Zechlin in Berlin
(Ost) und an der Akademie der Musischen Künste in Prag. Danach war
er Meisterschüler von Hanns Eisler an der Akademie der Künste der
DDR, zu deren Mitglied er im Jahre 1978 gewählt wurde. Er wurde zum
Professor für Komposition in Verbindung mit einer Meisterklasse
gewählt und gründete 1982 das Stu-dio für Elektroakustische Musik.
Ne-ben seiner kompositorischen Arbeit (Kammermusik, Orchesterwerke,
So-lokonzerte, drei Opern, zwei Ballette, Puppenspiele) beschäftigt
sich Katzer auch mit Computermusik, Multime-dia-Projekten und
Improvisation. Kompositionspreise und Auszeichnungen erhielt er in
der DDR, in der Schweiz, in Frankreich, in den USA und in der
Bundesrepublik Deutschland, dort u. a. das Bundesverdienstkreuz
(2002) und den Deutschen Mu-sikautorenpreis (2012).
Bei Henschel Musik (Bärenreiter-Verlagsgruppe) sind vier
Bühnenwerke verlegt: Die Herren des Strandes. Ein Stück mit Songs
von Friedrich Gerlach (1971), Das Land Bum-Bum (1978 Berlin),
Gastmahl oder Über die Liebe (1988) und Antigone oder Die Stadt
(1991). www.georg-katzer.de – (Foto: Angelika Katzer)
Leta Semadini (Foto: Georg Luzzi)
Paul Dessau (2. v. r.) im Dezember 1974 bei einem
Solidaritätskonzert vor seinem 80. Geburtstag zusammen mit (v. l.)
Kurt Hager (Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED),
Ruth Berghaus (Inten-dantin des Berliner Ensembles), Werner
Rackwitz (Stellvertreter des Ministers für Kultur der DDR) und
Hans-Joachim Hoffmann (Minister für Kultur der DDR). (Foto:
Katcherowski)
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[t]akte 2I2019 1918 [t]akte 2I2019
[t]akte 2I2019Ein Widerläufer zwischen Nord und Süd Einiges über
Manfred Trojahn: seine Positionen, Orchestermusik und Opern
Am 22. Oktober wird Manfred Trojahn 70 Jahre alt. Für eine
Lebens- und Schaffensbilanz ist es zu früh. Gerhard R. Koch aber
zeichnet Linien und Weg-marken im Werk des Komponisten nach.
Nach 1945 war von „Stunde Null“ und radikalem Neuanfang die
Rede, zunächst politisch, während manch „braune“ Ehrenmänner noch
oder schon wie-der Einfluss ausübten. Und abermals war die Musik
Konfliktstoff in zwei konträren „Mekkas“: Bayreuth und Darmstadt.
Parallel wurde in Darmstadt via We-bern und Messiaen der
Serialismus entwickelt, der Einzelton nach Höhe, Dauer, Stärke,
Farbe, Artikulation systematisiert. Anklänge an Tradition, gar
Tonalität, Vertrautes aller Art wie Sprachähnliches, Gesang,
Sinfonie, gar Oper waren tabu. Wer dagegen verstieß, galt als
reaktionär, wenn nicht gar „ewig gestrig“. Die Institution war
schulbildend, wurde als dogmatische Zwingburg dämonisiert. Doch gar
so monolithisch war sie nicht. Und die anfangs dominierende Trias
Boulez-Nono-Stockhausen zerstritt sich bald. Boulez immerhin meinte
2009: „Die serielle Musik war ein Tunnel von zwei Jahren. Dieser
Tunnel war absolut notwendig, um die neue Landschaft zu entdecken.“
Zum Darmstadt-Trauma indes wurde, dass das rigide Trio 1958 bei der
Donaueschinger Uraufführung von Henzes Nachtstücken und Arien
demonstrativ den Saal verließ. Seitdem war Henze, nach Italien
übergesie-delt, Oppositionsführer wider die Avantgardezentren
Darmstadt, Donaueschingen und Köln. Und eine ganze Reihe jüngerer
Komponisten hat sich ihm angeschlos-sen. Nicht zuletzt Manfred
Trojahn.
Auch er hält es, analog zu Mendelssohn, Schumann und Brahms,
selbst Reger, nicht mit der „Zukunftsmu-sik“: Serialismus,
(Live-)Elektronik, Aleatorik, Improvi-sation, geräuschhafte
Verfremdung, „Musik im Raum“, Aktionismus, Instrumentales oder
„Total-Theater“, Multimedia, Exotismen, auch politisches
Engagement, gar Agitprop, Kollektiv-Arbeit, Popularkultur,
Filmmu-sik spielen bei ihm kaum eine Rolle. Darin unterschei-det er
sich fundamental von dem hochverehrten Henze mit seinen
Stilbrüchen, ästhetischen Grenzgängereien und nicht zuletzt
politischen Schwenks.
Als Avantgarde-Komponist will Trojahn sich nicht unbedingt
verstehen. Dennoch fühlte er sich, auch während seiner
Kompositionsprofessur in Düsseldorf und zahlreicher
(Ur-)Aufführungen auch an den Groß-institutionen, als Außenseiter
gegenüber den obligaten Galionsfiguren des „Fortschritts“. In
gelegentlicher Polemik gegen diese und den „Betrieb“ schwingen
Verletzungen mit. Dabei ähnelt er nur sehr bedingt
Generationsgefährten, die ab Mitte der siebziger Jahre als
Anti-Darmstadt-Fronde und neue deutsche Tonalitätsromantiker
etikettiert wurden. Dagegen ist er gefeit durch einen
kulturgeographischen Spagat besonderer Art. Bei Braunschweig
geboren, zog es ihn gleichermaßen nach Italien wie Frankreich, aber
auch nach Skandinavien. Suchte er im romanischen Kulturbereich die
Welt von Theater, Oper, Ballett, so im Norden die einsamen
Landschaften, die, wie auch
immer, ihren Niederschlag in den Sinfonien von Si-belius und des
Schweden Allan Pettersson gefunden haben, für den sich Trojahn auch
als Dirigent engagiert hat. Damit sind die beiden Hauptstränge von
Trojahns Schaffen umrissen: Sinfonisches und Oper – schon im
neunzehnten Jahrhundert nicht mehr selbstverständ-lich, zumal in
der Doppelung. Vollends ab 1950 sind die strukturellen
Voraussetzungen wie die Tonalität für die großen klassischen
Formate brüchig geworden. Als Henze wie Trojahn Sinfonien und Opern
schrieben, wirkte dies mitunter fast als „credo quia absurdum“,
bekräftigt indes durch prononcierten Vorsatz und artistisches
Gelingen.
So ist es keineswegs Resignation gegenüber dem „anything goes“
der sogenannten Postmoderne, stellt man fest, dass die ohnehin
fragilen Kriterien für reak-tionär oder progressiv nicht mehr
greifen. Zumindest lässt sich vieles von Trojahn nicht mehr nach
solch simplem Schema be- oder gar aburteilen. Die neuerliche
Beschäftigung mit manchen Werken jedenfalls belegt, dass das
einstige Schlagwort „neue Einfachheit“ in die Irre führt. Dass
jemand tonale Allusionen, motorische
Raster und semantische Klangtopoi (das „klagende“ Englischhorn)
nicht hundertprozentig verschmäht, macht ihn nicht automatisch zum
spätromantischen Kitschier. Überhaupt sind seine sinfonischen Werke
alles andere als nostalgisch wohllautende Idyllen, viel mehr voller
rabiater Schroffheiten kinetischer Turbu-lenzen,
Schlagzeug-Eruptionen. Dass Trojahn Flötist ist, spürt man an den
virtuos gleißenden Hüllkurven-katarakten der Holzbläser.
Pierre Boulez hat den „Gedächtnisschwund“ zu-gunsten der durch
nichts Vergangenes korrumpierten Zukunft „reiner“ Struktur
thematisiert. Trojahn hinge-gen lässt sich durch Assoziationen
leiten, bildnerische, literarische, musikalische Anregungen, sei es
durch Kompositionen, sei es durch seinen Lehrer Ligeti. So bezieht
sich seine erste Sinfonie Makramee (1974) auf orientalische
Verknüpfungstechniken, auch Ligetis Mi-kropolyphonie. In der
Zweiten lassen sich Mahler-Refle-xe heraushören (Marcia furioso,
Nachtmusik), während die Dritte, keineswegs plakativ, von einem
imaginären Italien zeugt. Sogar einen sinfonischen Zyklus gibt es:
Fünf See-Bilder (1979–1983) beschwören düster nordische Stimmungen,
integrieren Gedichte von Georg Heym, bringen schier apokalyptische
Rauschwolken und mit Englischhorn und es-Moll expressive
Wagner-Anklän-ge. Eine sechste Sinfonie hat Trojahn fest im
Blick.
Im Gegensatz zur Darmstadt-Avantgarde hat Tro-jahn, ähnlich wie
Henze, immer wieder betont, dass szenische Vorstellungen oft sein
Komponieren prägend beeinflussen, ja initiieren, die Stimme stete
Verlockung bleibe. Der Weg zur Oper war vorgezeichnet, damit auch
der zu einem Genre, das stärker als die stringentere Sinfonie durch
Bühnentraditionen, ja -konventionen mitbestimmt wird. Verdis
Devise: „Torniamo all‘ Antico – e sarà un progresso“ galt auch für
Trojahn; wobei offenbleibt, was „Altes“ und „Fortschritt“ bei
beiden wirklich heißt.
Fünf Opern hat Trojahn bislang geschrieben, und täuscht der
Eindruck nicht, so sind die erste – Enrico – und die letzte – Orest
– womöglich sogar die stärksten. Und mag das Faible für den
nebligen Norden noch so groß sein: Die „Melodrammen“-Vorlagen
gehören ins Mediterrane. Verbunden sind sie durch das Spiel mit
Sein und Schein, trügerischer Realität. Die obligaten Zweifel am
Sinn von „Literaturoper“ werden in den gelungenen Fällen
entschärft. Zumal Trojahn Texte keineswegs eins zu eins vertonte:
So hat Claus H. Hen-neberg als Librettist nicht nur als
„Einrichter“ gewirkt. Enrico (1991), basierend auf Pirandellos
Heinrich der Vierte, zeigt einen Adligen, der bei einem Kostümspiel
den deutschen Kaiser spielt, vom Pferd stürzt und sich im Wahn für
den Kaiser hält, dies zumindest spielt. Die Umgebung will ihn
therapieren. Doch er entdeckt seinen Nebenbuhler, der seinen Unfall
verursacht hat, ersticht ihn – und muss nun für immer der irre
Pseudokaiser sein. Das Ganze ist ein turbulentes
Sex-and-Crime-Spektakel mit einiger Rossini-Rasanz: Und entspricht
Strauss‘ Salome-Bonmot vom „Scherzo mit tödlichem Ausgang“.
Auch für Was ihr wollt hat Henneberg Shakespeares Text in
kunstvolle Ensembles verwandelt. Und für den Schlussmonolog des
Narren wird das Ganze ins Englische und nach d-Moll
(zurück)geführt. Limonen aus Sizilien verleugnen nicht Puccinis
Trittico, und auch La Grande Magia hat als hintersinnige Komödie
Bühnenwirksamkeit erlangt. Für die jüngste Oper, Orest, hat Trojahn
den Text selbst verfasst, was ihr zusätzliche Schubkraft verleiht.
Analog zu Enrico wird die Atriden-Tragödie in eine Art Klinik
verlegt, wobei wieder die Frage nach Schuld und Schein das
Gesche-hen vorantreibt. An Anfang und Ende durchdringt der Ruf
„Orest!“ den Außen- wie Innen-Raum. Orest gehört eindeutig zu
Trojahns stärksten Partituren. Vom „Ge-dächtnisschwund“ ist Trojahn
keineswegs befallen. So hat er für Mozarts La clemenza di Tito die
stets heik-len, nicht authentischen Rezitative neu komponiert,
Vergangenheit und Gegenwart kreativ amalgamiert.
Beschäftigt man sich erneut mit Trojahns Sinfonik wie Opern, so
ergibt sich ein fast janusköpfiges Bild: Folgt die Bühne noch
manchen lyrisch-buffonesken Gattungstraditionen, so ist die
Orchestersprache kinetisch-schroffer, bis zur Raserei. Noch bei der
Henze-Hommage Contrevenir (2012) oder der Herbstmu-sik (2010) kann
von „Neue Einfachheit“-Idyllik nicht im Entferntesten die Rede
sein. Gerhard R. Koch
Manfred Trojahn – aktuell
14., 17., 20.11.2019 Wien (Staatsoper), Orest. Musik-theater,
Musikalische Leitung: Michael Boder, Re-gie: Marco Arturo Marelli
+++ 26.11.2019 Salzburg (Dialoge), Streichquartett Nr. 2 für
Mezzosopran, Klarinette und Streichquartett, Tanja Ariane
Baumgartner (Mezzosopran), Thorsten Johanns (Klarinette), Minguet
Quartett +++ 24.1.2020 Leipzig (Peterskirche), Neues Werk für Chor
a cap-pella (Uraufführung), MDR-Chor, Musikalische Leitung: Philipp
Ahmann +++ 11.2.2020 Bonn, Ein Brief. Reflexive Szene für Bariton,
Streichquartett und Orchester (Uraufführung), Musikalische Leitung:
Dirk Kaftan, Regie: Reinhild Hoffmann +++ 16.3.2020 Kassel, … mit
durchscheinender Melancholie, Staatsorchester Kassel, Leitung:
Francesco Angelico +++ 4., 13.4.2020 Salzburg (Osterfestspiele),
Blick-Traum-Übergang. Prolog für Orchester zu Verdis Don Carlo
(Uraufführung), Musikalische Leitung: Christian Thielemann, Regie:
Vera Nemirowa
Sein und Schein: Manfred Trojahn
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[t]akte 2I2019 2120 [t]akte 2I2019
[t]akte 2I2019
Von dem in München wirkenden Bärenreiter-Kompo-nisten und
Kompositionslehrer Günter Bialas, der mit Ulrich Stranz und Peter
Michael Hamel schon zwei sei-ner Schüler dem Verlag zugeführt
hatte, war mehrmals der Hinweis, dann gar die Bitte an den Verlag
gekom-men, mit seinem ehemaligen Schüler Heinz Winbeck Kontakt
aufzunehmen. Mein Interesse war vorhanden, und im Oktober 1980 kam
es anlässlich eines Konzerts in Stuttgart zu einer ersten
Begegnung, einem länge-ren Pausengespräch mit meiner dezidierten
Bitte, mir einige seiner unveröffentlichten Werke zuzusenden. Es
ergab sich ein weiteres Zusammentreffens im April 1981 bei einem
Nachmittagskonzert im Hause Bialas in Glonn. Darauf erhielt ich,
datiert vom 13. April, einen Brief aus Landshut:
„Sehr geehrter, lieber Herr Scheuch,
lassen Sie mir nochmals herzlich Dankeschön sagen dafür, daß Sie
sich die Mühe gemacht haben, in mein Konzert zu kommen. Da Sie mir
nun, nachdem Sie ein kleines Stück von mir gehört haben,
anscheinend trotz-dem wohlgesonnen sind, habe ich den Mut, Ihnen
ein paar Partituren und Aufnahmen zu schicken. Vorher war ich mir
zu unsicher, obwohl einige meiner Kollegen sich für mich bei mir
eingesetzt hatten – das alleine war der Grund, warum ich zögerte.Da
ich Ihnen gegenüber so aufrichtig wie möglich sein möchte, muss ich
Ihnen gestehen, daß ich im Moment sehr verwirrt bin wegen des
plötzlichen Interesses an meinen Stücken. Nachdem ich jahrelang von
Verla-gen nur Prospekte bekommen habe, bekomme ich in letzter Zeit
wohlwollende Briefe – wohlgemerkt: ohne mein Zutun. (...) Mein
lieber Lehrer sähe mich gern bei Ihnen, bei Bärenreiter: ich bin
verwirrt, freudig – aber doch eben verwirrt - - - Was soll ich tun?
Ich kann und will kein Doppelspiel betreiben, ich kann und will
keine Bedingungen stellen, weil ich nicht weiß, wie weit ich
Bedingungen erfüllen kann und Ansprüchen gerecht werden kann. Im
Gegensatz zu den meisten meiner Kollegen, deren Produktivität ich
ohne Zweifel schätze und bewundere, schreibe ich sehr wenige
Stücke, und das wird sich auch grundsätzlich nicht sehr
ändern.Bevor ich nun irgendwelche Entscheidungen treffe und Briefe
schreibe, möchte ich Ihre Nachricht abwarten. […] Bitte prüfen Sie
nach Ihrer Kenntnis die Lage und teilen Sie mir Ihre Meinung oder
Entscheidung mög-lichst bald mit.“
Meine Antwort erfolgte am 28. April 1981:
„Lieber Herr Winbeck,
dass Sie mir vor Ostern noch ein paar Partituren und eine
Kassette zugeschickt hatten, freute mich sehr,
und ich danke Ihnen dafür. Fast mehr aber noch freute mich Ihr
Brief in seiner Offenheit und Ehrlichkeit; ich kann mir für unsere
weiteren Gespräche keine bessere Basis denken. Ich habe größtes
Verständnis für Ihre Haltung, ich finde sie absolut richtig und bin
froh da-rüber. Dennoch möchte ich Ihnen keine ,Entscheidung‘
mitteilen – weil ich der Meinung bin, dass wir diese nur gemeinsam
fällen können.“
Ich kündigte ihm für Juni einen zweitägigen Besuch in seinem
heimischen Umfeld in Landshut an, um „in Ruhe ausführlich mit Ihnen
zu reden – über alles aus-genommen über Bedingungen und
Ansprüche“.
So kam es, dass ich am 13. Juni 1981 wohlpräpa-riert und angetan
von den mir vorab zugesandten ersten zwischen 1973 bis 1979
entstandenen Werken nach Landshut fuhr (wo Heinz Winbeck, geboren
am 11. Februar im 1946, in äußerst bescheidenen Verhält-nissen
aufgewachsen war) – herzlich empfangen von ihm und seiner Frau
Gerhilde. Er erzählte offen über seine Jugend in Armut und wie sich
die Umstände nach einem unverschuldeten Unfall dank eines
Schmerzensgeldes verbessert hätten, was auch die Anschaffung eines
Klaviers ermöglicht habe … Dass die Beschäftigung mit diesem
Instrument tatsächlich
zu einem Klavierstudium führen würde, erstaunt auch heute noch;
jedenfalls brachte es ihn mit 17 Jahren an das
Richard-Strauss-Konservatorium nach München, wo Winbeck nebenher
auch Unterricht im Dirigieren nahm. 1967 setzte er sein Studium an
der Staatlichen Hochschule in München fort, erst bei Harald
Genzmer, dann hauptsächlich bei Günter Bialas: ihm hatte er 1973
„in großer Dankbarkeit“ seinen Entgegengesang für Orchester
gewidmet. Wir sprachen ausführlich darüber, und Winbecks Text dazu
erschien mir wie ein Credo für sein späteres Schaffen. Es gehe ihm
darum, sich „von jeglichem experimentellen Tatendrang und allen
-ismen zu lösen, stattdessen wollte ich das musi-kalische
Urerlebnis, den Vorgang der Musikwerdung selber gestalten, von dem
man nie so genau weiß, ob es sich um eine ,Begegnung‘ oder um eine
Selbstpro-jektion handelt. Es war mir damals auch wichtig, das
allgemein strapazierte Tonmaterial überschaubar auf jene
Grundbausteine zu reduzieren, welche wirklich von mir vertreten
werden konnten.“
Heinz Winbeck hatte sich seinen Weg danach müh-sam suchen
müssen: als Schauspielkapellmeister und -komponist in Ingolstadt
und Wunsiedel, bis erste Anerkennungen und Preise folgten und sich
1980 die Chance bot, einen Lehrauftrag an der Staatlichen
Hoch-schule für Musik in München zu übernehmen (wo er ab 1987 als
hauptamtlicher Dozent für Musiktheorie und Gehörbildung
unterrichtete).
1988 wechselte er als Professor für Komposition an die
Staatliche Hochschule für Musik in Würzburg und leitete bis zu
seiner Emeritierung viele junge Komponis-ten in seiner Kunst an –
freundschaftlich, nachdenklich und stets Freiheit gewährend.
Durch die Berufung nach Würzburg hatte sich seine
Lebenssituation materiell und ideell verbessert: Es war ihm
gelungen, 1990 abseits jeglichen Stadtbetriebs in Schambach im
Altmühltal in einem klosterähnlichen Anwesen eine Heimstätte zu
finden, das die beiden Winbecks liebevoll über Jahre hinweg
restaurierten und bewirtschafteten und zusammen mit Hunden, Katzen
und weiteren Tieren bewohnten; auf einer selbst kunstvoll
gestalteten Weihnachtskarte schrieb Heinz Winbeck 1997 „Stellt Euch
vor … da steht unser Weihnachtsbaum wieder im Stal