Universität Bielefeld Fakultät für Geschichtswissenschaft und Theologie Abteilung Geschichtswissenschaft Szenisches Rollenspiel im Geschichtsunterricht – Authentizität kontra Anachronismen? Auswertung eines Unterrichtsprojekts vorgelegt von: Tobias Reckeweg vorgelegt am: 07. Oktober 2010
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Szenisches Rollenspiel im Geschichtsunterricht ... · Authentizität kontra Anachronismen? Auswertung eines Unterrichtsprojekts vorgelegt von: Tobias Reckeweg vorgelegt am: 07. Oktober
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Universität Bielefeld
Fakultät für Geschichtswissenschaft und Theologie
Abteilung Geschichtswissenschaft
Szenisches Rollenspiel im
Geschichtsunterricht –
Authentizität kontra Anachronismen?
Auswertung eines Unterrichtsprojekts
vorgelegt von: Tobias Reckeweg
vorgelegt am: 07. Oktober 2010
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung 3
2. Szenisches Rollenspiel in der Theorie der
Geschichtsdidaktik: Ziele, Grenzen und Chancen 52.1 Markus Bernhardt: Das Problem des „historischen
Mindestwissens“ 5
2.2 Friedrich Jahn: Rollenspiel als Klärung einer
historischen Situation und als Zeitersparnis im
Unterricht 7
2.3 Jessica de Boer: Das Rollenspiel als Förderung der
sozialen Kompetenzen der Schüler 8
2.4 Histoprim: Vergangenheit begreifen und Interesse
wecken 9
3. Schüler als Bauern: die Aufführungen 12
3.1 Der Inhalt der Spiele und Texte 12
3.2 Identifikation mit den Charakteren 13
3.3 Anachronismen 15
3.4 Umgebung und Requisiten 16
3.5 Schauspielerische Umsetzung durch die Schüler 17
3.6 Logische Stimmigkeit 18
4. Fazit 20
5. Literaturverzeichnis 22
1. Einleitung
Wie mache ich guten Geschichtsunterricht? – Eine Frage, die sich wohl jeder
Geschichtslehrer am Anfang seiner Berufslaufbahn stellt. Bei Schülern1 steht der
Geschichtsunterricht oft in dem Ruf, „langweilig und öde“ zu sein. Wie kann man
dem entgegenwirken? Wichtig ist dabei – das ist wohl allgemeiner Konsens – zu
zeigen, dass Geschichte eben nicht „tot“ ist und den Unterricht lebendig zu gestalten.
Dabei gibt es viele Methoden und Ansätze. Mit einer von ihnen wird sich diese
Arbeit auseinander setzen: dem szenischen Spiel im Geschichtsunterricht, nicht von
Profis und Living-History-Gruppen, sondern von Schülern für Schüler.
Dabei haben Unterrichtsprojekte dieser Art einen ganz besonderen Balanceakt zu
leisten, ein Balanceakt zwischen dem Anspruch an den Geschichtsunterricht,
möglichst authentisch und wahrheitsgetreu zu bleiben, und der Darstellung des
historischen Sachverhalts durch die Schüler. Und nun stellt sich die entscheidende
Frage: Ist so etwas zu leisten und sind szenische Darstellungen durch Schüler im
Geschichtsunterricht überhaupt sinnvoll? Ziel dieser Arbeit ist es, eine Antwort auf
diese Frage zu geben. Doch auf dem Weg dorthin müssen einige Aspekte der
Fragestellung und die Zielsetzung näher betrachtet und analysiert werden. Was
verspricht man sich als Geschichtslehrer überhaupt von dieser Unterrichtsmethode?
Warum setzt man sie ein und in welchem Rahmen? Welche Fehlerquellen sind bei
der Umsetzung zu beachten?
Im Schuljahr 2009/201 wurde in Schulklassen eines dritten Jahrganges einer
Grundschule und eines fünften Jahrganges einer Hauptschule aus Bielefeld in
Zusammenarbeit mit Studenten des Seminars „Narrativer Konstruktivismus und
Living History“ unter Anleitung von Dr. Jörg van Norden von der Universität
Bielefeld versucht, ein solches Projekt zur Unterrichtseinheit „Mittelalter“
umzusetzen. Die Studierenden schrieben Geschichten, die typische Szenen aus dem
Mittelalter erzählten. Korrigiert von Mitarbeitern des Freilichtmuseums
Oerlinghausen, bildeten sie die Grundlage für die Aufführungen der Schüler, die
diese zusammen mit ihren Lehrern entwickelten und im Freilichtmuseum aufführten.
Anhand dieser Aufführungen soll beispielhaft analysiert und erörtert werden, ob 1 Anm. d. Autors: Der Verständlichkeit und Lesbarkeit halber wird hier darauf verzichtet, jedes
Mal „Schülerinnen und Schüler“ zu schreiben. Es sei jedoch angemerkt, dass grundsätzlich immer Schüler sowohl männlichen und weiblichen Geschlechts gemeint sind.
3
diese Methode für den Geschichtsunterricht geeignet ist – oder auch nicht. Jedoch
sind hier Einschränkungen nötig. Denn die Beurteilung in dieser Arbeit erfolgt allein
auf der Grundlage der Videoaufnahmen der Aufführungen. Um ein wirklich
objektives und standfestes Urteil fällen zu können, wären weitere Untersuchungen
nötig, so eine Wissensabfrage der Schüler, was sie noch von dem in den Spielen
thematisierten historischen Fakten wissen. Des Weiteren müsste man entsprechende
Projekte auch mit anderen Schülergruppen verschiedener Jahrgangsstufen
durchführen und es mit verschiedenen Szenen und Thematiken probieren, um zu
sehen, ob es dort qualitative Unterschiede gibt, die nicht auf das schauspielerische
Talent der Schüler zurückzuführen sind.
Aber diese Arbeit kann und soll zumindest einen Anhaltspunkt sein und eine Tendenz
und Richtung anzeigen.
4
2. Szenisches Spiel in der Theorie der
Geschichtsdidaktik: Ziele, Grenzen und
Chancen
Mit der Thematik des Sinns und der Funktionalität von szenischen Rollenspielen im
Geschichtsunterricht haben sich natürlich auch schon zahlreiche Didaktiker
beschäftigt und sich mit Vor- und Nachteilen dieser Methode auseinandergesetzt.
Dies soll nicht eine grundlegende Erörterung der Theorie werden, doch ist es für
eine fundierte Bewertung der Rollenspiele im Freilichtmuseum Oerlinghausen
unerlässlich, zumindest die Grundzüge der Argumentation einiger
Geschichtsdidaktiker näher zu beleuchten um darauf aufbauend ein eigenes Urteil
fällen zu können. Doch wird dieses Kapitel aufgrund der zahlreichen Meinungen und
Publikationen zu diesem Thema exemplarisch auf die Standpunkte zum einen von
Markus Bernhardt und Friedrich Jahn, zum anderen von Jessica de Boer sowie der
Arbeitsgruppe Geschichte des Erziehungsministeriums von Luxemburg unter dem
Vorsitz von Carlo Muller begrenzt, ohne diese jedoch bewerten zu wollen.
2.1 Markus Bernhardt: Das Problem des „historischen
Mindestwissens“Markus Bernhardt ist Professor für Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen
Hochschule Freiburg. Von ihm stammen einige der wohl wichtigsten Publikationen
zum Spiel im Geschichtsunterricht.
Bernhardt lehnt Rollenspiele im Geschichtsunterricht ab, denn es gebe „wenig
Ungeeigneteres für den Geschichtsunterricht als das Rollenspiel“2, da dieses nicht
der Fremd-, sondern der Selbsterkenntnis diene. Er hält es nicht grundsätzlich für
sinnlos, wenn Schüler im Geschichtsunterricht in Rollen schlüpfen, kritisiert jedoch
den zu allgemeinen Gebrauch des Begriffs des Rollenspiels in der didaktischen
Literatur. Dieser Begriff sei mit Vorstellungen verbunden, „die seinem eigentlichen 2 Bernhardt, Markus: Geschichte inszenieren, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55,
2004. Seite 20
5
Gebrauch zuwider laufen“3. Er definiert Rollenspiele als „gegenwartsbezogene
Aktionsformen, die Rollenerwartungen und Rollenverhalten des Individuums im
sozialen Kontext aufhellen und gegebenenfalls korrigieren sollten“4. Er sieht die
Chance von Rollenspielen im Geschichtsunterricht nicht in einer Rekonstruktion von
historischen Ereignissen oder Zusammenhängen, dies erklärt er in dieser Form für
nicht umsetzbar, sondern vielmehr darin, dass die Schüler im Rollenspiel die soziale
Wirklichkeit szenisch rekonstruieren. Er sieht darin vor allem die Gefahr, dass die
Schüler ihre eigene Lebenswirklichkeit mit in das Spiel einbringen und die
historische Wirklichkeit dadurch verfälscht wird.
Die Inhalte seien für ein Rollenspiel lerntheoretisch bedeutungslos. Weiter kritisiert
er, dass durch die Vereinfachung der Zusammenhänge das spezifisch „Historische“
fehle. Stattdessen wären szenische Spiele besser, bei denen nur wenig historisches
Wissen vorausgesetzt werde, und es vielmehr um Empfindungen ginge, wie zum
Beispiel eine Verkaufsverhandlung auf dem Sklavenmarkt, die sich aber auf die
Empfindungen der Akteure konzentriert.
Gefahren sieht er auch in Anachronismen, in die die Schüler geraten könnten, durch
Vermischung der historischen und der eigenen Realität. Zudem vertritt er die
Meinung, ein Schüler könne durch hineinversetzen in eine historische Person diese
nicht „kennenlernen“.
Doch lehnt er die Methode nicht völlig ab. Er knüpft es nur an die Bedingung, das
spezifisch Spielerische des Rollenspiels zu wahren, indem Spielhandlung und
historische Handlung getrennt bleiben, aber aufeinander bezogen werden können. Als
Beispiel nennt er eine Radiosendung über den Sturm auf die Bastille.
Bernhardt unterscheidet drei Typen szenischen Rollenspiels, die er im
Geschichtsunterricht für sinnvoll erachtet: Das authentische, das typisierte und das
historiografische Spiel.
Beim authentischen Spiel wird ein historisches Problem in einem Stegreifspiel
zugespitzt und die Darstellung der Schüler wird nach Annäherung an das Thema
durch Quellenlektüre von den Schülern reflektiert.
Das typisierte Spiel verfremdet eine historische Situation. Hier geht es um die
Erfahrung von gegenseitigen Gruppeninteressen. Modellhaft werden Strukturen und
3 Ebd. Seite 20
4 Ebd. Seite 21
6
Handlungszwänge sichtbar gemacht. Es folgt dann die historische Interpretation.
Das historiografische Spiel geht den umgekehrten Weg. Hier entstehen die
Arbeitsergebnisse nicht aus dem Spiel, sondern das Spiel hält diese fest. Die
Ergebnisse der Quellenarbeit werden hier durch bekannte Formen wie Talkshows etc.
vertieft und festgehalten.
2.2 Friedrich Jahn: Rollenspiel als Klärung einer historischen
Situation und als Zeitersparnis im UnterrichtEine ganz andere Position vertritt Friedrich Jahn. Er schließt die Darstellung von
historischen Ereignissen ausdrücklich nicht aus5. Ausgehend von Aussagen einiger
Geschichtslehrer zur Situation des Geschichtsunterrichts sieht er fünf Kernprobleme6:
das Desinteresse der Schüler
das Unvermögen der Schüler, nicht mehr zuhören und hinsehen zu können
die zeitliche Überforderung der Geschichtslehrer
die Stoffauswahl und die Verteilungspläne
Verknüpfung von Beziehungs- und Inhaltsebene!
Jahn sieht im Rollenspiel als Methode für den Geschichtsunterricht einen Ansatz, zur
Lösung dieser Probleme bei zutragen7. Er betrachtet das Spiel neben
Frontalunterricht und Gruppenarbeit als dritte Grundlegende Unterrichtsmethode im
Fach Geschichte. Aus eigener Erfahrung als Lehrer berichtet er von Entwicklungen,
in denen er Konsequenzen seiner Entscheidung sieht, das Spiel im Unterricht
verstärkt einzusetzen: vermehrtes Interesse am Geschichtsunterricht, Zunahme der
aktiven Beteiligung, eine „beachtliche Leistungssteigerung“ beim Verfassen von
Geschichtsarbeiten und ein starker Rückgang von Disziplinschwierigkeiten8.
Er sieht im Einsatz des Rollenspiels im Geschichtsunterricht die Möglichkeit, „alle
Schüler – ja alle! – einer Klasse zu motivieren und sie durch Informationen betroffen
zu machen – sie lernwillig, aktiv und kreativ werden zu lassen – sie sachkundig und
5 Jahn, Friedrich: Geschichte spielend lernen: Hilfen für den handlungsorientierten Geschichtsunterricht. Frankfurt am Main, 1992. Seite 1-6
6 Ebd. Seite 17 Ebd. Seite 1-28 Ebd. Seite 3
7
einsichtig in verschiedener Hinsicht zu machen“9. Er verherrlicht das Spiel als
Unterrichtsmethode geradezu: „Ein konsequenter Aufbau der Spielarbeite und seine
richtige Handhabung kann die Unterrichtserfolge sichern, die einem vielleicht bisher
versagt blieben.“10 Des Weiteren könnten mehr Lernziele mit weniger Zeitaufwand
erreicht werden.
Er versucht auch die Kritik am Spiel im Unterricht zu entkräften, geht jedoch
ausnahmslos auf Kritikpunkte ein, welche die praktische Umsetzung dieses Konzepts
im Unterricht betreffen. Gegenargumente, wie sie beispielsweise Bernhardt anführt,
finden keinerlei Erwähnung. Stattdessen erhebt er das Spiel im Unterricht zum Stein
der Weisen des Geschichtslehrers und lässt andere Unterrichtsmethoden
vergleichsweise uneffektiv erscheinen. „Mit allen bisherigen bekannten Versuchen“
wie Quellenarbeit, Anschaulichkeit sowie lernziel- und problemorientierten
Unterricht sei es „dem einen oder anderen [Geschichtslehrer] nur in Ansätzen
gelungen, Schüler für Geschichte zu interessieren und zu befähigen“11. Ohne weitere
Erläuterungen und Belege lässt er diese These im Raum stehen. Er ist scheinbar
überzeugt, die ultimative Unterrichtsmethode gefunden zu haben.
2.3 Jessica de Boer: Das Rollenspiel als Förderung der sozialen
Kompetenzen der SchülerJessica de Boer vertritt in ihrer Zwischenprüfungsarbeit von 2004, „Rollenspiel,
Planspiel und szenisches Spiel im Unterricht“, einen befürwortenden Standpunkt. Sie
formuliert im Kapitel „Warum Rollenspiel im Unterricht?“ folgende Vorteile:
„Es können Szenen nachgespielt werden, die Alltagssituationen oder Probleme darstellen, und so zur Lösung der Probleme beitragen (siehe Beispiel 1). SchülerInnen die beim Frontalunterricht nicht mitkommen oder einfach abschalten, lernen dadurch, dass nicht nur der Kopf, sondern auch der Körper aktiviert wird, wieder mit mehr Begeisterung. Das Konkurrenzverhalten, dass in einigen Klassen oder ganzen Schulformen herrscht, kann durch die spielerische Situation und den Spaß am Spiel verdrängt werden. Dadurch, dass ein/e und derselbe/dieselbe SchülerIn in der
9 Ebd. Seite 410 Ebd. Seite 611 Ebd. Seite 4
8
gleichen Spielsituation in verschiedene Rollen schlüpfen kann, kann er/sie lernen Situationen aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten. Das Kind kann einen Rolle spielen die wenig seinem Naturell entspricht oder es stellt eine Person dar zu der es aufblickt oder eben herabsieht auch können LehrerIn und SchülerIn ihre Rollen für kurze Zeit tauschen, so kommt das Kind in eine Machtsituation oder der/die LehrerIn und der/die SchülerIn stehen auf einer Stufe. Die Interaktion, Kommunikation und Kooperation in der Gruppe verändert und verbessert sich. Der Eindruck, dass nicht nur der/die LehrerIn den Stoff weitergeben kann, sondern ich (der/die SchülerIn) es auch kann entsteht dadurch, dass der/die SchülerIn beim Spielen selber handelt.“12
Neben den Vorteilen, die auch Jahn erwähnt, wie mehr Begeisterung am
Geschichtsunterricht und bessere Aufnahmefähigkeit, die eher auf inhaltlich
orientierte Lernziele abzielen, nennt sie auch einige positive Effekte bezogen auf die
sozialen Kompetenzen und das Miteinander der Schüler untereinander, die auch
Bernhardt anschneidet, aber nicht weiter konkret ausführt.
Inwiefern diese Punkte tatsächlich zutreffen, kann hier nicht weiter geprüft werden,
jedoch erscheinen sie plausibel und sind nachvollziehbar.
2.4 Histoprim: Vergangenheit begreifen und Interesse weckenHistoprim ist ein Online-Projekt, das seit 1998 im Netz ist und einer Zusammenarbeit
des Centre de Technologie de l'Education und der Arbeitsgruppe Geschichte des
Erziehungsministeriums Luxemburg. Vorsitzender der Arbeitsgruppe ist der
Schulinspektor Carlo Muller. Weitere Mitglieder sind Theo Krier, Gérard Roettgers
und Roland Meyer. Ziel dieser Arbeitsgruppe ist neue Materialien für den
Geschichtsunterricht in Luxemburg zu erarbeiten.
Auch die Mitglieder dieser Arbeitsgruppe halten das Rollenspiel im
13 Anmerk. d. Autors: Die Inhalte der Internetseite können zwar der genannten Arbeitsgruppe, jedoch nicht spezifischen Autoren zu geordnet werden. Deshalb wird es als gemeinsamer Standpunkt aller Mitglieder der Arbeitsgruppe betrachtet.
„Das Rollenspiel ist ein kreatives Ausdrucksmittel, das in unserer Schule nicht fehlen darf. Es fördert die körperlichen und sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten der Schüler, unterstützt ihr Vorstellungsvermögen und ist ein ideales Training für soziales Handeln. Die Schüler erhalten die Möglichkeit, sich mit den dargestellten Problemen auseinanderzusetzen, sie zu analysieren und sie zu begreifen. Das Rollenspiel zeigt damit die verschiedenen Wege auf, die zur Lösung dieser Probleme führen können.“14
Das geschichtliche Rollenspiel mache den Schülern insofern „die Vergangenheit
begreifbar“15, dass sie die Motive historischen Handelns verstehen und deren Folgen
nachvollziehen können. Ähnlich wie Bernhardt werden aber auch hier geeignete
Themen eingegrenzt und Beispiele dafür angeführt: Darstellen ließen sich
geschichtliche Konflikte (z.B. Die Pflichten eines Bauern gegenüber seinem
Grundherrn), Gesellschaftsformen (Folgen eines Aufrufs des fränkischen Königs zum
Krieg für die einzelnen gesellschaftlichen Schichten), ein alltägliches Ereignis in
früheren Zeiten (Essenszubereitung im Mittelalter), die Rolle der verschiedenen
Räume einer Behausung (Räume einer mittelalterlichen Burg) und die Darstellung
von Normen einer Gesellschaft anhand des jeweiligen Gegenteils (mutiger,
autoritärer Sohn eines adligen und sein demütiger, furchtsamer Bruder).
Die räumliche Umgebung des Spiels soll (auch auf Kosten der Authentizität) einfach
gehalten werden, Tiere wie das Pferd eines Ritters könne auch von Mitschülern
gespielt werden. Requisiten könnten durch Gesten angedeutet werden.
Weiter werden die Mittel der Darstellung genannt, die ein Schüler nutzen kann:
Mimik, Gestik, Körpersprache, Handlungen und Sprache.
Außerdem unterscheiden die Autoren wie auch Bernhardt drei Arten des Spiels,
jedoch nach anderen Kriterien. Das vorbereitete Rollenspiel wird wie ein
Theaterstück entwickelt. Gruppen werden gebildet, Rollen erdacht, Dialoge
geschrieben und Texte auswendig gelernt.
Beim improvisierten Rollenspiel gibt es nur ein Grundgerüst statt fertig
ausformulierte Dialoge. Jedoch sind Rollen und Charaktere fest zugeordnet und der
grobe Handlungsablauf ist bekannt. „Die Schüler sprechen nicht ihre eigenen
Gedanken und Gefühle aus aber diejenigen der Person, die sie spielen. Dadurch
werden sie sich der gespielten Problematik besser bewusst. Sie identifizieren sich in
größerem Ausmaß mit der dargestellten Person.“ – Eine Vorstellung die in dieser
Form nach Bernhardt nicht realisierbar ist.
Das Planspiel ist eine Simulation. Es dient dazu, abstrakte Sachzusammenhänge für
den Schüler nachvollziehbar zu machen. So können zum Beispiel „komplexe
Problemstellungen, in die entgegengesetzte Standpunkte hineinspielen“16,
durchschaubar gemacht werden. Als Beispiel nennen die Autoren eine
Gemeinderatsitzung, auf der entschieden werden soll ob auf einem Stück Bauland
ein Spielplatz oder ein Wohnhaus entstehen soll. Auch dies erfordere gute
Vorbereitung. Die Standpunkte müssen klar sein, die Argumente erarbeitet sein.
16 Ebd.
11
3. Schüler als Bauern: Die Aufführungen
Nun soll analysiert werden, wie die Schulklassen die historischen Szenen in eine
Aufführung übersetzen konnten und die entscheidende Frage beantwortet werden:
Sind szenische Rollenspiele im Geschichtsunterricht sinnvoll?
Dies wird nun anhand der Videoaufzeichnungen ermittelt, nach Kriterien, die bereits
in der Einleitung Erwähnung fanden – jedoch, mit Blick auf die didaktische Theorie,
mit leichten Einschränkungen. So zielt diese Arbeit ausdrücklich auf die Lernziele
ab; positive Effekte für die sozialen Kompetenzen und das Miteinander der Schüler,
wie von Jessica de Boer erwähnt, können hier nicht überprüft werden, ebenso wenig
wie die Fragebeantwortet werden kann, ob diese Schulklassen im Vergleich zu ihren
Parallelklassen mehr vom Unterrichtsstoff nachhaltig in Erinnerung behalten
konnten. Hier wird eine Beurteilung allein anhand der Aufführungen an sich
abgegeben und deshalb wird auch keinen Anspruch auf ein endgültiges „ja“ oder
„nein“ zu Rollenspielen im Geschichtsunterricht erhoben.
3.1 Der Inhalt der Spiele und TexteUm einen inhaltlichen Überblick zu gewinnen, wird hier einmal der Inhalt der
einzelnen gespielten Situationen vorgestellt.
Eine Szene, die mehrfach dargestellt wird, ist der Konflikt zwischen einem Bauern
und seinem Grundherrn bezüglich der Pacht. Der Grundherr möchte gerne die Pacht
eintreiben und der Bauer kann nicht sie nicht zahlen, weil die Ernte schlecht war und
seine Familie sonst hungern müsste. Alternativ einigen sich Bauern und Grundherr in
allen Spielen auf eine Zahlung in Form von Hoftieren wie Schweinen und Hühnern.
Oft werden dann auch noch die Kinder der Bauern als Arbeitskräfte verkauft.
Weitere Aufführungen thematisieren die Mitarbeit der Kinder auf dem Hof, eine
Notwendigkeit, damit die Familie überleben kann. Hier soll auf emotionale Weise
darauf aufmerksam gemacht werden, wie hart der Alltag auch für Kinder war.
Auch Zwangsheiraten aus politischen oder – wie in diesem Fall – wirtschaftlichen
Motiven werden in den Aufführungen zum Thema gemacht.
In einer weiteren Szene wird die Situation eines reisenden Handwerkers nachgestellt,
der bei Bauern gegen Arbeit Unterkunft sucht.
12
Die letzte inszenierte Geschichte dreht sich um einen Streit zwischen Bauern. Die
Kühe des einen sollen die Ernte des anderen Bauern plattgetrampelt haben. Der
Grundherr schlichtet den Streit.
Diese ganzen Szenen haben einige Gemeinsamkeiten. Zusammenfassend lässt sich
sagen, dass vor allem die wirtschaftliche Situation, die Lebensqualität und die
Lebensführung mittelalterlicher Bauernfamilien in den Mittelpunkt gerückt werden
soll. Alle Geschichten lassen mit nur wenigen Akteuren in Szene setzen. Im
Mittelpunkt stehen der Kampf ums Überleben, die existenzielle Bedeutung der Hof-
und Landarbeit, und die Rollen- und Arbeitsverteilung innerhalb der Familie vor dem
Hintergrund des feudalistischen Systems des frühen Mittelalters. Die Geschichten
erzählen also vor allem alltägliche Situationen und keine historischen Ereignisse. Das
vermindert die Menge an nötigem historischem Vorwissen für die Schüler. Hier soll
ein typisches Bild vermittelt werden und die Darstellung der Rollen ist
vergleichsweise einfach, da die Schüler nicht beispielsweise die Autorität eines
Königs nachspielen müssen.
Unterschieden werden muss noch nach den Altersklassen, vor allem da die Schüler
der fünften Klasse ihre Texte auswendig gelernt haben, wogegen die Grundschüler
nur die grobe Situation geplant haben und bei dem Rest, insbesondere bei den
Dialogen, improvisieren.
3.2 Identifikation mit den CharakterenDie Frage nach der Identifikation mit den dargestellten Charakteren ist zugleich auch
die Frage nach der Authentizität. Wie gut schlüpfen die Schüler in die einzelnen
Rollen? Wie überzeugend und „echt“ wirken die Szenen?
Gleich die erste von Schülern der dritten Klasse dargestellte Szene (I.I)17 ist sehr
typisch für die Darstellungen generell (00:30 bis 01:28 Minuten der Aufnahmen auf
der DVD). Hier geht es um die Pacht, die ein Bauer nicht zahlen kann. Der Bauer
bietet von sich aus sämtliche Tiere an und gibt sie alle (!) bis auf ein Huhn seinem
Herrn. Es ist fraglich, ob ein Bauer damals mit nur einem Huhn hätte überleben
können. Noch unwahrscheinlicher wird die Darstellung, als der Herr den Bauern
17 Die Szenen sind in Phasen und Gruppen eingeteilt. In der ersten Phase gibt es Aufführungen, in der zweiten Phase können die Schüler Fragen stellen und mit dem damit erworbenen Wissen ihre Aufführungen in der dritten Phase versuchen zu verbessern. I.I steht beispielsweise für erste Phase, erste Szene bzw. Gruppe.
13
fragt, ob er denn auch Kinder hätte, die für ihn arbeiten können. Er hat die Frage
noch nicht ganz ausgesprochen, da fällt ihm der Bauer schon ins Wort: „Ich habe
sogar zwei!“ (00:58) – Und gibt sie sogar gleich beide an den Herrn ab. Hier kommt
sehr gut zum Ausdruck, wie wenig den Schülern die Verzweiflung der Lage bewusst
ist. Der Bauer wird gezwungen, seine eigenen Kinder zu verkaufen, was eine
doppelte Katastrophe für eine mittelalterliche Bauernfamilie war, schließlich waren
nicht nur die geliebten Kinder weg, sondern es fehlte nun auch ihre Arbeitskraft.
Doch der Bauer in der Aufführung ist kein Stück verzweifelt. Er bietet seinem Herrn
ohne große Verhandlungen, ja ohne dass dieser auch nur nach einem zweiten Kind
gefragt hätte, gleich beide als Arbeitskraft an. Es wirkt er wie ein Viehverkauf auf
dem Markt. Und auch die Kinder sind völlig gelassen ob der Tatsache, dass sie von
ihrer Familie getrennt, verkauft und als Arbeitskraft ausgenutzt werden sollen. Es
gibt nicht eine Spur von Gegenwehr, wie Vieh, dass man zur Schlachtbank führt.
Auch in Szene I.II (01:32 bis 02:24) gibt der Bauer ohne jede emotionale Regung
sämtliches Vieh sowie seine Kinder ab – ein sehr unrealistisches Bild. Außerdem
kann er auf Nachfrage des Grundherrn nur ungefähr sagen wie viele Tiere er besitzt.
Ein Bauer, der nicht weiß wie viele Tiere er hat? Das gleiche ereignet sich in Szene
I.III (02:51).
In weiteren Szenen geht es um die Arbeit der Kinder auf dem Feld bzw. auf dem Hof.
Die Kinder müssen früh aufstehen und viel und hart arbeiten (Szenen I.IV und I.VII).
Dabei ist den Schülern jedoch offensichtlich nicht bewusst, wie anstrengend das
damals Tag für Tag in der Realität war.
Ebenso emotions- und willenlos zeigen sich die Schüler in ihren Rollen als Töchter,
die aus wirtschaftlichen Gründen mit ihnen fremden Männern verheiratet werden,
eine Entscheidung, die ihr ganzes restliches Leben beeinflusst, doch sie kaum rührt.
Dasselbe Phänomen der sehr emotionslosen Darstellung zeigt sich bei den
Aufführungen der Hauptschüler der sechsten Klasse. Das kommt auch in der ersten
von ihnen dargestellten Szene sehr gut zu Tage (32:13 bis 35:30). Denn obwohl es
hier um den Überlebenskampf einer Familie geht, die versucht, dem Hunger zu
entgehen, geben die Schüler der Szene den Titel „Stück über die stressige Familie“ –
obwohl es wohl mehr als nur Stress war. Den Schülern ist die Tatsache, ständig vom
Hunger bedroht zu sein, die im Mittelalter geradezu Alltag war, einfach zu fremd, um
sie authentisch darstellen zu können. Die Darstellung sind also sehr emotionslos –
obwohl doch laut der Theorie gerade über die emotionale Darstellung der Zugang
14
zum Verständnis der Geschichte geschaffen werden soll.
Unterstrichen wird dies noch durch die Art der Fragen, welche die Schüler sowohl
der dritten als auch der fünften Klasse stellen. Sie zielen vor allem auf die
Lebenswirklichkeit der Schüler ab bzw. haben in dieser ihren Ursprung. Ziel in
dieser Phase soll es für die Schüler ja sein, mit Hilfe von Fragen mehr über die von
ihnen dargestellte „historische Realität“ zu erfahren um so dann in der dritten Phase
ihre Spiele verbessern und realistischer gestalten zu können. Statt aber beispielsweise
nach den Rechten und Pflichten eines Hörigen oder Leibeigenen gegenüber seinem
Herrn zu fragen, wollen sie erfahren, ob das Feuer mit Wasser gelöscht wurde, wer
ein Schwert tragen durfte und welchen Wert die Taler von damals wohl in Euro
gehabt hätten. Dies spiegelt zwar ein grundsätzliches Interesse an der Thematik
wieder, zielt aber nicht auf das ab was die Spiele thematisieren: die wirtschaftlichen
und ökonomischen Verhältnisse in der Feudalgesellschaft des Frühmittelalters.
3.3 AnachronismenEin wichtiger Aspekt sind natürlich auch Anachronismen. Anachronismen werden
folgendermaßen definiert: „Die Wörter Anachronismus und anachronistisch gehen
auf griechische Wurzeln zurück und heißen wörtlich übersetzt ‚gegen die Zeit‘.
Damit sind Dinge oder Begriffe gemeint, die fälschlicher Weise einer Epoche
zugehörig dargestellt werden, in der sie nicht mehr oder noch nicht existieren oder
ihre Existenzberechtigung verloren haben. Verwendet werden diese Begriffe auch im
Sinne von ‚nicht mehr zeitgemäß‘.“18 In dem Kontext der Schüleraufführungen sind
hier vor allem eine Vermischung der historischen Realität und der Lebenswirklichkeit
der Schüler gemeint. Wo in den Spielen Anachronismen auftauchen, ist die
Authentizität nicht mehr gegeben.
Der erste Anachronismus taucht bei Szene I.VI der Drittklässler auf. Hier setzen die
Schüler einen medizinischen Fortschritt voraus, den es im Frühmittelalter definitiv
noch nicht gab. Nach der Verheiratung einer Tochter ist diese schwanger. Doch schon
vor der Geburt weiß sie, dass es ein Junge wird (5:58). Jedoch gab es um 700 bis 900
n. Chr. noch lange keinen Ultraschall, mit dem eine solche Voraussage möglich