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Strukturelle Integration (Rolfing®)Hans Georg Brecklinghaus
10.1 Einleitung – 216
10.2 Geistesgeschichtliche Hintergründe und historische
Entwicklung – 217
10.3 Informationen zum Wirkungsmechanismus – 21810.3.1 Prämissen
– 218
10.3.2 Ziele der Behandlung – 220
10.4 Das praktische Vorgehen – 22110.4.1 Analyse – 222
10.4.2 Behandlung/Unterricht – 222
10.4.3 Interimsphase – 222
10.5 Autonomes Nervensystem und Psyche – 224
10.6 Anwendungsmöglichkeiten – 22510.6.1 Die Körperebene –
225
10.6.2 Die seelische Ebene – 226
10.7 Kontraindikationen – 227
10.8 Verbreitung, Ausbildung, Kostenübernahme – 227
10.9 Zusammenfassung – 227
10.10 Anhang: Adressen – 229
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216 Kapitel 10 · Strukturelle Integration (Rolfing®)
Ein müheloses Gleichgewicht des Körperbaus im Schwerkraftfeld
der Erde verbessert nicht nur Haltung und Bewegungsqualität eines
Menschen, sondern wirkt auch positiv auf das seelische Wohlbefinden
und ver-stärkt die Selbstheilungskräfte. Die Methode der
Struk-turellen Integration (Rolfing) nutzt die manuelle
Form-barkeit des Binde- und Muskelgewebes (Myofaszia), um eine
ausgewogene Neuordnung der Körperstruktur zu ermöglichen. Die
strukturelle Veränderung wird beglei-tet von einer sensomotorischen
Schulung zur Errei-chung ökonomischer Bewegungsabläufe. Um diese in
den Alltag integrieren zu können, wird dem individu-ellen
psycho-sozialen Kontext von Haltung und Bewe-gung große praktische
Bedeutung beigemessen.In diesem Beitrag lesen Sie:
wie die Methode der Strukturellen Integration 4(Rolfing)
wirkt,wie die Behandlung durchgeführt wird, 4welche Effekte in
Bezug auf das menschliche 4Bewegungssystem und auf psychosomatische
Probleme erreichbar sind,wie Verbreitung und Ausbildungsgang der
4Methode sich gegenwärtig darstellen.
Einleitung10.1
Das Wesen der Strukturellen Integration (Rolfing) ist ein
ganzheitliches Verfahren mit der Zielset-zung, die Körperstruktur
so zu beeinflussen, dass der Mensch sich möglichst mühelos im
Schwer-kraftfeld der Erde bewegen kann und das Gesamt-befinden sich
verbessert.
Die Methode besteht vor allem in manueller Arbeit am Binde- und
Muskelgewebe sowie in sen-somotorischer Schulung zur Erreichung
ökono-mischer Bewegungsabläufe. Strukturelle Integrati-on versteht
sich nicht als Therapie, sondern als kör-perlich-seelische
Grundlagenarbeit, für Gesunde wie Kranke jeden Alters gleichermaßen
geeignet.
Schmerzhafte Symptome des Bewegungs-systems und funktionelle
Beschwerden können jedoch durch Strukturelle Integration
abgemildert oder beseitigt werden, wenn deren Wurzeln in einer
ungünstigen Körperstruktur liegen. Insofern hat dieses Verfahren
einen Platz im Feld derjenigen Verfahren, welche durch Anregung der
Selbsthei-lungskräfte des Organismus wirken.
Die strukturelle Veränderung, die durch Struk-turelle
Integration ermöglicht wird, steht in einem Zusammenhang mit dem
zeitlichen Prozess der ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung.
Die-se ergibt sich aus den momentanen individuellen Bedürfnissen
und Erfordernissen sowie aus der persönlichen Lebensgeschichte der
Klienten. Auf-gabe der Rolfer – so die Bezeichnung der meisten
Praktizierenden dieser Methode – ist es, der kom-plexen
Wesenseinheit von Körper und Seele gerecht zu werden und sie in
ihrem persönlichen Wachs-tum mit Respekt, Einfühlungsvermögen und
Kom-petenz zu unterstützen.
Strukturelle Integration begreift sich als eigen-ständiges
Wissensgebiet mit folgendem originären Gesichtspunkt:
Der Vielfalt der Bewegungsabläufe und Hal-tungen eines Menschen
liegen bestimmte Muster zugrunde. Diese Muster sind die Struktur
des Men-schen, d. h. die individuelle und spezifische Form seines
Körpers. Dieser Strukturbegriff umfasst frei-lich nicht nur die
Form des Körpers als solche, son-dern schließt seine Beziehung zur
Schwerkraft, der er unterworfen ist, als ganz wesentlich mit ein.
Die zentrale Fragestellung lautet: Wie müssen sich die Teile des
Körpers räumlich zueinander verhalten, damit die Schwerkraft ihn
nicht deformiert, son-dern eine positive Ordnungsfunktion
übernimmt, sodass sich die Struktur des Menschen an ihr
orien-tieren und aufrichten kann? Dieser zentrale Ansatz führt in
Theorie und Praxis zu umfassenderen Fra-gestellungen nach der
Beziehung zwischen Struk-tur und Funktion (Bewegung, Atmung,
Stoffwech-sel usw.) sowie nach der Beziehung zwischen Struk-tur und
Psyche des Menschen.
Das Bindegewebe in seinen verschiedenen Arten, besonders die
Muskelfaszien, wird als das dem Körper Form gebende Organ der
Struktur angesehen (Ingber 1998, Oschman 1981, Oschman 2000,
Pischinger 1990, Schultz 1996). Das Binde-gewebe, welches wie ein
kontinuierliches Netzwerk den ganzen Körper umgibt und innerlich
durch-zieht, ist in seinen räumlichen Beziehungen und
Spannungsverhältnissen plastisch und formbar. Diese Tatsache ist
ursächlich für Strukturverände-rungen negativer Art.
Umgekehrt wird die Formbarkeit des Bindege-webes bei der
Strukturellen Integration für positive
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217 1010.2 · Geistesgeschichtliche Hintergründe und historische
Entwicklung
Wandlungsprozesse genutzt (Schleip 2003, Schultz u. Feitis
1996).
Geistesgeschichtliche 10.2 Hintergründe und historische
Entwicklung
Dr. Ida Rolf (1896–1979), die Begründerin der Methode, war in
den 1920er-Jahren Biochemikerin an der Rockefeller Universität in
New York. Wäh-rend dieser Zeit beschäftigte sie sich intensiv mit
Yoga, Homöopathie sowie Osteopathie und erarbei-tete sich daraus
bestimmte Grundüberzeugungen:
Das Denken in Wechselwirkungen anstelle 4eines linearen
Ursache-Wirkung-Denkens.Die Struktur des Körpers bestimmt seine
4Funktionen.Es ist sinnvoller, sich in die konstitutionelle
4Geschichte eines Menschen hineinzuarbeiten und seine
Selbstheilungskräfte anzuregen als von einer Symptomdiagnose
auszugehen und allopathische Gegenmaßnahmen zu ergreifen.
Eine Reihe von Zufällen und familiären Umstän-den führten dazu,
dass Ida Rolf in den 1940er-Jahren begann, mit Menschen zu
arbeiten, deren Bewegungsbeschwerden auf schulmedizinische
Behandlungsformen nicht ansprachen. Sie tat dies zunächst durch das
Lehren bestimmter Bewegungs-übungen, die sie aus dem Yoga
abgeleitet hatte. Die-se Übungen sollten den Körper ausdehnen und
damit Raum schaffen für ein besseres Funktionie-ren seiner
Bewegungen. Mit der Zeit kombinierte sie dieses Vorgehen mit der
Anwendung manueller Bindegewebsbehandlung, die sie aus ihren
bioche-mischen Grundlagenerkenntnissen abgeleitet hat-te.
Inspiriert durch die Körperpädagogin Jennet-te Lee und den
Begründer der allgemeinen Seman-tik, Alfred Korzybski, fand Ida
Rolf schließlich den Bezugsrahmen, welcher ihren Ideen über die
Struk-tur des menschlichen Körpers eine neue Qualität verlieh: die
Bedeutung der Erdanziehungskraft.
Über 20 Jahre lang arbeitete sie ganz pragma-tisch an der
Entwicklung der »Strukturellen Inte-gration«. Mitte der
1060er-Jahre ging sie auf Einla-dung von Fritz Perls, dem Begründer
der Gestalt-
therapie, nach Esalen, das amerikanische Zentrum der
Humanistischen Psychologie. Dort führte sie die ersten längeren
Ausbildungskurse durch.
Bedingt durch das psychotherapeutische Umfeld ihrer neuen
Wirkungsstätte erregten nun neben den physiologischen Wirkungen des
Rolfing auch die psychologischen Begleiteffekte ihre
Auf-merksamkeit. Ida Rolfs Erklärungsmodell für die-se Phänomene
gründeten in der Überzeugung, dass Physis und Psyche des Menschen
Teile einer kova-riierenden psychophysischen Einheit sind.
Während Psychosomatik die Ursachen körper-licher Beschwerden in
dahinterliegenden seelischen Problemen sucht und die allopathische
Medizin vor allem biochemische Ursachen für körperliche Sym-ptome
erforscht, machte Ida Rolf sich einen drit-ten Standpunkt zu eigen.
Sie machte strukturelle Deformierungen des Körpers in seinem
täglichen Umgang mit der allgegenwärtigen Schwerkraft für viele
körperliche wie seelische Funktionsprobleme verantwortlich.
Sie beanspruchte für ihren strukturellen Ansatz, einen
wesentlichen Beitrag leisten zu können für die Gesundheit des
Einzelmenschen und darü-ber hinaus für die evolutionäre Entwicklung
der menschlichen Art als Ganzes. Die vertikale Auf-richtung des
Menschen sah Frau Dr. Rolf als struk-turell noch nicht
abgeschlossen an, seine optima-le Anpassung an das Schwerkraftfeld
sei noch nicht erreicht. Sie hatte die Vision, dass Rolfing sich
dies-bezüglich als hilfreicher Beitrag erweisen werde. Obgleich sie
sich hierüber zurückhaltend äußerte, beinhaltete diese Vision von
der Aufrichtung des Menschen und seiner Art auch soziale und
meta-physische Aspekte.
Ende der 1970er-Jahre begründete Ida Rolf in Boulder (Colorado)
das Rolf Institute of Structural Integration. Dieses ist – als
Inhaber der Dienstlei-stungsmarke Rolfing – die bekannteste
Berufsorga-nisation und Ausbildungsstätte. Die europäischen
Mitglieder des Rolf Instituts sind in der European Rolfing
Association e.V. organisiert. Inzwischen gibt es weitere
eigenständige Ausbildungsinstitute wie die Deutsche Gesellschaft
für Strukturelle Integrati-on e.V. (DGSI) und einen weltweiten
Dachverband, die International Association of Structural
Integra-tors (IASI).
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218 Kapitel 10 · Strukturelle Integration (Rolfing®)
Informationen zum 10.3 Wirkungsmechanismus
Prämissen10.3.1
Jede Haltung/Bewegung eines Menschen setzt sich aus zwei
Komponenten zusammen:
dem 4 funktionalen Element, nämlich dem gege-benen Muster
muskulärer aktiver Spannungen (Tonusmuster), unddem 4 strukturellen
Element, nämlich der pas-siven Eigenspannung in allen mechanisch
rele-vanten Bindegewebsmembranen (Muskelfas-zien, Organumhüllungen,
Sehnen, Bändern, Knochenhaut).
Die Struktur, die bestimmt wird durch die Span-nungszustände im
Bindegewebe, ist die Art und Wei-se, wie die einzelnen
Abschnitte/Segmente des Kör-pers miteinander ein räumliches
Verhältnis bilden. Diese individuelle Struktur eines Menschen setzt
den Spielraum fest, innerhalb dessen er bestimmte
Haltungen/Bewegungen einnehmen kann. Sie ist deshalb ein relativ
stabiles Muster. Umgekehrt wirkt das funktionale Element
langfristig auf das struktu-relle ein, weil Bewegungen/Haltungen,
die immer wieder mit dem gleichen Tonusmuster der Musku-latur
ablaufen, die Struktur beeinflussen.
Der übergeordnete Bezugsrahmen, der den Zusammenhang von
Struktur und Funktion in der Bewegung/Haltung bestimmt, ist die
Schwerkraft, die sich im Eigengewicht des Menschen äußert. Die
Schwerkraft vor allem ist es, die permanent Zug- oder
Druckspannungen im Körper erzeugt. Zug-spannungen vorwiegend im
faszialen Netzwerk, welches ein geschlossenes System von
Umhül-lungen innerhalb von Umhüllungen bildet. Druck-spannungen
dagegen werden in den Füllungen der Bindegewebsmembranen erzeugt,
also in den Knochen und allen anderen von Bindegewebe umhüllten
Gewebsarten (hydrostatisches Modell).
Strukturelle Integration geht von einer opti-malen Struktur aus,
bei der (in stehender Ruhe-haltung) jedes Körpersegment über dem
ande-ren balanciert (. Abb. 10.1b). In diesem Idealfall braucht der
Mensch nur wenig aktive Muskelkraft, um sich aufrecht zu halten, da
die vertikale Rich-tung der Stützkraft vom Boden her zusammen-
fällt mit der inneren Schwerkraftlinie des Kör-pers. Sobald die
Segmente jedoch nicht mehr ver-tikal übereinander stehen (. Abb.
10.1a), müssen das fasziale Netzwerk und die Muskulatur den Kör-per
stabilisieren. Kurzfristig sind es die Muskeln, die dann mit
erhöhtem Energieaufwand ein hinrei-chendes Gleichgewicht
aufrechterhalten. Langfri-stig jedoch wird dies durch Verstärkungen
und Ver-kürzungen in bestimmten Bindegewebsabschnitten und
-schichten bewirkt.
Ein Beispiel: . Abb. 10.1b zeigt, wie der Kopf von den
darunterliegenden Segmenten getragen wird. In . Abb. 10.1a befindet
sich der Kopf schwer-punktmäßig jedoch vor dem darunterliegenden
Schultergürtelsegment. In diesem Fall müssen die Nacken- und
Schultermuskeln die fehlende Unter-stützung ausgleichen.
Ra b
Abb. 10.1a,b . Die Körperstruktur in stehender Haltung. a
Ungünstige Struktur im Stehen: Die Schwerpunkte der Kör-persegmente
weichen von der Schwerkraftvertikalen ab, b Optimale Struktur im
Stehen: Die Schwerpunkte der Kör-persegmente sind vertikal
übereinander angeordnet (Grafik: Rolf Institute)
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219 1010.3 · Informationen zum Wirkungsmechanismus
Kennzeichnend für eine ungünstige Körper-struktur ist, dass der
Körper ein System von Kom-pensationen aufbaut, um sich in einem –
allerdings energieaufwändigen – Gleichgewicht zu halten. So wird
beispielsweise ein nach hinten verscho-benes Becken ausgeglichen
durch eine nach vorn gebrachte Bauchgegend; der Brustkorb wiederum
weicht nach hinten aus, der Kopf schiebt sich nach vorn usw. (.
Abb. 10.1a). Diese Kompensationen bedingen sich gegenseitig.
Strukturelle Abweichungen bzw. Kompensa-tionen sind möglich in
Form von Verschiebungen und Rotationen der Segmente:
Horizontale Verschiebungen der Segmente erfolgen
nach vorn oder hinten 4nach rechts oder links 4
Rotationen der Segmente (. Abb. 10.1a) erfolgenum die
Transversalachse (Rechts-Links-Achse; 4Beispiel: das Becken ist
nach vorn-unten oder nach hinten-unten gekippt.)um die
Sagittalachse (Vorne-Hinten-Achse; 4Beispiel: seitliches Abkippen
des Beckens nach rechts oder links. . Abb. 10.2 zeigt die
Seitnei-gung des Beckens und die kompensatorische Neigung des
Schultergürtels zur anderen Seite)um die Vertikalachse 4
Die Ursachen für strukturelle Abweichungen sind vielfältig: z.
B. Unfälle, Krankheiten, Operationen, soziokulturell oder familiär
bedingte Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten, Traumata aller Art,
see-lische Probleme, chronischer Stress. Unter dem stän-digen
Wirken der Schwerkraft überlagern und kom-binieren sich all diese
Einflüsse im Laufe der Lebens-geschichte zu strukturellen Mustern.
Denn es ist vor allem die pausenlose und lebenslang andauernde
Wirkung der Schwerkraft, welche Abweichungen von der strukturellen
Idealnorm langfristig weiter verstärkt, d. h. die räumlichen und
Spannungsver-hältnisse im Muskel- und Bindegewebe verfestigt.
Einige der Folgen einer ungünstigen Körper-struktur sind:
mangelnde Elastizität der Gewebe, 4höherer Energieaufwand für
Bewegungen, 4größerer Druck auf und Abnutzung der 4Gelenke,
Einschränkung der Durchblutung und des
4Stoffwechsels,Kompression von Nervenbahnen, 4degenerative Prozesse
und funktionale 4Beschwerden.
Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich eine The-orie der
Bewegung, die große praktische Relevanz besitzt: Da der Mensch
immer in Bewegung ist – selbst ruhiges Sitzen oder Stehen ist nur
durch feinste ausbalancierende Bewegungen möglich –, ist das oben
beschriebene strukturelle Ideal nur dann von Wert, wenn es sich in
der Bewegungsqua-lität manifestiert. In diesem Sinne ist eine
Struktur dann optimal, wenn sie Bewegungsformen ermög-licht, die
den geringsten Energieaufwand und die wenigste Anstrengung
erfordern.
In der bislang in der Medizin vorherrschenden Anschauungsweise
sieht das Bewegung erzeugende Zusammenspiel von agonistischen und
antagonis-tischen Muskeln meist so aus: Bewegung wird pri-
Abb. 10.2 . Sich gegenseitig bedingende Seitneigung
ver-schiedener Körpersegmente. (Grafik: Rolf Institute)
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220 Kapitel 10 · Strukturelle Integration (Rolfing®)
mär initiiert durch eine Kontraktion (Tonuserhö-hung) der
Beuger. Bei diesem Flexionsmodus sind die Streckmuskeln von
sekundärer Bedeutung, weil sie durch passive Verlängerung
(Tonusherab-setzung) lediglich der Initiative der Beugemuskeln
folgen. Und tatsächlich ist dieser Bewegungsstil bei den meisten
Menschen vorherrschend.
Die Praxis hat jedoch gezeigt, dass es eine ande-re Möglichkeit
gibt: den Extensionsmodus (Flury 1986–1993, Flury 1995). Bei diesem
sieht der Ablauf von Bewegungsauslösung so aus: Das für die
Auslö-sung von Bewegung erforderliche Ungleichgewicht der Kräfte
wird bewirkt durch eine selektive Ent-spannung (Tonusherabsetzung)
der Antagonisten. Die Schwerkraft wirkt dabei verstärkend. Die
Beu-ger nehmen dann die Initiative der Strecker auf, verstärken sie
durch geringstmögliche Kontrak-tion und setzen die so begonnene
Bewegung fort (. Abb. 10.3).
Für eine möglichst ökonomische Bewegung ist aber nicht allein
der Modus der Bewegungsauslö-sung entscheidend, sondern auch die
Frage, wel-chen Weg die Bewegung nimmt. Energiesparend ist eine
Bewegung im Allgemeinen nur dann, wenn sie auch den kürzesten Weg
vom Ausgangs- bis zum Endpunkt einer Bewegung(sphase) nimmt. Beim
Gehen beispielsweise ist der kürzeste Weg der Bei-ne der direkt
geradeaus gerichtete. Dies ist dann gewährleistet, wenn Fuß-, Knie-
und Hüftgelenke wie Scharniere arbeiten, deren funktionale
Quer-achsen sich in einem Winkel von 90° zur Bewe-gungsrichtung
befinden. Wenn die Querachsen der Gelenke diese Bedingung jedoch
nicht erfüllen, weil die Beine z. B. strukturell außenrotiert sind,
muss diese Auswärtstendenz bei jedem Schritt kor-rigiert werden. Es
entsteht eine Art Schlingergang, der die zurückzulegende Distanz
und damit auch die aufzuwendende Energiemenge vergrößert.
Ziele der Behandlung10.3.2
Das übergeordnete Ziel, die Körperstruktur dahin-gehend zu
verbessern, dass der Mensch sich in grö-ßerer Harmonie mit der
Schwerkraft ökonomischer bewegen kann, lässt sich in folgende
wesentliche Teilziele gliedern:
Die Körpersegmente sollen sich um eine 4gedachte innere
Vertikallinie herum so organi-sieren, dass diese innere Linie beim
aufrechten Stehen annähernd mit der Schwerkraftachse zusammenfällt.
Die innere Linie ist ein Organi-sationsprinzip, von dem die
Bewegungen aus-gehen und zu dem sie zurückkehren.
a b
Abb. 10.3a,b . Flexions- und Extensionsmodus beim Ge-hen. a
Flexionsmodus: Becken und Bein werden gegen die Schwerkraft
arbeitend durch Kontraktion vor allem des M. rectus femoris
angehoben (Tonuserhöhung) und das Knie derart nach vorn bewegt. Der
Körper wird gestaucht und die Aufrechterhaltung der Gesamtbalance
erfordert zusätzliche Muskelkraft, b Extensionsmodus: Ein Absinken
von Hüfte und Knie (Tonusherabsetzung der Lenden-Rückenstrecker)
lässt das Knie des von hinten kommenden Beins pendelartig nach vorn
schwingen. Die Schwerkraft fördert den Vorgang. Der Körper
verlängert sich, die Balance ist ohne Zusatzkraft opti-mal (Grafik:
Hans Flury)
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221 1010.4 · Das praktische Vorgehen
Herstellen eines 4 Gleichgewichts zwischen Kör-pervorderseite
und -rückseite. Vor und hinter einer denkbaren seitlichen Linie
durch Ohr-, Schulter-, Hüft-, Knie- und Sprunggelenk sollte sich
annähernd das gleiche Körpervolu-men befinden (. Abb. 10.1b).Dieses
Ziel steht im Zusammenhang mit dem 4anzustrebenden
Spannungsgleichgewicht zwi-schen dem Gewebe der jeweiligen Beuge-
und Streckseite des Körpers oder einzelner Körper-teile. Eine
Voraussetzung hierfür ist eine aus-reichende Flexibilität und
Elastizität von Bin-de- und Muskelgewebe.Eine relative Symmetrie
beider Körperhälften. 4Dies bedeutet ein annäherndes Gleichgewicht
beider Körperseiten, was freilich durchaus ein gewisses Maß an
Asymmetrie beinhaltet. Denn zum einen sind beide Hälften im Innern
orga-nisch unterschiedlich aufgebaut, zum ande-ren gibt es das
Faktum von Rechts- oder Links-händigkeit, was eine absolute
Symmetrie aus-schließt.Im Zusammenhang mit dieser Balance der Kör-
4perhälften steht die waagerechte Anordnung der paarigen Gelenke
beider Seiten. Sprung-, Knie-, Hüft-, Hand- und Ellbogengelenke,
Schultern und Bissebene der Kiefergelenke sollten sich auf jeweils
horizontalen Ebenen befinden.Ein – wie beschrieben – möglichst
gerin- 4ger Energieaufwand bei Bewegungsabläufen. Dieses Ziel setzt
u. a. voraus, dass der Kör-per bei Bewegungen ohne unnötige
Blockie-rung für die Bewegungsenergie durchlässig ist, sodass der
ganze Körper harmonisch am Bewegungsimpuls beteiligt ist. Ferner
müssen die jeweils oberen Segmente genügend Unter-stützung durch
die tiefer gelegenen haben (. Abb. 10.4).Atembefreiung 4 . Der
ungehinderte Atemfluss setzt angemessene sowie frei bewegliche
Atem-räume voraus und ist umgekehrt eine wichtige Unterstützung für
strukturelle Veränderungen (Stoffwechsel) und für die
Eigenwahrnehmung (Propriozeption).
Wichtig: Alle Teilziele stehen in enger Wech- >selwirkung
zueinander und bedingen sich gegenseitig.
Das praktische Vorgehen10.4
Die Behandlung besteht zunächst aus einer Basisse-rie von zehn
Sitzungen, die – in meist wöchent-lichen Abständen – systematisch
aufeinander auf-bauen. Jede Sitzung dauert etwa eine bis
andert-halb Stunden. Nach einer Verarbeitungsphase von in der Regel
mindestens einem halben Jahr können bei Bedarf zusätzliche Stunden
genommen werden. Dieser Ablauf bezieht sich auf Erwachsene und
Jugendliche. Bei Kindern sind die Sitzungen kürzer und die Abstände
häufig länger.
Abb. 10.4 . Bückbewegung. Bei der faltenden Bückbe-wegung bleibt
die innere Schwerpunktachse auch in der ge-bückten Haltung so eng
wie möglich bei der Schwerkraftach-se, da die vorgebeugten Knie vom
zurückschwingenden Be-cken ausgeglichen werden. Die Schwerpunkte
der Füße und des Rumpfes bleiben auf der inneren Vertikalachse. Die
innere Linie bleibt auch in der Beugung lang. Im Gegensatz zur
kon-ventionellen Rückenschule wird die Bewegung durch
Mus-kelentspannung ausgelöst statt durch Muskelkontraktion. Nur so
kann die elastische Kraft der Faszien voll genutzt wer-den (Grafik:
Hans Flury)
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222 Kapitel 10 · Strukturelle Integration (Rolfing®)
Am Anfang steht ein ausführliches Einfüh-rungsgespräch, in dem
die Motivationen/Bedürf-nisse des Klienten abgeklärt werden, Fragen
zur möglichen Krankengeschichte und zur Lebenssitu-ation erörtert
werden, sowie ein erster persönlicher Kontakt entsteht.
Schematisiert betrachtet, gliedert sich eine Sit-zung in
folgende Phasen:
Analyse10.4.1
Vor der Stunde analysiert der Behandler die Kör-perstruktur im
Stehen von allen Seiten und in Bewegung. Er spricht mit dem
Klienten über des-sen Selbstwahrnehmung in Bezug auf bestimmte
Bewegungen oder Haltungsgewohnheiten. Neben der analytischen
Wahrnehmung ist es auch nütz-lich, sich in das Haltungsmuster, in
den Körper des Klienten einzufühlen. Auch ein Sprechen über die
Erfahrungen seit der letzten Sitzung gehört zu den
Informationsquellen, die zur Bestimmung der nächsten Schritte in
der Arbeit mit dem Klienten dienen.
Behandlung/Unterricht10.4.2
Mit solcherart entwickelten Intentionen sowie aus dem Ablauf der
Sitzung heraus wird der Behandler nun auf drei Feldern
arbeiten:
In erster Linie beeinflusst er 4 manuell und sehr spezifisch
Binde- und Muskelgewebe, dehnt ver-kürzte Faszien, löst
Verhärtungen und Ver-klebungen (. Abb. 10.5). Dies geschieht meist
im Liegen, aber auch im Sitzen, Stehen oder bei der Ausführung
bestimmter Bewegungen durch den Klienten. Intentionen und
Arbeits-weise bzw. Techniken unterscheiden sich dabei sowohl von
der klassischen medizinischen als auch von der
Bindegewebsmassage.Indem der Klient in die jeweiligen Körper-
4bereiche atmet und seine Aufmerksamkeit dorthin gelenkt wird, kann
seine sensorische Bewusstheit (Propriozeption) geschult wer-den.
Die Wahrnehmung des Ist-Zustandes und möglicher Alternativen dazu
ist nämlich ein
wichtiger Bestandteil von Veränderungspro-zessen.Dies gilt
insbesondere auch für das dritte 4Arbeitsfeld, das Durchführen
gezielter Wahr-nehmungs- und Bewegungsübungen. Diese sol-len
helfen, neue Haltungs- und Bewegungs-möglichkeiten zu erspüren und
in den Alltag zu integrieren.
Alle drei Einflussmöglichkeiten (Gewebehand-lung, sensorische
und funktionale Schulung) sind über das Nervensystem eng
miteinander verknüpft (Schleip 2003). Sie zielen darauf ab:
den Bewegungsspielraum zu erweitern (Flexi- 4bilität),neue
Haltungs- und Bewegungsoptionen zu 4erschließen,eine optimale
Bewegungsökonomie zu ermög- 4lichen auf der Grundlage vonStabilität
und Gleichgewicht der Bewegung. 4
Interimsphase10.4.3
In der Zeit zwischen den Sitzungen erleben die Kli-enten außer
den strukturellen und bewegungsbezo-genen Veränderungen häufig auch
ein verändertes Verhältnis zu sich selbst und zu ihrer Umwelt.
Die-se Erfahrungen und Wahrnehmungen werden dann zu Beginn der
folgenden Sitzungen bespro-chen und als wesentliches Element des
Verände-rungsprozesses beachtet.
Wie die Erfahrung zeigt, sind die Resultate der Behandlung
überwiegend dauerhaft. Dies ist erklär-bar dadurch, dass die
verbesserte Statik des Kör-pers jetzt im Schwerkraft- und
Stützkrafteinfluss tendenziell eher unterstützt als angegriffen
wird. Hinzu kommt, dass effektivere Bewegungsmuster die neue
Struktur fördern und umgekehrt. Ferner veranlassen diese neuen
Muster auch noch Monate nach Beendigung der Grundserie das
Bindegewebe, sein dreidimensionales Netz weiter umzubauen.
Nicht zuletzt tragen ein besseres Körperbe-wusstsein sowie
seelische und vegetative Verände-rungen zur möglichen
Dauerhaftigkeit der erzielten Ergebnisse bei (. Abb. 10.6, Abb.
10.7). Die Qualität des »Dauerns« hängt natürlich auch vom
Einzelnen und seines Umgangs mit sich selbst ab.
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223 1010.4 · Das praktische Vorgehen
Gewebemanipulation
= die Wirkung entfaltet sich langfristig
= die Wirkung entfaltet sich kurzfristig
Plastizität derGrundsubstanz desBindegewebes
sensorischeNerven in Faszienund Muskeln
sofortige Tonusver-änderung verschiedenerMuskelfasern
sensorischeNerven in Faszienund Muskeln
langfristige Plastizitätder Kollagendichteund -anordnung(Wochen,
Monate)
noch länger-fristige Plastizitätder Knochen(Jahre)
Gewebereaktionunter den Händendes Rolfers
kurzfristigePlastizitätdes ZNS(Sekunden)
Abb. 10.5 . Die Plastizität des Körpers. (Diagramm: Dr. Robert
Schleip)
Vor 1 nach 10 Vor 1 nach 10
Abb. 10.6 . Ein Beispiel struktureller Veränderung durch zehn
Rolfing-Sitzungen. (Foto/Grafik: Robert Toporek)
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224 Kapitel 10 · Strukturelle Integration (Rolfing®)
Autonomes Nervensystem und 10.5 Psyche
Die meisten Faktoren, die zu Verkürzungen, Verdi-ckungen oder
Verklebungen des Bindegewebes füh-ren, kann man auch als
Stressfaktoren bezeichnen. Die gegebene Körperstruktur eines
Menschen zeigt somit allzu oft die Spuren einmaliger oder dauernd
wiederkehrender Stresssituationen, die unbewältigt geblieben
sind.
Der ideale Zyklus einer vollständigen Reaktion des Autonomen
Nervensystems (ANS) auf Stress sieht vereinfacht so aus: Der Mensch
reagiert auf einen Stressreiz mit Erregung (sympathische Reak-tion)
in Form von Schweißabsonderung, Ausschüt-tung von Adrenalin,
Herzaktivierung, schnellem Atem, Pupillenerweiterung und
Muskeltonusan-stieg. Diese sympathische Reaktion dient der
Bereitschaft zu »Kampf« oder »Flucht«. Schwindet der Stimulus
wieder oder wird er erfolgreich bewäl-tigt, dann klingt die
Erregung ab, die Körperfunkti-
onen normalisieren sich wieder durch parasympa-thische
Reaktionen.
Dieser natürliche Ablauf ist bei den meisten Menschen gestört.
Entweder leben sie ständig auf einem zu hohen Spannungsniveau
(sympathikus-dominiert) oder auf einem zu geringen Spannungs-niveau
(parasympathikusdominiert). Ursache für beide oder komplexere
Zustände ist chronische und/oder traumatische Stressakkumulation
(Levine 1986).
Während der Behandlung gilt die besonders geschulte
Aufmerksamkeit des Behandlers den indi-viduellen Verhaltensmustern
des ANS beim jewei-ligen Klienten. Wie reagieren Gewebe, Atmung,
Augen usw. auf die Reize der jeweiligen Gewebe-manipulation? Nicht
selten werden frühere Trau-mata wie Unfälle, seelische
Schockerlebnisse usw. buchstäblich berührt. Dies führt dann
ebenfalls zu vegetativen Reaktionen des Organismus. Hier sind sehr
differenzierte und fein abgestimmte Interven-tionen nötig, um in
der aktuellen Situation eine
–200 –100 100 200 mm0
–200 –100 100 200 mm0
–200 –100 100 200 mm0
–200 –100 100 200 mm0
Abb. 10.7 . Fotometrische 3D-Rekonstruktion einer Wirbelsäule
vor (02.12.99) und nach (15.06.00) zehn Rolfing-Sitzungen.
(Aufnahme: Dr. Dieter Hoffmann)
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225 1010.6 · Anwendungsmöglichkeiten
Stressauflösung zu erreichen. Dies geschieht vor allem durch
besondere manuelle Techniken, aber auch durch verbale
Kommunikation.
Über die aktuelle Behandlungssituation hinaus hat Strukturelle
Integration auch immer eine anhal-tend normalisierende Wirkung auf
das Wechsel-spiel zwischen Sympathikus und Parasympathikus. Der
Organismus lernt, mit Stress besser umzuge-hen.
Während oder zwischen Sitzungen kann es gelegentlich auch zu
gefühlsmäßigen Reaktionen wie Weinen, Lachen, Zorn usw. kommen.
Struktu-relle Integration bietet dann einen sicheren Rahmen hierfür
und sorgt für eine vegetative und kogni-tive Integration des
Erlebten. In diesem Zusam-menhang ist es unerlässlich, dass ein
Behandler mit Übertragungs- und Gegenübertragungsphä-nomenen
umgehen kann. Gelegentlich erweist sich aber auch eine begleitende
oder anschließende Psy-chotherapie als sinnvoll.
Anwendungsmöglichkeiten10.6
Die Körperebene10.6.1
Zur Klarstellung sei gesagt, dass eine Besserung körperlicher
Symptome durch Strukturelle Inte-gration »nur« ein »Nebenprodukt«
der Verbesse-rung der Körperstruktur ist. Strukturelle Integrati-on
ist keine Therapie im Sinne einer gezielten Sym-ptombehandlung und
deshalb kein Ersatz für eine gegebenenfalls notwendige medizinische
Behand-lung. Dennoch lässt sich aus der Erfahrung heraus oft sagen,
bei welchen Problemen die Methode eine effektive Hilfe sein kann
(Anson 1991, Breckling-haus 2004, Cottingham 1992, d‘Udine 1986,
Hunt 1977, Hunt u. Wagner 1979, Klingelhöffer 2001, Per-ry 1981,
Staubesand 1996):
Chronische VerspannungenBeispiel 1: Häufig wird die
Brustwirbelsäule auf-grund einer zu starken Lordose der
Lendenwirbel-säule und eines nach vorn-unten gekippten Beckens
nicht ausreichend gestützt. Dies führt zur Überfor-derung und
schmerzhaften Verspannung des mitt-leren Rückenbereichs.
Beispiel 2: Wenn das Gelenk zwischen Schä-del und Atlas durch
verkürztes Muskel- und Bin-degewebe zusammengepresst wird, entsteht
in der Wirbelschlagader ein Blutstau, der auf den Nervus
suboccipitalis drückt, was den Stau wiederum ver-stärkt. Dieser
Kreislauf ist eine häufige Ursache für chronischen
Spannungskopfschmerz. Eine weitere strukturelle Ursache kann darin
liegen, dass eine zu starke Beugung der Halswirbelsäule die
Zirkulation in der Wirbelschlagader beeinträchtigt.
Chronische GelenkproblemeBeispiel 1: Andauernde
Stoffwechselstörungen in Gelenken sind vielfach verursacht durch
verkürzte oder fehlgestellte Bänder und Muskeln im Zusam-menhang
mit segmentalen Abweichungen. So besteht z. B. ein signifikanter
Zusammenhang zwi-schen dem Auftreten der Hüftgelenksarthrose und
einem vorwärts geneigten Becken.
Beispiel 2: Kniebeschwerden lassen sich nicht selten darauf
zurückführen, dass Hüft-, Knie- und Fußgelenke nicht kongruent
ausgerichtet sind oder das Kniegelenk ständig überstreckt wird. Das
Gelenk wird ungleich belastet bzw. partiellem Ver-schleiß
ausgesetzt.
Beispiel 3: Es gibt im dentalen Bereich einen
Wechselwirkungszusammenhang zwischen Bruxis-mus/Bissanomalien,
spezifischen einseitigen oder beidseitigen Gewebeverspannungen im
Bereich der Kiefergelenke sowie Nacken- und Schulterschmer-zen
verbunden mit einer Fehlstellung des Kopfes im Verhältnis zum
Schultergürtel.
Deformationen von KörpersegmentenBeispiel 1: Der Senkspreizfuß
ist nicht unbedingt ein – ursprünglich intaktes –
zusammengesunkenes Fußgewölbe, sondern oft ein nicht zur
Gewölbe-bildung entwickelter, in der Entwicklung stehen-gebliebener
Senkfuß aus der Säuglingszeit. Das zu lösende Problem liegt dann
zumeist in muskulären Fehlspannungen im Unterschenkel.
Beispiel 2: Beckentorsionen sind oftmals der Dreh- und
Angelpunkt für ein »zu kurzes« Bein, Ili-osakralprobleme und
Wirbelsäulendeformationen.
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226 Kapitel 10 · Strukturelle Integration (Rolfing®)
WirbelsäulenschädenBeispiel 1: »Schwachstellen« der Wirbelsäule
wie abgenutzte Bandscheiben, verschobene Wirbel usw. sind einem
zusätzlichen Verschleiß ausgesetzt, weil die
Schwingungsdurchlässigkeit der Wirbelsäule selber sowie des übrigen
Körpers für die Druckein-wirkung vom Boden her (etwa beim Gehen)
nicht gegeben ist.
Beispiel 2: Eine zu gerade Wirbelsäule geht so manches Mal
einher mit einem nach hinten-unten geneigten Becken und einer
verspannten Becken-bodenmuskulatur. Diese Konstellation kann zu
schmerzhaften Symptomen im Rücken führen.
Unfall- und OperationsfolgenBeispiel 1: Eine einseitig
herausgenommene Niere hat nachhaltige Konsequenzen für die Struktur
des unteren Rückens. Ein herausgenommener Blind-darm beeinflusst
die tief liegenden Schichten des Bauches, welche die Stellung der
Lendenwirbel mit bestimmen.
Beispiel 2: Nach einem Unfall stellen sich Schonhaltungen ein,
die auch nach dem Aushei-len der Verletzungen fortdauern. Diese
Schonhal-tungen beinhalten ungleiche Gewichtsverteilungen sowie
unausgewogene Bewegungsabläufe, welche die Tendenz haben, sich
langfristig zu verstärken.
Eingeschränkte Ausdrucks- und BewegungsmöglichkeitBeispiel 1:
Die Körperhaltung professioneller Gei-ger führt nicht selten zu
chronischen Verspan-nungen, verbunden mit einer Rotation des
rechten Oberkörpers nach vorn. Dies beeinträchtigt nicht nur das
körperliche Wohlbefinden, sondern auch den künstlerischen Ausdruck
und die Feinheiten der Tonfärbung.
Beispiel 2: Sportler verbringen viel Zeit damit, Teile ihres
Körpers zu entwickeln – stärkere Bei-ne, Arme etc. Was ihnen fehlt,
ist die umfassendere Wahrnehmung eines integrierten Körpers, um
ihre Stärke in einer ausbalancierten Art und Weise zu gebrauchen,
mit größerer Bewegungsfreiheit, weni-ger Energieaufwand und
feinerer Koordinationsfä-higkeit.
Die seelische Ebene10.6.2
Strukturelle Integration (Rolfing) erhebt nicht den Anspruch,
eine Psychotherapie zu ersetzen. Den-noch machen viele Menschen im
Verlauf der Sit-zungen heilsame Erfahrungen, die denen einer guten
psychotherapeutischen Behandlung entspre-chen (Anson 1991,
Brecklinghaus 1992, Hunt et al. 1977, Hunt u. Wagner 1979,
Silverman et al. 1973):
Aufweichen zwanghafter Muster im Denken, 4Fühlen und Handelneine
realistischere, bodenständigere Eigen- 4und Umweltwahrnehmungeine
sensiblere Wahrnehmung der eigenen 4Grenzen und ein schonenderes
Umgehen mit sich und dem eigenen Körperein verstärkter Kontakt zu
eigenen seelischen 4und/oder körperlichen Bedürfnissen und
Gefühleneine intensivere innere Erlebnisfähigkeit 4ein lustvollerer
Umgang mit Körperlichkeit 4und Sexualität
Körperspannungen, mangelnde Stabilität und Flexibilität des
Organismus sowie neurovegeta-tive Funktionsstörungen gehen oft
einher mit see-lischen Verkrampfungen, Depressionen, Ängsten,
Schlaflosigkeit, Gefühllosigkeit, Hypermotorik und anderen
Phänomenen. Wie am Beispiel der Stress-bewältigung bereits
ausgeführt, kann Strukturelle Integration über den somatischen
Zugang heilsame selbstregulierende Prozesse einleiten.
Bestimmte immer wiederkehrende emoti-onale Zustände schlagen
sich in Körperhaltung und -sprache nieder. Doch auch das Umgekehrte
ist richtig: Immer wieder eingenommene Fehlhal-tungen, die
schlussendlich zur Struktur gerinnen, prägen langfristig die
emotionale Erfahrungswelt eines Menschen. Hier kann Strukturelle
Integrati-on einen Umstimmungsprozess anstoßen.
Für viele Menschen, die in ihrer Kindheit oder auch später zu
wenig Körperkontakt hatten, kann allein schon das Erlebnis einer
fürsorglichen, Halt gebenden Berührungsweise heilsam sein.
Ähnlich wie auf der Körperebene scheint die Methode auch auf der
seelischen Ebene steckenge-bliebene Entwicklung wieder in Gang zu
bringen. Es kommt manchmal zu regelrechten Nachreifungs-
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227 1010.9 · Zusammenfassung
prozessen. Dies gilt sowohl für Erwachsene wie für Kinder.
Nicht selten kommen solche Klienten, die sich gerade in einer
Psychotherapie befinden, deren Ver-lauf jedoch stagniert. In diesen
und anderen Fällen hat sich eine Kombination von Psychotherapie und
Struktureller Integration oft bewährt.
Körperliche Handicaps wie eine zusammenge-sunkene Haltung, ein
tolpatschiger Gang, ein unge-lenkes Auftreten, ein für körperliche
Aktivitäten unbrauchbares Bein etc. können bei den Betrof-fenen
Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle hervorrufen. Es liegt auf
der Hand, was eine kör-perliche Veränderung für diese Menschen
bedeu-tet.
Es lassen sich zusammenfassend vier mögliche Wirkmechanismen für
den positiven Einfluss der Strukturellen Integration auf die Psyche
nennen (Cottingham 1988 u. 1992, Hunt et al. 1977, Silver-man et
al. 1973):
Durch die Neuordnung des Körpers um sei- 4ne »innere Linie«
dehnt sich diese höhere Ord-nung tendenziell auf andere Ebenen des
psy-chophysischen Kontinuums der Persönlich-keit aus.Eine breitere
Palette von – ökonomischen, fle- 4xiblen wie stabilen – Haltungs-
und Bewe-gungsmustern eröffnet neue Optionen auch auf der Ebene des
Verhaltens, der Denkge-wohnheiten und der Empfindungen.Durch die
Förderung des dynamischen Gleich- 4gewichts im Autonomen
Nervensystem ver-bessern sich die selbstregulierenden
Verarbei-tungsmöglichkeiten von emotionalen Bela-stungen und
Stress.Die Verbesserung des Stoffwechsels durch 4Erhöhung der
»Leitfähigkeit« des Bindegewe-bes und seiner Grundsubstanz
begünstigt die physiologischen Grundlagen einer ausgegli-chenen
Psyche und eines gestärkten Immunsy-stems (d‘Udine 1986, Juhaiv
1992).
Kontraindikationen10.7
Obgleich Strukturelle Integration generell für Kran-ke ebenso
geeignet ist wie für Gesunde, gibt es eine Reihe von
Kontraindikationen: Dies sind Krebs,
AIDS, schwere Herzkrankheiten oder Gehirnschä-den, Aneurysmen,
starke (!) spastische Störungen, entzündliche
Bindegewebserkrankungen und Oste-oporose in fortgeschrittenem
Stadium.
Verbreitung, Ausbildung, 10.8 Kostenübernahme
Gegenwärtig gibt es weltweit etwa 2.300 Rol-fer(innen), davon
arbeiten an die 300 in deutsch-sprachigen Ländern.
Die Ausbildung zum Certified Rolfer sowie die Weiterbildung zum
Advanced Certified Rolfer erfolgt durch das Rolf Institute of
Structural Integra-tion bzw. die European Rolfing Association e.V.
Die Begriffe »Rolfing« und »Rolfer« sind in den meisten Ländern
eingetragene, geschützte Titel.
Ausbildungsvoraussetzungen sind u. a.: Eige-nerfahrung im
Rolfing, physiologische und anato-mische Kenntnisse, eine
schriftliche Zulassungsar-beit, praktische Massagekenntnisse,
psychologische Eignung sowie ein spezielles Auswahlverfahren.
Neben der Ausbildung am Rolf Institute gibt es inzwischen
weitere qualifizierte Ausbildungsgänge in der Methode der
Strukturellen Integration (z. B. bei der Deutschen Gesellschaft für
Strukturelle Inte-gration e.V.).
Eine Sitzung dauert eine bis anderthalb Stun-den und kostet in
Deutschland etwa 90 Euro. Eine Kostenübernahme durch Krankenkassen
gibt es in Deutschland derzeit selten, wohl aber häufiger in der
Schweiz.
Zusammenfassung10.9
Die Strukturelle Integration (Rolfing) ist ein Verfah-ren, das
manuelle Behandlung des Bindegewebes und der Muskulatur mit
Bewegungsunterricht kom-biniert, um die Körperstruktur positiv zu
beeinflus-sen und eine ebenso leichte wie körperlich-seelisch
aufrechte Haltung im Alltag zu erreichen.Der originäre Ansatz der
Methode liegt zum einen darin, dass die Körperform gebende
Bedeutung des myofaszialen Gewebes aufgegriffen und praktisch
genutzt wird. Zum anderen liegt er in der Erkennt-nis, dass
funktionale Bewegungsprobleme sich dau-
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228 Kapitel 10 · Strukturelle Integration (Rolfing®)
erhaft nur lösen lassen, wenn in der Behandlung neben lokalen
Aspekten (der Gelenke, des Rückens usw.) darauf hingearbeitet wird,
dass der individu-elle Körperbau als Ganzes sich zur Schwerkraft
opti-mal ausbalanciert verhält. Da Haltungs- und Bewe-gungsmuster
eines Menschen nicht nur physiolo-gisch, sondern auch seelisch
bedingt sind, werden neben der strukturell-funktionalen Behandlung
das vegetative Nervensystem und die psycho-sozialen
Alltagsumstände, in denen sich ein Mensch bewegt, in den Prozess
der Veränderung einbezogen.Abgesehen von bestimmten
Kontraindikationen rei-chen die Anwendungsgebiete der Strukturellen
Inte-gration (Rolfing) von der Bearbeitung vor allem chro-nischer
Bewegungsprobleme über die Förderung von Bewegungsqualität im
Alltag (Beruf, Sport, Frei-zeit) bis hin zur Unterstützung
seelischer Reifungs-prozesse.
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229 1010.10 · Anhang: Adressen
Anhang: Adressen10.10
International kInternational Association of Structural
Integrators (IASI) P.O. Box 8664 Missoula, MT 59807, USA
www.theiasi.org
Deutschland kEuropean Rolfing Association e.V. Nymphenburger
Straße 86 D-80636 München Tel. + 49 89 54370940 www.rolfing.org
Deutsche Gesellschaft für Strukturelle Integration e.V.
Stadtstraße 9a D-79104 Freiburg Tel. +49 761 5039871
www.strukturelle-integration.de
Brecklinghaus, Hans Georg Stadtstraße 9a D-79104 Freiburg Tel.
+49 761 42793 [email protected] www.rolfing-praxis.de