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Stilvolles Durchwursteln. Nietzsche und die Lebenskunst im Zeitalter der Beschleunigung

May 14, 2023

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Helmut Heit
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Stilvolles Durchwursteln. Nietzsche und die Lebenskunst im Zeitalter der Beschleunigung

»Eine Verbesserung erfindet nur Der, wel-cher zu fühlen weiss: ›Diess ist nicht gut‹«

(FW 243, KSA 3, 514).

Nach einer bekannten Maxime bedarf es zu einem ge-lingenden Leben vor allem dreierlei: Gelassenheit, Mut und Weisheit. Gelassenheit braucht es, die Dinge zu ertragen, die sich nicht ändern lassen. Mut braucht es, die Dinge zu ändern, die sich ändern lassen. Weis-heit braucht es, um das eine vom anderen zu unter-scheiden. Die richtige Balance der drei Tugenden soll zu einer weitestgehenden Abschaffung des Leidens und so zu einem glücklichen Leben führen. Die Men-schen erfahren Leid durch sich selbst, durch ihre Mit-menschen, durch die Natur, sowie durch ihr Bewusst-sein um die Begrenztheit ihrer Möglichkeiten und die Gewissheit der eigenen Sterblichkeit. Leiden kann man dabei verstehen als das emotional erlebte Miss-verhältnis zwischen den Bedürfnissen, Wünschen und Hoffnungen auf der einen Seite und deren tat-sächlicher und erlebter Erfüllung auf der anderen Sei-te. Ausgehend von einer solchen Bestimmung des Lei-dens als einem Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit wird auch deutlich, inwiefern man seine Abschaffung oder Minderung tatsächlich von zwei Richtungen aus angehen kann: Durch Übung der Gelassenheit und Mäßigung kann man sich von Be-dürfnissen, Trieben und inneren Strebungen lösen, die aufgrund ihrer nicht realisierten oder nicht reali-sierbaren Ansprüche zu Ursachen des Leidens werden und insofern passend als ›Leidenschaften‹ gelten. Ein gelassener Umgang mit den Leidenschaften würde diese inneren Ursachen beseitigen. Die Tugend der Gelassenheit zielt so auf eine Abschaffung oder zu-mindest Minderung des Leidens, indem sie hilft, Nicht-Änderbares zu ertragen statt daran zu leiden. Durch Übung des Mutes und der Tatkraft hingegen kann man sich an eine praktisch kluge Veränderung der äußeren und inneren Umstände wagen, die bisher einer Verwirklichung der Wünsche im Wege stehen und so als äußere Ursachen des Leidens erkannt wer-den. Die Tugend des Mutes ist deshalb unmittelbarer auf eine Abschaffung des Leidens bezogen, auch wenn sie in ihrer mühevollen Anstrengung ihrerseits neues Leiden verursachen kann.

Der Prototyp für den Weg der Gelassenheit ist die

vita contemplativa, wie sie heute vor allem mit den öst-lichen Weisheitslehren assoziiert wird, obwohl sie sich offenbar auch in der Stoa und im Christentum findet. Der Prototyp für den Weg des Mutes ist die vita activa des homo faber und dessen vor allem mit der Lebens-form des Westens verbundene Haltung einer tech-nisch-instrumentellen Bemächtigung. Beiden Strate-gien gemeinsam ist indes das Ziel einer Abschaffung des Leidens, auch wenn sie sich in ihren Mitteln und Wegen unterscheiden, je nachdem, ob sie sich vorzüg-lich auf eine Beruhigung des Willens richten oder auf eine Veränderung der Welt. Während der Weg der Ge-lassenheit Gefahr läuft, zu einer Ideologie der charak-terlosen Anpassung zu verkommen, ist der Weg des Mutes stets vom Einwand der Überschätzung und Hy-bris bedroht. Auch aus diesem Grund kommt der dif-ferenzierenden Weisheit eine zentrale Rolle zu. Sie ist die Kunst des umschauenden Überblicks und der er-fahrungsgesättigten Urteilskraft. Wenn Gelassenheit und Mut gleichermaßen als Strategien der Leidens-vermeidung gelten können, obliegt es der Weisheit zu entscheiden, welche Strategie im jeweiligen Fall an-gemessen ist. Daher gehört zu dieser Weisheit auch ein Wissen um die praktischen Möglichkeiten. Wel-che Mittel können angewandt oder entwickelt werden, um etwas gegen Halsschmerzen, Liebeskummer oder Burnout zu unternehmen? In dieser Hinsicht besteht die Unterscheidungskunst der Weisheit wesentlich in der instrumentellen Urteilskraft, jeweils die geeig-neten Mittel zur Lösung gegebener Probleme zu de-finieren.

Betrachtet man den Dreiklang von Gelassenheit, Mut und Weisheit im Lichte der Philosophie Nietz-sches, so eröffnen sich diverse Perspektiven, die geeig-net sind, seine Philosophie der Lebenskunst zu erhel-len und einige Missverständnisse aufzuklären. Erstens lässt sich hinsichtlich der Tugend der Gelassenheit zei-gen, warum Nietzsche gegenüber dem Ideal einer Ab-schaffung des Leidens skeptisch ist und stattdessen die Fragen nach dem Nutzen und der Rechtfertigung des Leidens ins Zentrum rückt. Zugleich kann dabei deut-lich werden, inwiefern die potenzielle Reduktion Nietzsches auf einen Denker der tragisch-existenziel-len Unausweichlichkeit des Leidens irreführend und sein amor fati nicht als Apologie zu verstehen ist (1). Nietzsche erweist sich zweitens zugleich als Philosoph der mutigen Tatkraft und des ästhetischen Heroismus. Darin ist er das intellektuelle Kind eines Zeitalters der Beschleunigung und des allgemeinen Glaubens an die umfassenden Transformationskräfte des modernen Menschen. Dennoch läuft seine Forderung einer krea-

Nietzsche und die Lebenskunst im Zeitalter der Beschleunigung

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tiven Selbsterschaffung nicht, wie oft behauptet, auf ei-ne exaltiert-unweise Hybris und eine gesellschafts-theoretisch naive, elitäre Überforderung hinaus. Nietz-sche weiß, dass sowohl das menschliche Geschick, wie auch die moderne Wettbewerbsgesellschaft dem Ziel eines gelingenden Lebens massive Hindernisse in den Weg legen (2). Zudem betont er drittens, dass zu der gebotenen und im Grunde inkrementalistischen Weis-heit, Mögliches und Unmögliches zu unterscheiden, auch ein utopisch-transzendierendes Denken gehört, welches sich der Frage nach dem Wozu sowohl auf der individuellen wie auch auf der kulturellen Ebene stellt. Sein Konzept einer tugendhaften Lebenskunst ist da-bei weniger an einem Zielzustand als vielmehr an der Performanz orientiert. In Zarathustras Gespräch mit dem sterbenden Seiltänzer deutet sich an, wie ein stil-volles und insofern gelingendes Leben nach dem Tod Gottes auch für normale Menschen praktisch aussehen könnte (3).

Gelassenheit und der Sinn des Leidens nach Gottes Tod

Besonders der frühe Nietzsche des tragischen Be-wusstseins scheint, nicht zuletzt unter dem Einfluss Schopenhauers, ganz von der Einsicht in die leidvolle Konstitution des menschlichen Lebens durchdrungen zu sein. In der Geburt der Tragödie gilt ihm die Aus-kunft des Silen als archaische »Volksweisheit«, dass die menschliche Existenz elend, ephemer und mühse-lig ist: »Das Allerbeste ist für Dich gänzlich unerreich-bar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben« (GT 3, KSA 1, 35). Das biblische Buch Kohelet bringt eine ähnliche Stimmung zum Ausdruck: »Da preise ich immer wieder die Toten, die schon gestorben sind, und nicht die Lebenden, die noch leben müssen. Glücklicher aber als beide preise ich den, der noch nicht geworden ist« (Kohelet 4,2–3). Da allerdings der Tod oder das Nicht-Geborensein gerade keinen Mo-dus des gelingenden Lebens darstellen, tragen diese Empfehlungen allenfalls indirekt zu einer ars vivendi bei. Die Weisheit des Silen beruht ebenso wie die des biblischen Predigers auf der Überzeugung, dass es kei-ne effektiven Möglichkeiten zur Abschaffung des Lei-dens gibt, ihre Verbindung zur Lebenskunst macht sich daher vielmehr am Problem der Rechtfertigung fest. In dieser Hinsicht lässt sich indes ausgehend von Nietzsche eine wichtige Differenz zwischen der früh-griechischen und der biblischen Tradition erkennen.

»Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traum-geburt des Olympischen stellen« (GT 3, KSA 1, 35). In der olympischen Religion drückt sich eine Über-höhung der menschlichen Existenz in der Welt der Götter aus, aber dem Leiden selbst wird der Stachel nicht genommen. Die Jenseitsvorstellung der frühen Griechen ist daher tragisch, das Leid hat keine höhere Bedeutung und der Tod ist keine Erlösung. Selbst das Leben eines Tagelöhners ist dem göttergleichen Achill lieber als der Tod. Die lichtvoll-heitere Welt der Götter bringt als kompensierende Antwort auf diese tragi-sche Weltsicht somit im Unterschied zur Bibel keine moralische, sondern eine ästhetische Rechtfertigung des Daseins zum Ausdruck.

In den jüdisch-christlichen Hypothesen von Schöpfergott, ewigem Leben nach dem Tode und ei-ner im Kern moralischen Weltordnung zeigt sich hin-gegen eine ganz andere Anschauung. Das Leid wird moralisch gerechtfertigt. Hier besteht eine Parallele zu Platon, der das Leid ebenfalls mit Prüfung und Schuld verbunden sieht. Das Jenseits ist bei ihm im Gegensatz zur frühgriechischen Vorstellung eher positiv kon-notiert, das Leiden ist dort abgeschafft. Die wahre Welt gilt als moralisch geordnet und der Mensch hat Anteil an einer göttlichen Existenz. Sein Leiden kann dabei als Folge seiner gleichzeitigen Naturverfallen-heit gedeutet werden, die durch ein gottgefälliges Le-ben und schließlich im Tod überwunden werden kann. Nach der platonisch-christlichen Tradition kann sich der Mensch vom Leiden befreien, indem er sich von seiner leidenschaftlichen Natur emanzipiert und sich um eine seelische Verähnlichung mit Gott bemüht (Heit 2013, 179–183). Dieses Motiv findet sich sowohl im platonischen Ideal einer homoíôsis theô (Platon Tht., 176b) wie auch in der Aufforderung des Paulus zu einer imitatio Christi (1. Kor. 11,1). Das regulative Ideal der Verähnlichung stellt zwar eine maßlose Überforderung dar, aber es gibt den mensch-lichen Bemühungen eine Richtung und den Erfahrun-gen des Leidens einen Sinn. Das ist die lebenskünst-lerisch entscheidende Leistung dieser Tradition: Sie zeigt uns, was wir tun sollen, auch wenn wir niemals selbst zu Göttern werden können. Der Mensch ist nämlich nicht nur den Göttern ähnlich, er ist »in der Hauptsache ein krankhaftes« wenn auch zugleich »das tapferste und leidgewohnteste Thier.« Dieses Tier fürchtet im Grunde weder die Anstrengung noch den Verzicht, ja nicht einmal den Tod, sofern darin ein Sinn gesehen werden kann. »Die Sinnlosigkeit des

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Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag, — und das aske-tische Ideal bot ihr einen Sinn!« (GM III 28, KSA 5, 411). Vertraut man den literarischen Überlieferungen, so konnten sowohl Sokrates wie auch Jesus gestärkt durch diese Überzeugungen dem sicheren Tod recht gelassen entgegen gehen.

Dieser Weg zur sinnvollen Gelassenheit steht je-doch der modernen Kultur nach Nietzsche nur noch um den Preis der intellektuellen Unredlichkeit offen. Mit dem Ende einer glaubwürdigen religiös-mora-lischen Weltordnung, die mit der Rede vom Tod Got-tes diagnostiziert wird, verliert diese Form der Sinn-stiftung ihre Überzeugungskraft. Der Praxis der Ver-ähnlichung fehlt das Ziel, das Leiden hat seinen Sinn verloren. Folglich liegt es weniger nahe, kontemplative Gelassenheit zu üben, als vielmehr den Weg der Tat und der praktischen Abschaffung des Leidens zu be-schreiten – wie es die technisch innovative Moderne denn auch bis heute tut. Dem Weg des homo faber ge-genüber bleibt Nietzsche jedoch der Weisheit des Silen insofern treu, als er das Leiden als ein unausweichli-ches Geschick des Menschen begreift. Von seiner Phi-losophie der Lebenskunst wird man daher keine Handreichung zum behaglichen und schmerzfreien Dasein erwarten dürfen. Gegenüber der Idee einer technischen Abschaffung des Leidens hält Nietzsche am Problem der Sinnstiftung und Rechtfertigung fest. Daraus erklärt sich seine Kritik am Mitleid ebenso wie an der Rhetorik technischer Modernisierung und der politischen Programmatik von Utilitarismus und So-zialismus.

Die sozialreformatorischen Bewegungen seiner Zeit erkennt Nietzsche nicht ohne Grund als säkulari-sierte Versionen der christlichen Tradition. Man for-dert quasi »Zuckererbsen für jedermann, sobald die Schoten platzen. Den Himmel überlassen wir den En-geln und den Spatzen« (Heine 1844, 102). Nimmt man diesen Text humorlos beim Wort, so wird die spezi-fische Differenz zu Nietzsche deutlich. Den Himmel überlässt auch er bereitwillig den Naturforschern und Phantasten. Gegenüber neuen Formen der Alltagsreli-gion und romantischen Engel-Seherei rechnet er sich nüchtern denen zu, die beim Blick nach oben nur die unendlichen Weiten im Raum ausgedehnter Materie sehen. Der Gedanke an eine fundamental gottverlas-sene Welt allerdings stellt die Lebenskunst vor neue Probleme, die nur bedingt mit den überlieferten In-strumenten adressiert werden können. Das Ideal einer Welt jedoch, in der niemand leidet und alle gleicher-maßen mit Zuckerschoten und anderen (bescheide-

nen) Luxusgütern versorgt sind, erscheint Nietzsche als belanglos und letztlich gefährlich. »Was sie mit al-len Kräften erstreben möchten, ist das allgemeine grü-ne Weide-Glück der Heerde, mit Sicherheit, Unge-fährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für Jedermann« (JGB 44, KSA 5, 61). Er befürchtet, dass eine solche Abschaffung des Leidens einem allgemei-nen Sedativum gleichkommt, welches mit dem Leiden zugleich alle lebendigen Impulse einschläfert und so den Zustand eines trägen und letztlich frustrierenden Wohlbefindens erzeugt.

Mag sein, dass Nietzsche in seiner Kritik an den großen Mitleidsbewegungen nicht begreift, dass der Höherentwicklung des Menschen durch unnötigen Hungertod nicht gedient ist. Selbst in einer sozial ge-rechten Gesellschaft wird das Leiden nicht abgeschafft sein, wie die klügeren Verfechter dieses Weges durch-aus wissen. »Auch ohne Armut wird man sich noch genug unähnlich oder falsch bedingt sein, es gibt noch Zufall, Sorgen, Geschick genug und kein Kraut gegen den Tod« (Bloch 1959, 32). Nietzsche rückt die Frage nach den materiellen Bedingungen eines gelingenden Lebens für alle nicht ins Zentrum, darin unterscheidet er sich von Denkern wie Ernst Bloch. Dennoch ist sei-ne Philosophie der Bejahung nicht mit einer Apologie des Faktischen zu verwechseln, die es durch den blo-ßen Wechsel in eine affirmative Perspektive erlauben soll, sich mit jedem beliebig gegebenen Zustand emo-tional zu arrangieren. Sicher ist es eine große Kunst der Gelassenheit, gegenüber dem Hässlichen das »Wegsehen« als »einzige Verneinung« zu üben (FW 276, KSA 3, 521). »Meine Formel für Grösse am Men-schen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will [. . .] Das Nothwendige nicht bloss ertragen [. . .] son-dern es lieben . . .« (EH, KSA 6, 297). Die Präzisierung dieses Ideals einer Liebe zum Notwendigen zeigt, dass Nietzsche durchaus nicht für eine passive Hinnahme aller unerfreulichen und schmerzhaften Konstellatio-nen und Erfahrungen plädiert. Vielmehr erkennt auch er den Unterschied zwischen der schicksalhaften Be-schränktheit und Endlichkeit des Menschen und sei-nen unnötig selbst verursachten Quellen des Leidens an. In einer Notiz macht er die Unterscheidungskunst der Weisheit geradezu zur Hauptaufgabe konzentrier-ten Nachdenkens. »Mir scheint dagegen die wichtigste Frage aller Philosophien zu sein, wie weit die Dinge einen unabänderlichen Charakter haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichts-losesten Tapferkeit auf die Verbesserung der als ver-änderlich erkannten Seite der Welt los zu gehen« (N 1875, KSA 8, 230). Mit diesem Gedanken einer Ver-

Nietzsche und die Lebenskunst im Zeitalter der Beschleunigung

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besserung der Welt richtet sich Nietzsche gegen das historische Bewusstsein und die affirmative Philoso-phie seiner Zeit. Seine umwälzende Forderung nach Transformation und Entwicklung erweist sich zu-gleich selbst als Moment der zukunftsorientierten Le-benswirklichkeit des späten 19. Jahrhunderts. Er be-zweifelt allerdings, dass die Versprechen von weniger Leid und mehr Zuckerschoten wirklich geeignet sind, unseren hektischen Anstrengungen einen hinreichen-den Sinn zu geben. Was kann überhaupt wirklich als eine ›Verbesserung‹ gelten?

Mut und das Zeitalter der Beschleunigung

Nicht zufällig hat Nietzsche, der während seiner intel-lektuellen Existenz wenig Aufmerksamkeit erfahren hat, seit der Wende zum 20. Jahrhundert eine enorme und ungebrochene Wirkung in den unterschiedlichs-ten Kreisen entfaltet. Seine Rhetorik der Zerstörung und Überwindung alter Werte und Orientierungen, der schöpferischen Individualität und des Aufbruchs zu neuen Meeren korrespondiert einer dynamischen und zukunftstrunkenen Welt; sie war Diagnose und Versprechen zugleich. Die Aktualität Nietzsches be-ruht darauf, dass er weniger der Chronist eines zum Ende gekommenen Zeitalters ist, sondern an seiner Zeit dasjenige in Gedanken fasst, was über seine Ge-genwart hinaus in die unsere weist. Seine intellektuelle Existenz fällt in die Zeit der bürgerlichen Revolutio-nen und der Verbreitung demokratischer Verkehrs-formen, der umfassenden Expansion maschineller und industrieller Naturauseinandersetzung, der oft-mals gewaltförmigen Implementierung kapitalisti-scher und marktwirtschaftlicher Ökonomie, und des europäischen Imperialismus. Es ist die Zeit einer Ver-wandlung der Welt (Osterhammel 2009). Mit der Ent-stehung und Entwicklung der modernen Wett-bewerbsgesellschaft etablieren sich kulturelle und so-ziale Institutionen, die in wesentlichen Teilen auch das folgende Jahrhundert prägen. Mehr als in früheren Zeiten sehen Nietzsches Zeitgenossen die Welt als ei-nen gestaltbaren Raum, der historische Prozess ist kontingent und die Zukunft ist offen. Diese Offenheit betrifft auch die Möglichkeit – oder Not – uns selbst als glückliche Person zu konstituieren. Gerade hin-sichtlich der vorgeblich souveränen Möglichkeit des modernen Menschen, sein Dasein selbst zu bestim-men und gestaltend in die Welt einzugreifen, konsta-tiert Nietzsche jedoch eine nachhaltige Orientie-rungslosigkeit, der wir uns heimlich bewusst sind.

»Wir wissen es Alle in einzelnen Augenblicken, [. . .] wie wir unser Herz an den Staat, den Geldgewinn, die Ge-selligkeit oder die Wissenschaft hastig wegschenken, bloss um es nicht mehr zu besitzen, wie wir selbst der schweren Tagesarbeit hitziger und besinnungsloser fröhnen, als nötig wäre um zu leben: weil es uns nöthi-ger erscheint, nicht zur Besinnung zu kommen. All-gemein ist die Hast, weil jeder auf der Flucht vor sich selbst ist, allgemein auch das scheue Verbergen der Hast, weil man zufrieden scheinen und die scharfsich-tigeren Zuschauer über sein Elend täuschen möchte« (SE 5, KSA 1, 379).

Das Phänomen einer sinn- und besinnungslosen Be-schleunigung hat in jüngerer Zeit vor allem Hartmut Rosa ins Zentrum einer kritischen Theorie der Gesell-schaft gerückt und mit der Frage nach dem guten Le-ben verbunden. Wie kommt es, dass der spätmoderne Mensch trotz all seiner Instrumente zur technischen und ökonomischen Effizienzsteigerung selten in den autonomen Genuss seiner Zeit kommt? Rosa diag-nostiziert einen allgemeinen Prozess sozialer Be-schleunigung, der sich nicht nur auf Technik und Ökonomie beschränkt, sondern auch unser Lebens-tempo erhöht (Rosa 2013, 19). Als wichtigsten Motor sozialer Beschleunigung identifiziert er das leistungs-orientierte Wettbewerbsprinzip und die »Profitgeset-ze der kapitalistischen Ökonomie« (ebd., 35). Da-neben spielen interne Beschleunigungszirkel und kulturelle Motoren wie Verpassensangst eine wichti-ge Rolle (Rosa 2005, 256–310; Rosa 2013, 34–45). Obwohl diese Beschleunigung keine natürliche, son-dern eine soziale Tatsache ist, tritt sie dem Einzelnen als unabänderlich Gegebenes entgegen und beein-flusst dessen Leben massiv. Rosa zeigt sich über-zeugt, dass »soziale Bedingungen, in denen soziale Akteure weiterhin ethischen Vorstellungen der Selbstbestimmung verpflichtet sind, welche von den strukturellen Bedingungen ihres Handelns systema-tisch unterlaufen werden, notwendigerweise zu ei-nem Zustand sozialer Entfremdung« führen (Rosa 2013, 120). Die Weltbeziehungen im Zeitalter der Be-schleunigung sind daher immer seltener solche, »in denen die Welt den handelnden Subjekten als ein antwortendes, atmendes, tragendes, in manchen Mo-menten sogar wohlwollendes, entgegenkommendes oder ›gütiges Resonanzsystem‹ erscheint« (Rosa 2012, 9). Statt mit sich, den anderen und der Natur vertraut und befreundet zu sein, sind wir Fremde. In der fehlenden Resonanz zwischen Mensch und Welt zeigt sich ein Effekt, den Nietzsche als Wirkung von

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Gottes Tod ansieht. »Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?« (FW 125, KSA 3, 481).

Rosas Theorie der Beschleunigung in der spätmo-dernen Wettbewerbsgesellschaft korreliert mit Nietz-sches Diagnose des Nihilismus (Brock 2015, 389–98), auch wenn man wohl nicht sagen kann, dass er einen klaren soziologischen Begriff von den Ursachen der Beschleunigung hat. Nietzsche besticht vor allem durch sein diagnostisches Gespür für die Wirkungen einer Beschleunigungskultur und durch sein Insistie-ren auf der meist ängstlich oder besinnungslos ver-drängten Frage nach der Richtung dieser würdelosen Hast. Er analysiert die Folgen der »ungeheuren Be-schleunigung des Lebens« (MA I 282, KSA 2, 231) und die »[n]ach dem Westen zu« immer größer werdende »moderne Bewegtheit« und Unruhe: »Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Thätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten« (MA I 285, KSA 2, 232). Aus diesem Grund empfiehlt er eine kulturelle Stär-kung der Muße und kontemplativen Lebensform, nicht um diese pauschal zu privilegieren, sondern um im Einzelnen die gestörte Balance von Gelassenheit und Tatkraft zu korrigieren. Die ruhelose Akzelerati-onsdynamik der Moderne hingegen macht die Men-schen zu sozialen Funktionsträgern, deren Individua-lität gerade keine Rolle spielt. Der »Hauptmangel der thätigen Menschen« bestehe nämlich darin, dass sie »als Beamte, Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gat-tungswesen thätig [sind], aber nicht als ganz bestimm-te einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht sind sie faul« (MA I 283, KSA 2, 231). Hinzu komme, dass es sich in der Regel um entfremdete Tätigkeit handelt, die keinem aus Gründen frei und selbst ge-wählten Zweck dient.

»Es ist das Unglück der Thätigen, dass ihre Thätigkeit fast immer ein Wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik« (MA I 283, KSA 2, 231).

Im Angesicht dieser orientierungslos umtriebigen Le-bensform schließt Nietzsche mit einer Überlegung, die entweder an eine elitär stratifizierte Gesellschaft oder an eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit den-ken lässt – oder an den individuellen Ausstieg aus der Konkurrenz zugunsten einer Existenz als Rentier in

Sils-Maria: »Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zei-ten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, er sei übrigens wer er wolle: Staatsmann, Kauf-mann, Beamter, Gelehrter« (MA I 283, KSA 2, 231 f.).

Fragt man nach den Folgen dieser kulturkritischen Diagnose für die individuelle Lebenskunst, so erweist sich Nietzsches Unterscheidung zwischen der sozialen Funktion als Gelehrter oder Kaufmann und dem be-stimmten einzelnen Menschen als hilfreich. Er zieht damit eine wichtige Konsequenz aus der sozialen Lo-gik der Beschleunigung, indem er das Individuum zu-gleich als zentral und als prekär erkennbar macht. Sein Fokus auf den leibhaftigen Einzelnen ist Ausdruck ei-ner in den Funktionen und Ämtern dynamisch ge-wordenen Zeit, in der kaum mehr jemand zeitlebens durch angeborene oder einst erworbene soziale Stel-lungen identifiziert werden kann. Selbst das Konzept einer überzeitlich stabilen Identität des Subjekts er-scheint vielen heute nicht länger plausibel. Entspre-chend habe das ›Selbst‹, von dem in der ›Selbstver-wirklichung‹ die Rede ist, nichts mit einem gegebenen Wesen zu tun »das in irgendeiner Tiefe erst aufzuspü-ren wäre, wo es unerkannt vor sich hin gelebt hätte« (Schmid 1992, 53). Auch Nietzsche hält es für »My-thologie«, »unser eigentliches Selbst« durch geistige Nabelschau tief in uns finden zu wollen, denn so »drö-seln wir uns auf bis ins Unendliche zurück« (N 1880, KSA 9, 361). Das Selbst ist nicht schon verborgen fer-tig da, sondern es wird erst (Heit 2013). Statt einer un-abschließbaren Introspektion rückt Nietzsche die schöpferische Seite in den Vordergrund: »uns selber machen, aus allen Elementen eine Form gestalten — ist die Aufgabe! Immer die eines Bildhauers! Eines pro-duktiven Menschen!« (N 1880, KSA 9, 361).

Inwiefern dieser Prozess der Selbstgestaltung weni-ger eine Arbeit der Erkenntnis ist, sondern vielmehr »durch Übung und ein Vorbild« (N 1880, KSA 9, 361) und durch »langsame Curen« (M 462, KSA 3, 278) vollzogen wird, hat Nietzsche besonders eindrücklich im Abschnitt »Eins ist Noth« in der Fröhlichen Wissen-schaft dargelegt: »Seinem Charakter ›Stil geben‹ — ei-ne grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane ein-fügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt« (FW 290, KSA 3, 530). Das Kunstwerk eines stilvollen Cha-rakters ist keine creatio ex nihilo, es besteht vielmehr in einer mühevollen Verbindung von kultureller For-mung und natürlichen Anlagen. »Hier ist eine grosse

Nietzsche und die Lebenskunst im Zeitalter der Beschleunigung

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Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: — beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran« (ebd.). Die In-strumente dieser Lebenskunst sind praktisch und be-ziehen sich auf Atmung, Wohnung, Erholung, der leiblichen und kulturellen Ernährung, auf die »ganze Casuistik der Selbstsucht« (EH, KSA 6, 295). Ihr Ziel ist, einem schönen Selbstbild ähnlich zu werden. Ei-nerseits zeigt sich Nietzsche so als Denker der nicht festgestellten Offenheit, der Veränderbarkeit und Zu-kunft und ist damit durchaus kein romantischer Geg-ner der Beschleunigung. Andererseits betont er die Notwendigkeit einer hinreichenden plastischen und wertsetzenden Kraft, um dem Leben einen Horizont und eine Orientierung zu schaffen. Dazu gehören auch feine und entwickelte Sinne für das, was einem selber schmeckt. Nur so wird man, wer man ist. Wer man ist, ist dabei weit weniger zentral als, dass man je-mand ist. In einer Persönlichkeit »offenbart sich, wie es der Zwang des selben Geschmacks war, der im Grossen und Kleinen herrschte und bildete: ob der Geschmack ein guter oder ein schlechter war, bedeu-tet weniger, als man denkt, — genug, dass es Ein Ge-schmack ist!« (FW 290, KSA 3, 530). Nietzsche ist überzeugt, dass ein stilvoller Charakter eine einheitli-che Gestaltung zum Ausdruck bringen muss. Zugleich geht er davon aus, dass eine so nach eigenem Gusto gestaltete Lebenswirklichkeit der entscheidende Schlüssel zur Freundschaft mit sich selber ist. »Denn Eins ist Noth: dass der Mensch seine Zufriedenheit mit sich erreiche — sei es nun durch diese oder jene Dichtung und Kunst: nur dann erst ist der Mensch überhaupt erträglich anzusehen!« (ebd., 531).

Hat dieses Konzept ästhetischer Selbstgestaltung etwas mit den allgemeinen Aussichten auf ein gelin-gendes Leben zu tun oder formuliert Nietzsche hier eine ›große und seltene Kunst‹, an der normale Leute nur scheitern können? Nicht nur Wolfgang Kersting wirft Nietzsche vor, er würde mit seiner ästhetischen Lebenskunst ein elitäres und im Grunde theomorphes Autonomieverständnis pflegen, als könne der Mensch wie ein »demiurgisches Selbst« zugleich Schöpfer und Geschöpf sein (Kersting 2007, 21). Die Forderung, sich selbst wie ein Kunstwerk zu betrachten, welches wir frei und experimentell erschaffen können bzw. müssen, stelle eine elitäre Überforderung dar, die im Übrigen die sozialen und natürlichen Grenzen unse-rer Möglichkeiten naiv ignoriere. Da wir keine Götter sind, können uns derartige Ansprüche nur frustrie-ren. Kersting sieht daher in der Rede von ›Selbst-erschaffung‹ und ›Selbsterfindung‹ letztlich eine ge-

fährliche Rhetorik und fordert, »diese exaltierten Me-taphern« durch nüchternere Konzepte zu ersetzen (ebd., 32). Nicht zufällig verkomme zudem die »Kunstwerkrhetorik der ethischen Lebenskönner-schaft« unter den Vorzeichen der modernen Konkur-renz leicht zu einer kaum verbrämten »Unterneh-mensrhetorik [. . .]. Die Rede ist jetzt von Selbstunter-nehmertum, von Ich-AG, von Selbstmanagement« (ebd., 62). Im Lichte dieser Kritik erscheint die ästhe-tisch-subjektive Konzeption der stilvollen Selbst-erschaffung geradezu als Ideologie, die bloß die Welt apologetisch verdoppelt, zu der sie gehört. Anstelle der Hybris kreativer Selbsterschaffung gehe es eher darum, »in einem dichten Netz von Abhängigkeiten« unseren kleinen »Spielraum« möglichst geschickt für »eudaimonistische Verbesserungsreparaturen« zu nutzen (ebd., 38).

In der Organisationstheorie bezeichnet man dieses Konzept reagierenden und reparierenden Vorgehens als Inkrementalismus, als Strategie des muddling-through. Damit ist eine Vorgehensweise unkoordinier-ter kleiner Schritte gemeint, in der Aufgaben ohne be-sondere Kompetenz und umfassenden Plan konkret und kurzfristig irgendwie bewältigt werden. Das Sub-jekt schlägt sich durch im klugen Bewusstsein seiner generellen Ohnmacht. Im Deutschen gibt es für diese Form des behelfsmäßigen Durchbringens durch ›Ver-besserungsreparaturen‹ das schöne Wort des ›Sich-Durchwurstelns‹ (Lindblom 1975). Ein Vertreter einer inkrementalistischen Lehre ist Karl Popper, dessen Beitrag zu einer Philosophie der Lebenskunst jüngst Robert Zimmer eruiert hat. Für den kritischen Ratio-nalismus besteht Theoriebildung nicht in der indukti-ven Ableitung von gültigen Verallgemeinerungen aus möglichst umfassenden Daten, sondern in einem fort-gesetzten Versuch der Prüfung und Widerlegung von Hypothesen. Unser Wissen, auch unser Wissen vom guten Leben, ist daher nur ein noch nicht widerlegtes, potenziell fallibles Vermutungswissen; es kann sich le-diglich in Versuchen bewähren. Alles Leben sei daher ›Problemlösen‹, wobei wir den Problemen mit Hilfe ei-ner konkreten und kontextabhängigen ›Stückwerk-Technologie‹ begegnen. »Jedes Leben besteht in aktiv gesteuerten ›Probierbewegungen‹, im lebenslangen Versuch, ›irgend etwas irgendwie zu optimieren‹« (Zimmer 2014, 179). In dieser lösungsorientierten Haltung erkennt Zimmer den »typisch westlichen Weg« des homo faber (ebd., 183). Man kann die experi-mentelle Seite im Denken Nietzsches durchaus im Kontext einer solchen Konzeption des offenen Lebens begreifen. Dennoch reicht es ihm nicht, jeweils spon-

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tan auf konkrete und aktuelle Problemkonstellationen so zu reagieren, dass möglichst viel Leiden vermieden wird, ohne damit ein ›höheres Ziel‹ zu verfolgen.

An der Formulierung Poppers, »irgend etwas ir-gendwie zu optimieren« (Popper 1986, 140), zeigt sich das zentrale Dilemma des Inkrementalismus. Selbst wenn man das ›Sich-Durchwursteln‹ als aktive Hal-tung begreift, stellt sich doch die Frage, was überhaupt in welche Richtung optimiert werden soll und wozu. Vor dem Hintergrund der oben ausgeführten Über-legungen zu Beschleunigung und Nihilismus läuft der Inkrementalismus Gefahr, zu einer Strategie der ge-schickten Mimesis an die je gegebenen Umstände zu verkommen. Im Verhältnis zum klassisch modernen Ideal der Autonomie läuft das ›Sich-Durchwursteln‹ so eher auf eine immer nur nachholende, reagierende und fremdbestimmte Anpassungsleistung hinaus. Das mutmaßlich so lebenskluge Plädoyer für eine ›normale Selbstverwirklichung‹ (Wolf 2007) unter-schätzt den kritischen Impuls der Philosophie Nietz-sches und übersieht zugleich, dass auch eine pragma-tisch-inkrementalistische Lebenskunst für Otto Nor-malverbraucher nicht ohne transzendierende Ideale auskommt. Soll das Durchwursteln nicht in einer vom Druck der internalisierten Verhältnisse diktierten An-passungsleistung bestehen, sondern als Verbesserungs-reparatur eine selbstbestimmte Richtung haben, be-darf es einer Vorstellung davon, was besser wäre. Ohne eine Konzeption des Besseren lässt sich eine Verbes-serung nicht von einer bloßen Veränderung unter-scheiden. Aus diesem Grund ist die Frage nach dem Ziel unserer eingreifenden Tatkraft das zentrale Pro-blem lebenskünstlerischer Weisheit.

Weisheit und die Frage nach dem Wozu

Glaubt man Nietzsche, so hat erst die platonisch-christliche Kulturgeschichte der asketischen Ideale den Menschen tief und interessant gemacht. Dazu passt, dass die bekannteste Version des eingangs ge-nannten Dreiklangs der Tugenden als sogenanntes ›Gelassenheitsgebet‹ auf den Theologen Reinhold Niebuhr zurückgeht. Nach dem Tod Gottes im Zeit-alter der Beschleunigung ist es aber nicht länger plau-sibel, den gütigen Schöpfer um diese Tugenden zu bit-ten. Es stellt sich daher die Frage, wozu man sich auch ohne Gott um eine gelassene, mutige und weise Le-bensweise bemühen sollte. Der anstrengenden Ver-ähnlichung fehlt das Ziel, das Kriterium der Verbes-serung muss neu bestimmt werden. Aber auch nach

dem Ende unseres Glaubens an eine sinnstiftende Weltordnung, die unsere leidvollen Erfahrungen und Anstrengungen moralisch rechtfertigt, kann der Mensch über den bloßen status quo hinaus denken, er ist nach wie vor durch eine »immanente Transzen-denz« gekennzeichnet (Brock 2015, 332). Der Mensch ist in der Welt und stellt sich ihr zugleich denkend ge-genüber; er ist in der Gegenwart und zugleich in der Vergangenheit und Zukunft; er ist nur ein Mensch und weist zugleich über sich selbst hinaus als eine Art Zwitter zwischen Tier und Gott. Der Mensch hat die Möglichkeit zur planvollen Gestaltung, und gemäß der normativen Kraft des Möglichen folgt daraus eine Forderung und Aufgabe. Zwar kann der Mensch kein Gott werden, das Ideal vollumfänglicher Selbst-bestimmung stellte schon bei Platon eine utopische und elitäre Überforderung dar, aber gerade in der utopischen Überforderung ist ein wichtiger Bezugs-punkt zu sehen. Auf Dauer ist ein Mensch oder eine Gesellschaft nur dann zur zielgerichteten Verände-rung im Stande, wenn sie nicht nur unter dem jewei-ligen Status quo leidet, sondern auch in der Lage ist, einen besseren Zustand zu denken. Gegenüber einer pragmatischen Stückwerk-Technik ist sich Nietzsche darüber im Klaren, dass es nicht nur der Weisheit be-darf, zwischen dem Änderbaren und dem Nicht-Än-derbaren zu unterscheiden und klug die geeigneten Mittel zu wählen. Zu einem gelingenden Leben braucht man nicht allein technisch-instrumentelle Kenntnis der Möglichkeiten, sondern auch eine prak-tische Weisheit von den Wünschbarkeiten: Was sollte ich ändern und was sollte ich beibehalten? In einer sä-kularen Welt können wir diese Frage nicht länger mit Hilfe autoritativer Schriften, sondern nur noch selbst beantworten.

Der Einwand, Nietzsche würde mit seiner Ein-ladung zur ästhetischen Selbsterfindung eine maß-lose Überforderung formulieren, beruht auf einer falschen, im Kern christlich-platonischen Auffas-sung der Lebenskunst, die nicht mehr diejenige Nietzsches ist. Mit dem Wechsel von einer mora-lischen Verähnlichung mit Gott zu einer ästheti-schen Selbstgestaltung nach dem eigenen Bilde än-dert sich nicht nur die Richtung der Übung vom Jenseits ins Diesseits, sondern auch die Art der Le-benskunst. John Sellars differenziert, ausgehend von Zenon, drei Konzepte von technê in der Lebens-kunst, die zum Verständnis dieses Unterschieds hilf-reich sind (Sellars 2007, 100–103). In der produkti-ven Version der Kunst zeigt sich, wie bei einem Schuhmacher, die Kunstfertigkeit im Produkt, wel-

Nietzsche und die Lebenskunst im Zeitalter der Beschleunigung

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ches so von der Tätigkeit klar unterschieden ist. Bei einer stochastischen Kunst, beispielhaft durch den Arzt vertreten, gilt das Produkt nur noch ein-geschränkt als Erfüllungsbedingung, denn gemäß dem Paradox des Kundigen kann auch der kunstfer-tigste Mediziner in seinen Bemühungen scheitern. Dennoch ist diese Kunst auf das Ergebnis (die Ge-sundheit) als regulative Idee bezogen. In der perfor-mativen Kunst hingegen fallen der Vollzug und das Ergebnis wie bei einem Tanzenden zusammen. Das Ziel ist die gelingende Tätigkeit selbst. Sellars zeigt, dass die Kunst des guten Lebens bei den Stoikern ei-ne solche performative technê ist, in der die Tätig-keit und nicht das Resultat im Vordergrund steht. Während das Streben nach einer Verähnlichung mit Gott durch das Ziel bestimmt wird, besteht die Ge-staltung eines stilvollen Charakters vor allem in der Tätigkeit selbst. Im Zarathustra fasst Nietzsche diese Konzeption eines performativ tugendhaften Men-schen in das Bild des Seiltänzers.

Als Zarathustra zum Beginn seines Untergangs in die nächstgelegene Stadt kommt, ist dort viel Volk versammelt, um einen Seiltänzer zu sehen. Während seines Auftritts wird der Seiltänzer von einem Possen-reißer bedrängt, der sich souveräner und schneller in der gefährlichen Situation bewegt. Er scheucht und beleidigt ihn und springt schließlich über ihn hinweg. Der Seiltänzer, »als er so seinen Nebenbuhler siegen sah, verlor dabei den Kopf und das Seil; er warf seine Stange weg und schoss schneller als diese, wie ein Wirbel von Armen und Beinen, in die Tiefe« (Za Vor-rede 6, KSA 4, 21). Das Scheitern in der Konkurrenz, die Einsicht in seine beschränkten Möglichkeiten, und die Kränkung, dass ein anderer sein Bestes noch besser kann als er, raubt ihm den Verstand und den Lebensmut. Er stürzt in den Tod und beklagt ster-bend, »ich wusste es lange, dass mir der Teufel ein Bein stellen werde. Nun schleppt er mich zur Hölle« (Za Vorrede 6, KSA 4, 22). Die Metaphorik von Seil und Seiltanz ist ausgesprochen vielschichtig, indem sie Spannung, Überbrückung, Überschreiten, Aus-gangs- und Zielpunkt, Balance, Kunst, Gefahr, Schönheit und das Motiv des Übermenschen als Ide-al innerweltlicher Transzendenz verbindet. In dem komplexen Gefüge dieser Szene und ihrer Kontexte ist der Seiltänzer vielleicht nicht die interessanteste Figur oder Metapher, und sicher wird Zarathustras »erster Gefährte« (Za Vorrede 10, KSA 4, 26) nicht als zentrale Orientierungsgröße gestaltet. Dennoch scheint mir, dass am Seiltänzer viel mehr als an der Hypertrophie des Übermenschen oder der Gestalt

des Zarathustra eine Lebenskunst im Lichte Nietz-sches entwickelt werden kann.

Dazu soll die Aufmerksamkeit einmal auf den Trost gerichtet werden, den Zarathustra dem sterbenden Seiltänzer spendet: »Bei meiner Ehre, Freund, antwor-tete Zarathustra, das giebt es Alles nicht, wovon du sprichst: es giebt keinen Teufel und keine Hölle. Deine Seele wird noch schneller todt sein als dein Leib: fürchte nun Nichts mehr!« (Za Vorrede 6, KSA 4, 22). Die unmittelbare Wirkung dieser säkularen und nüchternen Lehre scheint nicht tröstend, sondern im Gegenteil deprimierend zu sein und die Sinnlosigkeit des Lebens nur zu unterstreichen. »Wenn du die Wahrheit sprichst«, antwortet denn auch der Sterben-de, »so verliere ich Nichts, wenn ich das Leben verlie-re« (ebd.). In diesen Worten drückt sich jedoch das Werturteil aus, ohne ein Jenseits sei das diesseitige Le-ben nichts (wert). Demgegenüber betont Zarathustra, dass man mit dem Tod kein höheres Leben gewinnt, sondern vielmehr alles, nämlich das Leben verliert. Im direkten Kontrast zu den Sterbeszenen von Jesus oder Sokrates wird so der Sinn des Lebens ganz in das Le-ben selbst und seine Vollzüge verlegt. Im Unterschied zu einer stochastischen oder produktiven Lebens-kunst rückt Nietzsche damit an Stelle der Frage nach dem Ergebnis und Endpunkt den tätigen Prozess des Lebens selbst ins Zentrum. Die Rechtfertigung des Le-bens ist wie bei den frühen Griechen ästhetisch, nicht moralisch; das Kriterium, um jeweils über die Qualität des eigenen Lebens zu urteilen, liegt in der geschmack-vollen Performanz. »Nicht doch, sprach Zarathustra; du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist Nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zu Grunde: dafür will ich dich mit meinen Händen be-graben« (ebd.). Zarathustra bringt darin eine Wert-schätzung des selbstbestimmten, herausfordernden und stilvollen Lebens zum Ausdruck. In Ermangelung einer moralischen Weltordnung liegt es ganz bei uns selbst, den Sinn und Wert unseres Lebens zu bestim-men. Auf welche Weise will ich leben und woran will ich zu Grunde gehen? Legt man sich diese Frage ernst-haft vor, kommt vielleicht so manche Prioritätenlisten ins Wanken. Gleichzeitig dokumentiert die Szenerie, dass wir nach Lage der Dinge unser Leben nur teilwei-se selbst im Griff haben. In der beschleunigten Kon-kurrenz können wir überall den inneren und äußeren Possenreißern begegnen. Mag sein, dass es daher zum tänzelnden Durchwursteln keine echte Alternative gibt, aber den Ausdruck, die Richtung und den Stil unseres Tanzes bestimmen wir selbst.

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Helmut Heit

». . . ich habe Einsamkeit nöthig . . .«. Kunst der Kommunikation als Lebenskunst des Einsamen

Denken und Leben in Einsamkeit

Lebenskunst war für Nietzsche vor allem, wie er im-mer wieder in seinen Briefen, Notaten und Werken schrieb, die Kunst, in der Einsamkeit zu leben und, da ihm dies immer wieder sehr schwer wurde, zu über-leben. Es war nicht die Einsamkeit im gewohnten Sinn, ohne Menschen um sich zu leben, sondern in dem ungewohnten, ohne Verständnis für sein Denken leben zu müssen, die ›Not‹ seines Denkens mit nie-mandem teilen zu können.

Brieflich teilte er sich darüber sehr offen und deut-lich 1882 an den Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow mit, der Wagner-Uraufführungen geleitet, des-sen Frau Cosima ihn um Wagners wegen verlassen, der Nietzsches Geburt der Tragödie sehr gepriesen und seine Kompositionen vernichtend kritisiert hatte (Reich 2004, 42). Nietzsche beschwor seine alte Ver-ehrung für ihn und sprach zu ihm, offenbar aus einem spontanen Entschluss heraus, von seiner Genugtuung über sein eigenes neues philosophisches Denken, das ihn während des immer schwereren Siechtums auf der Baseler Professor für Klassische Philologie habe über-leben und wieder aufleben lassen: »die veränderte Art zu denken und zu empfinden, welche ich seit 6 Jahren auch schriftlich zum Ausdruck brachte, hat mich im Dasein erhalten und mich beinahe gesund gemacht.« Auf der andern Seite habe ihn gerade dieses Denken von seinen Freunden isoliert: »Was geht es mich an, wenn meine Freunde behaupten, diese meine jetzige ›Freigeisterei‹ sei ein excentrischer, mit den Zähnen festgehaltener Entschluß und meiner eigenen Nei-gung abgerungen und angezwungen?« Möge dies »ei-ne ›zweite Natur‹ sein: aber ich will schon noch bewei-sen, daß ich mit dieser zweiten Natur erst in den ei-gentlichen Besitz meiner ersten Natur getreten bin.« Seit 1876, seiner eigenen Trennung von Richard und Cosima Wagner, sei er zu einer »entfremdenden Ein-samkeit […] genöthigt«, habe er »Jahre lang dem Tode etwas zu nahe« gelebt. Eine »Reise nach Deutschland in diesem Sommer — eine Unterbrechung der tiefsten Einsamkeit – habe ihn »belehrt und erschreckt. Ich fand die ganze liebe deutsche Bestie gegen mich an-springend — ich bin ihr nämlich durchaus nicht mehr ›moralisch genug.‹« Durch seine Ernüchterung vom Schopenhauer- und Wagner-Rausch war er nun von

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