Sprachverstehen Psycholinguistik (4/11; HS 2010/2011) Vilnius, den 28. September 2010
Apr 05, 2015
Sprachverstehen
Psycholinguistik (4/11; HS 2010/2011)Vilnius, den 28. September 2010
Inhalt
• Einführung• Verstehensprozesse im Gehirn• Rezeptionsschritte • Sprachverstehen• Rezeptionshypothesen• Rezeptionsstrategien• Ebenen der Sprachrezeption• Wortrezeption• Satzrezeption• Textrezeption / Diskursrezeption
Einführung
• Verstehen ist ein konstruktiver und situationsabhängiger Prozess
• die erhaltenen Sprach- und Kontextinformationen werden gewichtet und in individuelle Wissensstrukturen eingepasst
• Sprachrezeption = Sprachverstehen• zentrale Frage nach kognitiven Prozessen, die
mit dem Verstehen verbunden sind
Verstehensprozesse im Gehirn
Rezeptionsschritte
• Wahrnehmung (beim Hören, Lesen)• perzeptionelle Analyse• Integration von den erhaltenen Informationen
in die akustischen, visuellen, assoziativen Präsentationen im Gehirn
Sprachverstehen
Rezeptionshypothesen (1)
• Kohorten-Theorie:– der beste Vertreter von allen in einer bestimmten
Kategorie wird in einer konkreten Aussage ausgewählt– die Menge von Alternativwörtern ist eine Kohorte– die Rezeption erfolgt nach dem Kriterium der
Ausscheidung– Ausgangspunkt: die konkrete Aussage– 3 Phasen: 1) die Kohorte wird aktiviert, 2) der Sieg des
besten Vertreters 3 ) die Integration des besten Vertreters in den Kontext
Kohorten-Modell
Rezeptionshypothesen (2)
• Trace-Theorie (interaktive Aktivierung):– Knotensystem– Rezeption von Geräuschen, Phonemen, Wörtern
an bestimmten Knotenpunkten– Top-down und bottom-up-Prinzipien
Trace-Theorie
Rezeptionshypothesen (3)
• das Modell der Logogene:– die Rolle der semantischen Wichtigkeit– die Vorkommenshäufigkeit der Wörter im
mentalen Lexikon– das Wort wird im Gedächtnis als ein Logogen
repräsentiert, das bei Rezeptionsprozessen durch visuelle, auditive, semantische Effekte aktiviert wird
– die häufiger verwendeten Wörter werden schneller erkannt
Das Modell der Logogene
Rezeptionshypothesen (4)
• Spreading activation-Theorie:– die Wörter sind im mentalen Lexikon als
Assoziationsknoten aufgespeichert– je näher und enger die Beziehungen zwischen den
Wörtern sind, desto schneller werden bestimmte Aussagen verstanden
– Aktivierung von einem Wort und die Verbreitung von der Assoziationskette
Spreading activation-Modell
Rezeptionshypothesen (5)
• die Rolle der Wortassoziationen in der Psycholinguistik
• freie Assoziationsketten (Feststellung von der Vorkommenshäufigkeit der Wörter oder Feststellung von psychischen Erkrankungen)
Rezeptionsstrategien (1)
• Suche• Inferenz (Zusammenhänge mit dem bestehenden Wissen)
• top-down-Strategie (beim Verstehen von sprachlichen Äußerungen wird das allgemeine Wissen angewendet)
• bottom-up-Strategie (beim Verstehen von sprachlichen Äußerungen stützt man sich vor allem auf die konkreten Aussagen und anschließend werden die Informationen verallgemeinert)
Rezeptionsstrategien (2)
• Aktivierung von Assoziationen• Vorkommenshäufigkeit von Wörtern• bevorzugte Begriffe oder Wörter
Ebenen der Sprachrezeption
• perzeptuelles Verstehen• morpho-syntaktisches Verstehen• semantisches Verstehen• pragmatisches Verstehen
Interaktion der Ebenen: Autonom
• die Sprachverarbeitung läuft auf den einzelnen Ebenen autonom ab
• es werden nur die vollständigen Ergebnisse einer Ebene an andere Ebenen weiter gegeben
• bei der Einordnung von Informationen werden zuerst die sprachlichen und erst danach die mit dem Weltwissen des Rezipienten zusammenhängenden Aspekte des Verstehens verarbeitet
Interaktion der Ebenen: Interaktiv
• ständiger Austausch zwischen Ebenen im Laufe der Sprachverarbeitung
• das Weltwissen beeinflusst direkt die phonologische, morphologische, syntaktische, semantische und pragmatische Analyse der sprachlichen Umgebung
Interaktion der Ebenen: Situiert
• Ergänzung von den zwei ersten Theorien• die Kommunikation spielt dabei eine
wesentliche Rolle• gilt als bedeutend, wenn der Diskurs in seiner
Gesamtheit untersucht wird
Wortrezeption (1)
• das kleinste Wahrnehmungsobjekt ist das Phonem (frühere Untersuchungen)
• Untersuchungen mit dem Spektrographen, mit dessen Hilfe die s. g. VOS (die Entstehungszeit
vom Geräusch, engl. voice onset timing) berechnet wird
Wortrezeption (2)
Wortrezeption: Allgemein
• Untersuchungsgegenstand ist das lexikalische Verarbeitungssystem
• Ermittlung von Interpretationen aus dem sensorischen Input (eine Reihe von Lauten oder Schriftzeichen)
Wortrezeption: Probleme
• Aufbau des mentalen Lexikons, die interne lexikalische Repräsentation im System der Sprachverarbeitung
• Prozess der Worterkennung
Die lexikalische Repräsentation: Allgemeines
• der erwachsene Sprachbenutzer verfügt in seinem mentalen Lexikon über 30 000 bis 50 000 Wörter
• zwischen linguistischer und psycholinguistischer Morphologie besteht keine völlige Übereinstimmung
Die lexikalische Repräsentation: morphologische Strukturen (1)
• morphemzentriertes Modell: – das mentale Lexikon enthält keine ganzen Wörter,
nur Morpheme– alle Wörter mit demselben Stamm teilen einen
Ertrag– die sprachliche Verarbeitung erfordert
prälexikalische Analyse (Trennung des Stamms von den Suffixen)
Die lexikalische Repräsentation: morphologische Strukturen (2)
• wortzentriertes Modell:– alle Wörter sind im mentalen Lexikon vollständig
aufbewahrt– keine prälexikalische Analyse erforderlich– Auflistungsmodelle (vollständige und
eigenständige Wörter), Netzwerkmodelle (morphologische Beziehungen in einem Netzwerk), Modelle mit Satteliten-Einträgen (am schnellsten erkannte Form und damit verwandte Wörter)
Die lexikalische Repräsentation: morphologische Strukturen (3)
• zwei-Routen-Modell:– Integration von den ersten zwei Modellen– Möglichkeit zwei alternativer Prozesse der
Worterkennung– Umstrittene Fragen, auf welche Modelle man bei
der Worterkennung als erste zurückgreift
Prozess der Wortrezeption
• Ablauf der Prozesse bei der Worterkennung:– Zugriff– Auswahl– Integration
Wortrezeption: Zugriff
• = lexikalischer Zugriff• Aktivierung von entsprechenden Einträgen im
mentalen Lexikon• erfolgt erfolgreich, wenn man annimmt, dass
die Wörter als solche im Lexikon aufgespeichert sind und keine prälexikalische Analyse erforderlich ist
Wortrezeption: Auswahl
• Aus einer Menge von aktivierten und im mentalen Lexikon aufgespeicherten Einträgen wird dasjenige Wort ausgewählt, das mit dem Input (schriftliches oder mündliches Zeichen) am besten übereinstimmt
Wortrezeption: Integration
• die Einbindung von syntaktischen und semantischen Informationen, die mit dem entsprechenden Lexikoneintrag zusammenhängen, in konkrete sprachliche Äußerung
• an dieser Stelle wird der Prozess der Worterkennung abgeschlossen
Modelle der Wortrezeption
• zentrale Frage, ob die Wörter schrittweise erkannt werden, oder ob die Verarbeitung der Verstehensprozesse durch die Kontextinformation bereits beeinflusst ist
• Unterscheidung zwischen autonomen und interaktiven Modellen der Worterkennung
Autonomes Modell
• für den lexikalischen Zugriff und Auswahl sind der sprachliche Input und das mentale Lexikon relevant
• bei der Integration unterscheidet man zwischen Suchmodellen und den Modellen der direkten Aktivierung
Autonomes Modell: Suchmodelle
• der Input ermöglicht den Zugriff auf eine Liste von Wortformen, die nach Häufigkeit geordnet ist
• innerhalb der Liste wird nach denjenigen Stellen gesucht, an denen der Input mit einer entsprechenden Wortform übereinstimmt
• anschließend werden die mit der bestimmten Form verbundenen syntaktischen und semantischen Informationen aktiviert
• häufiger vorkommende Wörter werden schneller erkannt
Autonomes Modell: Modelle der direkten Aktivierung
• die Verarbeitung von Input-Informationen erfolgt zusammen mit der Suche nach entsprechenden Lexikoneinträgen
• beim Zugriff werden alle inhaltähnliche Einträge aktiviert
• anschließend werden die unpassenden Wörter deaktiviert
Interaktives Modell der Wortrezeption
• keine strenge Differenzierung von prä- und postlexikalischen Prozessen
• Ausgangspunkt: frühzeitige Interaktion sensorischer, lexikalischer, syntaktischer, semantischer, pragmatischer Informationen
Autonomes und interaktives Modell im Vergleich
• keine eindeutige Antwort, welches Modell der Realität näher steht
• der Kontext spielt dann eine größere Rolle, wenn er bei der Bestimmung von dominanten Formen der Homonyme erforderlich ist
Die Rolle des Kontextes bei der Wortrezeption
• die Bedeutung von einem bestimmten Wort wird im mentalen Lexikon im Laufe von 150-200 ms gefunden
• der Kontext hilft dabei, die exakte Bedeutung der polysemen Wörter zu bestimmen
• fortdauernde Diskussionen darüber, ob die genaue Bedeutung sofort oder erst nach der Auflistung von allen Wortbedeutungen festgestellt wird
Die Bestimmung der Wortbedeutung (Exkurs)
Vosilką rankoje laikaivisai kitaip negu po karo.Atėjo nuostabūs laikai.Miške rasos žemčiūgai karo.
Iš laimės, ne nuo pagiriųParkristum į gėlėtą veją!...O virš gimtųjų pagiriųvėjelis debesėlį veja.
Kasdien ką nors vis pamatai,Į sielą krinta gėrio grūdas.Čia naujo namo pamatai,ten į teatrą žmonės grūdas.
Ir plaukia į marias giliasŠventosios upė kaip ir plaukus,ne bombos byra, o gilestau barsto ąžuolas į plaukus.
Pasiklausai dainos, kurigalulaukėj pabaido kiškį,ir tobulas eiles kuri,kurias kur nori, ten ir kiški.
Vladas Šimkus “Tobulas eilėraštis”
Satzrezeption
• der zentrale Gegenstand der psychologischen Untersuchungen ist der (vollständige) Satz, weil:– die kleinste Verstehenseinheit die Silbe und nicht das Phonem ist– sich bei der Analyse von Sprachsignalen der Rezipient auf die
semantischen und die syntaktischen Informationen der Wörter stützt
• größere Rolle von syntaktischen und semantischen Informationen (Ausgangspunkt: phonologische Informationen. Das Verstehen beginnt mit der phonetischen Analyse der Geräusche, für die die ersten Informationen, die in den ersten 150 ms erhalten werden, am Wichtigsten sind)
• neuropsychologische Untersuchungen: Worterkennung und syntaktische Analyse sind zwei unterschiedliche Mechanismen
Blickbewegungstrajektorie
Lesezeit eines durchschnittlichen Lesers: 4-5 Wörter pro SekundeRedezeit eines durchschnittlichen Sprechers: 3-4 Wörter pro Sekunde
Schlussfolgerung: Das Lesen erfolgt schneller als das Reden
Text- oder Satzrezeption
Modelle der Satzverarbeitung
• autonome Modelle• interaktive Modelle
Autonome Modelle der Satzverarbeitung
zwei unabhängige Verarbeitungsschritte:– der erste, syntaktische Schritt:
• es wird die Interpretation mit der einfachsten Struktur bevorzugt
• das erkannte Wort wird in die aktuelle Phrase integriert
– semantische und pragmatische Aspekte:• die syntaktische Information wird mit der nicht-
syntaktischen überprüft• Die syntaktische Verarbeitung basiert nicht auf
Phrasenstrukturregeln, sondern auf lexikalischen Informationen
Interaktive Modelle der Satzverarbeitung
• schwach interaktive Modelle (mit autonomen Modellen kompatibel)
• stark interaktive Modelle:– Ausgangspunkt: Kombinationsmöglichkeiten– Jeder Lexikoneintrag beinhaltet Informationen
über die möglichen Argumente der Wörter, seine möglichen syntaktischen Strukturen und ihre Häufigkeit
Autonome und interaktive Modelle im Vergleich
• keine eindeutigen Aussagen und Schlussfolgerungen über die Vorteile eines bestimmten Modells
• es lässt sich schwer bestimmen, ob die syntaktische Analyse direkt mit der Kontextanalyse oder getrennt von ihr erfolgt
Diskurs- oder Textrezeption
• die Grundlage: die Ebenen der Semantik und der Pragmatik
• autonome Modelle der Diskursrezeption• interaktive Modelle der Diskursrezeption• situierte Modelle der Diskursrezeption
Autonome Modelle der Diskursrezeption (1)
• die Theorie der zyklischen Verarbeitung (W. Kintsch u. a.):– Schema: Erstellung von der Textbasis (eine Liste von
Aussagen, die die Textbedeutung repräsentieren; semantische
Präsentation des Textes im operativen Gedächtnis) Überprüfung in Gruppen von der Textbasis auf Kohärenz (Reaktivierung des Langzeitgedächtnisses) Erschaffung von einer bestimmten Situation Informationsverarbeitung Diskursverstehen oder Bildung von neuen weiteren Aussagen
Autonome Modelle der Diskursrezeption (2)
• Strategietheorie (T. van Dijk und W. Kintsch):– Vervollständigung von der Theorie der zyklischen
Verarbeitung– Einbeziehung von kognitiven und kontextuellen
Aspekten– Rezipienten verwenden beim Verstehen interne
und externe Informationen flexibel– Berücksichtigung von Intentionen des
Produzenten, Funktionen des Textes, sozialem Kontext, (Kommunikations-)Situation
Autonome Modelle der Diskursrezeption (3)
• Konstruktions-Integrations-Theorie:– der Input löst die Aktivierung im Netzwerk aus
(mit Hilfe des sprachlichen Inputs wird die Textbasis konstruiert)
– es werden diejenigen Konzepte selektiert, die am besten in den Kontext passen (die Textbasis wird in die inhaltlich zusammenhängende Struktur integriert)
Interaktive Modelle der Diskursrezeption
• durch die Interaktion von Textinformationen und Weltwissen werden neue Sachverhalte hergeleitet
• die Betonung der Rolle der Kognition (bestimmte Informationen, Charakteristika von Gegenständen im Bewusstsein, Einordnung von Informationen, stereotype Eigenschaften der Gegenstände)
• Einbeziehung vom textunabhängigen Wissen (soziale Rollen u. Ä.)
Situierte Modelle der Diskursrezeption
• die Betonung von der fundamentalen Rolle der Pragmatik in den Kommunikationsprozessen: Kommunikationspartner, ihre Absichten, die Funktionen der Kommunikation, das allgemeine Wissen über die angesprochenen Gegenstände, Informationen über die Textarten usw.
• die Suche nach lokaler (aktueller Input, vorletzte Äußerungen) und globaler Kohärenz (der gesamte Text oder Diskurs und die Informationen, die über das Arbeitsgedächtnis hinausgehen)
• Inferenzbildungen: Aufgrund der erhaltenen Informationen und mit Hilfe des Wissens werden bestimmte Schlüsse gezogen
Literatur
• Dietrich, R. (2007): Psycholinguistik. Stuttgart. Weimar.
• Müller, H. M. (Hrsg.) (2002): Arbeitsbuch Linguistik. Paderborn. München.
• Rickheit, G., T. Hermann, W. Deutsch (Hrsg.) (2003): Psycholinguistik. Ein internationales Handbuch. Berlin.
• Rimkutė, E. (2007): Kalba ir mąstymas. Vilnius.