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Wie bei einem Großfamiliengeburtstagglänzen die meisten
Israel-Gratulantenseit Monaten mit pathetischen Floskeln,schlecht
versteckten Sticheleien und bes-serwisserischen Belehrungen
gegenüberdem Jubilar. Über all dem schwebt das Be-kenntnis zu einer
Beziehung, die als »be-sondere« gilt, jedoch immer wieder in Fra-ge
gestellt wird.
Wer Verweise auf eine besondere Be-ziehung zwischen Deutschland
und Israelzeremoniell, wie eine Geburtstagstorte mit60 Kerzen vor
sich herträgt, vergisst, dassStaaten wie Menschen in einem Bündel
vie-lerlei besonderer Beziehungen leben. Eskommt also nicht darauf
an, eine Besonder-heit zu beschwören, sondern sie mit Inhal-ten zu
füllen. Was heißt dies für die Bezie-hung zwischen Deutschland und
Israel? Esgilt, dabei die drei zentralen Dimensionendes Besonderen
auszuleuchten: die beson-dere Nähe zu Israel, die besondere Lage
Is-raels und unsere eigenen deutschen bzw. so-zialdemokratischen
Prioritäten. Nur dannwird aus einem rituellen Bekenntnis
einezukunftsfähige Strategie des Besonderen.
Drei zentrale Dimensionen
Es geht zunächst um besondere Nähe. Ju-den und Deutsche teilen
eine mehr als tau-sendjährige wechselhafte Geschichte der
Koexistenz, Verfolgung und Vernichtung.Es geht um die
historische Nähe einer ge-scheiterten, aber einzigartigen
Symbioseund um die historische Unentrinnbarkeitder tödlichen
Täter-Opfer-Nähe, die beideVölker für immer auf tragische Weise
ver-eint.
Uns vereint aber auch eine andere,zukunftsweisende
Gemeinsamkeit, einedemokratische Nähe, denn beide Staatensind nach
den Prinzipien der parlamenta-rischen Demokratie verfasst. Trotz
allerProbleme und Rückschläge verbindet unsein Konsens von
Demokraten, der auf ei-ner Vision von Gleichheit und
Freiheitgründet.
Es geht aber auch um die gesellschaftli-che Nähe des Alltags: Um
Ephraim Kishonund Zeruya Shalev auf unseren Bücher-regalen, um Dani
Karavan in unseren Ga-lerien, Eitan Fox und Joseph Cedar in
un-seren Kinos und – ja auch das! – um Na-talie Portman oder Dana
International aufunseren Bildschirmen. Wir teilen mitei-
Sergey Lagodinsky
Israel, ein progressiver Traum
Deutschland muss sich über die Besonderheit seiner Beziehung zu
Israel, dasdurch ein Spannungsverhältnis zwischen Nähe und
Andersartigkeit gekennzeich-net ist, klar werden. Die Beurteilung
Israels darf sich dabei aber nicht allein aufdas Verhalten im
Nahost-Konflikt beschränken, gerade die Sozialdemokratiemuss
daneben auch den gemeinsamen Wertekanon berücksichtigen.
Sorge um Israel –Frieden in Nahost
Sergey Lagodinsky
(*1975) ist Fellow am Global PublicPolicy Institute, Berlin
(GPPi).Er ist Gründer und einer derSprecher des Arbeitskreises
JüdischerSozialdemokraten.
[email protected]
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nander die Alltagswerte, die uns diese All-tagsnähe
erleichtern.
Doch es geht auch um Israels besonde-re Lage. Es gibt kaum einen
anderen Staatauf der Welt, der sich mitten in einer Um-gebung
befindet, die so zahlenmäßig über-wältigend, so exterminatorisch
ablehnendund so wertemäßig herausfordernd ist.Abgekoppelt von
eigenen europäisch-amerikanischen Träumen leben die Isra-elis
mitten in einem emotionalisierten na-tionalstaatlichen Umfeld, das
nicht mit ei-nem postmodernen Europa vergleichbarund für uns aus
der sicheren Entfernungnur schwer nachvollziehbar ist.
Zu guter Letzt sollte man über die be-sonderen Prioritäten
Deutschlands nichthinwegsehen. Als Wirtschaftsmacht istDeutschland
auf die Stabilität nahöstli-cher Absatzmärkte und
Energielieferun-gen angewiesen; als ambitionierter Wis-senschafts-
und Technologiestandort – aufden Austausch mit Forschungszentrenin
Israel. Und nicht zuletzt geht es umDeutschlands Sicherheit, die
von unsererstrategischen Positionierung gegenübergewaltbereiten
Ideologien abhängt, vondenen viele sich in der Nahostregion
ein-genistet haben.
Nur gemeinsam können diese Dimen-sionen das Besondere erklären.
Eine iso-lierte Betrachtung verzerrt das Bild, statt eszu
präzisieren. Setzen wir nur auf die Ge-meinsamkeiten zwischen
Israel und west-lichen Demokratien, sind wir versucht, diebesondere
Lage Israels auszublenden: sei-ne existenzielle Bedrohung mitten im
re-gionalen Kontext einer nationalstaatlichenModerne. Betont man
hingegen nur dieAndersartigkeit der Lage Israels, so lagertman den
jüdischen Staat ganz in die Frem-de aus – der Konflikt verkommt zu
einerPrügelei zwischen uneinsichtigen Wildenauf der orientalischen
Spielwiese. Undschaut man ausschließlich auf die Prioritä-ten
Deutschlands, so tappt man allzu leichtin die Falle des
realpolitischen Egoismus,der nur kurzfristig währt.
Die Komplexität der Zusammenschaualler drei Dimensionen ist
nicht einfachauszuhalten, denn sie erzeugt eine Span-nung zwischen
Nähe und Andersartigkeit– einen ambivalenten, fast
psychoanalyti-schen Stoff, aus dem manch ein traditio-neller
Stereotyp gestrickt ist. Nicht um-sonst steht Israel-Kritik so
häufig im Ver-dacht, das Land zu einem »kollektivenJuden« der
internationalen Gemeinschaftzu reduzieren. Nicht nur aus
historischerRücksicht ist es daher erforderlich, einegesunde
Mischung aus Eigenreflexion undFremdempathie zu bewahren, wenn
wirüber Israel urteilen.
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Die Positionierung derdeutschen Sozialdemokratie
Die deutsche Sozialdemokratie muss ihreeigene Nähe zum »Projekt
Israel« wie-derentdecken. In ihrem neuen Parteipro-gramm bekennt
sich die SPD neuerdings zueigenen auch jüdischen Wurzeln. Die
Rollejüdischer Menschen bei der Gründung derSPD ist kein Zufall.
Die Vision einer Eman-zipation von Entrechteten liegt der
Arbei-terbewegung zugrunde, genauso wie sie derjüdischen
Emanzipation zugrunde lag. DieSehnsucht nach einer Heimstätte für
einVolk, dessen Schicksal Jahrtausende langfremdbestimmt blieb, war
dabei kein Na-tionalismusprojekt unter vielen, sondernein zutiefst
emanzipatorischer, ein progres-siver Gedanke der nationalen
Selbstbe-freiung und Selbstbestimmung.
Die Nähe ist beiderseitig: Der linkeGeist bestimmte die
Grundlagen des zio-nistischen Projektes in Palästina. Es warenlinke
Juden aus aller Welt, die das Land zudem gemacht haben, was es ist
– die Prob-leme dieses Landes inklusive. Lange Jahrewaren die
linken Parteien (zuerst MAPAI,später die Arbeiterpartei) die
unanfecht-baren Regierungsparteien, die das Landauch durch die
Kriege von 1948 (Unab-hängigkeitskrieg), 1956 (Sinaikrieg),
1967(Sechstagekrieg) und 1973 (Yom Kipur-Krieg) geführt haben. Das
soziale Gerüstdes Landes war auch jahrelang durch dieIdeen der
Sozialdemokratie geprägt: DieKibbuzim als treibende Kraft der
wirt-schaftlichen Neugestaltung, die Histatrudals eine mächtige
Gewerkschaft, die Clalit-Krankenkasse, die eine faire
Gesundheits-versorgung ohne Einkommensunterschie-de gewährleistet
hat.
Dass Israel bei all dem von der politi-schen Linken im Ausland
zunehmend alsideologischer Gegner angesehen wurde, istdie Ironie
des Nahostkonflikts. Unser poli-tischer Kompass versagt im Nahen
Osten,denn wir scheinen Schwierigkeiten damitzu haben, die
besondere Lage Israels ins
eigene ideologische Koordinatensystemaufzunehmen. Der
internationale Konflikt,in dem die Sprache des
Antiimperialismuszweckentfremdet wurde, verschob
dieLinks-Rechts-Orientierung weg von all-umfassenden Fragen der
Gerechtigkeit hinzur oberflächlichen Betrachtung des
Kon-fliktverhaltens: Wer in Israel links und werrechts ist, wird
von uns seit Jahren nach ih-rer Position im Konflikt mit den
Palästi-nensern beurteilt. Indes ist dies nicht nurfalsch, sondern
auch für unser Selbstver-ständnis als linke Kraft schädlich –
denndadurch reduzieren wir unsere eigeneIdeologie auf das einfache
Krieg-Frieden-Schema und blenden die Komplexität derpolitischen und
sozialen Wirklichkeit aus.
Das binäre Fernglasbeiseite legen
Unter diesen Umständen hängt unsere Be-ziehung zu Israel nicht
nur von unsererPositionierung gegenüber dem jüdischenStaat, sondern
vor allem zu seiner Umge-bung ab. Legt man das binäre Fernglas
desNahostkonflikts beiseite, fragt man sich,was viele
Sozialdemokraten so empathischgegenüber zahlreichen
problematischenAkteuren von Hisbollah bis Iran macht.Gerade hier
müssen wir uns auf unserebesonderen sozialdemokratischen
Priori-täten rückbesinnen. Diese sind nicht aufKonfliktbeilegung um
jeden Preis be-schränkt, sondern beinhalten die Sicherungvon
Frauen- und Minderheitenrechten,die Unterstützung von
Arbeitnehmer-rechten oder die Förderung sozialer Ge-rechtigkeit.
Diese grundlegenden Wertemüssen raus aus dem goldenen Käfig
desInnerstaatlichen, um bei der Ausrichtungunserer Außenpolitik
eine nicht nur rhe-torische Rolle zu spielen. Unterlassen wirdiese
Ausrichtung, so wird die sozialde-mokratische Formel des Wandels
durchAnnäherung zu einem realpolitischen Frei-brief: Wer kritische
Dialoge mit Regimes,
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wie dem im Iran führt, darf nicht verges-sen, dass eine
Annäherung kein Selbst-zweck ist, sondern auf einen Wandel
abzie-len muss. Eine Annäherung ohne Wandelwäre Realpolitik pur,
die die Bezeichnung»sozialdemokratische Außenpolitik«
nichtverdienen würde. Es geht also auch beiunserer
Auseinandersetzung mit IsraelsNachbarn um unser Selbstverständnis
alsSozialdemokraten.
Die sozialdemokratische Partei musssich auf die Suche nach ihrer
eigenen be-sonderen Beziehung zu Israel begeben.Der erste Schritt
ist getan: Das Bekenntniszu Israels Existenzrecht steht im
Ham-burger Programm. Das ist freilich nichtausreichend. Was wir
brauchen, ist ein Be-kenntnis zu Israel als historischem Pro-
dukt der politischen Linken und als Ver-wirklichung des
Selbstbestimmungsrechtseines lange unterdrückten Volkes. Esbedarf
einer Entkoppelung der Betrach-tung des Nahostkonflikts vom
antiimpe-rialistischen Diskurs, sowie einer bewuss-ten Vermeidung
des Links-Rechts-Sche-matismus ausschließlich nach der
Posi-tionierung der Beteiligten im Nahostkon-flikt. Wenn dies
geschieht, wird es auchfür die deutsche Sozialdemokratie ein-facher
sein, mit ihrer häufig berechtigtenKritik am israelischen Verhalten
reale Ver-änderungen in der Region zu erzielen. 60Jahre Israel sind
auch 60 Jahre eines zumStaat gewordenen progressiven Traums.Es ist
an der Zeit, Israel diesen Traum zu-zugestehen.
Mustafa Barghouthi
Israel, eine Tragödie für die Palästinenser
Nur wenige erinnern sich daran, dass die Gründung des Staates
Israel vor 60Jahren durch die Resolution 181 der
VN-Generalversammlung 1947 legitimiertwurde. Darin hieß es, dass
die Gründung eines israelischen Staates auf 54 %
despalästinensischen Landes an die Schaffung eines
palästinensischen Staates auf fast45 % desselben Landes geknüpft
sei. Israel wurde gegründet, Palästina hingegennicht. Dieses
Unrecht währt bis heute.
Nach der Gründung Israels brach einKrieg aus, den israelische
Truppen nachder offiziellen Bezeichnung in Israel
als»Unabhängigkeitskrieg« führten und dender israelische Historiker
Ilan Pappe als»ethnische Säuberung von Palästina« be-zeichnet. In
Folge dessen wurde die Hälfte
der palästinensischen Bevölkerung ge-waltsam vertrieben und es
entstand daslangwierigste Flüchtlingsproblem der Ge-schichte, bei
dem fünf Millionen Palästi-nenser enteignet wurden und seither
end-lose Träume von einer Rückkehr in ihreverlassene Heimat
hegen.
Eine mögliche Herangehensweise andiese Geschichte ist, die
Tragödie der Pa-lästinenser als Resultat der Tragödie desjüdischen
Volkes in Folge des Holocaustund der Zeit davor zu sehen. Mit den
Wor-ten von Professor Edward Said waren wir»die Opfer der Opfer«
geworden.
Doch ebenso, wie keiner das Recht hat,das Leid des jüdischen
Volkes unter dem
Mustafa Barghouthi
(*1954) ist Generalsekretär derBewegung Al-Mubadara
(Palästinensische Nationale Initiative),Mitglied im Parlament
(PLC)
und ehemaliger Informationsministerder Einheitsregierung.
[email protected]