Analyse von Arnold Schönbergs Orchesterstück „Farben“, Opus 16 / 3 Arnold Schönberg: ‚Vision’, Öl auf Karton, 25 x 16 cm Hausarbeit von Burkhard Schlothauer 6.SemesterMatrikelnummer 217484 der Technischen Universität Berlin eingereicht bei Prof. Dr. Christian Martin Schmidt im Wintersemester 2005/06
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Arnold Schönbergs Orchesterstück ‚Farben’, das dritte der ‚Fünf Orchesterstücke’ Opus16
kann man mit einigem Recht als zukunftsweisend bezeichnen. Wenn man ein solch
grandioses Stück wie Farben analysieren möchte, das in unprätentiöser Weise so ungeheure Neuerungen enthält, ist es sinnvoll vor Beginn der Arbeit über das zu verwendende
analytische Werkzeug nachzudenken. Analysieren heißt Fragen zu stellen, die zu
Erkenntnissen über ein Stück führen. Der für klassisch-romantische Musik entwickelte
Fragenkanon ist in diesem Falle allerdings mit Sicherheit nicht hinreichend, denn es ist
offensichtlich, dass das Orchesterstück ‚Farben’ auf einige der wichtigsten klassischen
analytischen Hauptfragen keine Antworten bereithalten wird:
- Es steht in keiner bekannten Tonart sondern ist m. E. vielmehr ein Beispiel für
‚aufgehobene’ Tonalität’1, obwohl es auch Reste von ‚tonaler’ Konzeption enthält.
- Weiterhin hat es kein rhythmisch profiliertes Thema. Dem dreitönigen Grundgedanken, auf
dem die gesamte Harmonik beruht, fehlt dieses Merkmal, denn er ist rhythmisch völlig
neutral gehalten. In der Konzeption des Grundgedankens als Keimzelle des ganzen Stücks
zeigt sich bereits ein wesentlicher Aspekt der einige Jahre später entwickelten Komposition
mit ‚zölf aufeinander bezogenen Tönen’: ‚Urgrund’ dieser Werke sind jeweils stückbezogenentwickelte Intervallfolgen, ‚Reihen’, ohne rhythmische Profilierung – Tonhöhe und
Rhythmus werden entflochten – und fixierte Tonhöhe. Allerdings ist der hier verwendete
Grundgedanke mit nur drei Tönen, bzw. zwei Intervallen, ungeheuer knapp gefasst.
Bei der Analyse dieses Werkes kann folgerichtig nicht auf das Wissen über
Funktionsharmonik und die darauf beruhende Formbildung, über melodisch-rhythmische
Entwicklung und Variation zurückgegriffen werden.
Aufgehobene Tonalität folgt nicht den Gesetzmäßigkeiten der Funktionsharmonik, dass sie
aber deshalb keinen Gesetzen folge, wäre ein vollständig falscher Schluss! Um Einblick in
das dem Stück zugrunde liegende harmonische System entwickeln zu können, habe ich
Elemente der ‚atonalen’ Musiktheorie von Allen Forte eingesetzt: Die Töne der
chromatischen Skala werden mit ganzen Zahlen belegt.2
1 Schönberg, Arnold: „Harmonielehre“, Wien 2001, S.4612 Eine Erweiterung auf 12 Notennamen fordert Schönberg bereits auf S.464 seiner Harmonielehre.
Ich bin außerdem der Meinung, dass sich in ‚Farben’ bereits das kompositorische Denkens in
parametrischen Ebenen ankündigt und werde deshalb auf einzelne musikalische Parameter
genauer und separat eingehen.
Vor allem die absolut wiederholungsfreie Organisation des Komplexes
‚Klangfarbe’/Instrumentierung im zweiten und dritten Teil des Werks setzt Assoziationen an
das Varietasprinzip des 15.Jahrhunderts oder an Konzepte der Erinnerungsaufhebung bei
Komponisten der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts frei.
1. Geschichtliches und Kontext
‚Farben’ ist ein höchst eindrucksvolles und für die weitere Entwicklung der Musik des20.Jahrhunderst bedeutsames Werk. Es wurde 1909 geschrieben3 und ist zur ‚freien atonalen’
Phase des Komponisten zu rechnen, die dem systematischen dodekaphonen Komponieren
vorangeht.4
Farben ist das Mittelstück der 5 Orchesterstücke op.16. Das Orchester ist mit jeweils drei- bis
vierfacher Besetzung von Holz und Blech, Streichorchester, einer Harfe, einer Celesta, ohne
Schlagzeug für damalige Verhältnisse bescheiden besetzt. Es wird ausschließlich
kammermusikalisch verwendet, nie in seiner ganzen Stärke, es dient eher als eine Art
Registerwerk, als großer ‚Klangfarbkasten’, dessen Farben in vielerlei unterschiedlichen
Kombinationen zur Anwendung kommen.
Mit einer Dauer von etwa drei bis vier Minuten hat ‚Farben’ den Charakter einer Miniatur.
Der Gebrauch einer solch knappen Form für ein Orchesterstück steht im Gegensatz zu den
ausufernden Großformen der Spätromantik. Schönberg und seine Schüler Alban Berg und
Anton von Webern bevorzugten alle drei in dieser Phase ihres Schaffens, die etwa von 1908
bis in die frühen 1920er währte, auch deshalb kurze Formen, weil ihnen mit dem Verzicht auf
die Funktionsharmonik und der Emanzipation vormals als Dissonanzen gewerteter Intervalle
ein wesentliches Mittel zur Formbildung im größeren Zusammenhang verloren gegangen war
– die Großform wurde durch harmonische Zentren und deren Bezug zur Grundtonart
strukturiert. Schönberg schreibt dazu: „Früher hatte die Harmonie nicht nur als Quelle der
Schönheit gedient, sondern, was wichtiger war, als Mittel zur Unterscheidung der
Formmerkmale. Für den Schluss wurde zum Beispiel nur eine Konsonanz als passend
3 Stuckenschmidt, Hans Heinz: „Schönberg . Leben . Umwelt . Werk“, München 1989, S.644 Schönberg selbst hat sich nicht als „Atonalisten“ gesehen und verwendet diese Bezeichnung selbst eher herabsetzend für nicht namentlich genannte Kollegen (Harmonielehre S.486, Fußnote). Leider hat der Begriff sich durchgesetzt, obwohl er dasPhänomen nicht optimal benennt.
erachtet. (...) Die Erfüllung all dieser Funktionen – vergleichbar der Zeichensetzung im Satz,
der Unterteilung in Abschnitte und der Zusammenfassung in Kapiteln – war kaum mit
Akkorden zu gewährleisten, deren konstruktive Werte bisher noch nicht erforscht worden
waren. Daher schien es zunächst unmöglich, Stücke von komplizierter Organisation oder
großer Länge zu komponieren.“5
Mit der Auflösung der harmonischen Systeme war auch ein Problem der horizontalen
Gestaltbildung einhergegangen: aus Terzen konstituierte Klänge und Kadenzharmonik,
Thema und Motiv mit ihrer Bindung an Metrik und Rhythmik hatten sich mit der Großform in
den Jahrhunderten davor so sehr verwoben, dass sie beinahe untrennbar geworden waren –
Melodie repräsentierte Harmonie. Eine neue Harmonik erforderte somit auch ein Überdenken
der linearen Konzeption.
Zwar hatte es in der Musikgeschichte immer wieder „chromatische Angriffe“ auf das System
gegeben, aber die funktionsharmonischen Zusammenhänge waren tief im Bewusstsein
verankert und nicht grundsätzlich in Frage gestellt worden. Seit dem letzten Viertel des
19.Jahrhunderst allerdings war die funktionale Tonalität in der Kunstmusik allen Ortens ins
Wanken geraten: man experimentierte mit alternativen Klangbildungen und Tonvorräten. So
wurden aus Quartschichtungen gebildete Klänge und die Ganztonleiter verwendet, aber in
seiner wundersamen Geschlossenheit und ‚Logik’ war das funktionsharmonische System
nicht einfach ersetzbar. Insofern ist es schlüssig, dass in dieser Phase der Ablösung auf
Großformen verzichtet wurde, abgesehen davon, dass die Miniatur auch einen beträchtlichen
ästhetischen Reiz ausübt und Anton von Webern dieser Faszination des ‚nur das wesentliche
Sagens’ bis zu seinem Lebensende treu blieb. Der ‚Hafen’ des systematischen zwölftönigen
Komponierens, das ab Anfang der 1920er dodekaphone Intervallreihen zur formbildenden
Grundlage für größere Zusammenhänge erhob, war noch nicht erreicht.
Schönberg schreibt in einem Brief an Richard Strauss über die Orchesterstücke op.16: „(....)Klang und Stimmung. Nur um das handelt es sich – absolut nicht symphonisch, direkt das
Gegenteil davon, keine Architektur, kein Aufbau. Bloß ein bunter ununterbrochener Wechsel
von Farben, Rhythmen und Stimmungen.“6 Zwischen den einzelnen ‚Sätzen’ von Opus 16
mag es keinen ‚symphonischen’ Zusammenhang geben – Schönberg selbst erlaubt in seinem
Brief an Strauss bei Aufführungen einzelne hiervon wegzulassen (‚Farben’ war von dieser
Erlaubnis ausdrücklich ausgenommen) – aber Opus 16 / 3 für sich genommen hat auf jeden
Fall eine stringente Architektur, einen klaren dramatischen Aufbau. Es erstreckt sich über 44
„Farben“ beginnt mit flächiger, geometrisch anmutender und solistisch besetzter
Fünfstimmigkeit; diese ist konstitutiv für das Stück und wird im selben Register das ganze
Stück über beibehalten. 8 Mithin bewegt sich die harmonische Grundstruktur im fest
geschriebenen Tonraum zwischen H und d2. (Eine Ausnahme stellen die Takte 10 bis 12 dar,
in denen der Tonraum durch komplette Oktavierung aller Stimmen nach unten um eine
Oktave erweitert bzw. verschoben wird) Alle fünf Stimmen sind vollkommen gleichberechtigt
konzipiert, wir finden in dieser Komposition einen polyphonen Ansatz verwirklicht.
2.1 Teil A – ‚Exposition’
Jeder Klang dieses ersten Teils ist vier Viertel lang, aber changierend instrumentiert:
Die vier Oberstimmen werden von 2 Instrumentenblöcken jeweils in halben Noten
abwechselnd realisiert. Block a umfasst (von oben nach unten) 2 Flöten, Klarinette und Fagott
2 (mithin 4 Holzbläser), Block b Englisch Horn, Trompete mit Dämpfer, Fagott 1 und Horn
mit Dämpfer (2 Holzbläser und 2 gedämpfte Blechbläser). „Der Wechsel der Akkorde hat so
sacht zu geschehen, dass gar keine Betonung der einsetzenden Instrumente sich bemerkbar
macht, so dass er lediglich durch die andere Farbe auffällt“, lautet Schönbergs Anweisung zur
Ausführung.9 Mit der ersten Viola (ab Takt 9 Kontrafagott) und dem ersten Kontrabass
wechseln sich zwei Streicher unterschiedlichen Registers Viertelweise mit dem Basston c ab.
Nach drei Takten des Verharrens auf dem Ausgangsklang (c-gis-h-e1-a1; Intervallstruktur:
8 Die deutlich hörbaren, gestisch und illustrativ wirkenden Elemente des Mittelteils habe ich bei diesem Überblick bewusstausgelassen.9 Anmerkung auf Seite 1 der Partitur
Auf verschiedenen musikalischen Ebenen findet im weiteren Fortgang des B-Teils eine
allmähliche Steigerung zum Höhepunkt in den Takten 26-29 statt. Diese musikalischen
Ebenen der Steigerung sind:
a) die Dynamik : In den Takten 1 bis 13 ist sie in den Einzelstimmen statisch und nur durch
den Zuwachs der Stimmenanzahl durch die Additionsstimmen terassierend verändert. Ab
Takt 15 bis Takt 19 wird die dynamische Gestaltung durch den Stimm- und meist auch
einzeltonbezogenen Einsatz von Crescendo – Decrescendo (in engen Grenzen) expressiver.
Takt 20 bis Takt 23 sind wieder statisch notiert. Im Takt 24/3 ist ein Decrescendo in den
Akkordstimmen notiert – vermutlich der Hörbarkeit der Harfe geschuldet. Nur im Takt 25-
28 ist zusätzlich zu den in den Instrumenten notierten Schwelltönen eine orchesterüber-greifendes Crescendo-Decrescendo vom ppp zum mp und wieder zurück eingetragen.
Zumindest für Takt 29 sollte das erreichte dreifache Pianissimo noch Gültigkeit haben.
b) die Tonhöhe des immer wieder vorkommenden Hauptakkords (Intervallstruktur <8, <3,
<5, <5) (und des Bassfundaments12):
Dieser steigt bis Takt 23/3 vom Basston H nach e und fällt in den Takten 28/29 in
chromatischen Stufen bis in Takt 30 zum c zurück – der gesamte beanspruchte Tonraumwird langsam nach oben verschoben und gleitet rasch wieder zurück. (Der höchste Ton der
Oberstimme (d2) wird in den Takten 26 und 27 erreicht.) Immer wenn ein neuer Basston
erreicht ist, taucht auch der Hauptklang des Stückes ( <8, <3, <5, <5) in genau dieser
Stellung auf.13
c) die Geschwindigkeit des Harmoniewechsels (Zunahme ab Takt 21 bis Takt 29): Diese
steigert sich in einem auskomponierten Accelerando von ganztaktigen, über halbtaktige
(Takt 21), viertelweise (Takt 26 und 27) bis zu Wechseln in 16teln (Takt 28 und 29)!
Takt 27 ist im übrigen noch einmal verlangsamt Harmoniewechsel in halben Noten.
d) der Wechsel der Instrumentierung und somit der Klangfarbe: Der Wechsel der
Instrumentenblöcke beschleunigt sich im Takt 26 von Vierteln über Achteltriolen bis zu
16teln, verlangsamt sich auf der ersten Zählzeit von Takt 27 ebenfalls auf Halbe und wird
dann erneut nach dem Muster von Takt 26 schneller. Somit erfolgen die Wechsel der
12 Es scheint mir aufgrund der abweichenden rhythmischen Gestaltung der fünften Stimme gerechtfertigt, dieser eineFundamentfunktion zuzusprechen.13 In der Anlage Noten 4 und Noten 3 sind diese Hauptklänge blau gekennzeichnet.
Instrumentenblöcke in Takt 26 asynchron zum Harmoniewechsel. Takt 29 ist als einziger
Takt des gesamten Stückes durchgängig gebrochen chorisch instrumentiert – zum Klang
treten verschiedene Instrumente hinzu und gegen wieder hinaus; zusätzlich wechseln sie in
ihren kurzen Tonfolgen die Stimmen.14
Zwei weitere Parameter werden ebenfalls im Sinne einer Steigerung des B-Teils ausgestaltet;
allerdings tragen diese Steigerungen gleichermaßen zur Entwicklung jedes einzelnen Teils,
also auch des A- und des A’-Teils bei:
e) die Stimmenanzahl von liegenden Akkorden (durch Additionsklänge erweitert) ist mit 10
Stimmen in den Takten 9 und 10 des A-Teils für die längste Dauer am größten.
Im B-Teil erreichen die Takte 27-29 mit sieben Stimmen die größte Dichte.
In den Takten 20 und 24 des B-Teils treten im Zusammenhängen mit 32tel Sprungmotiven
sehr hohe Additionsklänge (gis3-h3-dis4,g4) auf, aus denen ebenfalls Siebenstimmigkeit
resultiert.
Im letzten Teil des Stückes kommt es nur noch einmal kurz am Ende des Taktes 31 zu
Zehnstimmigkeit; die tiefen Additionstöne in den Takten 39 und 40 greifen (bis auf Des in
Takt 40) auf bereits vorhandene Tonhöhen zurück.
f) die Weite des Tonraumes (Ambitus): durch die Additionsklänge wird jeweils zum
Schluss eines jeden Teils der 19 bis 22 Halbtöne umfassende Standardambitus der
fünfstimmigen Akkordfolge [a]-[f] (bzw. 20 – 23 Halbtöne der Umkehrung in Teil A’)
deutlich ausgeweitet. In der zweiten Hälfte von Takt 10 umfasst der erweiterte Ambitus 30
Halbtöne vom D bis zum as1, um dann durch Pausieren der Instrumentenblöcke a und b im
Takt 11 ruckartig nach unten auf 18 Halbtöne zusammengezogen zu werden.
In den Takten 27 bis 29 umfasst der Tonraum durch jeweils auf der ersten Takthälftehinzutretende halbtaktige Additionsklänge in der Spitze 33 Halbtöne.
Der tiefste Ton den Stückes C und der Ambitus von ebenfalls 33 Halbtönen (C bis a1) wird
im Takt 30 in der Reprise erreicht. Takt 40 der ‚Coda’ umfasst für zwei Zählzeiten 31
Halbtöne.
Eine bedeutende Erweiterung des Tonraumes nach oben, weit über den geregelten Umfang
der fünf Hauptstimmen hinaus, entsteht durch die bereits erwähnten Additionsklänge in der
drei- und viergestrichenen Oktave (Takt 20, 24 und 31). Diese Flageolettklänge (gis3-h3-
dis4-g4 entspricht 44-47-51-53) der ersten Violinen gehören zum Auftreten der gestischen
32tel Aufwärtsbewegung f1-e2-g215 und der darauf folgenden zweistimmigen
Abwärtsbewegung f3/c3-fis2/h1-b1/g1 (in Takt 20 durch die kleinen Flöten oktaviert); in
Takt 32 färben sie die Staccatoachteltriolen (d3-e3 in Oktaven) der Piccoloflöten. Sie
umrahmen in Takt 20 und 24 die Mitte des Stückes, in Takt 31 markieren sie die den Beginn
der Reprise. Sie vergrößern den Ambitus auf 53, 51 bzw. 55 Halbtöne nach oben hin; dies
wird eher als Klangfarbenanreicherung gehört. Dagegen ist die punktuelle Ausweitung
durch die Spitzentöne des Sprungmotivs sehr deutlich wahrnehmbar; diese Auffälligkeit ist
aber m. E. eher der zur Ruhe des Stückes in erheblichem Kontrast stehenden gestischen
Rhythmik und Bewegung geschuldet.
Wie vorausgehend bereits angedeutet, ist der Höhepunkt des Stückes in den verschiedenen
Parametern nicht deckungsgleich ausgestaltet: die eingezeichnete dynamische und die
Tonhöhenkurve zeigen in den Takten 27/28 abwärts, für Takt 29 ist durchweg dreifaches
Pianissimo eingezeichnet. Der Höhepunkt der Tonhöhenkurve liegt also in den Takten 26 und
27, während der Höhepunkt der dynamischen Einzeichnung am Anfang des Takts 27 zu
finden ist. Die Geschwindigkeit des Harmoniewechsels und der Instrumentierung erreichen
ihren Höhepunkt in Takt 29. Durch die chorische Instrumentierung hat Takt 29 zusätzlich die
höchste Instrumentendichte – dies wirkt der dynamischen Kurve entgegen. Die Takte 27 bis
29 sind immer wieder siebenstimmig und auch der Ambitus dieser 3 Takte ist mit 33
Halbtönen am größten. Rhytmische Motive finden sich während des Höhepunkts gar nicht.
Allerdings wirken die Einzelstimmen aufgrund des kombinierten schnellen Instrumentations-
und Harmoniewechsels im Takt 28 und 29 zunehmend motivisch.
2.2.2 Entwicklung des Grundgedankens im B-Teil16
Im B-Teil gibt es bis Takt 27 keine vollständige Einsatzfolge aller fünf Stimmen. Von Takt 13
zu Takt 14 springt der Bass um (+3) nach oben, von 14 zu 15 bewegen sich erste und zweite
Stimme um (–2), die dritte bleibt liegen und die vierte springt (+3) nach oben, so dass dritte
und vierte Stimme sich auf b treffen. Aus dieser Stimmführung resultiert eine Abweichung
vom Konzept der solistischen Fünfstimmigkeit: Zwei Instrumente gleichzeitig, nämlich Horn
4 und Fagott 2 intonieren das b der vierten Stimme. Das fehlende h2 tritt erst ein Viertel
später in der Oberstimme hinzu und macht aus dem vierstimmig gewordenen Klang wieder
einen fünfstimmigen Hauptakkord über d. Solcherlei Abweichung kommt im ganzen Stück
15 John Rahn hat in seiner Analyse von Farben (Basic Atonal Theory) vielfältige Beziehungen der Tonhöhen dieses Motivszum umgebenden Tonsatz hergestellt. (S.65ff)16 Hierzu siehe Noten 5: B-Teil
nicht wieder vor. Möglicherweise bereitet sie auch auf die in Takt 16 als Solitär auftretende
Tonrepetition h3 in der Piccoloflöte vor – oder aber anders herum gedacht könnte diese
‚Eintonmelodie’ auch eine kompositorische Folge des virtuos gelösten Stimmführungs- und
Transpositionsproblems sein – hier ist eine Stimme hinzugetreten, das muss nicht versteckt
werden!
In Takt 16 -19 finden wir in der ersten und zweiten Stimme eine Abspaltung des
Grundgedankens und seiner Umkehrung: Die jeweils ersten Schritte beider Formen werden zu
(+1, –1) kombiniert. Die Umkehrung des Grundgedankens, die den dritten Teil bestimmen
wird, kündigt sich das erste Mal an.
In den Takten 20 bis 23 beginnt die Original Stimmfolge in der Grundform nun halbeweise
wechselnd im doppelten Tempo erneut; allerdings wird sie nur in den vier Oberstimmen
ausgeführt, die Stimmführung des Basses bleibt aus und die Folge wird ab Takt 23
abweichend fortgesetzt. Die vollständige Engführung des Grundgedankens durch alle
Stimmen würde eine Transposition um einen Halbton nach unten bewirken, angestrebt wird
aber eine Rückung um einen Ganzton nach oben zum Hauptakkord über e. Schönberg löst
dies, indem er zuerst alle vier Oberstimmen sich um zwei Halbtonschritte nach unten und die
Bassstimme sich in Gegenbewegung um zwei Halbtonschritte nach oben bewegen lässt. (Hier
finden wir die fehlende zweite Hälfte der Abspaltung des Grundgedankens und seiner
Umkehrung (–2,+2) realisiert.) Um dann den Hauptakkord über e in Takt 24 zu erreichen,
springen nun alle vier Oberstimmen parallel um 5 Halbtöne nach oben.
Über dem Basston e begegnen wir in den Takten 25 und 26 nun wiederum der Abspaltung
(+1,–1). Diese wird in der
zweiten Stimme auf (+1,–1)
folgend (–1,+1) weitergeführt.
Hieraus ergibt sich ein weiterer
Akkord [d’], der mit demAkkord [d] des ersten Teils
verwandt, Element des dritten
Teils sein wird. Es entsteht die
Klangfolge [a]-[b]-[x]-[d’]-[a], also die ersten zwei Klänge des A-Teils, [x] als
Verbindungsklang, als Überblendepunkt, und mit [d’]-[a] die ersten zwei Klänge des dritten
Teils im Krebs. Inhaltlich bewegt sich das Stück auf den dritten Teil hin!
Ab Takt 27 bedient der bereits erwähnte chromatische Abgang sich der vollständigenStimmfolge des A-Teils – in den Takten 26/4 bis 29 findet deshalb der Grundgedanke
zwanzigmal Verwendung! 17 In exakt der Reihung (2, 1, 4, 3, 5) der Takte 3-9, aber deutlich
beschleunigt kommt diese Folge in den Takten 27 bis 29 viermal hintereinander vor – der
Abgang wird auf diese Weise polyphon aufgeladen. Hinzu tritt in den Takten 28 und 29 eine
auskomponiert schneller werdende chromatische Tremolo-Abwärtstonleiter der Celli.
Die beschriebenen 17 Takte (Takt 13 – 29) können als entwickelnder Mittelteil, als
‚Durchführung’ verstanden werden.
2.3 Teil A’ – ‚Reprise’
Nach dem Wiedererreichen des Ausgangsklanges über c auf der vierten Zählzeit von Takt 29
hält die Musik im Takt 30 inne – der Anfangsakkord des Stückes ist wieder erreicht und alsFlageolettklang der tiefen Streicher in der originalen Lage zu hören – verstärkt durch C in
Fagott 3, Kontrafagott und Tuba.
Ab Takt 32 mündet das Stück wieder im ruhig fließenden halbtaktig instrumentierten
Kontinuum und taktweisen Harmoniewechseln, allerdings ist die Textur ruhiger als in den
Anfangstakten, da der Bass nunmehr mit den Oberstimmen synchron geführt wird. Die streng
in Blöcken wiederholte Instrumentierung des Anfangs wird nicht wieder aufgenommen.
Der Grundgedanke wird nun in Umkehrung (–1,+2) auf alle fünf Stimmen in der Reihenfolge 2, 4, 1, 3, 5 angewandt – folgerichtig endet die nunmehr nach oben gerichtete
Transpositionsbewegung nun mit dem Ausgangsklang (8, 3, 5, 5) über cis.
Nach 4 Takten Einschub – einer ‚Coda’ mit Parallelführung aller Stimmen in der Umkehrung
des Grundgedankens, von c Halbton abwärts zum H, einen Ganzton aufwärts zum cis. – endet
das Stück mit den Takten 43+44 auf dem Ausgangakkord über c.
Dieser Teil ist dem A-Teil konstruktiv gesehen sehr ähnlich – er könnte deshalb als ‚Reprise’
In seiner Funktion und seinem Erscheinungsbild ist der Grundgedanke (+1,–2) kein Motiv, er
erfüllt eher die Aufgabe, die einige Jahre später in der Zwölftonkomposition von der
Grundreihe erfüllt werden wird: er ist rhythmisch ungebunden als Intervallfolge konstitutiveKeimzelle des gesamten Werks. In seiner Beschränkung auf drei Töne bzw. zwei Intervalle ist
er jedoch sehr elementar – in seiner Knappheit lässt er Verwandtschaft zum berühmten b-a-c-
h (–1, +3, –1) Motiv erkennen. Reduziert man das ‘Sprungmotiv’ f-e-g (vollständig in Takt
20, unvollständig in den Takten 24/25, 40 und 42) auf seine Pitch Classes 5, 4, 7 , ergibt sich
die Intervallfolge (–1, +3) (unordered pc intervals). Bezieht man das stets gleichzeitig mit
dem g (von f-e-g) in einer anderen Stimme auftretende fis mit ein dann ergibt sich die Folge
5, 4, 7/6. Dies entspricht der Intervallfolge von b-a-c-h (–1,+3–1), allerdings sind 7 und 6 in
die Vertikale komprimiert. Die absteigende Antwort des Sprungmotiv lautet als pc interval
(+1,+4), die zweite Stimme hierzu (–1,–4)19.
Der Grundgedanke taucht außer in der Grundform in verschiedenen Formen auf: Als
Umkehrung (–1,+2) im A’-Teil, seine Abspaltungen (–1,+1), (+1,–1) und (+2)/(–2) im B-Teil.
Die beiden anderen vorkommenden Transpositionsbewegungen (+ 3) und (+5) lassen sich
nicht direkt ableiten; rein arithmetisch ist der Zusammenhang schnell hergestellt: aus (+1,+2)
ergibt sich (+3), und (+3,+2) ergibt (+5). (Im Sprungmotiv, dass aufgrund seiner besonderen
Nähe zum b-a-c-h Motiv nun doch als musikalische relevant eingeschätzt werden muss, findet
sich das Intervall +3). Inwieweit Schönberg solcherlei algebraische Zusammenhänge
konstruktiv hergestellt hat, oder ob sich die Transpositionsbewegungen vordringlich aus dem
Zusammenhang mit der Basslinie der Orgeltöne oder der Additionsklänge erklären (siehe
Kapitel 4.4 und 4.5) vermag ich nicht zu beurteilen.
Dass in den größeren Transpositionsintervallen tatsächlich ein tieferer Zusammenhang mit
dem Grundgedanken bestehen könnte, legt z.B. die Beobachtung nahe, dass in Takt 24 sowohl
die Transpositionsbewegung (+5) in den vier Oberstimmen als auch das Sprungmotiv mit
seiner Antwort (+1,+4) erfolgt – auch hier ist die Summe (+5). (Das beantwortete
Sprungmotiv kommt im ganzen Stück nur zweimal vor.)
Dem Reduktionsgrad des Grundgedankens entsprechend, sind alle motivisch-gestischen
4.1 Grundsätzliches zur Harmonik – aufgehobene Tonalität
Schönberg bezeichnet in seiner Harmonielehre die Bildung des Gegensatzpaares ‚Konsonanz
– Dissonanz’ als Fehler.20 Dieser scheinbare Antagonismus würde vielmehr nur graduelle
Unterschiede der Vertrautheit von Intervallen benennen und genauso wenig einen Gegensatz
bezeichnen wie die Zahlen zwei und zehn. „Was heute fern liegt, kann morgen nahe liegen; es
kommt nur darauf an, dass man imstande ist, sich zu nähern.“21 Schönberg geht von
unterschiedlicher Vertrautheit der Intervalle auf der Ebene des Rezipienten aus, theoretisch
stellt er aber vertraute und weniger vertraute Intervalle auf eine Stufe und bestreitet die
Notwendigkeit ihrer Hierarchisierung.
Opus 16 / 3 kann als Beispiel für ein harmonisches Konzept dienen, in dem es keineHierarchie von Klängen gibt, in dem der Kontext von Konsonanz und Dissonanz aufgehoben
ist. Diese Musik hat kein harmonisches Zentrum im funktionsharmonischen Sinne, der von
Schönberg verwendete Begriff ‚aufgehobene Tonalität’22 scheint hier angebracht.
Zur Ermöglichung aufgehobener Tonalität kommt es laut Schönberg „unbedingt aufs Thema
an. Dieses muss durch seine Wendungen den Anlass zu solcher harmonischer
Ungebundenheit geben.“ Der Grundgedanke von Farben erfüllt diese Bedingung, denn die
Tonfolge (–1, +2) kann in einer diatonischen Skala nicht vorkommen.Zu den Harmonien führt Schönberg folgendes aus: „Rein harmonisch wird es sich dabei (im
Falle der aufgehobenen Tonalität) fast ausschließlich um ausgesprochen vagierende Akkorde
handeln. Jeder Dur- oder Molldreiklang könnte, wenn auch vorübergehend, als Tonart
aufgefasst werden.“
Gemeint ist mit ‚vagierend’ die Richtungsoffenheit der Klänge, ihre Nicht-Eindeutigkeit in
Beziehung auf ein tonales Zentrum. Die Präposition ‚vagierend’ (unstet umherziehen) ist
allerdings als Terminus in der Welt der Funktionsharmonik zu Hause, in der er die
Mehrdeutigkeit eines Klanges in Hinsicht seiner Weiterführung beschreibt. Als vagierende
Akkorde werden von Schönberg genannt: verminderte und übermäßige 7-Akkorde,
neapolitanische Sexte, übermäßiger Dreiklang. Im Falle von ‚Farben’ wäre es nicht richtig,
die Klänge als ‚vagierend’ zu bezeichnen, ‚richtungslos’ ist eher zutreffend. Diese ihnen
eigene Richtungslosigkeit und Polyvalenz gewinnen sie aus ihrer Vieldeutigkeit und aus ihrer
Bemerkenswert ist die Häufung von ‚Zwitterwesen’, von Klängen also, die mehrere der vier
verschiedenen Dreiklangstypen gleichzeitig enthalten. (Diese Aufstellung erhebt im übrigen
keinen Anspruch auf Vollständigkeit.)
Der Hauptakkord dieses Stückes ist nicht ‚konsonanter’ als die Akkorde, die auf dem Weg der
Transposition (Modulation wäre hier ein falscher Begriff) zum selben Akkordtyp auf einemanderen Basston durchschritten werden.
4.2 Polyphone Stimmführung und Harmonik
Aus der Stimmführung aller Töne des Ausgangsakkordes durch den Grundgedanken (+1, –2)
ergibt sich wie gesagt zwingend, dass ‚Farben’ auf keiner bekannten diatonischen Skala
23 Da funktionsharmonische Bezüge von Schönberg nicht gewollt waren, werde ich keine Versuche unternehmenirgendwelche funktionalen Reminiszenzen zu ‚enthüllen’. Der Klang c-e-gis-h-a könnte nämlich auch als eine alterierteForm von C-Dur mit hinzugefügter großer Septime und Sexte verstanden und der Klang h-g-dis-as-b als Dominante dazugedeutet werden. Solcherlei Betrachtung wird aber m. E. den Zusammenhängen dieser Musik nicht gerecht.
beruhen kann. Addiert man dem Tonvorrat Akkords [a] über dem Basston c [0, 8, 11, 4, 9]
eine kleine Sekunde hinzu (+1, erster Schritt des Grundgedankens) resultieren daraus die
Töne [1, 9, 0, 5, 10] und durch den Schritt (–2) ergibt sich [a] über H [11, 7, 10, 3, 8]. In
‚normal order’ gebracht, lautet der zehntönige Tonvorrat des A-Teils [0, 1, 3, 4, 5, 7, 8, 9,10,
11]. Durch den Additionsklang in Takt 9-11 tritt das D [2] hinzu, fis [6] ist Vorschlagsnote
des e im selben Additionsklang. Insofern kann man davon ausgehen, dass der chromatische
Tonvorrat zu Grunde gelegt wurde.
Die gesamte Harmonik des Stückes ist Ergebnis des polyphonen Konzeptes, die Akkorde des
A-Teils ergeben sich aus der Engführung des Grundgedankens, die des A-Teils aus der
Engführung seiner Umkehrung. „Die moderne Musik, die sechs- und mehrstimmige Akkorde
verwendet, scheint sich in einem Stadium zu befinden, welches der ersten Epoche der
polyphonen Musik entspricht. Danach dürfte man eher durch einen Vorgang, wie es die
Generalbassbezifferung war, zu einem Urteil über die Zusammensetzung der Akkorde
kommen, als zur Klarheit über ihre Funktion (...). Denn anscheinend, und wahrscheinlich wird
das immer deutlicher werden, wenden wir uns einer neuen Epoche des polyphonen Stils zu,
und wie in den früheren Epochen werden die Zusammenklänge Ergebnis der Stimmführung
sein.“24
Aus der Engführung aller Stimmen ergibt sich an einigen Stellen die Verdopplung von
Oktaven und daraus resultierend die Hervorhebung eines bestimmten Tones (Takte 7, 22, 36).
Oktavverdopplungen werden von Schönberg in Stil und Gedanke und in der Harmonielehre25
als problematisch thematisiert, stellen hier aber offensichtlich einen akzeptablen Mangel dar.
Im Takt 7 fügt Schönberg noch als fünfte Stimme E im Bass hinzu, in den Takt 22 und 36
reduziert sich der Klang tatsächlich durch die Oktavverdopplung auf vier Stimmen.
Die sich aus der Engführung des Grundgedankens ergebenden Fünfklänge [a] bis [f] sind
nicht wirklich gleichartig, so wie etwa die Akkorde einer Dur-Kadenz jeweils einedeckungsgleiche Intervallstruktur aufweisen. Ihre Intervallstruktur ist vielmehr
unterschiedlich und lässt sich kaum systematisieren.
Die Prime Forms der Klänge des A-Teils lauten folgendermaßen:
Bewertet man nur die mehr als drei Takte liegenden Basstöne als Orgeltöne, dann ergibt sich
folgende Tonfolge: c, H, d, e, c
4.5 Zu den Additionsklängen
Über die bereits beschriebene Erweiterung des Tonraums und der Stimmenanzahl hinaushaben die Additionsklänge (und ihre gestischen Zusätze) noch eine weitere Funktion:
Wenn die Streicher in den oberen vier Stimmen nicht vorkommen, findet man sie bis auf die
genannten Ausnahmen im Bass. Die Holzbläser kommen am häufigsten zum Einsatz (es sind
am meisten, nämlich sieben verschiedene Instrumententypen vertreten), Blech und Streicher,
die jeweils mit 4 Instrumententypen vertreten sind, ungefähr gleich oft. Holz, Blech, und
Streicher sind statistisch gesehen, berücksichtigt man die Anzahl der Instrumententypen, etwa
gleich oft eingesetzt.
Das Orchester in seiner Gesamtheit kommt an keiner Stelle zum Einsatz, der Orchestersatz
bleibt durchgehend kammermusikalisch. Insofern wäre es durchaus möglich gewesen, das
Stück nur mit einer Doppelbesetzung der Bläser zu realisieren.
6. Zur Dynamik
Vorherrschende Lautstärkeangaben sind pp und ppp, die lauteste Stelle (Ende Takt 26 /
Anfang Takt 27) ist mit mp überschrieben. In den ersten 14 Takten ist die Dynamik statisch
notiert , die Additionsstimmen und die Verdopplung eine Oktave tiefer bewirken von Takt 9
bis 11 einen leichten Lautstärkeanstieg.
Von Takt 14 bis 20 kommen jeweils auf einen Ton eines Instruments bezogene kurz angelegte
Crescendi-Decrescendi zum Einsatz.
Takt 25 bis Ende Taktes 29 sind als einzige des Stückes mit übergeordneten dynamischen
Angaben überschrieben: Crescendo Anfang des Taktes 26 beginnend, sich vom ppp zum mpzu Beginn des Taktes 27 steigernd, danach Decrescendo zurück zum ppp am Ende des Taktes
28. Takt 29 ist, wie bereits weiter oben ausgeführt mit ppp überschrieben. In Takt 29 weisen
im Übrigen auch viele der Instrumentalstimmen ebenfalls die Bezeichnung ppp auf. Konträr
zu dieser Anweisung wirkt in diesem Takt, wie bereits im Kapitel 2.2.1 erwähnt, die
chorische Instrumentierung und die bewegte Führung der einzelnen Instrumentalstimmen.
Schönberg war dieses Problem sicherlich bewusst, dennoch hat er mit seiner Anweisung
eindeutig seinen Gestaltungswillen erklärt. Insofern müssten zukünftige Interpreten desStückes diesen Aspekt ernster nehmen und an den sicherlich sehr großen Schwierigkeiten der
Takte 25 bis 29 gründlich arbeiten, denn keine mir bekannte Interpretation wird der
kompositorischen Komplexität und Differenziertheit dieser Takte wirklich gerecht. Alle
Bewegung ist der Klangfarbenkomposition unterzuordnen und es ist stets die im Kapitel 2.1
zitierte Anweisung Schönberg zu vergegenwärtigen.
Finden sich in den Takten 32 bis 34 noch einige Crescendi-Decrescendi in den
Instrumentalstimmen, so sind von Takt 35 bis 39 nur mehr wenige Decrescendi notiert. Die
Takte 40 und 41 weisen noch einmal Crescendi in drei Stimmen auf; die Takte 42 – 44 sind
wieder statisch wie die Anfangstakte – nur der von der Viola intonierte allerletzte Viertelton c
des Stückes weist noch ein Crescendo-Decrescendo auf! Sehr feine dynamische Unterschiede
ergeben sich während des ganzen Stückes aus der unerhört differenzierten Instrumentierung.
7. Kommentar zur Dirigieranweisung
Schönberg schreibt in der Dirigieranweisung der Partitur: „Es ist nicht Aufgabe des
Dirigenten, einzelne ihm (thematisch) wichtig scheinende Stimmen in diesem Stück zum
Hervortreten aufzufordern oder scheinbar unausgeglichene Mischungen abzutönen. Wo eine
Stimme mehr hervortreten soll als die anderen, ist sie entsprechend instrumentiert und die
Klänge wollen nicht abgetönt werden. Dagegen ist es seine Aufgabe darüber zu wachen, dass
jedes Instrument genau den Stärkegrad spielt, der vorgeschrieben ist; genau (subjektiv)
seinem Instrument entsprechend und nicht (objektiv) sich dem Gesamtklang unterordnend.“
Schönberg war sicherlich der Überzeugung seine Klänge so gut komponiert zu haben, dass sie
auch ohne Abtönung funktionieren müssten, bzw. dass sein kompositorischer Wille
hinreichend in den Notentext eingeschrieben sei. Trotzdem ist diese Anweisung in sich
widersprüchlich: mit der Aussage, jede Stimme sei entsprechend instrumentiert, ist doch
sicherlich gemeint, dass sie gut komponiert, und somit auch genügend determiniert sei. Wenn
aber gleichzeitig jeder Spieler eine „subjektive“ Auffassung des Lautstärkegrades
verwirklichen soll und gerade feine Lautstärkegrade ausgesprochen relativ sind, dann wirddamit ungewollt zugestanden, dass der Klang eben gerade in der Gewichtung seiner
Einzeltöne nicht determiniert ist. (Ein ähnliches Problem von vorgeblich genauer Notation
und damit einhergehender Indeterminiertheit ergibt sich mit der Aufzeichnung der
Sprechstimmen in anderen Werken Schönbergs.) Die Dirigieranweisung demontiert also nicht
nur die romantische Rolle des Dirigenten als künstlerischem Nachschöpfer, sondern, ohne es
zu wollen, wird auch die Aufgabe des Komponisten neu definiert. In diesem Stück listet er
eine große Anzahl von versuchsreihenartig angewendeten Instrumentenkombinationen auf,die in einem wesentlichen Aspekt – der inneren Klanggewichtung – gar nicht determinierbar
sind. Hier liegen keine dem großen Schöpfer vom Komponisten abgehorchten Klänge vor,
sondern methodisch er- und ab- gearbeitete Möglichkeiten. Zudem eröffnet sich bereits hier
die Frage der Verteilung von kreativer Verantwortung zwischen Musikern (des Orchesters),
Dirigenten und Komponisten auf einer neuen Ebene, die dann seit den 1960ern auch im
politisch-gesellschaftlichen Zusammenhang für das Denken von Komponisten bestimmend
wurde. Diese Art zu Komponieren nimmt in gewisser Hinsicht die Autonomie punktueller
Klänge und selbstverantworteter Ereignisse vorweg. Denn nimmt man die Dirigieranweisung
ernst, so ist der Dirigent in diesem Stück nur für das Tempo zuständig, er ist ein reiner
Taktgeber und Probenleiter. Die einzigen Dynamikangaben, die sich an den Dirigenten
richten, sind die übergeordneten Angaben der Takte 25 bis 29. Sämtliche anderen
Anweisungen sind an die Orchestermusiker selbst gerichtet.
8. Schlussbemerkung
Farben ist ein frühes minimalistisches Stück – sicherlich eines der ersten der Musikgeschichte
– mit außerordentlichen Beschränkungen, was den Umfang des Grundgedankens angeht.
Es ist gleichzeitig aber auch ein Musterbeispiel für die romantische Konzeption der
Entwicklung eines übergeordneten Zusammenhangs aus einer Keimzelle. Dieser
Zusammenhang ist in einer beeindruckenden Konsequenz und Radikalität hergestellt – in
seiner gedanklichen Geschlossenheit ist dieses Stück ein Höhepunkt.
Mit der Kombination der (fünf verschiedene Tonhöhen enthaltenden) Fünfstimmigkeit und
zwei anderen additiven Klangebenen ist es nicht nur polytonal, sondern berücksichtigt die
Parameter des Tonraumes und der Stimmenanzahl – mithin der Dichte – in seiner formalen
Anlage.
‚Farben’ ist bei aller formalen Geschlossenheit ein Stück der theoretisch noch nicht gefassten
Neuerungen, Schönberg selbst hat keine Theorie der hier realisierten Harmonik vorzulegen
vermocht. Auf der Ebene der Klangfarbe wird mit dem Prinzip der Nichtwiederholung
einerseits auf Prinzipien alter Musik zurückgegriffen, andererseits aber auch ein Fenster zuden kompositorischen Ideen der New York School und neuester Musik geöffnet.
Farben ist eine experimentelle Komposition im besten Sinne des Wortes!
Und es ist ein Unikat: Schönberg selbst hat kein solches Stück mehr geschrieben.
9. Literaturverzeichnis:
Rahn, John: ‚Basic Atonal Theory’, New York 1980Partitur: A. Schönberg, Sämtliche Werke, Abt.IV/I, Mainz/Wien 1984
Schönberg, Arnold: ‚Stil und Gedanke’, Frankfurt Main 1992
Schönberg, Arnold: ‚Harmonielehre’, Wien 2001
Stuckenschmidt, Hans Heinz: „Schönberg . Leben . Umwelt . Werk“, München 1989
Tonrepetitionen werden nicht gespielt sondern ausgehalten. Die Aufteilung in kleine Notenwerte dient in diesem Beispiel dazu, die Einsatzstellen jener Instrumenteanzeigen zu können, die zu ausgehaltenen Tönen hinzutreten und diese verdoppeln, bzw. aus ausgehaltenen Klängen früher herausgehen.