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Geflügelhaltung im nordwestslawischen Raum vom 8. bis zum 12. Jahrhundert – Artenspektrum, Bedeutung, Nutzung U. Schmölcke Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie, Schleswig Definitely two, maybe four species of domestic birds have been bred by the Slavon- ic’s in the northern Central European area in between the rivers of Elbe, Oder, and Spree during early Medieval times: chickens ( Gallus gallus f. domestica) and geese (Anser anser f. domestica), possibly in a limited extant pigeons ( Columba livia f. domestica) and ducks (Anas platyrhynchos f. domestica). The quantifica- tion of the economical relevance of chickens and geese is difficult, because of the methodological problematic comparison between the number of bird and the number of mammal remains in archaeological assemblages. The generally low proportion of fowl bones compared to stock remains may indicate a minor nutri- tional importance of fowl. However, an analysis of all data available for the investigated area provides evidence for an increasing significance from the 8th to the 13th century AD. Depending on local traditions the main focus of fowl breeding was either the use of eggs or the use of meat. In general, chickens and geese have been bred for self-supply, but in a particular case there are also indi- cations for young male chicken as trading goods. Haushuhn, Hausgans, Frühmittelalter, Deutschland, Vogelhaltung, Haustiere EINLEITUNG Bis zu vier Vogelarten lebten in den Jahrhunderten von 700 bis 1200 n. Chr. im Gebiet zwischen Elbe, Oder und Spree, dem damaligen nordwest- slawischen Bevölkerungsraum, unter der Obhut des Menschen. Die Hal- tung von Haushühnern ( Gallus gal- lus f. domestica) und Hausgänsen (Anser anser f. domestica) war hier zu dieser Zeit seit vielen Jahrhunder- ten etabliert, der Bekanntheitsgrad von Haustaube ( Columba livia f. do- mestica) und Hausente (Anas platy- rhynchos f. domestica) begann sich langsam zu erhöhen, ist jedoch zu- nächst noch gering. Obwohl Hühner und Gänse weit verbreitet waren, ist ihr ökonomischer Rang im Vergleich zu den anderen Nutzhaustieren unklar. Deshalb soll im Folgenden die Frage diskutiert werden, ob dem Geflügel im Rahmen der Ernährungswirtschaft SCHR NATURWISS VER SCHLESW-HOLST 73 65–77 Kiel X-2011 FORSCHUNGSBEITRAG SCHRIFTEN DES NATURWISSENSCHAFTLICHEN VEREINS FÜR SCHLESWIG-HOLSTEIN SUBMITTED 11-02-2010 ACCEPTED 25-11-2010 ONLINE 28-12-2010 © 2011 The Author
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Schmölcke, U. (2011): Geflügelhaltung im nordwestslawischen Raum vom 8. bis zum 12. Jahrhundert – Artenspektrum, Bedeutung, Nutzung. Schr. Naturwiss. Ver. Schlesw.-Holst. 73, 65-77

Apr 09, 2023

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Geflügelhaltung im nordwestslawischen Raum vom 8. bis zum 12. Jahrhundert – Artenspektrum, Bedeutung, Nutzung

U. SchmölckeZentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie, Schleswig

Definitely two, maybe four species of domestic birds have been bred by the Slavon-ic’s in the northern Central European area in between the rivers of Elbe, Oder, and Spree during early Medieval times: chickens (Gallus gallus f. domestica) and geese (Anser anser f. domestica), possibly in a limited extant pigeons (Columba livia f. domestica) and ducks (Anas platyrhynchos f. domestica). The quantifica-tion of the economical relevance of chickens and geese is difficult, because of the methodological problematic comparison between the number of bird and the number of mammal remains in archaeological assemblages. The generally low proportion of fowl bones compared to stock remains may indicate a minor nutri-tional importance of fowl. However, an analysis of all data available for the investigated area provides evidence for an increasing significance from the 8th to the 13th century AD. Depending on local traditions the main focus of fowl breeding was either the use of eggs or the use of meat. In general, chickens and geese have been bred for self-supply, but in a particular case there are also indi-cations for young male chicken as trading goods.

Haushuhn, Hausgans, Frühmittelalter, Deutschland, Vogelhaltung, Haustiere

EINLEITUNG

Bis zu vier Vogelarten lebten in den Jahrhunderten von 700 bis 1200 n. Chr. im Gebiet zwischen Elbe, Oder und Spree, dem damaligen nordwest-slawischen Bevölkerungsraum, unter der Obhut des Menschen. Die Hal-tung von Haushühnern (Gallus gal-lus f. domestica) und Hausgänsen (Anser anser f. domestica) war hier zu dieser Zeit seit vielen Jahrhunder-ten etabliert, der Bekanntheitsgrad

von Haustaube (Columba livia f. do-mestica) und Hausente (Anas platy-rhynchos f. domestica) begann sich langsam zu erhöhen, ist jedoch zu-nächst noch gering. Obwohl Hühner und Gänse weit verbreitet waren, ist ihr ökonomischer Rang im Vergleich zu den anderen Nutzhaustieren unklar. Deshalb soll im Folgenden die Frage diskutiert werden, ob dem Geflügel im Rahmen der Ernährungswirtschaft

SCHR NATURWISS VER SCHLESW-HOLST 73 65–77 Kiel X-2011

FORSCHUNGSBEITRAG

SCHRIFTEN DES NATURWISSENSCHAFTLICHEN VEREINS FÜR SCHLESWIG-HOLSTEIN

SUBMITTED 11-02-2010 ACCEPTED 25-11-2010 ONLINE 28-12-2010 © 2011 The Author

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Beiträge, die eine aussagekräftige An-zahl von Geflügelknochen vorstellen. Demgemäß ausgewertet wurden Tier-knochen aus den Burgen Branden-burg, Kastorf, Hanfwerder und Drense,

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der Menschen eine größere Bedeu-tung zukam und welche Nutzungs-schwerpunkte gesetzt wurden. Die Fokussierung erfolgt dabei zur Erin-nerung an das vor etwa 1000 Jahren (im Jahre 1003) geschlossene Bünd-nis zwischen dem christlichen säch-sisch-deutschen König Heinrich II. und den paganen, also nicht christlichen Lutizen auf den vorpommerschen und brandenburgischen Raum, dem dama-ligen Siedlungsgebiet der Lutizen. Die-ser slawische Völkerbund ist vielfach mit den bekannteren Wilzen gleich-zusetzen (Lübke 2000), und dieser Entsprechung wird in diesem Beitrag durchweg gefolgt.

Der historisch bezeugte Hauptort des Luti- zenbundes, Riedegost oder Rethra, konnte von Archäologen inzwischen als Siedlungsagglomeration am Tol-lensesee lokalisiert werden (Schmidt 1998). Hier gab es, nahe beieinan-der liegend und funktional aufein- ander bezogen, frühstädtische Zen-tralorte, herrschaftliche Burgen und ländliche, dorfartige Ansiedlungen. Eine weitere wichtige Siedlungs-kammer mit Burg und Fernhandels- platz lag 30 km weiter nördlich im Umfeld des Kastorfer Sees (Schmidt 1998, 2000). Bedeutendster See-handelsplatz des Bundes und ein überregionales Zentrum des Fern- handels und des Handwerks, war das am Unterlauf der Peene beim heutigen

Anklam gelegene Menzlin. Besonders im 9. und 10. Jahrhundert war Menzlin aufgrund seiner günstigen verkehrs-geographischen Lage das Tor der Lu-tizen zu den anderen slawischen Han-delsplätzen entlang der Ostsee und nach Skandinavien (Schoknecht 1977).Südlich des eigentlichen lutizischen Siedlungsraumes lebten im Spree-Ha-vel-Gebiet die Heveller oder Stodo-ranen. Sie waren lange Zeit politisch selbständig, schlossen sich aber den Lutizen an (Herrmann 1985) und sol-len deshalb in diesem Beitrag eben-falls berücksichtigt werden. In ihrem Siedlungsraum stellte der Fürstensitz Brandenburg, damals Brennaburg, mit seinem Umland eine wichtige Lokali-tät dar (Grebe 2000).

Nach einem kurzen Überblick über die Domestikationsgeschichte von Huhn, Gans, Taube und Ente und über ihre vor- und frühgeschichtliche Haltung in Mitteleuropa soll im Folgenden versucht werden, die ökonomische Bedeutung von Hühnern und Gänsen in der Nah-rungsmittelwirtschaft in einer slawisch besiedelten Beispielregion zu rekonst-ruieren. Darüber hinaus wird der Frage nach möglichen siedlungsfunktiona-len Unterschieden in der Bedeutung der Geflügelhaltung nachgegangen. Wurde die Geflügelhaltung in Burgen, Frühstädten und ländlichen Siedlun-gen des lutizischen Gebietes mit un-terschiedlicher Intensität betrieben?

MATERIAL UND METHODE Über die Tierhaltung im fraglichen Ge-biet und Zeitraum liegen relativ viele archäozoologische Einzeluntersuchun-gen vor. Die Datengrundlage für den vorliegenden Beitrag bilden solche

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67GEFLÜGELHALTUNG IM NORDSLAWISCHEN RAUM 8.–12. JHDT.

Abb. 1: Die wichtigsten Orte im Siedlungsgebiet der Lutizen sowie der im Text überdies erwähnte Seehandelsplatz Reric im Siedlungsgebiet der benachbarten Obodriten. Ihr Riedegost oder Rethra war eine Siedlungsagglomeration am Tollensesee und umfasste unter anderem die Burg auf dem Hanfwer-der.

ländliche Siedlungen im Bereich Lieps sowie die frühstädtischen Marktorte Menzlin, Fischerinsel im Tollensesee und Zirzow (Abb. 1; Benecke 1988; Benecke, Prilloff 1989; Prilloff 1994; Teichert 1988). Archäologische Hinter-grundinformationen zu den genannten Orten finden sich bei Schmidt (1989) und Schoknecht (2002).

Ebenfalls Berücksichtigung fanden zwei überregional-vergleichende ar-chäozoologische Studien von Benecke (1994) und Teichert (1999).

Bei der Auswertung der Fundzahlen ist generell zu beachten, dass in Tierkno-

chenensembles, die bei Ausgrabungen ohne Verwendung von Sieben geborgen wurden, Reste von Hühnern aufgrund ihrer geringen Größe deutlich unterre-präsentiert sind (Schmölcke, Heinrich 2006). Dies gilt sowohl im Vergleich zum Vieh als auch im Vergleich zur Haus-gans. Außerdem erschwert die diffe- rierende Morphologie von Vogel- und Säugetierknochen mit ihrer di-rekten Auswirkung auf die Erhal-tungsfähigkeit der Skelettteile im Boden einen interpretierenden Ver-gleich der Knochenzahlen von Säu-getieren und Vögeln (Ervynck 1993).

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Geflügelarten: Dort stellen Hühner fast 90% der Geflügelknochen, im Spree-Havel-Gebiet dagegen beträgt ihr Anteil im Frühen Mittelalter lediglich 66% (Teichert 1988). Hier gewinnt die Hühnerhaltung erst in den folgenden Jahrhunderten relativ zu den ande- ren Geflügelarten an Bedeutung (Ben-ecke 1994, Tabellen 54 und 56).

Auch zum Phänotyp, also zum Aus-sehen und zur Gestalt der Tiere, sind durch metrische Analysen vollstän-dig erhaltener Hühnerknochen einige Aussagen möglich. Demnach reprä-sentierten die frühmittelalterlichen Haushühner des gesamten nordmit-teleuropäischen Raumes sowohl im Vergleich zu ihren Artgenossen der kaiserzeitlichen römisch-germanischen Provinzen als auch zu den meisten heutigen Rassen einen kleinwüchsi-gen Typus. Charakteristisch war für sie außerdem die große Variabilität des Körperbaus innerhalb eines Be-standes. Dies findet seine Parallelen bei anderen Haustierarten und ist in der fehlenden zielgerichteten züchte-rischen Selektion der damaligen Tier-halter begründet. Letztere setzte erst in der Neuzeit ein und führte dann zur Herausbildung der meisten der heute bekannten Hühnerrassen.

Gans

Der Beginn der Haltung von Hausgän-sen ist in Mitteleuropa archäozoologisch schwierig nachzuvollziehen, da hier die Stammart dieses Haustieres, die Graugans (Anser anser Linné, 1758), ein häufiger und seit jeher jagdlich ge-nutzter Brutvogel ist. Bestimmte Verän-derungen des Skelettes im Vergleich

ERGEBNISSE

Huhn

Die älteste Geflügelart Europas ist das Haushuhn, und dies, obwohl ihre Stammform, das Bankivahuhn (Gallus gallus Linné, 1758), ausschließlich in Wäldern Ostasiens lebt (Fumihito et al. 1994, 1996; Herre, Röhrs 1983). In Thailand erfolgte die Domestikation bereits während des 6. Jahrtausends v. Chr. (Fumihito et al. 1996), und von dort breitete sich die Hühnerhaltung rasch nach Norden und Westen aus (West, Zhou 1988). In Mitteleuropa stammen die ältesten Funde aus den Jahrhunderten vor Christi Geburt, der Latène-Zeit (Benecke 1994). Auch die ersten Hühnerknochen aus dem später von Lutizen besiedelten Gebiet stam-men bereits aus dieser Epoche (Ben-ecke 1995). Sehr rasch etablierte sich die Hühnerhaltung, so dass Hühner ein fester Teil des üblichen Haustier-bestandes wurden.

Gemessen an der Anzahl der bei ar-chäologischen Ausgrabungen ge-fundenen Knochen war das Huhn im slawischen Frühmittelalter für den Menschen die mit großem Abstand wichtigste Geflügelart. So entfallen in den berücksichtigten Siedlungen des lutizischen Siedlungsraumes im Mittel 4/5 der Hausvogelknochen auf das Haushuhn (Abb. 2). Erwei-tert man den Untersuchungsraum auf die gesamte nordmitteleuropä- ische Tiefebene, zeigen sich regi-onale Differenzen. Nach Zusam-menstellungen von Benecke (1994) war während des gesamten Mittel-alters die Hühnerhaltung insbeson- dere im pommerschen Raum wesent-lich wichtiger als die Zucht anderer

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zu Tieren aus wildlebenden Populati-onen werden als Indiz für eine erfolgte Domestikation gewertet. Als solche Skelettveränderungen gelten kräfti-gere Beinknochen, die sich infolge des höheren Körpergewichtes der Haus-tiere sowie durch deren erzwungene Flugunfähigkeit nach dem Entfernen der wichtigsten Flügelfedern heraus-bilden (Herre, Röhrs 1983; Reichstein, Pieper 1986). In Mitteleuropa sind sol-che Merkmale erstmals an Gänsekno-chen aus La-Tène-zeitlichen Gräbern im westslowakischen Gebiet nachge-wiesen worden (Benecke 1994).

Zeitlich an diese Funde anschließend verdichten sich Hinweise, dass sich die Haltung von Hausgänsen parallel zur Hühnerhaltung zügig in ganz Mit-teleuropa verbreitete. Im Bestand blie-ben Gänse aber offenbar durchweg hinter den Hühnern zurück. Ihr Anteil an den archäozoologisch untersuch-ten Geflügelresten im Gebiet und zur Zeit der Lutizen liegt meist bei etwa 20% (Abb. 2). Im südlicheren Spree-Havel-Raum scheinen sie in Relation

zu Hühnern in den Jahrhunderten des Frühmittelalters eine größere Bedeu-tung als in vielen anderen Regionen Mitteleuropas besessen zu haben und umgekehrt in der pommerschen Re-gion relativ unwichtig gewesen zu sein (Benecke 1994, Tabellen 54 und 56).Zwar glichen die mittelalterlichen Haus-gänse hinsichtlich ihrer Körpergröße in der Regel noch der Wildform, und abgesehen von den etwas kräftigeren Beinen entsprach auch die Gestalt die-ser noch weitgehend. Aufgrund des veränderten Selektionsdruckes war die Größendiversität innerhalb eines Bestandes allerdings gegenüber den einheimischen Graugänsen signifi-kant erhöht (Reichstein, Pieper 1986).

Taube

Die domestizierte Form der im Mittel-meerraum verbreiteten Felsentaube (Columba livia Gmelin, 1789) ge-langte als Folge der Expansion des Römischen Reiches um Christi Ge-burt nach Mitteleuropa. Bei den Rö-mern war Taubenhaltung beliebt und brachte Schläge verschiedener Fär-bung und Gestalt hervor, wie bildliche Darstellungen vor allem aus Pompeji belegen. Doch beschränken sich an-tike Nachweise von Haustauben auf die römischen Provinzen an Rhein und Donau (Gandert 1973), eine weitere Ausbreitung dieser Haustierart nach Norden oder Osten erfolgte offenbar zunächst nicht (Benecke 1994). Aller-dings ist hier der archäozoologische Nachweis schwierig zu führen, denn die morphologische Unterscheidung der Haustaubenknochen von Resten der in Mitteleuropa lebenden Hohl-taube (Columba oenas Linné, 1754) ist ausgesprochen problematisch (Fick 1974). Häufig gelingt keine Zuordnung

Abbildung 2: Prozentualer Anteil der Hüh-nerknochen an der Gesamtzahl der Geflü-gelreste in lutizischen Siedlungen unterschied-licher Zeitstellung. Die zu 100 % fehlenden Werte entfallen auf Gänseknochen. Weiß: früh- bis mittelslawisch, grau: spätslawisch.

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der Funde zu einem der beiden Taxa. Insgesamt deutet sich jedoch an, dass eine Haltung von Haustauben im nord-mitteleuropäischen Raum erst um das Jahr 1000 ganz allmählich Fuß fasste. Eine größere wirtschaftliche Bedeu-tung erlangte sie jedoch auch in der Folgezeit nicht; bei den Nachweisen der Haustaube handelt es sich wei-terhin in der Regel um Einzelfunde.

Für das Gebiet des Lutizenbundes und die Zeit um 1000 ist eine verbreitete Taubenhaltung im Untersuchungsge-biet nach heutigem Kenntnisstand je-denfalls auszuschließen.

Ente

Hausenten sind aus den in Mitteleuropa seit jeher überall zahlreich vorkommen-den Stockenten (Anas platyrhynchos Linné, 1754) hervorgegangen. Mit der Identifizierung von Hausentenknochen sind ähnliche Probleme wie mit der Er-kennung von Haustauben knochen ver-bunden, und deshalb bleibt der Beginn

einer echten Entenhaltung im mittel-europäischen und skandinavischen Raum weiter im Dunkeln. Es gibt In-dizien dafür, dass auf der ölandischen Burg Eketorp (400–1300 n. Chr.) do-mestizierte Enten lebten, allerdings handelt es sich bei diesen Indizien nicht um Gestalts- oder Proportions-unterschiede im Vergleich zur Wild- form, sondern um eher vage Hin-weise aus Paläoökologie und Popu-lationsstruktur (Boessneck, von den Driesch 1979). Darüber hinaus feh-len Hinweise oder gar Belege für eine Haltung von Hausenten im Frühmit-telalter Nordmitteleuropas. Das im Vergleich zu anderen Siedlungen ei-nerseits und zu den dortigen Hüh-ner- und Gänseknochen andererseits ungewöhnlich große Fundaufkom-men von Stock- oder Hausenten- knochen in Reric, einem von 722 bis 811 n. Chr. hundert Kilometer westlich des Lutizengebietes an der Wismar Bucht bestehenden Seehandelsplatz, stammen mit großer Wahrscheinlich-keit nicht von Haustieren, sondern

Tabelle 1: Prozentualer Anteil der Hühner- und Gänseknochen an der Gesamtzahl der Haustierreste in Siedlungen des lutizischen Gebietes. Jh.: Jahrhundert. KnZ: Zahl der tierartlich bestimmten Knochen.

Fundort Datierung Funktion KnZ (n) Geflügel (%)Drense 7.–10. Jh. Burg 1763 1,1Hanfwerder 11.–13. Jh. Burg 12085 1,2Fischerinsel 11.–13. Jh. Frühstadt 2656 2,5Menzlin 9.–10. Jh. Handelsplatz 29328 2,6Drense 11.–13. Jh. Burg 4172 3,2Brandenburg 11.–13. Jh. Burg 8930 4,1Kastorf 9.–10. Jh. Burg 3290 4,4Neubrandenburg 9.–10. Jh. Dorf 975 5,5Brandenburg 7.–10. Jh. Burg 9519 5,6Zirzow 13. Jh. Frühstadt 3450 5,8

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sind das Ergebnis einer intensivieren Bejagung von Stockenten (Schmöl-cke 2004).

Gewiss ist, dass die Römer in der Zeit um Christi Geburt und den fol-genden Jahrhunderten Stockenten in speziellen Volieren, den soge-nannten Nessotrophien (Columella, De re rustica 9, 15) hielten, aber auch bei ihnen hatte diese Form der Tierhal-tung keine wesentliche ökonomische Bedeutung (Peters 1998). Fraglich ist zudem, ob die Römer über eine reine Gefangenschaftshaltung wilder Vögel hinausgingen.

Der Anfang der Entenhaltung im nord-westslawischen Raum bleibt also of-fen. Jedenfalls ist für das Land der Lu-tizen an eine umfangreichere Haltung von Enten nicht zu denken.

Die wirtschaftliche Bedeutung von Hühnern und Gänsen

Sieht man von der Verwertung der Federn und der modernen Liebha-ber-Zucht ab, steht die nahrungswirt-schaftliche Komponente bei der Ge-flügelhaltung im Vordergrund. Zur Bemessung ihrer ökonomischen Be-deutung im Vergleich zu Schwein, Rind, Schaf und Ziege im nordwestslawi-schen Raum soll zunächst ein Vergleich der bei archäologischen Ausgrabun-gen im lutizischen Gebiet gefunde-nen Knochenzahlen dienen (Tab. 1). Der geringe Anteil des Geflügels an der Gesamtsumme der Haustierkno-chen ist augenfällig. Er beträgt im luti-zischen Gebiet durchschnittlich 3,2% und variiert zwischen 1,1% während der Frühphase der Burg Drense und 5,8% während des 13. Jahrhunderts im frühstädtischen Zirzow. Ähnliche Ver-hältnisse finden sich auch im weiteren nordwestslawischen Siedlungsgebiet. So liegen aus dem östlichen Holstein

GEFLÜGELHALTUNG IM NORDSLAWISCHEN RAUM 8.–12. JHDT.

Abbildung 3: Prozentualer Anteil der Hühner- und Gänseknochen an der Gesamtzahl der Haustierreste in lutizischen Siedlungen unterschiedlicher Funktion. Grundlage: Burgen n = 39759, Frühstädte n = 35434, Dörfer n = 1883 Haustierknochen.

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mittlerweile etwa 4000 frühmittelalter-liche Geflügelknochen vor, in Bezug zu den im selben Gebiet gefundenen Haussäugetierknochen sind dies je-doch lediglich 1,7% (nach Benecke 1994). Ähnliche Verhältnisse finden sich auch in Mecklenburg und Pommern. Hier entfallen bei einer etwas geringe- ren, aber ebenso aussagekräftigen Da-tenbasis auf das Geflügel 2,7% bzw. 2,6% der Haustierknochen (ebd.).

Eine Gegenüberstellung der Anteile von Geflügelknochen an den Haus-tierresten aus lutizischen Siedlungen unterschiedlicher Funktionalität zeigt eine Streuung der Werte zwischen 3% und 4% (Abb. 3). Differenzen zwi-schen den Anteilen in Burgen, Städ-ten und dörflichen Siedlungen lassen sich nicht nachweisen. Ein erweiterter Vergleich mit Tierknochen zeitgleicher Orte aus dem gesamten Bereich des heutigen Mecklenburg-Vorpommern zeigt allerdings, dass der Anteil von Geflügelknochen an der Gesamtzahl der Haustierknochen auf Handelsplät-zen und in frühen Städten etwas hö-here Werte erreicht als in Dörfern und auf Burgen (siehe auch Benecke 1994, Tabelle 54 und Prilloff 1994, Seite 50). Die Belastbarkeit dieses Ergebnisses wird aber durch die sehr unterschiedli-che Grundgesamtheit beeinträchtigt, die den Berechnungen zugrunde liegt. So basieren die Werte der Handelsplätze auf einer Grundlage von 3300 Geflü-gelknochen, während aus Dörfern und Burgen nur jeweils 200–500 Geflügel- knochen vorliegen. Demnach kön-nen die festgestellten Abweichun-gen zwischen den unterschiedlichen Siedlungstypen auch zufallsbe-dingt sein. Vermutlich bestand hin- sichtlich der Bedeutung des Geflü-gels im gesamten nordwestslawischen

Bereich kein wesentlicher siedlungs-funktionaler Zusammenhang. Dies steht in einem gewissen Gegensatz zu den Untersuchungen an Säuge- tierknochen, die durchaus zwischen dem lutizischen Siedlungszentrum Rethra um die Burg Hanfwerder und ländlichen Siedlungen und Burgen im Hinterland nahrungswirtschaftli-che Qualitätsdifferenzen nachweisen (Prilloff 1994).

Auch wenn bei der Untersuchung der Para- meter „gesamtwirtschaftliche Bedeu-tung“ und „siedlungsfunktionale Unter-schiede“ die Zeitschiene berücksich-tigt wird, ändert sich am dargestellten Prinzip wenig. Zwar nehmen die An-teile des Geflügels an den Tierkno-chen vom frühen zum hohen Mittel- alter im nordmitteleuropäischen Raum insgesamt zu, die Geflügelhaltung er-langt in dieser Zeit mithin allmählich größere Bedeutung (Boessneck, von den Driesch 1979, Benecke 1994). Dies erfolgt in Bezug auf die übrigen Haustiere jedoch auf geringem Ni-veau und ist im lutizischen Siedlungs- gebiet bislang gar nicht fassbar. Hier stammen bei den früh- und mittelsla-wischen Fundplätzen Drense, Kastorf, Menzlin und Neubrandenburg im Mittel 3,4% aller Haustierknochen von Huhn oder Gans (Gesamtzahl Haustierkno-chen n = 8839), bei den spät slawischen Orten Hanfwerder, Drense, Branden-burg, Fischerinsel, Zirzow und Lieps sind es im Mittel 3,5% (Gesamtzahl Haustierknochen n = 5960). Dabei ist allerdings eine alle Siedlungstypen betreffende Verschiebung innerhalb des Artenspektrums nachzuweisen und zwar zugunsten der Hühner auf Kosten der Gänse (Abb. 2). Aufgrund der unzureichenden Datenlage ist bislang nicht zu beurteilen, ob diese

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Prioritätsverschiebung ein relativer Effekt ist, der auf einem realen Rück-gang der Gänsehaltung bei gleichzei-tig stagnierender Hühnerhaltung be-ruht, oder ob tatsächlich die Bedeutung des Haushuhns zunahm.

DISKUSSION

Zwar scheint die Geflügelhaltung im Gebiet der Lutizen eine etwas grö-ßere Bedeutung besessen zu haben als in anderen Bereichen Nordmit-teleuropas, insgesamt ist aber eine geringe quantitative nahrungswirt-schaftliche Relevanz auch in ihrem Siedlungsraum anzunehmen. Dies gilt besonders im Vergleich zu heute, denn im modernen mitteleuropäischen Nahrungsabfall beträgt der Anteil des Geflügels an den Tierknochen etwa 16% (Benecke 2002). Aller-dings lässt sich auf Grundlage der gefundenen Knochenzahlen ledig-lich die Bedeutung der Fleischnut-zung leidlich gut zu den übrigen Haustieren in Relation setzen, die beim Geflügel und insbesondere beim Huhn, der wichtigsten Geflü- gelart, hinzutretende Verwertung der Eier bleibt dabei zwangsläufig unbe-rücksichtigt.

Es stellt sich die grundsätzliche Frage, welches der wichtigste Antrieb bei der frühmittelalterlichen Haltung von Hühnern und Gänsen war. Bei beiden Arten sind verschiedene Nutzungs-schwerpunkte denkbar: Neben die Fleischnutzung tritt bei den Hühnern der Verwertung der Eier, die eine Ab-wechslung auf dem menschlichen Speiseplan darstellen und für die Zu-bereitung von vielen Nahrungsmit-teln, nicht zuletzt von Brot, wichtig

Fundort Anzahl (n) Anteil (%)juvenil adult juvenil adult

Kastorf 8 73 10 90Hanfwerder 17 12 59 41Fischerinsel 9 7 56 44Menzlin 37 44 46 54Zirzow 15 18 46 54Brandenburg 31 38 45 55Drense 11 15 42 58

Tabelle 2: Haushuhn. Absoluter und prozen-tualer Anteil von nicht juvenilen (inklusive subadulten) und adulten Tieren in lutizischen Siedlungen. Aus ländlichen Ortschaften lie-gen keine aussagefähigen Ergebnisse vor.

Fundort Anzahl (n) Anteil (%)Hahn Henne Hahn Henne

Brandenburg 9 82 11 89Kastorf 1 3 25 75Fischerinsel 2 4 33 66Hanfwerder 3 5 38 62Menzlin 17 14 55 45Drense 5 1 83 17

Tabelle 3: Haushuhn. Absoluter und prozen-tualer Anteil von Hähnen und Hennen in lu-tizischen Siedlungen. Aus ländlichen Ortschaf-ten liegen keine aussagefähigen Ergebnisse vor.

sind. Bei den Gänsen ist darüber hi-naus an eine Nutzung der Daunen- federn zu denken, wie sie bei den Rö-mern belegt ist (Plinius, Naturalis his-toria 10, 53 f.). Da in ihrem Fall jedoch der gegenwärtige Forschungsstand noch unzureichend ist, sollen sich die folgenden Betrachtungen auf Hühner beschränken.

Einige theoretische Überlegungen seien der Betrachtung des verfügbaren ar-chäozoologischen Datenmaterials vo-rangestellt:

Zielt eine Hühnerhaltung primär auf eine zusätzliche Fleischversorgung der Menschen ab, dürften die meisten

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Tiere etwa mit dem Erreichen der Er-wachsenengröße, also bereits in ihrem ersten Herbst bei einem Alter von etwa fünf Monaten, geschlachtet worden sein. Ein weiterer Zuwachs an Mus-kulatur und damit Fleisch und Fett ist über diesen Termin hinaus ohne inten-sivere Mast kaum mehr möglich. Des-halb wird man bei einer auf Fleisch-gewinn angelegten Hühnerzucht nur wenige Tiere über diesen Zeitrahmen hinaus zur Erhaltung des Bestandes aufgespart haben.

Umgekehrt sind bei einer Hühnerhal-tung, die in erster Linie auf den Ge-winn von Eiern abzielt, vergleichsweise viele Alttiere zu erwarten: Je länger die Hühner leben, desto mehr Eier kön-nen sie legen. Gleichzeitig wären in diesem Fall unter den nachzuweisen-den Alttieren ganz überwiegend Hen-nen zu vermuten, die Hähne würden sich unter den in jüngerem Alter Ge-schlachteten finden.

Unter der Voraussetzung einer Hühner- population am Fundort der Knochen selbst, werden entsprechende Vertei-lungen auch im archäozoologischen Fundgut nachzuweisen sein. Stamm-ten die vorgefundenen Knochen jedoch von Tieren, die aus der Umgebung an den späteren Fundort importiert wur-den, wären weitere Überlegungen an-zustellen (siehe unten).

Die archäozoologischen Befunde auf den für diese Studie herangezogenen lutizi- schen Fundplätzen stellen sich bei einem zunächst zu erfolgenden Blick auf das Altersspektrum der geschlachteten Tiere wie folgt dar: Auf der Burg Kas-torf, aber auch – wenngleich weniger deutlich – in Hanfwerder und auf der Fischerinsel überwiegen mit Anteilen

von 73%, 59% und 56% die jungen oder halbwüchsigen Hühner im Fund-material (Tab. 2). Folglich wird man für diese Orte eine primär auf die Fleisch-nutzung ausgerichtete Hühnerhaltung anzunehmen haben, während in Zir-zow, Brandenburg und Drense sowie in Menzlin bei stärkerer Präsenz aus-gewachsener Tiere demnach die Ver-wertung der Hühnereier Priorität hatte. An diesen Plätzen sind die Anteile der beiden Altersklassen mit jeweils 55% zu 45% nur knapp zugunsten der Alt-tiere verschoben, aber gerade eine sol-che Altersverteilung kennzeichnet eine Kleinherdenhaltung mit überwiegender Eier- Nutzung, weil dabei kontinuierlich über-schüssige Junghähne, zuchtuntaugli-che Junghennen und überalterte Le-gehennen geschlachtet werden.

Die Altersanalyse der lutizischen Hühn-erknochen deutet somit auf eine klein-räumig unterschiedliche Art der Nut-zung: Stand auf der einen Burg die Legeleistung im Vordergrund, konnte auf der Nachbarburg Fleischnutzung der wichtigere Antrieb für die Hühn-erhaltung sein.

Im überregionalen Bild zeigt sich, dass hohe Anteile ausgewachsener Hühner besonders aus den weit westlich gele-genen slawischen Burgen Oldenburg/Starigard (83%; Prummel 1993) und Scharstorf (85%; Heinrich 1985) sowie aus der zeitgleichen Wikingersiedlung Haithabu (91%; Reichstein, Pieper 1986) vorliegen, dagegen ist diese Alters- klasse auf den östlicheren Handel-splätzen und Burgen meist leicht in der Minderheit. Als Beispiele da-für seien Ralswiek (40%; Ben-ecke 1983), die Mecklenburg (43%; Müller 1984) und Groß Strömkendorf (50%; Schmölcke 2004) genannt.

SCHMÖLCKE

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Wie sieht es mit dem Geschlechter-verhältnis unter den adulten Tieren im Untersuchungsraum aus (Tab. 3)? Im lutizischen Gebiet überwiegen an vier der hier berücksichtigten Plätze die Hennen und zwar im Verhältnis 2:1 (Fischerinsel, Zirzow, Hanfwerder), 3:1 (Kastorf) oder sogar 8:1 (Bran-denburg). In diesen Siedlungen über-lebten also wesentlich mehr Hennen als Hähne ihre ersten fünf Lebensmo-nate – ein Hinweis auf die hier hohe Bedeutung der Eier als Nahrungser-gänzung des Menschen. Im Falle von Zirzow und Brandenburg bestätigen sich hierin die Überlegungen, die an die Altersanalyse geknüpft waren: An diesen Orten war zur Zeit der Lutizen wohl tatsächlich die Gewinnung von Eiern das wichtigste Motiv der Hühn-erhaltung.

An zwei weiteren der berücksichtig-ten Siedlungsplätze, auf dem Handel-splatz Menzlin und der Burg Drense,

überwiegen unter den ausgewach-senen Hühnern die Hähne. Die sich hier abzeichnende Populationsstruk-tur ist aus züchterischer Sicht nicht sinnvoll und wird in dieser Form kaum bestanden haben. Tatsächlich lassen sich für diese Befunde auch andere schlüssige Gründe finden: Im Falle von Drense konnten nur sechs Hüh-nerknochen einer Geschlechtsdiag-nose unterzogen werden; bei einer so geringen Knochenzahl ist der Einfluss des Faktors Zufalls groß. Und Menz-lin war ein überregional bedeutender Markt- und Handelsort, ein Treffpunkt von Handwerkern und Händlern, die sich ihre Verpflegung teilweise aus den umliegenden ländlichen Siedlun-gen eingekauft haben könnten. Die Hühnerhalter der Umgebung wiede-rum werden diesen Kunden beson-ders gerne die zur Aufrechterhaltung ihres Bestandes überzähligen Hähne verkauft haben.

Für wichtige Hinweise und Anregungen geht mein herzlicher Dank an Dirk Heinrich, Hans-Christian Küchelmann und Kenneth Ritchie.

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