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MICHAEL SCHIFFMANN LAUDATIO AUF DEN PREISTRAGER PROFESSOR DR. N OAM CHOMSKY Lieber Noam Chomsky, liebe Anwesende, als man Noam Chomsky bat, sich zu dem ausgezeichneten, mehrstun- digen Film Manufacturing Consent. Noam Chomsky und die Medien zu meinte er nur: ,Ich kann mir nicht vorstellen, wer jeman- dem eine Stunde lang beim Reden zuhoren will. Aber ich nehme an, die wissen schon, w as sie tun." Diese Reaktion - Widerwille gegen Perso- nalisierung politischer und analytischer Themen - ist typisch fur ihn. Genau so typisch ist, dass er trotz dieser Vorbehalte fiinf Jahre lang an den Dreharbeiten zu diesem Film mitwirkte, bis zu dem Punkt, an dem er gesagt hat: ,Mit den Filmleuten fiihlte ich mich wie in diesem einen Film von Antonioni. Immer wenn ich irgendwo an einem Flughafen ankam, warer 1 die schon da." Es wird Noam und vermutlich auch Sie freuen zu horen, dass meine Rede zu seinen Ehren nicht mehrstundig ausfallen wird. Und das ist, neben der Fiille des hier wenigstens ansatzweise vorzustellenden Werks, auch der Grund, weshalb ich keine Verbindungslinie zwischen Noam Chomsky und Carl von Ossietzk y ziehen werde. Im Ubrigen war ich mir sicher, dass diese Verbindung im Laufe des Abends benannt werden wurde, so wie Herr Oberburgermeister Schutz es auch getan hat. Wie Sie vielleicht wissen, war Chomsky, der heute fiir sein Lebenswerk als politischer Analytiker und Medienkritiker ausgezeichnet wird, vor dieser seiner zweiten so genannten ,Karriere" bereits als Sprachwissen- schaftler zu Weltruhm gelangt. Mit seiner generativen Transforma- tionsgrammatik hat er nicht nur die Linguistik revolutioniert, sondern auch der modernen Kognitionswissenschaft ganz neue Wege und Mog - lichkeiten aufgezeigt. Chomskys wissenschaftliches Werk geht der Frage nach, die der englische Philosoph Bertrand Russell in 15
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Schiffmann (2004) - Laudatio auf den Carl-von-Ossietzky-Preisträger der Stadt Oldenburg 2004 Noam Chomsky

Jan 31, 2023

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MICHAEL SCHIFFMANN

LAUDATIO AUF DEN PREISTRAGER PROFESSOR DR. N OAM CHOMSKY

Lieber Noam Chomsky, liebe Anwesende,

als man Noam Chomsky bat, sich zu dem ausgezeichneten, mehrstun­digen Film Manufacturing Consent. Noam Chomsky und die Medien zu au~ern, meinte er nur: ,Ich kann mir nicht vorstellen, wer jeman­dem eine Stunde lang beim Reden zuhoren will. Aber ich nehme an, die wissen schon, was sie tun." Diese Reaktion - Widerwille gegen Perso­nalisierung politischer und analytischer Themen - ist typisch fur ihn. Genau so typisch ist, dass er trotz dieser Vorbehalte fiinf Jahre lang an den Dreharbeiten zu diesem Film mitwirkte, bis zu dem Punkt, an dem er gesagt hat: ,Mit den Filmleuten fiihlte ich mich wie in diesem einen Film von Antonioni. Immer wenn ich irgendwo an einem Flughafen ankam, warer1 die schon da."

Es wird Noam und vermutlich auch Sie freuen zu horen, dass meine Rede zu seinen Ehren nicht mehrstundig ausfallen wird. Und das ist, neben der Fiille des hier wenigstens ansatzweise vorzustellenden Werks, auch der Grund, weshalb ich keine Verbindungslinie zwischen Noam Chomsky und Carl von Ossietzky ziehen werde. Im Ubrigen war ich mir sicher, dass diese Verbindung im Laufe des Abends benannt werden wurde, so wie Herr Oberburgermeister Schutz es auch getan hat.

Wie Sie vielleicht wissen, war Chomsky, der heute fiir sein Lebenswerk als politischer Analytiker und Medienkritiker ausgezeichnet wird, vor dieser seiner zweiten so genannten ,Karriere" bereits als Sprachwissen­schaftler zu Weltruhm gelangt. Mit seiner generativen Transforma­tionsgrammatik hat er nicht nur die Linguistik revolutioniert, sondern auch der modernen Kognitionswissenschaft ganz neue Wege und Mog­lichkeiten aufgezeigt. Chomskys wissenschaftliches Werk geht der Frage nach, die der gro~e englische Philosoph Bertrand Russell in

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Laud atio auf den Preistragcr Professor D r. Noam C ho msky

seinem Spatwerk gestellt hat: ,Wie kommt es, class die Menschen, deren

Kontakte mit der Welt so kurz und personlich und beschrankt sind, in

der Lage sind, so viel zu wissen, wie sie es tatsachlich tun?"

Chomskys wissenschaftliche Beitrage konnen bier nicht einmal grob

umrissen werden; bier muss die Bemerkung geni.igen, class sie es sind,

die ihm die Anerkennung des offiziellen Amerika eingetragen haben,

und keineswegs das Lebenswerk, fi.ir das er heute bier geehrt wird . Mit

seinen nunmehr i.iber vierzig Jahren politischer Arbeit und Kritik ver­

halt es sich vielmehr genau umgekehrt; sie stellen den klassischen Fall

des Propheten dar, der im eigenen Land nichts gilt. So hat die fi.ihrende Zeitung der USA und vielleicht der Welt, die N ew York Times, Chomsky als einen ,auf beunruhigende Art gespaltenen"

Intellektuellen bezeichnet. Er sei vermutlich der bedeutendste lebende

Intellektuelle der Welt, hief~ es da, und seine wissenschaftlichen und

philosophischen, dem gewohnlichen Publikum kaum begreiflich zu

machenden Beitrage seien absolut brillant. Umso verstorender sei es je­

doch, class ,auf der anderen Seite eine ebenso reichhaltige Sammlung

politischer Schriften" stehe, ,die von jedem, der des Lesens machtig ist,

verstanden werden konnen, aber oftmals hochst argerliche Vereinfa­

chungen bieten. Das ,Chomsky-Problem' besteht darin, zu erklaren,

wie diese beiden Seiten zueinander pass en." Der Schli.issel zu besagtem ,Chomsky-Problem" ist jedoch gar nicht so

schwer zu finden. "Right or wrong, my country" ist die Eintrittskarte

zur offiziellen Kultur der USA und nicht weniger anderer Lander, aber

gerade diese Devise weist Chomsky im Gegensatz zu der New York Times und den grogen Medien in den USA ganz entschieden von sich.

In einer seiner ersten politischen Schriften, dem Mitte der sechziger

Jahre erschienenen Essay Die Verantwortlichkeit der lntellektuellen, schrieb Chomsky: ,Es ist die Verantwortung des Intellektuellen, die

Wahrheit zu sagen und Li.igen aufzudecken." Und manchmal ist die

Wahrheit eben erschreckend ,einfach".

Chomsky, seit fri.iher Jugend Anhanger libertarer und anarchistischer

Ideale, war schon als Schi.iler und Student einige Jahre lang in der links-

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Laudatio auf den Preistrager Professo r Dr. oam Chomsky

zionistischen Bewegung tatig, die fur eine Verstandigung von Juden

und Arabern im Mandatsgebiet des ehemaligen Palastina arbeitete. Es

war aber erst der amerikanische Vietnamkrieg, in dessen Verlauf meh­

rere Millionen Menschen in Indochina und fast 60.000 junge Amerika­

ner star ben, der ihn endgultig in den Strudel des politischen Aktivismus

riss. Die Realitat dieses Krieges, in dem ein kleines Bauernland auf der

anderen Halfte der Erdkugel unter den Schlagen der machtigsten Mili­

tarmaschine, die die Welt je gesehen hatte, buchstablich zugrunde ging,

stellte Chomsky seiner eigenen Auskunft zufolge vor die Wahl, ob er

mit seinen politischen Vorstellungen Ernst machen oder sie nur als an­

genehmes Beiwerk zur Gewissensberuhigung behandeln wollte. Ruck­

blickend hat er dann sogar gesagt, der Beginn seines offenen Wider­

standes gegen diesen Krieg sei ,vie! zu spat" gekommen, namlich

,nachdem die USA Sudvietnam angegriffen hatten, in einer Aggres­

sion, die wir ethnische Sauberung nennen, wenn andere es tun".

Wie die US-Armee vorging, urn die gegen ein korruptes Terrorregime

kampfenden Guerillas zu zerschlagen, die die Unterstutzung der Mehr­

heit der Bevolkerung genossen und sich daher in dieser wie der sprich­

wortliche ,Fisch im Wasser" bewegen konnten, kommt anschaulich im

Bericht eines US-Piloten zum Ausdruck, den Chomsky in seinen Vorle­

sungen zu Ehren Bertrand Russells, Uber Erkenntnis und Freiheit, zi­

tiert: ,Da unten hat man ganz schon solide Vietconggebiete, wo man von

jedem annehmen kann, class er ein Feind ist. Wissen Sie, die Schwadron,

die vor uns in Vietnam stationiert war, bestand a us wild en Burs chen. Ein

Hubschrauber flog voraus, und wenn die Leute dann losrannten, wur­

den sie vom zweiten Flugzeug beharkt." Wie sich die Bilder gleichen

konnen, auch uber einen Zeitraum von vierzig Jahren hinweg und tiber

eine Entfernung, die so grog ist wie die zwischen Vietnam und dem Irak.

Die zwischen diesen Bildern liegenden Ereignisse haben Chomsky Ieider

keinen Anlass gegeben, seine politische Aktivitaten wieder ad acta zu le­

gen oder auch nur in ihnen nachzulassen.

So hater Anfang der sechziger Jahre eine Entscheidung getroffen, die

den Verzicht auf vieles erforderte, was ihm wichtig war: auf einen Teil

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seines Familienlebens, auf Lehr- und Forschungsinteressen und auf das aktive Verfolgen vieler wissenschaftlicher Gebiete im weiteren Um­kreis der Linguistik. ,Ich war mir sehr wohl im Klaren dari.i ber, was das bedeutete", hat er dari.iber spater gesagt. ,Es ging nicht darum, gele­gentlich mal einen Fu~ ins Wasser zu setzen, dabei ein bisschen nass zu werden und sich dann wieder davon zu machen. Man wird immer tie­fer und tiefer hinein gezogen. Und ich wusste, ich wi.irde dabei Privile­gien und Autoritaten angreifen", mit all den Konsequenzen, die dies haben wiirde. Aber es nicht ZU tun, ware, so Chomsky, ,hoffnungslos unmoralisch gewesen".

Fi.ir Chomsky begann damit ein Leben, das er folgenderma~en be­schreibt: ,Das waren ziemlich hektische Zeiten. Ich hielt oft mehrere verschiedene politische Reden pro Tag an unterschiedlichen Orten, wurde verhaftet, ging zu Treffen i.iber gewaltfreien Widerstand und an­dere Themen, unterrichtete meine Klassen und Seminare, spielte mit meinen Kindem und so weiter. Ri.ickblickend kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie all das moglich war." Dieses Leben gleicht demje­nigen, das er auch heute noch fi.ihrt, ziemlich stark, au~er class er - den­ken wir an De Gaulles Ausspruch i.iber Sartre: ,,Voltaire verhaftet man nicht!" - heute seltener festgenommen wird und inzwischen nicht mehr mit seinen Kindem, sondem mit seinen Enkeln spielt. In seinen Vortragen, Essays und Bi.ichem aus dieser Zeit hat Chomsky sich unermi.idlich bemi.iht, die institutionellen Grundlagen grausamer Vorgehensweisen wie derjenigen der USA in Indochina und anderswo freizulegen. Und genau diese Analysen sind es, die von Zeitungen wie der New York Times und anderen Medien, im Ubrigen nicht nur in den USA, sondem auch in Europa, bis heute als so ,hochst argerliche Ver­einfachungen" abgetan werden. Ironischerweise belegt Chomsky dort etwas, was heute, in den Zeiten der neoliberalen Globalisierung und der allseits propagierten Notwendigkeit der Allmacht und der moglichst ungehemmten Herrschaft der Gro~konzeme !angst als alter Hut und nicht mehr zu beweisende Wahrheit gilt: Die Staaten des Westens wer­den keineswegs, wie es ihr ideologischer Anspruch ist, demokratisch

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von ihrer Bevolkerung regiert, sondern sie stehen im Dienst gewaltiger Konzentrationen wirtschaftlicher Macht, die imstande sind, die staatli­che Politik in ihrem eigenen Interesse auszuarbeiten und zu lenken.

Wenn Chomsky, wie er es oft getan hat und immer noch tut, die Staats­kritik freiheitlicher und libertarer Geister wie Jean-Jacques Rousseau, Wilhelm von Humboldt und auch Adam Smith und anderer zitiert, ist fur die heutige Zeit also zugleich diese hinter den Staaten stehende, noch starker konzentrierte Macht des Kapitals mit gemeint. Es ist in diesem Sinn zu verstehen, wenn Chomsky seinem noch wahrend der Indochinakriege der USA erschienenen Buch For Reasons of State das Zitat des Anarchisten Michail Bakunin voranstellt: ,Es gibt keinen Schrecken, keine Grausamkeit, kein Sakrileg und keinen Meineid, kei­nen Betrug, keine Niedertracht, keinen zynischen Raub, keine freche Plunderung und keinen schabigen Ven·at, der noch nicht von denVer­tretern der Staaten begangen wurde oder taglich begangen wird, unter keinem anderen Vorwand als jenen dehnbaren Worten, die so bequem sind und doch so schrecklich: ,a us Staatsraison'."

Eine solche Kritik staatlicher, heute im Dienste des Kapitals stehender Machtpolitik, darunter vor allem der Politik seines eigenen Staates, der USA, konnte propagandistisch und plakativ erscheinen, hatte Chomsky sie nicht in Tausenden von Vortragen und Essays und meh­reren Dutzend politischer Bucher mit akribischer Dokumentation be­legt. Dabei hater so unterschiedliche Themen und Konflikte behandelt wie die Mittelamerikapolitik der USA, den Israel/Palastinakonflikt, den indonesischen Volkermord in Osttimor, die morderische Politik der Turkei in ihren kurdischen Gebieten, den volkerrechtswidrigen Angriff der NATO auf Jugoslawien und die Kriegspolitik der Bush-II­Regierung vor und nach den Terroranschlagen vom 11. September 2001. Den moralischen Imperativ, der ihn dabei antreibt, hater 1985 in seinem Buch Vom politischen Gebrauch der Waffen klar dargelegt: Wer mit einem moralischen Anspruch politisch aktiv wird, sollte sich dabei auf das konzentrieren, was er oder sie tatsachlich verandern kann. Und

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das ist sowohl in den USA als auch, und dieser Punkt ist fur uns be­sanders wichtig, in den anderen westlichen industriellen Demokratien ganz uberwiegend, wenn auch nicht ausschlieGlich, die Politik des eige­nen Staates. ,Wenn wir den Dingen ehrlich nachgehen", so Chomsky, , ... zeigt sich, class unsere Rolle bei der Verewigung von Elend und Unterdruckung, sogar von barbarischer Folter und von Massenmord, nicht nur ein bedeutendes AusmaG erreicht hat, sondern auch eine vor­hersagbare und systematische Folge geopolitischer Konzepte und insti­tutioneller Strukturen ist. Man kann nicht in jedem Fall das genaue AusmaG unserer Verantwortlichkeit angeben; aber gleich, ob wir unse­ren Anteil mit 90, 40 oder 2 Prozent beziffern, es gibt diesen Faktor, der uns vor allem deshalb betroffen machen sollte, weil wir ihn unmittelbar beeinflussen konnen."

Urn auf das ,Chomsky-Problem" der New York Times zuruckzukom­men: Noam Chomsky hat in der Tat vielfach sinngemaG und manchmal auch wortlich geauGert, seine politische Theorie, so denn uberhaupt davon die Rede sein konne, passe auf die Ruckseite einer Briefmarke. Wie ein GroGteil der Bevolkerung geht auch Chomsky, sozusagen als Nullhypothese, davon aus, class Machteliten in der Regel im eigenen Interesse handeln, class die groGten Machtkonzentrationen in der heu ­tigen Welt in den transnationalen Konzernen zu finden sind und class diese wiederum nicht hehren Zielen wie Demokratie und Menschen­rechten verpflichtet sind, sondern der Maximierung ihres Gewinns. Dazu bedarf es seiner Ansicht nach in der Tat keiner esoterischen oder postmodernen und sonstigen Theoriekonstrukte, sondern nur eines vorurteilsfreien Blicks auf die Realitat, eines Blicks, der im Prinzip je­dem Menschen zuganglich ist. Den Kult des Expertentums, der bei In­tellektuellen, sei es nun im Medienbereich oder in den Sozialwissen­schaften, aus nur zu durchsichtigen Grunden so beliebt ist, hat Chomsky immer kategorisch abgelehnt. Die Wissenschaft wiederum taugt fur ihn nur zur Erforschung relativ simpler Probleme und stoGt bei komplexen Themen wie etwa der menschlichen Gesellschaft und ihrer moglichen Zukunft rasch an ihre Grenzen. Gerade als Wissen-

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schaftler vertritt Chomsky daher die Auffassung, die eigent!ich fur je­den uberzeugten Demokraten eine Selbstverstandlichkeit sein sollte, namlich class Intellektuelle oder Spezialisten ZU den grundlegenden Fragen von sozialem und politischem Interesse keineswegs einen privi­legierten Zugang haben. In einem seiner vielen Interviews mit seinem Freund David Barsamian vom Alternative Radio in Boulder im mittel­west!ichen US-Bundesstaat Colorado sagt Chomsky: ,Jeder, der an solchen Fragen interessiert ist, kann etwas uber sie herausfinden und sie verstehen, zumindest so weit, wie es notig ist, urn sich innerhalb von Strukturen, wo man Entscheidungen treffen kann, die fur einen selbst wichtig sind, vernunftig ZU verhalten."

Und selbstverstandlich hat die zitierte New-York-Times-Bemerkung uber Chomskys angebliche Vereinfachungen, die im Dbrigen auch in den derzeitigen europaischen Pressekommentaren zu seinem Werk ein starkes Echo findet, noch einen weiteren Hintergrund, namlich Chomskys Kritik an eben diesen Medien. Die Tatigkeit der Medien in den west!ichen Demokratien wirft fur ihn eine Frage auf, die derjeni­gen, die ihn in der Linguistik beschaftigt, ganz genau entgegengesetzt ist: ,Wie kommt es, dass wir, obwohl uns doch eine so uberwaltigende Fulle von Fakten zur Verfugung steht, so wenig uber unsere politische und soziale Welt wissen?" Auch hier sind Chomskys Aussagen, die er in et!ichen, teilweise mit dem Wirtschaftsprofessor Edward S. Herman zusammen verfassten Buchern untermauert hat, gerade fur die Vertre­ter der Medien argerlich einfach. In einem 1992 im Kulturzentrum Rote Fabrik in Zurich gehaltenen Vortrag hat er Mark Twain, der ubrigens ein fruher und radikaler Gegner der amerikanischen imperialen Bestre­bungen war, mit den Worten paraphrasiert: "The genius of the Ameri­can political system is that the people has the right of free speech and the good sense not to use it." - Der Trick am amerikanischen politi­schen System ist, class die Bevolkerung Meinungsfreiheit geniefh, aber wohlerzogen genug ist, keinen Gebrauch davon zu machen. - Wie kommt das? Edward Herman hat zu dieser Frage kurzlich ein pragnan­tes Zitat von Joseph Pulitzer, dem Stifter des beruhmten Preises fur

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Journalism us, angeftihrt, der im Jahr 1904 schrieb: ,Eine zynische, ge­

kaufte, und demagogische Presse wird tiber kurz oder lang eine Bevol­

kerung erzeugen, die ebenso niedertrachtig ist wie sie selbst."

Das ist sicher eine besonders krasse Formulierung, aber heute, genau

hundertJahre spater, ist noch vie! klarer als damals, dass die groBen Me­dien eben nicht einfach neutrale Institutionen sind, die uns informie­

ren, sondern auch groBe Kapitalgesellschaften, die tiber den Anzeigen­

und Werbungsmarkt ihrerseits von anderen GroBkonzernen abhangig

sind. Mit anderen Worten, sie sind selbst, und wir haben es gerade wah­

rend der Pressekonferenz aus Chomskys Mund gehort, Bestandteil der

die Gesellschaft beherrschenden Machtelite, und es ware tiberraschend,

wenn der Output, den sie erzeugen, in gravierender Weise gegen die

Interessen dieser Machtelite verstoBen wtirde, statt vorsorglich diesen

Interessen entsprechend gefi!tert zu werden. Damit liegt zugleich auf

der Hand, warum die Diskussion dieser These solchen Widerwillen

und den regelmaBigen, im Prinzip richtigen, aber inha!tsleeren Hinweis

auslost, die Dinge seien doch ,wesentlich komplexer". Chomskys Kritik an den Verhaltnissen in den USA und den westlichen

industriellen Demokratien richtet sich also gegen die demokratiefeind­

liche Konzentration gesellschaftlicher Macht, sei es in einem autorita­

ren Staat, sei es in GroBkonzernen. In jenem Sonderfall groBer Kapital­

gesellschaften, dem er immer besondere Aufmerksamkeit geschenkt

hat, namlich den Medien, zielt seine Kritik darauf ab, das zu leisten, was

er als ,intellektuelle Selbstverteidigung" bezeichnet hat, namlich auf den Versuch, zu verhindern, dass konzerngelenkte Medien das Be­

wusstsein der Bevolkerung so nach ihrem Bilde formen, wie Pulitzer es

vor hundert J ahren beftirchtet hat.

Als ich diese Laudatio ausgearbeitet habe, wurde mir allmahlich be­

wusst, dass ich immer wieder auf das ,Chomsky-Problem" zurtick­

komme. Ich mochte deswegen amEnde meinerseits die Frage nach dem ,Chomsky-Problem" aufwerfen, die Frage nach der Verbindung zwi­

schen dem Wissenschaftler Chomsky und dem verantwortungsbe­

wussten Intellektuellen und sozialen Aktivisten Chomsky. Chomsky

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steht der Antwort auf diese Frage stets etwas skeptisch gegeni.iber, aber die Kommentatoren, die sein Werk kennen, sehen das ein bisschen an­ders, so auch ich. Ich glaube, class diese Verbindung, wenn sie auch lose ist, besteht. Wir konnen sie im Konzept der menschlichen Natur sehen, das Chomsky mit dem deutschen Sprachwissenschaftler der Romantik Wilhelm von Humboldt teilt. Nach Ansicht beider ist Sprache, und ich verwende hier die Worte von Wilhelm von Humboldt, ,ein Prozess der freien Kreation", der dem Mens chen den ,unendlichen Gebrauch end­licher Mittel" erlaubt. Die menschliche Natur generell charakterisiert von Humboldt mit den Worten: ,Der wahre Zweck des Menschen -nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveranderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die hochste und pro­

portionierlichste Bildung seiner Krafte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlasslichste Bedingung." Es ware verfi.ihrerisch, hier mit den konkreten und immer noch hochst aktuel­len Ideen von Humboldts zur Ausgestaltung dieser Freiheit fortzufah­ren, aber nicht er ist es, der heute hier posthum geehrt wird, sondern der gli.icklicherweise hochst lebendige N oam Chomsky, den ich noch

einmal zitieren mochte, bevor er nachher selbst sprechen wird: ,Es ist meines Erachtens vollkommen richtig, in jedem Aspekt des Lebens die jeweiligen autoritaren, hierarchischen und herrschaftsbestimmten

Strukturen ausfindig zu machen und klar zu umreiGen, und dann zu fragen, ob sie notwendig sind; wenn es keine spezielle Rechtfertigung fi.ir sie gibt, sind sie illegitim und soli ten beseitigt werden, urn den Spiel­raum der menschlichen Freiheit zu erweitern .... Nati.irlich werden cia­mit machtige Institutionen, die Zwang und Kontrolle ausi.iben, in Frage gestellt: der Staat, die keiner Rechenschaftspflicht unterliegenden pri­vaten Tyranneien, die den groGten Teil der einheimischen und interna­tionalen Wirtschaft kontrollieren, und andere, ahnliche Institutionen."

Ich glaube, in den etwa zwanzig Minuten, die ich jetzt gesprochen habe, ist bereits deut!ich geworden, class Chomskys Werk nicht nur enorm umfangreich, sondern auch auGerordentlich vielseitig und viel­faltig ist. Dies ist in so hohem MaG der Fall, class dem Vernehmen nach

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zeitweise das Gerucht in Umlauf war, es musse mindestens zwei C homskys geben, zum Beispiel einen, der politisch arbeitet und einen, der Linguistik treibt. Da ich Chomsky selbst inzwischen schon mehr­mals getroffen und mit ihm uber eine Reihe verschiedenster Dinge ge­sprochen und korrespondiert habe, kann ich Ihnen jedoch versichern, class Sie den richtigen Mann vor sich haben und kein Double, und class er all die Dinge, die ihm heute Abend angelastet werden, tatsachlich ge­tan hat, und noch einige mehr.

A ls jemand, der Noam Chomskys Tatigkeit seit langem verfolgt hat, hoffe ich, class ihm dafur noch viele weitere Jahre bleiben, und ich hoffe, class die heutige Feier uns nicht zum Prominentenkult missrat, sondern class Chomskys Botschaft und sein Beispiel bei uns allen an­kommen: Es ist moglich, fur jeden und jede von uns, am A bbau unge­rechter Machstrukturen und an der Erweiterung der Freiheit zu arbei­ten, indem wir die Wahrheit sagen, Lugen aufdecken und die Losung aus den bewegten Tagen der Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg in die Tat umsetzen: ,Wenn euch die Nachrichten nicht gefallen, dann steht auf, tut etwas und sorgt dafur, cl asses andere gibt!"