Ein Klick auf das Druckersymbol startet den Druckvorgang des Dokuments Autor: Schatteburg, Heinrich In: Allgemeine Bauzeitung - 60 (1895); S. 4 - 5; S. 14 -19; S. 27 - 30 Über die Schönheit in der Architektur Der Begriff »Schönheit« ist ein unbestimmter Begriff und deshalb von je eine grosse Streitfrage der Philosophen gewesen; er wird es auch für die Folge wahrscheinlich bleiben, wenn man auch noch so sehr sich abmühen wird, eine genaue Erklärung dafür zu suchen. Dieser Umstand schliesst aber nicht aus, dass man es unternehmen dürfte, dem Wesen der Schönheit so viel als möglich nachzuforschen. Denn wenn man auch bei dieser Vorsehung nicht die Schönheit in ihrer Ganzheit wird erforschen, wird in Worte kleiden können, so bleibt es doch nicht ausgeschlossen, einige besondere Eigenschaften der Schönheit dabei zu entdecken, die dem Künstler als Anhaltspunkte dienen können bei der Herstellung von Schönem. Beobachtungen, Vergleiche, Folgerungen werden es ermöglichen und haben es ermöglicht, eine Anzahl Merkmale der Schönheit festzustellen. Im Folgenden will ich versuchen, diese Merkmale in Bezug auf die Baukunst zu skizziren, so weit dieselben bislang allgemein beobachtet und anerkannt sind. Dass man bei weiterem Forschen in dieser Richtung es noch viel weiter wird bringen können, dafür gibt uns die Musik einen Anhalt. Sie fusst und baut ihre Schöne auf eine grosse Anzahl fest ergründeter und begründeter Formen, die als unumstösslich erkannt und anerkannt als Ausgangspunkte und Anhaltspunkte dem Musik-Komponisten bei der Bildung und Versinnlichung seiner musikalischen Ideen dienen, und die der Entstehung derartiger Schöpfungen des Geistes bisher in keiner Weise hinderlich, sondern förderlich gewesen sind und Resultate ermöglicht haben, die ohne sie vielleicht gar nicht wären erreicht worden, oder höchstens nur von einem oder dem anderen gottbegnadeten seltenen Genius. Dieser Umstand allein schon sollte den Baukünstler veranlassen, auch seinerseits dem Wesen der Schönheit in der Baukunst immer mehr nachzuforschen, nicht allein um sich dadurch das Entwerfen von Kunstgegenständen, die Verkörperung seiner Idee'n zu erleichtern, sondern auch um den immer mehr um sich greifenden Verirrungen in Hinsicht der Bildung von Gegenständen der Kunst entgegentreten und an der Hand genauer Beobachtungen, Forschungen und Vergleiche beweisen zu können, wo Verirrungen sich befinden und wie ihnen auszuweichen ist. Der wahre Künstler bedarf freilich keiner Schönheitsregeln, sie würden, wollte er mit Hülfe derselben zu seinem Ziele gelangen, seinem geistigen Fluge durch das Reich des Schönen nur hinderlich sein, sie würden ihn zu sehr an sein irdisches Dasein, an eine dem Körper des Menschen anhaftende Schwäche erinnern und ihn bleischwer belasten. Solcher Künstler gibt es aber nur wenige und deshalb darf man sich nicht abhalten lassen, Gesetzen nachzuforschen, sie in Worte zu kleiden, Gesetze, die der wahre Künstler unbewusst beachtet, weil sie ihm zur zweiten Natur geworden sind; Gesetze, die aus allen seinen Werken als mahnendes Vorbild herausleuchten und deshalb um so mehr ihr Bestehen beweisen. Der auf Flaschen Schatteburg, Heinrich (1895): Über die Schönheit in der Architektur http://www.cloud-cuckoo.net/openarchive/Autoren/Schatteburg/Schatteb... 1 of 25 29-Apr-15 15:03
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Schatteburg, Heinrich (1895)_ Über Die Schönheit in Der Architektur
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Ein Klick auf das Druckersymbol startet den Druckvorgang des Dokuments Autor: Schatteburg, HeinrichIn: Allgemeine Bauzeitung - 60 (1895); S. 4 - 5; S. 14 -19; S. 27 - 30 Über die Schönheit in der Architektur Der Begriff »Schönheit« ist ein unbestimmter Begriff und deshalb von je eine grosse Streitfrage der
Philosophen gewesen; er wird es auch für die Folge wahrscheinlich bleiben, wenn man auch noch so sehr
sich abmühen wird, eine genaue Erklärung dafür zu suchen. Dieser Umstand schliesst aber nicht aus, dass
man es unternehmen dürfte, dem Wesen der Schönheit so viel als möglich nachzuforschen. Denn wenn
man auch bei dieser Vorsehung nicht die Schönheit in ihrer Ganzheit wird erforschen, wird in Worte kleiden
können, so bleibt es doch nicht ausgeschlossen, einige besondere Eigenschaften der Schönheit dabei zu
entdecken, die dem Künstler als Anhaltspunkte dienen können bei der Herstellung von Schönem.
Beobachtungen, Vergleiche, Folgerungen werden es ermöglichen und haben es ermöglicht, eine Anzahl
Merkmale der Schönheit festzustellen.
Im Folgenden will ich versuchen, diese Merkmale in Bezug auf die Baukunst zu skizziren, so weit dieselben
bislang allgemein beobachtet und anerkannt sind.
Dass man bei weiterem Forschen in dieser Richtung es noch viel weiter wird bringen können, dafür gibt uns
die Musik einen Anhalt. Sie fusst und baut ihre Schöne auf eine grosse Anzahl fest ergründeter und
begründeter Formen, die als unumstösslich erkannt und anerkannt als Ausgangspunkte und Anhaltspunkte
dem Musik-Komponisten bei der Bildung und Versinnlichung seiner musikalischen Ideen dienen, und die der
Entstehung derartiger Schöpfungen des Geistes bisher in keiner Weise hinderlich, sondern förderlich
gewesen sind und Resultate ermöglicht haben, die ohne sie vielleicht gar nicht wären erreicht worden, oder
höchstens nur von einem oder dem anderen gottbegnadeten seltenen Genius.
Dieser Umstand allein schon sollte den Baukünstler veranlassen, auch seinerseits dem Wesen der
Schönheit in der Baukunst immer mehr nachzuforschen, nicht allein um sich dadurch das Entwerfen von
Kunstgegenständen, die Verkörperung seiner Idee'n zu erleichtern, sondern auch um den immer mehr um
sich greifenden Verirrungen in Hinsicht der Bildung von Gegenständen der Kunst entgegentreten und an der
Hand genauer Beobachtungen, Forschungen und Vergleiche beweisen zu können, wo Verirrungen sich
befinden und wie ihnen auszuweichen ist.
Der wahre Künstler bedarf freilich keiner Schönheitsregeln, sie würden, wollte er mit Hülfe derselben zu
seinem Ziele gelangen, seinem geistigen Fluge durch das Reich des Schönen nur hinderlich sein, sie
würden ihn zu sehr an sein irdisches Dasein, an eine dem Körper des Menschen anhaftende Schwäche
erinnern und ihn bleischwer belasten. Solcher Künstler gibt es aber nur wenige und deshalb darf man sich
nicht abhalten lassen, Gesetzen nachzuforschen, sie in Worte zu kleiden, Gesetze, die der wahre Künstler
unbewusst beachtet, weil sie ihm zur zweiten Natur geworden sind; Gesetze, die aus allen seinen Werken
als mahnendes Vorbild herausleuchten und deshalb um so mehr ihr Bestehen beweisen. Der auf Flaschen
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gezogene Geist freilich ist unfruchtbar, es fehlt ihm das Belebende. Nur auf individuelles Leben baut sich
Wissenschaft und Kunst auf, und es ist deshalb nicht zu leugnen, dass die wahre Kunst sich nicht allein an
der Hand von Regeln lehren, noch erlernen lasse, doch diese Thatsache schliesst nicht aus, dass dem
forschenden und schaffenden Geiste des Kunstjüngers zur Erreichung seines Zieles, zur Versinnlichung
seiner Idee, diese Regeln als sicherer Führer dienen können und ihm somit die Erlangung des ihm mehr
oder minder unbestimmt vorschwebenden Zieles erleichtern helfen. Wir können deshalb auch nur
Kunstgesetze aufstellen, keine Kunstrezepte.
Die Schönheit ist wie Wahrheit, Güte u. s. w. nur eine geistige Vorstellung, eine Idee, die zum Ideal wird,
sobald sie in eine vollendet ästhetische Vollkommenheit aus der Vorstellung in die Wirklichkeit übergeht.
Das Ideal des Schönen spricht zu unserem Empfindungsvermögen, indem es durch den angenehmen Reiz
seiner Form, den es auf die Sinne ausübt, auf unsere Gefühle einwirkt. Das Schöne ist mithin in seiner W i r
k u n g auf unsere E m p f i n d u n g e n p e r s ö n l i c h, in seiner F o r m s a c h l i c h.
Der Begriff des Schönen wurzelt in unserem Nervengefühl, je feiner dasselbe ist, desto bestimmter tritt das
Schöne in seiner Eigenart, seinen Eigenschaften uns vor die Seele, desto inniger werden wir mit seinem
Wesen vertraut.
Die Physik (Optik) hat nachgewiesen, dass ebenso wie bei der Musik auch hier die Gesetze des
harmonischen in einem feinen Nervengefühl beruhen, dass die Gliederungen eines Hauses, einer Säule,
wenn wir von Verhältniss, Ebenmaass u. s. w. sprechen, in einem bestimmten Zahlenverhältniss zu einander
stehen. Das ästhetische Gefühl wird daher gleichsam zum Gefühl mathematischer Gesetze, die wir
allgemein in den Farben (Malerei), in den Gestalten der Architektur, in den Tönen (Musik) wahrnehmen. Wir
empfinden naturgemäss Befriedigung, wenn zusammenstimmende Erscheinungen auf unsere Sinne
einwirken. Die wahre Kunst trägt maasslos ihr Maass in sich.
Das Schöne wirkt also auf das Gemüth und stammt aus dem Gemüht, wird von den verschiedenen
Menschen verschieden empfunden, verschieden gegeben, setzt uns also auch in verschiedenartige
poetische Stimmung je nach unseren mehr oder minder entwickelten Sinnesorganen.
Schön ist mithin eine Form, sobald sie auf uns einen uns angenehm erregenden Eindruck hervorbringt,
einen hohen Grad angenehmer Gefühlserregung zu erzeugen vermag. Dass eine Form angenehm ist, das
reicht aber allein noch nicht aus, sie als schön zu empfinden; denn wenn auch eine angenehme Form auf
unser Gefühl erfreuend einwirkt, einen wohlthuenden Reiz auf dasselbe ausübt, so setzt sie uns doch nicht
in jene gehobene, ästhetische, zur Beifallsbezeugung zwingende Stimmung, wie das Schöne. Das höchste,
seligste Gefühl überkömmt uns erst, wenn das Angenehme mit dem Schönen sich vereint, wenn wir uns zur
Zeit der Betrachtung in einer solchen Stimmung befinden, die mit dem Angenehmen einer Form gleichzeitig
übereinstimmt, für dasselbe empfänglich ist.
Die Form kann aber nie ohne Stoff gedacht werden; da nun aber die Stoffgattungen verschieden sind, so
müssen auch die Formen unter gleichen Umständen verschieden sein, wenn anders das Schöne vollständig
erreicht sein soll; die Schönheit der Form muss eben mit der Gattung des Stoffes im Einklange stehen. Die
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besonderen Eigenschaften eines Stoffes müssen also in irgend einer Weise auf die Formbildung von
Einfluss sein.
Welcher Art nun aber ein Künstler seine Idee verwirklichen wird, das ist seine Sache, es beruht auf der Kraft
seines Genies, weshalb bei den verschiedenen Künstlern die Darstellung desselben Gegenstandes
verschieden ausfällt. K u n s t schafft eben von innen heraus, a u f s i c h g e s t ü t z t, o h n e R ü c k s
i c h t a u f s c h a b l o n e n h a f t e U e b e r l i e f e r u n g u n d P i e t ä t, darin liegt eben ihr Werth
und Wesen. Ein Styl lässt sich nicht erjagen oder fabriziren, ein Styl will e r f ü h l t sein.
Styl ist ein Stück vom Herzen des Künstlers, der ihn schuf, und kann sich mithin nur vom Herzen aus
entwickeln. Deshalb sind auch Style - im weitesten Sinne genommen - so mannigfaltig wie die Künstler, und
müssen wir etwas als stylvoll bezeichnen, wenn es in allen seinen Einzelheiten in gleicher Weise den
denkenden Geist des Künstlers uns erkennen lässt und das Ganze uns den Künstler in seiner Eigenart - das
heisst nicht Unart - erkennen lässt.
Je vollkommener nun aber ein Künstler seine Empfindung über einen Gegenstand, der einem bestimmten
Zwecke dient, darzustellen im Stande ist, um so schöner, einheitlicher wird das Ganze in die Erscheinung
treten und Gefühle hervorrufen, die allgemeine Anerkennung finden. Das Empfindungsvermögen des
Beschauers wird eben durch die Schönheit der Form auf angenehme Weise in Thätigkeit versetzt und der
denkende, vergleichende, untersuchende Verstand wird durch die sinnreiche Darstellung in jeder Weise
befriedigt.
Soll aber bei einem Bauwerke von Schönheit gesprochen werden können, so darf diese nicht allein aus den
Formen hervorleuchten, sondern auch aus dem organischen Zusammenhange der Einzeltheile desselben,
daraus, ob es fest und dauerhaft erbaut ist, seinem Zwecke vollkommen entspricht und aus der
Ausdrucksweise seiner Darstellung. Zu letzteren gehören: Mannigfaltigkeit in der Gruppirung,
Ungezwungenheit in der Bewegung der Formen, angenehme Gegensätze, richtige Wahl der Verhältnisse,
gute, nicht übertriebene Anordnung von Verzierungen, möglichst edle Stoffe, Farbenwechsel u. s. w. Die
Schönheit der Form ist nun aber bei einem Bauwerke in allen ihren Einzelheiten nicht so leicht zu erlangen,
als es auf den ersten Blick scheinen mag, sie verlangt vielseitige Beachtung.
Die Schönheit der Form muss stets mit Fehlerlosigkeit verbunden sein. Dieselbe findet statt, wenn folgende
Eigenschaften vorhanden sind:
1. D i e D e u t l i c h k e i t. Die Formen sollen den Gegenstand, welcher dargestellt werden soll, leicht und
deutlich erkennen lassen. Dieses ist z. B. der Fall, wenn der Unterbau verhältnissmässig zum Oberbau
genügend massig und schwer erscheint, somit das Tragen einer Last andeutet; wenn ferner das ganze
Gebäude mitsammt seinen Einzelheiten demselben Style angehört und den Zweck des Gebäudes erkennen
lässt. Deutlichkeit ist nicht vorhanden, wenn z. B. halbrunden Säulen vor der Mauer vortreten, die nicht
erkennen lassen, welchem Zwecke sie dienen, ob dem der Mauerverstärkung oder einem anderen
konstruktiven, oder dekorativen Zwecke.
2. D i e K l a r h e i t, die mit ersterer eng zusammengeht. Sie betrifft mehr den Schmuck eines
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Kunstgegenstandes, der ebenso den Zweck des Gegenstandes deutlich hervorheben soll.
3. D i e O r d n u n g, die gesetzmässige Zusammenstellung der Theile zu einem Ganzen für einen
bestimmten Zweck. Die einzelnen Theile der Formen müssen so zusammenstehen, dass daraus eine
Begründung ihrer Vertheilungsweise hervorleuchtet, wie z. B. aus der Reihenfolge, Fuss, Schaft, Kapitäl
oder Unterbau, Aufbau, Bekrönung. Dieses ist gleichsam eine Ordnung in der Formbildung, die ein
organisches Aufsteigen und Uebergehen vom Schweren zum Leichten bekundet und Prinzip und Zweck
ihrer Vertheilung deutlich erkennen lässt.
4. D i e r i c h t i g e D a r s t e l l u n g s w e i s e n a c h g e i s t i g e m B e g r i f f, welche den Sinn
des beabsichtigten Zweckes deutlich erkennen lässt. Diese Eigenschaft muss jede Konstruktion, jede
Verzierung deutlich erkennen lassen, jedes Nachdenken über den der Form zu Grunde liegenden Gedanken
muss überflüssig sein. So muss die Form der Gesimse und ihrer einzelnen Glieder je nach ihrer Lage das
Fussen, Gurten, Bekrönen u. s. w. deutlich erkennen lassen.
Dies gilt auch von jedem an irgend einer Stelle angebrachten Schmuck. Derselbe muss so dargestellt sein,
dass man daraus erkennt, weshalb er hier und nicht anderswo vorhanden ist. Also Zweck der Verzierung
und geistiger Sinn der Form müssen zusammenpassen.
5. D i e A n g e m e s s e n h e i t. Dieselbe ist vorhanden, wenn der Gegenstand so dargestellt ist, als es
dem Zwecke entspricht, das heisst in seiner Ausführungsweise nicht über die durch den Zweck des
Gegenstandes gesteckten Grenzen hinausgeht. Es soll also hierin nicht zu viel geschehen sein, aber auch
nicht zu wenig. Es kann ein Gebäude in dieser Hinsicht ebenso gut zu reich als zu armselig erscheinen,
sowohl zu würdevoll als zu heiter. Es ist das eben Sache des feinen Gefühls des Entwerfenden, die richtigen
Grenzen inne zu halten, und es wird hier leider oft über die Grenzen hinausgegangen, sei es in der
Mannigfaltigkeit und Anzahl des Gebotenen, sei es in dem den Gesimsen, der Behandlung der Wandflächen
u. s. w. zu Grunde gelegten Grössenmaassstabe. Hier wird das Gebäude entgegen seiner Bestimmung zu
reich gehalten, dort zu derb charakterisirt, hier zu bunt, dort zu eintönig u. s. w. Hier werden Gegenstände
der Einzelarchitektur angebracht, wo sie nicht hingehören, dort lässt man sie fehlen, wo sie nothwendig
wären.
6. D i e N a t ü r l i c h k e i t a l s E i g e n s c h a f t d e r W a h r h e i t. Wo letztere nicht voll und ganz
vorhanden ist, sich nicht in ihrer ganzen Macht dem Auge des Beschauers aufdrängt, da ist die Schönheit
geschädigt. Das Auge sucht eben die Natürlichkeit, soweit es dieselbe täglich an den es umgebenden
Naturerzeugnissen zu sehen gewohnt ist. Hauptsächlich charakterisirt die Natürlichkeit sich durch den
organischen Zusammenhang der Einzeitheile eines Ganzen unter sich, so dass das Auge die Uebergänge
von dem einen zum andern als ebenso naturgemäss empfindet, wie bei einem Naturerzeugniss.
Ein solcher Organismus muss sichtbar die Nothwendigkeit des Vorhandenseins, des Vorhergehenden und
des Folgenden in seiner Form, Stellung, Grösse u. s. w. in sich schliessen. Es muss gleichsam der eine
Theil um des anderen willen vorhanden sein und zwar so, wie er vorhanden ist und nicht anders, so dass
das Eine zur Vervollkommnung des Anderen dient; das Bedürfniss muss sichtbar hervortreten, denn eben in
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der Erfüllung des sichtbaren Bedürfnisses ist die Schönheit mitbegründet.
(Fortsetzung folgt.)
ÜBER DIE SCHÖNHEIT IN DER ARCHITEKTUR
Von H. Schatteburg. (Fortsetzung.)
Die hierdurch erzielte Einheit des Ganzen muss aber auch in Bezug auf die Umgebung vorhanden sein.
Hierzu tritt schliesslich noch
7. D i e K ü r z e u n d d i e V o l l s t ä n d i g k e i t. Diese beiden sollen erst das ganze Werk vollenden,
indem die Kürze alles Ueberflüssige beseitigt, die Vollständigkeit das Fehlende ergänzt; die Kürze verhütet
mithin die Ueberladenheit, die Vollständigkeit den Mangel, die Unfertigkeit. Hauptsächlich betrifft dieses den
ornamentalen Schmuck eines Gebäudes, in dem einzeln wohl zu wenig, öfter aber zu viel gethan wird.
Diese sieben Eigenschaften sind als zur Schönheit der Gesammtform beitragend durch die Fehlerfreiheit
bedingt; andere spezieller durch die Schönheit der Einzelform bedingte Eigenschaften sind die
Mannigfaltigkeit, Leichtigkeit, der Gegensatz, Licht und Schatten, das Anziehende.
Die M a n n i g f a l t i g k e i t verschafft eine angenehme Abwechselung, die freilich nicht zu weit getrieben
werden darf, da sie sonst Unruhe verursacht, wogegen, wenn sie sorgsam ausgewählt und nur dort
angebracht wird, wo die Hebung der Gesammtwirkung es erfordert, wenn sie nur die Einförmigkeit aufheben
soll, sie eine sanfte, angenehme Bewegung der Gefühle hervorruft. Sie kann bestehen in einer
wohlthuenden Abwechselung des Einzelnen mit dem Gruppirten, des Glatten mit dem Rauhen, des Eckigen
mit dem Runden, des Einfachen mit dem Verzierten, des Hellen mit dem Dunkeln u. s. w.
Zur Wahrung der Ruhe muss das Einzelne, das Glatte, das Eckige (Ebene), das Einfache und das Helle in
weit grösserer Ausdehnung angeordnet werden, als das Gruppirte, Rauhe, Runde u. s. w., denn letztere
ziehen durch ihre Eigenartigkeit das Auge zu sehr auf sich, ermüden dasselbe durch die in Folge des
Anblickes verursachte Anstrengung und machen es nicht genügend empfänglich für die Erzeugung eines
wohlthuenden Eindruckes, der eben mit durch das Glatte, Ebene, Helle u. s. w. hervorgerufen wird.
In dieser Hinsicht weicht freilich das Urtheil des Publikums hinsichtlich der Schönheit eines Bauwerkes am
meisten ab, und zwar je nach der Empfänglichkeit des Gefühles für derartige Eindrücke. Was dem Einen
noch ruhig und dabei anziehend, prickelnd durch die Mannigfaltigkeit erscheint, das bemerkt der Andere
bereits als Unruhe.
Die L e i c h t i g k e i t erkennt man an dem Ausdrucke des Freundlichen, Heiteren u. s. w., sie wird
hervorgebracht durch schöne und leichte Gruppirung, wohlgefälliges Verhältniss der Oeffnungen und
Massen, Verschiedenheit der Form und nicht zuletzt dadurch, dass die Theile der Form derart zu einem
Ganzen verbunden sind, dass sich weder Zwang, noch gewaltsames Zusammenfügen bemerkbar macht.
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Dass die Oeffnungen dem Raume entsprechend gross sein müssen, ist erste Bedingung des Schönen, ihr
Wohlverhältniss zu den Massen liegt etwa zwischen den Verhältnissen 1 : 2 bis 1 : 4; je leichter, luftiger,
zierlicher die Erscheinung sein soll, desto mehr nähert sich das Verhältniss der Oeffnungen zu den Massen,
dem Verhältniss 1 : 2, je monumentaler, desto eher dem Verhältniss 1 : 4.
Die Verbindung der grösseren Einzeltheile zu einem einzigen Ganzen muss zwanglos, organisch entwickelt
erscheinen; es darf nichts Zusammengepresstes sich bemerkbar machen. So müssen deshalb auch Risalite
und Rückfronten, Massen-Höhen und Breiten zur Geschosshöhe in gutem Verhältnisse stehen.
Besonders dürfen die Stockwerkshöhen nicht zu niedrig sein im Vergleiche zu den Höhen der
Zwischenpfeiler zwischen den Oeffnungen. Zu schmale oder zu sehr getheilte Rückfronten zwischen
Risaliten erscheinen zu gezwungen, zu sehr zusammengedrängt, so dass nicht, wie es wünschenswerth
wäre, jeder Theil für sich klar hervortritt, das heisst ohne dadurch an seinem Beitrage zur Gesammtwirkung
etwas zu verlieren.
Wir kommen jetzt zu einem der wichtigsten Mittel, die wir zur Hebung der Wirkung eines Bauwerkes, zur
Klärung der Einzelwirkung und der Gesammtwirkung, zur klaren Versinnlichung des Schönen anwenden, es
ist dieses Mittel:
Der G e g e n s a t z. Die Wirkung zweier oder mehrerer Gegenstände von verschiedenartiger
Beschaffenheit auf unser Empfindungsvermögen bezeichnet man mit Gegensatz. Diese Wirkung kann eine
angenehme und eine unangenehme sein, je nachdem die an Form, Farbe oder Grösse verschiedenen
Gegenstände eine einheitliche oder auseinandergehende Erscheinung bieten. Erstere ist vorhanden, wenn
beide Gegenstände in ihrer Eigenart sich nicht zu scharf von einander absondern und die Vermittelung
zwischen beiden in einer wohlgefälligen Uebereinstimmung steht; letztere hingegen, wenn ihre Eigenarten
sich schroff, grell gegenüberstehen, kein vermittelnder Uebergang vorhanden ist. Der Eindruck ersterer ist
ein bleibender, weil angenehm, der letzterer nicht, da er plötzlich auftritt und unangenehm berührt.
Ihrer grossen Wirkung wegen bieten diese Gegensätze die Hauptmittel zur Erreichung des Schönen. Die
Architektur, Bildnerei und die Malerei haben ihre verschiedenen Gegensätze, die hier, hinsichtlich der
Anwendung von Licht und Schatten, auf die es zur Verständlichung der Plastik ankommt, gleichwerthig sind.
Auch die Musik und Poesie wirken durch Licht und Schatten, aber in anderer Weise.
Die Gegensätze, welche für uns hauptsächlich in Betracht kommen, sind die folgenden:
1. Der Gegensatz durch die Symmetrie mit der Unsymmetrie,
2. Der Gegensatz durch die Ruhe mit der Bewegung der Form,
3. Der Gegensatz durch die Vor- und Rücksprünge,
4. Der Gegensatz durch die Ornamente mit dem Ornament losen,
5. Der Gegensatz durch die Stoffe untereinander,
6. Der Gegensatz durch die Farbe,
7. Der Gegensatz durch die das Gebäude mit seiner Umgebung.
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Der Gegensatz durch die Symmetrie mit der Unsymmetrie
Die Symmetrie besteht in dem Gleichsein zweier Hälften eines Ganzen bei lothrechter Theilung. Dieselbe
erleichtert die Auffassung, die Aufnahme der Wirkung des Gegenstandes im Gefühle, aber sie übt nicht den
Reiz auf den Beschauer aus, wie die Unsymmetrie. Sie hat jedoch in Bezug auf die Darstellung des
Schönen besonders dann etwas vor der letzteren voraus, wenn sie Ruhe bewirken soll dort, wo ohne sie
Unruhe herrschen würde, z. B. in den Strassen einer Stadt mit aneinander gebauten Häusern und deren
verschiedenartiger Behandlung, was die Art des Styls, Einfachheit und Reichthum anbetrifft. Hier würde
ohne sie ganz gewiss Unruhe in der Gesammtwirkung herrschen, die Wirkung auf unsere Gefühlsnerven
bedeutend beeinträchtigen. Erst durch die Symmetrie, welche die eine Hälfte des Bauwerkes auf die andere
zurückverweist, entstehen gleichsam feste Anhaltspunkte der Gesammtanlage für den Beschauer und
verursachen daher Ruhe. Der Beschauer wird an den einzelnen Punkten gleichsam zur Einzelbetrachtung
eingeladen und bekommt so nach und nach eine Idee von der Gesammtwirkung - wo von einer
Gesammtwirkung die Rede sein kann - wenn auch einzelne Gebäude durch ihre Eigenart, Grösse,
Reichthum u. s. w. den Beschauer ganz besonders in Anspruch nehmen.
Freilich kann bei einem freistehenden Wohngebäude auch die Unsymmetrie Unruhe hervorrufen, das heisst,
wenn die nächste Umgebung desselben ebenfalls sehr auffällige Unregelmässigkeiten zeigt und das
Gebäude mit der Umgebung in nächster Nähe in Wettstreit tritt hinsichtlich der durch die
Unregelmässigkeiten hervorgerufenen Bewegung und somit das Auge des Beschauers überall angelockt
wird, ohne einen Ruhepunkt zu finden. In solchem Falle wird die r e g e l m ä s s i g e, zunächst auf sich
Bezug nehmende Anlage angenehme Ruhe hervorrufen.
Aus dem Gesagten leuchtet hervor, dass zu viel Unsymmetrie die Wirkung des Gesammten beeinträchtigen
k a n n, desgleichen auch zu viel Symmetrie. Aber beide, in richtig gewürdigtem Verhältnisse vereint, heben
(Ruhe) Unruhe und Langeweile auf und machen die Wirkung angenehm.
Das Vortreten und Zurücktreten der Gebäudeflächen wird dabei durch die Abwechselung mit zur Hebung
der Gesammtwirkung beitragen, besonders aber, wenn die Ausstattung derselben entsprechende
Gegensätze aufweist. Kann dabei noch auf eine geschmackvolle Gruppirung mehrerer aneinandergebauter
Häuser beim Entwerfen Rücksicht genommen werden, so lässt sich die Wirkung der Strasse wesentlich
erhöhen; statt einer langgestreckten Häuserreihe empfängt nun das Auge den Eindruck einer bewegten und
anregenden Gesammtanlage, geschmückt mit reichen, perspektivischen Bildern. Zu grosse Verschiedenheit
kann aber auch hier nachtheilig wirken und ist hier weniger am Platze als gleichmässige Abwechselung.
Die ganze zu einem Gesammtbilde vereinigte Architektur mit Umgebung kann unsymmetrisch wirken, wenn
auch die einzelnen Bestandtheile symmetrisch sind, aber die Symmetrie des ganzen Bildes erfordert die
Symmetrie der einzelnen Bestandtheile.
Bei freistehenden Wohngebäuden ist im Allgemeinen wegen des angenehmen Gegensatzes mit der
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Umgebung die Unsymmetrie eher am Platze - abgesehen von oben erwähntem Fall - weil Symmetrie in der
Anlage hier Langeweile, Einförmigkeit hervorrufen konnte. Der Gegensatz zwischen der natürlichen und der
künstlichen Anlage kann hier fast zu grell erscheinen und mithin störend wirken. Solche Gebäude sollen im
Gegentheile einen wohlthuenden Reiz auf den Beschauer ausüben, wobei die Umgebung die Wirkung des
Gebäudes auf den Beschauer erhöht.
Bei jedweder Art der Umgebung kann jedoch die Unsymmetrie selbst nicht am Platze sein. Ist die nächste
Umgebung z. B. ein grosser symmetrisch angelegter Garten, so würde hier entschieden die Unsymmetrie
unangenehm wirken, da die symmetrische Anlage des Gartens zu sehr das Gefühl des Beschauers
beeinflusst, als dass nicht eine Unsymmetrie des Gebäudes bei ihm eine unangenehme Empfindung
hervorrufen würde.
In diesem Falle wirkt dann die volle Symmetrie besser oder wenigstens eine theilweise. Die
unregelmässigen freien Formen der Naturerscheinungen machen es nothwendig, dass zur Bildung eines
verschmelzenden Gegensatzes zwischen ihr und der Kunst eine gewisse Regelmässigkeit, Symmetrie,
vorhanden sei, um einen Uebergang, eine allmälige Vereinigung der künstlerischen Form mit der freien
Natur zu erreichen.
Dass ganz regelmässige Anlagen bei freistehenden Bauten auch sehr am Platze sind und sich sehr schön
mit ihrer nächsten Umgebung zu einem wohlthuenden Gesammtbilde vereinigen können, das beweisen die
römischen, die italienischen und französischen Villen, welche, grösstentheils in strenger Regelmässigkeit
erbaut, mit den umgebenden, regelmässig angelegten Gärten einen angenehmen Gegensatz bilden.
Letztere haben durch ihre Anlage, durch ihre beschnittenen Bäume u. s. w. das rein Natürliche, frei Bewegte
verloren und bilden die Vermittelung zwischen den nach strengen Gesetzen der Architektur gebildeten Villen
und Landhäusern und der weiter entfernt liegenden, freibewegten Natur. Die freien Formen der Naturgebilde
sind hier in den Gärten durch die Kunst in bestimmte Formen hineingezwungen und in vollständiger
Regelmässigkeit angeordnet. Hier ist also nur noch der Gegensatz zwischen der strengen Architektur und
der regelmässigen Naturerscheinung vorhanden ohne Freibewegung der letzteren und letztere leitet durch
ihre Uebereinstimmung der Gegenstände als solche zu der entfernten, aber freibewegten Natur hinüber.
In Gegensatz hierzu treten die englischen Landhäuser, welche ohne besondere Vermittelung unmittelbar zu
der sie umgebenden Natur überleiten. So ungezwungen und frei die letztere ist, so erscheinen auch die
Landhäuser frei gruppirt, mit Terrassen, Lauben, Säulengängen u. s. w. verziert, und vermitteln durch ihre
freie Gruppirung selbst sofort den Uebergang zu der Natur. Das Beschauerauge findet keine Härte in dem
Gegensatze zwischen Natur und Kunst, sondern ist angenehm berührt von den vielen wechselnden
Unregelmässigkeiten, die fortwährend Neues bieten; es empfindet keine Langeweile, sondern stets neue
Anregung zur Freude. Nicht wenig mag hier zu der Annehmlichkeit des Gegensatzes zwischen der Natur
und der Kunst der Umstand beitragen, dass die englischen Landhäuser, wenn auch oft vielfach gruppirt, so
doch meist sehr einfach in der Durchbildung, soweit letztere ornamentalen Schmuck betrifft, gehalten sind.
Es erscheinen die Landhäuser gewissermassen aus dem Boden mitsammt ihrer Umgebung
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herausgewachsen, als zu derselben gehörig, und gehen wie aus einem Gusse mit ihnen zusammen.
Derartige Anlagen mitsammt ihrer Umgebung verlieren für den Beschauer nicht sobald den Reiz als die
vorerwähnten symmetrischen Landhäuser mit ihren symmetrischen Gartenanlagen.
Die ästhetische Wirkung u. s. w., die durch den Gegensatz des Unsymmetrischen mit dem Symmetrischen
hervorgerufen wird, besteht in der Abwechselung der Unsymmetrie im Grossen und Ganzen, mit der
Symmetrie im Einzelnen, und zwar in wohlthuender Weise, so dass unser Gefühl angenehm erregt wird.
Der Gegensatz, welcher durch die Ruhe mit der Bewegung der Form erzeugt wird
Dieser Gegensatz ist von grosser Bedeutung für die Architektur, er gründet sich auf die Gruppirung und
Verzierung mit Berücksichtigung des Einfachen, des Glatten; er entsteht aus der einheitlichen
Abwechselung des Hohen und Geschmückten, sowie des Vortretenden mit dem Niederen, dem Einfachen
und dem Zurücktretenden.
Der Gegensatz besteht in mehrfachem Formenwechsel hinsichtlich der Grund- und Höhenformen, dem
Wechsel, dem Schmuck und der Verzierung, der Gruppirung in der Abstufung des Gebäudeabschlusses, im
Wechsel der Form derselben, im Wechsel der Oeffnungen und Massen nach verschiedenen Formen und
Grössen u. s. w.
Damit das Auge des Beschauers die sich ihm aufdrängenden Gegenstände recht verfolge und ihre Bilder
den richtigen Gesammteindruck auf die Gefühlsnerven zurücklassen, ist es nothwendig, dass das Auge die
Einzeltheile des Gegenstandes der Reihe nach betrachte und aus den darnach zurückgebliebenen
Erinnerungsbildern sich ein Gesammtbild mache. Um aber dieses zu können, ist es nothwendig, dass das
Auge beim Betrachten Ruhepunkte finde an einzelnen, einfach glatten, ö f t e r wiederkehrenden, leicht
aufzufassenden, und gegen benachbarte, zurücktretenden Theilen. D u r c h ü b e r h ä u f t e R e i c h h a
l t i g k e i t u n d M a n n i g f a l t i g k e i t in der Gruppirung und Verzierung wird das Auge zu sehr in
Anspruch genommen, will es die einzelnen Bilder als Erinnerungsbilder festhalten; es wird schliesslich
abgespannt, betrachtet oberflächlich, die Wirkung des einen Bildes schwächt die des anderen, und so
entsteht nicht allein ein unklares Gesammtbild, sondern es bleibt auch ein unangenehmes Gefühl zurück.
Schon im gewöhnlichen Leben wissen wir, dass auf Bewegung Ruhe folgen muss, um wieder Bewegung
vertragen zu können, da sonst die physischen Körperkräfte ermatten. Dasselbe ist auch der Fall in Bezug
auf die geistigen Kräfte.
Bei jedem architektonischen Kunstwerke muss also eine Abwechselung von Bewegung und Ruhe
stattfinden, doch nicht zu oft, nicht in zu kurzen Zwischenräumen, sonst entsteht Unklarheit und gar Unruhe.
Darnach muss das Verhältniss zwischen gruppirten und glatten, reichen und einfachen etwa sein wie 1 : 1
bis 1 : 2, so dass also bei der belebtesten reichsten Ausstattung die Gruppirung und Verzierung höchstens
gleich der glatten und einfachen Fläche sein darf, bei einfacher Anordnung hingegen etwa doppelt so gross
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sein muss. Beim Verhältniss 1 : 1 erscheint demnach ein Gebäude prunkvoll, reich, bei 1 : 2 würdevoll,
einfach, und das Edle, Schöne liegt in der Mitte mit dem Verhältniss von 2 : 3.
Deshalb müssen z. B. Flächen zwischen zwei reicher geschmückten Vorbauten bedeutend breiter (länger)
sein, als diese, damit das Auge behufs Betrachten des einen und des anderen Vorbaues beim Durchlaufen
der Fläche dort Ruhe gewinne, in Folge der dort herrschenden Einfachheit beziehungsweise
Gleichförmigkeit in der Ausführung, in den Fensterlösungen u. s. w. Selbst eine Anzahl Säulen, die zwischen
den Vorbauten vor der Fläche stehen, die gleichsam Säulengänge bilden, wirken durch ihre
Gleichförmigkeit r u h i g und bieten dem Auge E r h o l u n g. Der Reiz, den solche Säulengänge
trotzdem auf den Beschauer auszuüben pflegen, liegt in dem Gegensatze des hinter den Säulen
befindlichen schattigen Raumes und den hellbeleuchteten Massen. Bewegung und Ruhe sind hier klar
dargestellt, ohne das Einheitliche zu verletzen. Die Oeffnungen zwischen den Säulen und die Massen der
Vorbauten bilden einen angenehmen Gegensatz; die gleichförmig reiche Ausschmückung aller Theile des
Gebäudes ergibt die Einheitlichkeit. Die Thätigkeit des Auges beim Betrachten ist eine gleichmässig leichte
und deshalb wohlthuende, die das Schönheitsgefühl des Beschauers angenehm berührt. Weniger
angenehm wird die Anordnung, wenn die Vorbauten sehr einfach gehalten werden und die Zwischenwand
reich durch Säulen geschmückt wird. Hier ist schon der Gegensatz zu hart; die wohlthuende Einheitlichkeit
fehlt.
Bewegung und Ruhe sollen also angenehm abwechselnd angebracht sein, Reichthum und Einfachheit
müssen wechseln, da ersterer nicht entsprechend zur Geltung kommt, nicht hinreichend gewürdigt werden
kann, ohne letztere.
Der Gegensatz der Ruhe mit der Bewegung ist für die Schönheit von zu grossem Einflusse, als dass er nicht
überall, wo thunlich, mit zur Erzielung der Schönheit herangezogen werden sollte; es kann kein Kunstwerk
ohne diesen Gegensatz bestehen, ohne dass diese beiden Gegensätze in angenehm wirkender Form
angebracht sind, und zwar nicht allein wegen ihres Reizes an und für sich, sondern auch wegen ihrer
Eigenschaft der Klärung der Vorstellung vom Kunstwerk, wie vorhin angedeutet.
Weit wichtiger aber als dieser Gegensatz, weit wirkungsvoller in Bezug auf die Gesammtwirkung und meist
mit weniger Mittel erreichbar ist
Der Gegensatz, der durch die Vor- und Rücksprünge erreicht wird
Die Vor- und Rücksprünge zertheilen die Ansichten der Gebäude in angenehmer Weise und können bei
richtiger Formung und Grösse ästhetische und angenehme Gegensätze erzeugen. Sie heben das
Langweilige einer glatten Ansicht auf, schaffen Abwechselung für das ästhetische Gefühl, indem sie durch
verschiedene Breiten und Höhen, durch verschiedene Ausbildung, durch Vor- und Rücktreten dem Auge des
Beschauers Abwechselung in verschiedener Weise bieten. Besonders ist diese Unterbrechung der
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Ansichtsflächen bei sehr langer Ausdehnung wünschenswerth, doch darf sie nicht zu oft geschehen.
Zur Erreichung des Zweckes genügt hier schon das Vor- und Zurücktreten an sich ohne Schmuck, ja dieses
allein wirkt meist auf das Gefühl angenehmer, strengt das Auge und die Gefühlsnerven nicht so an, als wenn
noch reicher Schmuck hinzukommt. Dieses beweisen am besten die schon vorerwähnten Landhäuser in
England. Die Vorbauten werden bei diesen meist in der Behandlung bevorzugt, gegenüber den
Zwischenwänden, die eine längere Ausdehnung erhalten und schon dadurch, dass ihr Breitenverhältniss zur
Höhe ein anderes ist, als bei den Vorbauten, eine andere Wirkung auf den Beschauer ausüben. Diese
Wirkungen lassen alle anderen, durch Form und Farbe hervorgerufenen, in den Hintergrund treten.
Die Form der Vorbauten ist gewöhnlich rechteckig, doch wäre hin und wieder die Anwendung runder und
regelmässig vielseitiger Vorbauten besonders bei langen Ansichten recht angebracht, nur darf es nicht zu oft
geschehen, da sonst die Einheitlichkeit mit den Zwischenflächen zu sehr verloren geht. Werden so geformte
Vorbauten nicht in der Mitte angebracht, so erfordern sie meist einen Gegenvorbau. Der Gegensatz, der
durch die Höhengestaltung erreicht wird, indem die Vorbauten höher gemacht werden als die
Zwischenwände, wirkt ebenfalls angenehm, besonders aber dann, wenn die höheren Gebäudetheile in mehr
oder weniger schlanken Spitzen endigen.
Der Grund der angenehmen Wirkung liegt hier darin, dass das Auge durch sie allmälig zur Ruhe der freien
Atmosphäre hinübergeleitet wird, mithin keine schroffen Uebergänge stattfinden. Nur dürfen diese Theile
nicht zu oft im Vergleiche zur Grösse der ganzen Gebäudelänge auftreten, sonst wird das Auge durch sie
wirr. Sie müssen einzeln zur Wirkung kommen, und zwar dort, wo das Gebäude seiner Einrichtung nach
bevorzugte Theile zeigen m u s s und diese nur durch die grösseren Höhen ausgezeichnet werden, und
zwar um so höher, je bevorzugter sie in der Gesammtanlage untergebracht sind.
Sind die Vorbauten mit der Zwischenwand von gleicher Höhe, so hebt man sie durch Aufbauten (Attiken),
durch Aufsätze u. s. w. hervor.
Zu grosse Höhenunterschiede zwischen Vorbau und Zwischenwand sind freilich unangenehm, weil zu
schroff, zumal wenn die grosse Höhe keinen sichtbaren Zweck hat, nicht aus der Anlage hervorgeht. Sind
dagegen Thürme u. s. w. vorhanden, so können dieselben angenehm, ansprechend, würdevoll wirken, nur
dürfen sie nicht zu schroff aus der ganzen Anlage hervortreten, nicht aus den niedrigsten Gebäudetheilen,
sondern aus den höchsten oder annähernd höchsten. Befinden sich in deren Nähe andere hohe
Gebäudetheile, die gleichsam den Thurm bei seinem Aufwärtsstreben stützen, so wirkt diese
Zusammenstellung angenehm, so lange der Thurm mit seiner Spitze die angrenzenden Theile entsprechend
überragt.
Im Allgemeinen müssen sonst Höhengestaltungen stufenweise angeordnet werden, um nicht grelle
Gegensätze zu erzeugen und nicht die Zusammengehörigkeit zu verlieren.
Die Ausstattung der Vor- und Rücksprünge, soweit sie eine Ausschmückung betrifft, ist weit weniger wichtig
als die angedeutete Gruppenbildung. Letztere kann durch erstere freilich gehoben werden, aber ohne die
letztere ist erstere von schwacher Wirkung. Mehr schon tritt der Schmuck hervor, wenn er zur
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Gruppenbildung von Oeffnungen dient, ja hierin hauptsächlich besteht, und diese nur in Gegensatz treten
mit den Massen in Hinsicht des Leichten und Schweren. In dieser Weise ist der Schmuck auch wichtig
hinsichtlich der Wirkung der Vor- und Rücksprünge und somit auch des ganzen Bauwerkes. Die Wirkung
dieser Oeffnung ist ferner auch deshalb noch von Bedeutung, weil durch sie bis zu einem gewissen Grade
der Ausdruck des Bauwerkes festgelegt wird, das heisst, dass er schlank, gedrückt, unfreundlich, freundlich,
schwer u. s. w. erscheint.
Im Allgemeinen kann man hier sagen, dass, je grösser die Oeffnungen sind im Vergleich zur Mauermasse,
desto leichter erscheint das Gebäude und je kleiner, desto schwerer; oder genauer ausgedrückt, kann man
sagen: hohe, schmale Oeffnungen zwischen hohen (nicht breiten) Massen lassen ein Gebäude oder einen
Theil desselben schlank erscheinen, niedere Oeffnungen zwischen niederen Zwischenräumen aber
gedrückt, düster, ferner grosse Oeffnungen oder auch grosse Gruppen zwischen schmalen Massen lassen
ein Gebäude leicht erscheinen, kleine Oeffnungen zwischen breiten Massen schwer u. s. w.
Hieraus ergibt sich ein Mittel, zwischen Vorbauten und Zwischenwand einen angenehmen Gegensatz zu
erzeugen zur Erhöhung der Wirkung; man bringe nämlich in der Mitte der Vorbauten grosse Oeffnungen mit
mächtigen Verhältnissen an, die seitlich durch starke Pfeiler eingeschlossen werden (wodurch die Vorbauten
grossartig, massig, derb, schützend u. s. w. erscheinen) und an der Zwischenwand als Gegensatz kleinere,
gleichförmig zwischen breiten Pfeilern vertheilte Oeffnungen, die aber schmäler als die Eckpfeiler der
Vorbauten sind. Umgekehrt ist das Grössenverhältniss zwischen Fensteröffnung und Masse zu halten, wenn
ein Vorbau seitlich von zurückliegenden Wandflächen begrenzt wird. Wenn auch hier der Vorbau seines
Vorspringens wegen nicht zu schmal in seinen Eckpfeilern gehalten werden darf, als vergleichsweise vorher
diejenigen Pfeiler der von zwei Vorbauten eingeschlossenen Zwischenwand, so müssen doch hier die
Eckpfeiler der beiderseitigen Wandflächen die Eckpfeiler des Vorbaues an Breite übertreffen oder
mindestens ihnen gleichkommen; bei einseitigem Vorbau ist Aehnliches zu beachten.
Diese Art der Fenstervertheilung und Fensterformung muss selbstverständlich übereinstimmen mit der
Benützung der Innenräume in Anbetracht deren wünschenswerther Beleuchtungsweise, wie ich selbiges in
einer Abhandlung über das Innere und Aeussere der Wohn- und Geschäftshäuser hervorgehoben habe.
Hieraus ergibt sich, dass es nicht ganz gleichgültig ist, ob ein Zimmer je nach seinem Zwecke als Vorbau
vortritt, oder in der Zwischenfläche liegt und dabei beiderseits eingeschlossen ist, oder einseitig freiliegt.
Der Gegensatz, der durch die Ornamente mit dem Ornamentlosen erzeugt wird
Die Wirkung dieses Gegensatzes besteht darin, dass Bewegung und Ruhe durch die geschmückten und
ungeschmückten Theile hervorgebracht wird, welche, wenn richtig vertheilt, die Empfindung des Schönen
heben können. Letzteres ist dann der Fall, wenn die Ornamente sich gleichsam organisch aus dem Ganzen
zu entwickeln scheinen, mithin sichtbar einen Zweck erfüllen und nicht blos hie und da der Schmuck sich
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zeigt, ohne sichtbaren Grund, sondern nur angebracht, um zu schmücken und zu prunken. Wird stets der
Schmuck nur angebracht, wo und wie es der Zweck erfordert, dann kann n i e eine Ueberladung entstehen,
wie wir sie heutzutage so oft an den neuen Bauwerken bemerken. Der Schmuck muss ebenso
zweckentsprechend, gleichsam die ganze Anlage klärend, auftreten, wie z. B. der Säulenfuss und das
Säulenkapitäl an der Säule, wie die Gesimsbekrönungen, Fensterumrahmungen mit Verdachungen u. s. w.
Der am häufigsten vorkommende Schmuck sind die Gesimse, welche an richtiger Stelle in entsprechender
Grösse und Kraft als fussende, krönende, gürtende, einrahmende, gliedernde u. s. w. Theile von schöner
Wirkung sein können. Sie bringen zunächst in jedes Bauwerk Leben hinein, machen es uns verständlich in
seiner Eigenart und sind somit die unentbehrlichsten Schmuckgegenstände eines Gebäudes, das auf
Schönheit Anspruch macht. Sie dürfen freilich nur dort und so angebracht werden, wie das Gebäude es
erfordert, ein Zuviel wirkt nachtheilig. Aus der ganzen Anlage und Anordnung eines Gebäudes und seiner
Gesimse muss für einen kunstverständigen Beschauer die Nothwendigkeit der Gesimse in ihrer Eigenart
hervorleuchten, er muss fühlen, dass weder Mangel noch Ueberfluss vorhanden ist. Ausserdem, dass die
Gesimse ein Gebäude in seine einzelnen Theile zerlegen und dadurch dessen Wirkung klären, bilden sie
auch angenehme Gegensätze mit den glatten Wandflächen und heben die Langeweile auf. Aber sie bilden
auch Gegensätze unter sich und klären dadurch ihren Zweck und wo letzterer ein gleicher ist, da muss
hinsichtlich der Grösse ihres Zweckes ein Ueber- und Unterordnen stattfinden, das genügend auffällig
erscheint. So müssen Bekrönungen von Fenstern leichter gehalten werden, als Bekrönungen ganzer
Gebäude, Fussgesimse anders und derber gegliedert werden, als Bekrönungen, denn Fussgesimse sollen