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I I III.5 Religion und Medizin in der europäischen Moderne Dorothea Lüddeckens 1. Einleitung ,Heil' und Heilung zeígen in vielen religionsgeschichtlichen Kontexten eine grosse,\fiìnität.1 In modernen Gesellschaften aber haben sich Re- ligion, die sich um das ,Heil' und Medizin, die sich um Heilung kümmert, zu eigenständigen Teilsystemen enrwickelt. Im Folgenden geht es um zwei Enrwicklungen in den Beziehungen zwischen Religion und Me- dizin, die derzeit gegenläufig zur funktionalen Ausdifferenzierung der beiden Teilsysteme zu beobachten sind. So hált einerseits in medizinischen Kontexten Religion Einzug, während andererseits in religiösen Kontexten das Thema Gesundheit behandelt wird.2 Was bedeutet es, wenn Heilverfahren, die religiöse Referenzen aufweisen, zunehmend innerhalb des Medizinsystems (vgl. Srorrsrnc 2009) prdsent sind und religiöse Organisationen sich nicht nur um ,Fleil', sondern auch um Heilung kümmem? 2. Medízín Mitte des lB.Jahrhunderts setzte in Europa ein Vorgang ein, der in der Medizingeschichte als,,Medikalisierung" bezeichnet wird (CoNnao 2007). Phänomene, die zuvor Kontexten wie Religion, Recht oder Moral zugeordnet waren, wurden nun einer sich ausdifferenzierenden Medizin zugewiesen (FnEIosoN 1988:248). So wurden Kinderlosigkeit und Krampfanålle nicht mehr religiös, sondern medizinisch behandelt, und sozial Auffillige wurden nicht mehr als verhext oder besessen, 1 Vgl. für einen lJberblick und die Komplexität dieses Verhâltnisses BnucnneussN (2011). 2 Die im Folgenden als Entdifferenzíerrng beschriebenen Prozesse können auch synchron zu Phasen der Ausdifferenzierung verlaufen (Buss /Scuors 7979: 379) .
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Religion und Medizin in der europäischen Moderne (2013)

Mar 11, 2023

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Page 1: Religion und Medizin in der europäischen Moderne (2013)

II

III.5 Religion und Medizin in der europäischenModerne

Dorothea Lüddeckens

1. Einleitung

,Heil' und Heilung zeígen in vielen religionsgeschichtlichen Kontexteneine grosse,\fiìnität.1 In modernen Gesellschaften aber haben sich Re-ligion, die sich um das ,Heil' und Medizin, die sich um Heilung kümmert,zu eigenständigen Teilsystemen enrwickelt. Im Folgenden geht es umzwei Enrwicklungen in den Beziehungen zwischen Religion und Me-dizin, die derzeit gegenläufig zur funktionalen Ausdifferenzierung derbeiden Teilsysteme zu beobachten sind.

So hált einerseits in medizinischen Kontexten Religion Einzug,während andererseits in religiösen Kontexten das Thema Gesundheitbehandelt wird.2 Was bedeutet es, wenn Heilverfahren, die religiöseReferenzen aufweisen, zunehmend innerhalb des Medizinsystems (vgl.Srorrsrnc 2009) prdsent sind und religiöse Organisationen sich nicht nurum ,Fleil', sondern auch um Heilung kümmem?

2. Medízín

Mitte des lB.Jahrhunderts setzte in Europa ein Vorgang ein, der in derMedizingeschichte als,,Medikalisierung" bezeichnet wird (CoNnao2007). Phänomene, die zuvor Kontexten wie Religion, Recht oderMoral zugeordnet waren, wurden nun einer sich ausdifferenzierendenMedizin zugewiesen (FnEIosoN 1988:248). So wurden Kinderlosigkeitund Krampfanålle nicht mehr religiös, sondern medizinisch behandelt,und sozial Auffillige wurden nicht mehr als verhext oder besessen,

1 Vgl. für einen lJberblick und die Komplexität dieses Verhâltnisses BnucnneussN(2011).

2 Die im Folgenden als Entdifferenzíerrng beschriebenen Prozesse können auchsynchron zu Phasen der Ausdifferenzierung verlaufen (Buss /Scuors 7979: 379) .

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sondern als psychisch krank gedeutet. Die Enrwicklung zu einem ge-

sellschaftlich ausdifferenzierten Medizinsystem (vgl. PErmaN 2007)

wurde durch eine Professionalisierung des Arztestandes und die Orien-tierung der Medizin an den Naturwissenschaften möglich.

'Während die Frage nach metaphysischen lJrsachen von Krankheitenan Bedeutung verlor, wurden Verfahren wichtig, mit denen physiolo-gische lJrsachen von Krankheit gesucht und mittels naturwissenschaft-

licher Methoden erklärt werden konnten. Das daraus entwickelte'Wissenüber den Körper führte zu einer internen Ausdifferenzierung der Me-dizin, die sich in ihren wissenschaftlichen Grundlagen nicht an der Person

als Ganzes orientierte,3 sondem sich entlang ihrer Körperteile, die in ihrenStrukturen und Funktionen immer detaillierter erfasst wurden, ausrich-

tete. Mit der Rolle des/der Arztes/ Arztin konstituierte sich eine stabile

Trägerschaft des Medizinsystems (PansoNs 1 968).'Während das Prestige

des Ärztestandes stieg, sank das Ansehen der nicht-akademischen Prak-tikerlnnen, deren Tätigkeiten zunehmend rechtlich reglementiert undeingeschränkt wurden.

Auf der Ebene des Individuums, dessen Existenz in der vorindu-striellen Gesellschaft über Gemeinschaft, Familie, Sippe etc. gesichert unddessen Gesundheit innerhalb dieser Ordnungen behandelt wurde,wandelte sich Gesundheit von der ,,Gabe Gottes" zur Aufgabe des In-dividuums (BIcx-GEnNSHEIM 1994: 3r7 - 3rg).

Das akademische Medizinsystem bildete den eigenständigen Codekrank/gesund heraus (LunrvraNN 1'gg}),4 entlang dessen seine Kommu-nikation verlief und das sich damit von anderen Möglichkeiten der

Kommunikation, wie der religiösen, abgrenzte. Dabei baute es eine hoheinterne Komplexität au[ mit der es dann wieder andere Themen der

Gesellschaft bearbeiten konnte, wie zum Beispiel Prävention, Geburts-,sund Sterbeprozesse. Nach und nach erweiterte sich der Fokus von reinenpathogenetischen auch hin zu resilienzorientierten6 Sichrweisen (vgl.

3 Psychosoziale Ztxamrnenhänge kamen erst im 20. Jh. z.B. durch Victor von'W'eizsäcker wieder in den Blick. Vgl. auch Fouc¡urr (1973: 109-112); Buss/Scnöps (1979:327).

4 Vd.zur Diskussion Srorr¡snc (2009).5 Dies zeigt sich im Fall Geburt z.B. dtrtn, dass dieser Kompetenzbereich von

Hebammen vermehrt in den Bereich der Ärzte und Hospitáler überging.6 Resilienz bezeichnet eine Vielzahl empirisch nachgewiesener Schutzfaktoren

(individuelle, familiäre und soziale), die auch unter widrigen LJmständen eine

normale Enrwicklung ermöglichen bzw. sogar zu einer hôheren Stressresistenz

III.5 Religion und Medizin in der europäischen Modeme 285

z. B.'W'EnNnl- 1,977). Dies zeigt sich unter anderem in Ansätzen wie PublicHealth, Prävention und Frühintervention sowie in Gesundheitspro-grammen.

Spätestens ab Mitte der 1980er Jahre wurde Gesundheit zu einemgesellschaftlich dominanten Thema und die Bereitschaft darin zu in-vestieren nahm auf Ebene des Staates und des Individuums zu.7

3. Alternative Medizin

3.1 Abgrenzung

Dass die akademische Medizin sich als Norm etablieren konnte,8 zeiSsich im öffentlich finanzierten Gesundheitswesen. Diagnostische Mass-nahmen und therapeutische Interventionen können (nahezu) aus-

schliesslich von Ärztlnnen verordnet werden.e Nach wie vor vefigendiese auch über das höchste Prestige im Gesundheitswesen. Dement-sprechend sind die Akteure alternativmedizinischer Verfahren häufìgdarum bemüht, sich nach den Strukturen der akademischen Medizinauszurichten. Insbesondere ist dies der Fall, wenn es um die Inan-spruchnahme öffentlicher Gelder geht. Das trifft für die Legitimierungunter Verweis auf wissenschaftliche Studien ebenso zu wie auf Ausbil-dungsstrukturen (vgl. CaNr/Snann¡e 1995; 1996).

Zur Bezeichnung nicht akademischer Heilverfahren finden sich

verschiedene Termini, am gebräuctrlichsten sind die Begriffe Komple-mentärmedizin und Alternative Medizin, seltener Naturmedizin,Ganzheitliche oder Integrative Medizin.l0 Eine exakte Bestimmung, wâS

unter diesen Begriffen zu verstehen ist, ist problematisch, da mit ihnenhöchst unterschiedliche Praktiken zusaÍrnengefasst werden, sowohl was

die Form ihrer Institutionalisierung, ihre theoretische Begründung, die

beitragen. Fokussiert wird hier damit auf Ressourcen, nicht auf Belastungsfak-toren.

7 lNsrrrur nùn Dsùrosroprs AnENSs¡ctt (2005). In Deutschland, Grossbritannienund der Schweiz betragen die Ausgaben im Gesundheits'ñ'esen (überwiegend dergesetzJichen Krankenkassen) über 10 % des Bruttosozialproduktes.

8 Zsr intemationalen Dominanz der wissenschaftlich begründeten Medizin vgl.FnaNr (zoo4: j3); CoNNon (2001).

9 Dies gilt jedenfalls für Deutschland, Õsterreich und die Schweiz.1.0 Zt einer Diskussion der Verwendung dieser Begriffe siehe Srorr¡rnc (2002);

Sn¡niua (1993).

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Religion swi s s en s chaft

Herausgegeben vonMichael Stausberg

De Gruyter

Page 4: Religion und Medizin in der europäischen Moderne (2013)

ISBN 978.3-1 7-025892-9

e-ISBN 97 8-3-11 -025893 -6

Library of Corgrets Cataloging-iø-Pablication Data

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theübl^ry of Congtess.

Brbløgrafvbe Inþrnation der DeøtscÌ¡en Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliogtafische Daten sind im Intetnetüber http://dnb.dnb.de abrufbar.

@ ZO|Z lü/alter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston

Index: Marion Voþ, www.foliolektorat.deDruck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

æ Gedruckt auf säurefteiem Papiet

Printed in Getmany

wwwdegruyter,com

Vorwort und Danksagung

Das'Werk, das Sie in den Händen haken, gibt einen einführenden Ein-blick in die gegenwärtige religionswissenschaftliche Forschung imdeutschsprachigen Raum. Alle Beiträge geben exemplarisch Antwort aufdie Fragen:

. 'Was ist Religionswissenschaft?o'Wie arbeitet man religionswissenschaftlich?o'Was sind religionswissenschaftliche Probleme?o 'Wie behandelt man diese?

Als eine ,trt teilnehmender Beobachter der deutschsprachigen Re-ligionswissenschaft bot mir dieses Buchprojekt den willkommenen An-lass, zu einem intensiven fachlichen Austausch mit etwa 30 Kollegen anttber 20lJniversitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ichdanke allen Autorinnen und Autoren für ihre kollegiale, kreative undgerudezu überraschend fristgerechte Mitarbeit. Von denjenigen, die leiderkeine Kapitel beisteuem konnten, danke ich Chrisroph Bochinger undChristoph Uehlinger für werrvolle Hinweise in der Planungsphase.Marion Voigt hat sich kurzfristig für die Erstellung des Regisrers zurVefigung gestellt.

Einen besonderen Dank schulde ich meinen jüngeren KollegenFlorianJeserich und Moritz Klenk für ihre ratkräftige lJnrersrützung. Zudritt haben wir alle eingehenden Manuskripte mehrfach gründlich ge-lesen, ausführlich diskutiert und kommentiert. Ich hoffe, dass dies derQualität des Buches nrgvte gekommen ist (auch wenn die zahlreichen,vielstimmigen und wiederholten Kommentare für die Autoren ver-mutlich mitunter eher lästig waren). Für meinen Teil waren diese kriti-schen Diskussionen (über Skype) und die gemeinsame Arbeit an unseremdidaktischen Anhang nicht nur lehrreich, sondern ein entscheidenderSpaßfaktor. Vielleicht überträgt sich davon ja erwas auf die Lektüre. 'Was

immer sie sein mag: Religionswissenschaft kann Spaß machen - hoÊfentlich angefangen mit der Lektüre dieses Studienbuchs.

Bergen (Norwegen), D ezember 2077Michael Stausberg

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VIII Inhalt

Teil IIMethodologische Optionen

und Probleme

Edith Franke & Verena MaskeII.1 Religionen, Religionswissenschaft und die Kategorie

Geschlecht/Gender

Gritt KlinkhaÍunerÍ1.2 Ztr P erforrnativität religionswissenschaftlicher Forschung

Johann Ev. HafnerII.3 Religionswissenschaftliche Kategorienbildung - am

Beispiel ,Engel'

Gregor AhnII.4 Gottesvorstellungen als Thema vergleichender

Religionswissenschaft

Bernhard MaierII.5 Vorgeschichtliche Religionen: Quellen undDeutungsprobleme

Manfred HutterII.6 Das Christentum in Asien als Gegenstand

religionswissenschaftlicher Forschung . . . .

Oliver KrügerII.7 Hörfunk und Femsehen - Dimensionen undZugange fütdie religionswissenschaftliche Forschung . .

Teil IIIReligion in der Gesellschaft

Jens SchlieterIII.1 Religion, Religionswissenschaft und Normativität

Jörg RüpkeIII.2 Religion und Individuum .

1,25

741,

155

169

183

1,97

277

Inhalt

Andreas FeldtkellerIII.3 Kommunikationsstrukturen und Sozialformen vonReligion

Vasilios N. MakridesIII.4 Jenseits von herkömmlichen Religionsformen: Kulte umPersonen, säkulare Systeme, politische Religionen

Dorothea LüddeckensIII.5 Religion und Medizin in der europäischen Moderne . . .

'Wanda AlbertsIII.6 Religionswissenschaft und Religionsunterrichr

Almut-Barbara RengerIlI.7 Meister-Jünger- und Lehrer-Schüler-Verhâltnisse in derReligionsgeschichte

Teil IVAsthetik, Visualität und Akustik

Jtirgen MohnIV.1 Religionsaisthetik: Religion(en) als'Wahrnehmungsräume

Daria.Pezzoli-OlgiatiIV.2 Religion undVisualität. . . . . . . . .

Martin BaumannIV.3 lJmstrittene Sichtbarkeit: Immigranten, religiöse Baurenund lokale Anerkennung . . . .

Inken ProhlIV.4 Materiale Religion

Bärbel Beinhauer-KöhlerIV.5 ,,Von einem Franken, der kein Schweinefleisch aß". DieBegriffe ,Religion' und ,Alltag' als Zugànge zu einer arabischenAnekdote des 1,2. Jahrhunderts . . . .

Annette'WilkeIV.6 Text, Klang und Ritual. Plädoyer fürReligionswissenschaft als Kulturhermeneutik

IX

255

269

283

299

31,3

227

241

329

343

365

379

393

407

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286 Dorothea Lüddeckens

Professionalisierung ihrer Anwender, ihre Prads und ihre Integration indas Medizinsystem betrifft. Ein lJnterschied zwischen akademischer undalternativer Medizin besteht darin, dass die akademische Medizin in ihrerBehandlung einzig mit empirisch wahrnehmbaren Akteuren rechnet,während in einigen alternativmedizinischen Verfahren weitere Akteurehinzukommen (Geister, Heilige etc.).

Auf diese Kräfte kann auch zur Legitimierung der Heilenden undihrer Heilverfahren Bezug genommen werden (vgl. JENNv,/SHanua2009). Dabei können in den Theorien, die den Heilverfahren zugrundegelegt werden, Energien oder Beziehungen z.B. zwischen Kosmos undIndividuen ângenommen werden, die als universal gegeben angesehenwerden, aus naturwissenschaftlicher Sicht jedoch empirisch nicht nach-weisbar sind. Ein typisches Beispiel hiefir ist die ,universelle Lebens-energie' im Reiki, die über die Hände der Heilenden auf die Behan-delnden übertragen wird und die Basis des Heilverfahrens bildet.

3.2 Semantik

Das Feld der Alternativmedizin lässt sich, abgesehen von der Abgrerrzvîgvon der akademischen Medizin, kaum über klare Grenzen oder Struk-turen identiftzieren. [Jntersucht man verschiedene, im'W'esten mehr oderweniger erfolgreiche alternative Heilverfahren, so lassen sich die Ge-meinsamkeiten am ehesten an einer bestimmten Semantik festmachen(vgl. ANnnrrzxv 1999; Bnrrp 2005; Kocr 2006).

Der Begriff der ,Ganzheitlichkeit' postuliert die Wahrnehmung einerEinheit von Körper/Sinnen, Geist/Intellekt und emotionalem Erleben.Er fungiert als Gegenbegriff (BnrrE 2005: 45) zu einer Sicht auf denMenschen, die - von Moderne, Naturwissenschaften und Technik ge-pràgt - als defizitär und mechanistisch gewertet wird. Mit dem Verweisauf ,Selbstheilungskräfte' liegt der Fokus auf der Autonomie des Indi-viduums, das aus sich heraus zur Heilung findet und andere Akteurlnnenoder auch Mittel allenfalls als lJnterststzende benötigt. Der aus der Physikstammende Energiebegriff wird einerseits bewusst in Anschluss an dieNaturwissenschaften verwendet, andererseits aber auf anthropologischeVorstellungen bezogen, die über physikalische Z:usarrrrrrenhänge hin-ausgehen (vgl. Rrrrrn/'Worr 2005): Energie kann übertragen werden -vom Kosmos auf das Individuum, vom Behandelnden auf denldie Be-handelte(n) - ohne und mit unmittelbarem Kontakt und bleibt nicht aufphysikalische, messbare

'W'erte beschränkt. Ätrr:,tlctr wie bei der Ver-

III.5 Religion und Medizin in der europäischen Modeme 287

wendung des Ganzheitsbegriffes wird auch mit dem Verweis aaf ,Flar-monie' und ,Ordnung' eine Gegenperspektive zur als in Un-Ordnungund Disharmonie gesehenen modernen'W'elt und ihrer Bewohnerlnnen,sowie die Möglichkeit einer ,Rückkehr' in die Harmonie impliziert.Häufig bildet dieses Konzept auch die Brücke at der Vorstellung vonBeziehungen zwischen Mikro- und Makrokosmos, die im Sinne einerHeilung in Harmonie gebracht werden müssen. Nicht nur die ver-schiedenen Teile und Aspekte des Individuums stehen gemäss solcherKonzeptionen in Beziehung zueinander und müssen als Einheit behan-delt werden, sondern let ztlich auchder gesamte Kosmos. Über den Toposder ,Erfahrung' werden wiederum die Autonomie und Autorität des

Individuums in Anschlag gebracht und zugleich das umfassende ,Erleben'gegenüber einer auf den Intellekt reduzierten und damit defizitärenEinsicht aufgewertet.

3,3 Struktur

'Wenn auf der Ebene der Semantik deutlich wird, dass das Individuum imFokus steht, so zeigt sich dies auch in der Art der Entscheidung: Die 'Wahl

einer alternativ-medizinischen Therapie ist häufig eine explizite'Wah1,die die Patientlnnen entweder komplementär oder als Alternative zu ihrerTherapie im Rahmen der akademischen Medizin wählen. Z:ude:l,-ist eineFluidität der Formen und Bindungen auszumachen. Patientlnnen sind

häufi g bereit, verschiedene Heilverfahren miteinander ztt kombinierenund gegebenenfalls auszuwechseln.

Alternativmedizin ist zum Teil zunächst innerhalb gemeinschaftlicher

Formen entwickelt und praktiziert worden und diffundierte dann, ebenso

wie andere Praktiken und Konzepte Neuer Religiöser Bewegungen, indie breitere Gesellschaft (LüonEcxENs,/'WarrnEnr 2010). Dies gilt zumBeispiel für rlie anthroposophische Medizin, die therapeutischen Me-thoden Bhagwans (Osho) oder ayurvedische Heilverfahren der Tran-szendentalen Meditation.

3.4 Z:ur:rahme der Alternatir¡medizin

Verschiedene Strömungen, wie die ,Naturheilkunde', die sowohl vonpraktischen Arztlnnen als auch von Laien fortgeführt und weiterentwi-ckelt wurde, hielten sich, obwohl sie von der akademischen Medizin

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288 Dorothea Lüddeckens

so\Mie den rechtlichen und politischen Institutionen kritisch behandeltwurden.

Gegen Ende des 19. und während des 20. Jahrhunderts entstandenreligiöse Gemeinschaften und Traditionen, die eine eigene Medizinbeziehungsweise einen spezifischen, auf Heilung fokussierten lJmgangmit Krankheit entwickelten, wie im Fall der Anthroposophie und derChristian Science (HonrNwrcEn 1990). Während des Nationalsozia-lismus erfuhr die Altemativmedizin eine kurze Periode der Aufwertung.In Deutschland und anderen Industrienationen nahm das Interesse an

nicht-wissenschaftlich begründeten Heilverfahren seit den 70er Jahrenwieder zu (CaNI/SHARMA 1999; FnaNK 2oo+:33; Sraurracnnr,/Brn-cnrr 2002), wobei zwischen den verschiedenen Industrieländem er-hebliche lJnterschiede bestehen (FnaNx 2004 : 28).11 Während einerseits

auch Arztlnnen alternative Therapien komplementär anbieten, stösst

diese Entwicklung andererseits bei den Rollenträgerlnnen der etabliertenMedizin auch auf 'Widerstand (vgl. z.B. Hausr¡rN et al. 1998).

ZweiProzesse bestimmen die aktuelle Enrwicklung der Alternativ-medizin: Es entstehen immer mehr Organisationen, institutionalisierteNetzwerke, Berußverbände,Iz Ausbildungsinstitutionen (vgl. C¡Nr/Snanua 1,995; 1.996) und spezialisierte Firmen und Kliniken.l3 Zudernwandert die .Alternativmedizin immer mehr von der Peripherie in diezelaftalen Institutionen der Gesellschaft hinein. Letztetem wird sich imFolgenden unter dem Aspekt der Entdifferenzierung gewidmet.

4. Entdifferenzierungen von Medizin und Religion

4.1 Religion und Heilung

'Wie Medizin ist auch Religion als Teil der Gesellschaftzu verstehen, dersich in westlichen Gesellschaften zunehmend venelbständigte : ReligiöseKommunikation unterscheidet sich von derjenigen von Politik oder

11 Viele der betreffenden Verfahren beziehen sich aufasiatische Traditionen, vgl.hierzu für den Aspekt der Globalisierung und des interkulturellen TransfenSrorr¡nnç (2002).

12 Besonders seit den 90er Jahren ist ein vermehrtes Anwachsen von entspre-chenden Gründungen ns verzeichnen, z.B. der Schweizerische Verband fürkomplementärmedizinische Heilmittel (SVKH) oder die (Jnion DeutscherHeilpraktiker ((JDH).

13 So z.B. die Paracelsusklinik in Richterswil (CH).

III.5 Religion und Medizin in der europäischen Modeme 289

Wissenschaft. Im Rahmen dieser Differenzierung können religiöse Ar-gumente weder wissenschaftliche Wahrheit noch politische Macht be-gründen, noch lässt sich religiöse Geltung politisch oder wissenschaftlicherzevgen. Die Teilsysteme können sichjedoch gegenseitig thematisieren :

So kann beispielsweise Politik religiös beurteilt oder Religion wissen-schaftlich untersucht werden. 14 Im Zuge der Ausdifferenzierung wurdenauch die religiösen Rollenträgerlnnen in ihren Kompetenzen be-schränkt.ls Während die Aufgabe der Krankenfürsorge im Hinblick aufdie Pflege und seelsorgerische Betreuung von Kranken innerhalb der

christlichen Kirchengeschichte bis heute ein durchgängiges Thema blieb,verlor die Fürsorge im Hinblick auf mögliche Heilung durch Gebet undRitual im Kontext der Differenzierungsenrwicklung von Religion undMedizin bis in das 20. Jahrhundert stark an Bedeutung, Krankenseelsorge

und Liturgik ennvickelten sich getrennt voneinander (GnErnrEIN 2003:

s70).Im Gegensatz nt den Volkskirchen integrierten viele Neue religiöse

Bewegungen die Behandlung von Krankheit und inteqpretierten sie unterreligiösen Aspekten.l6 Seit jüngerer Zeít ist auch in der römisch-katho-lischen, in den evangelischen und anglikanischen Kirchen (SHEIrs 1982)

zu beobachten, dass alte rituelle Formen der Behandlung von Krankheit

,wiederentdeckt',17 neue, insbesondere auch durch den Einfluss der

charismatischen Bewegungtt lGnErHrEw 2003: 572) enwickelt (LeiN-

BERGER 1993) und alternative Heilverfahren integriert werden.le Das

Repertoire reicht hier von Kursangeboten über Heilungsgottesdienste(HorrnNwrcpn 19BB: 28-33) bis hin zurlntegratíon des Händeauflegens

von Heilerlnnen in kirchlichen Räumen. In all diesen Praktiken wird

14 Eine solche Differenzierung moderner Gesellschaften in verschiedene relativselbständige Bereiche findet sich mit unterschiedlichen Betonungen in denverschiedensten Gesellschaftstheorien (v{.. zur Übersicht TYn¡rr 1998; ScnI-uaNr 2000).

15 Die folgende Darstellung beschränkt sich auf das Christentum.16 Dies lässt sich nicht nur im westlich-amerikanischen Kontext beobachten,

sondern z.B. auch inJapan.77 Zur Krankensalbung Wacrnn (2009).18 W'eit über die eigene Bewegung hinaus, war hier die Vineyard-Bewegung

fl/ineyard Christian Fellowship) prägend. Das von ihrem GründerJohn Wimberentvvickelte Konzept des ,Heilungsdienstes', ist eine innerhalb von Gemeindenorganisierte Form des Betens um somatische Heilung.

19 Letzteres ist vor allem in kirchlichen Tagungshâusern zu beobachten. Altema-tivmedizin wird allerdings zum Teil innerhalb der Kirchen auch als Konkurrenzgedeutet und kritisch beurteilt (vgl. VELKD 2011).

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Krankheit unter dem Gesichtspunkt somatischer Heilung religiös be-handelt. Die anglikanische Kirche Englands hat im Kontext der imnordamerikanisch-angelsächsischen Raum einflussreichen Glaubens-heilungsbewegung die Bitte um Krankenheilung, meist verbunden mitHandlauflegung oder Salbung, in ihren Gottesdiensten fest etabliert(GnErHrrw 2003: 572) und das Thema Heilung mit der Gründung des

Ministry of Healing auch institutionell verankert. Innerhalb der Katho-lischen Kirche wächst das Interesse an dem Ritual der Krankensalbung,das sich von der Konzentration aufden/die Sterbende(n) (,Letzte Ölung')hin zu einer Perspektive auf denldie Kranke(n) entwickelt und inzwi-schen auch die Hoffnung auf somatische Heilung einbeziehen kann.Sowohl die Kirchenleitungen als auch überkirchliche Vereinigungen wieder Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) zeigenmit Stellungnahmen20und der Ausrichtung von Konfereîzen und Diskussionsforen, dass hierdie wachsende Relevanz des Themas Heilung wahrgenommen wird(GnuNouaNN 2005: 3). Seit den 7970er Jahren findet sich in Publika-tionen auch ein wachsendes Interesse der akademischen Theologie amThema Heilung (vgl. GnUNoMANN 2005).

4.2 Alternativmedizin und Religion

'Während sich akademische Medizin an der Wissenschaft orientiert,finden sich Afiìnitäten der Alternativmedizin zu Religion (vgl. JrsErucn201.1). So zeigen sich auf der Ebene der oben charakterisierten SemantikZusammenhänge zwischen der{enigen Religiosität, die sich selbst häufigals ,Spiritualität'fasst und als New Age, Esoterik (HEno zorr) oder auchPopuläre Religion (KNooraucw 2009) bezeichnet wird. Einige alter-native Heilverfahren verorten sich selbst explizit im Feld von Religion/Spiritualität, wie zum Beispiel Mindfulness Based Stress Reduction(MBSR; Kasar-ZrNN 2011)21 und der,{yurveda (Kocn 2006a: 170).

Zahkeiche alternative Therapien weisen auch in ihrer Art der Legiti-mation typische Elemente von Religion auf folgt man Danièle Hrnvrru-

20 HIrrE et. al.(1989); PÄpsrrrcnn KoNcnEcarroN Eün GI¡u¡ENSLEHRE (2000);Tr¡s Ancnnrsnops CouNcrr (2000).

21 So wird zwar von einigen Vertretem betont, dass es sich nicht um eine religiöseoder spirituelle Methode handele, die Ausbildung und Ausübung fordert von denTherapeuten jedoch Achtsamkeitsmeditationspraxis. Auch Kabat-Zinn selbstbetont die buddhistische Basis.

III.5 Religion und Medizin in der europäischen Moderne 291

LÉc¡n und definiert Religion über die folgenden drei Aspekte: (1)

Ausdrucks eines Glaubens, der nicht auf Basis von Verifizierbarkeit undExperiment Plausibilität erzeugþ, sondern dadurch, dass er Bedeutungund Kohärenz der subjektiven Erfahrung des Glaubenden stiften kann

(Hervieu-Lé ger 7999 : 84), (2) die Erinnerung an eine Kontinuität und (3)

die legitimierende Referenz auf eine autorisierte Version dieser Erinne-rung, also auf Tradition (HnnvrEu-LÉcnn 2000:. 97) . Von hoher R elevtnzist zudem, im Fall von Religion ebenso wie bei alternativen Heilver-fahren, die jeweilige Versicherung einer Authentizität in Bezug aufIJrsprünge und Kontinuität. Gegenstand ist nicht ein fortwährendes

Infragestellen und damit weiterfìihrende Veränderung, sondern die'Wahrung und allenfalls fortwährende, weiterreichende Annäherung an

das als authentisch und ursprünglich Angesehene sowie Anpassungen an

neue lJmweltbedingungen.

5. Schluss

Die Ausdifferenzierung der Medizin von anderen Gesellschaftsbereichen

bedeutet, dass in der akademischen Medizin Krankheit nicht religiös

gedeutet und behandelt wird, sondern allein unter medizinischen Ge-

sichtspunkten. Im Gegensatz dant stellen religiöse Referenzen zentrúeFiguren vieler Formen der Altemativmedtzin dar, womit eine Entdifne-

renzierungvon Medizin und Religion (KocH 2006a) beobachtet werdenkann - auch und gerade dann, wenn es zu engen Verbindungen zwischen

akademischer und alternativer Medizin kommt.Ebenfalls kann von einer Entdifferenzierung gesprochen werden,

wenn religiöse Organisationen bzw. Akteurlnnen Krankheit im Hinblickauf Heilung religiös integrieren, anstatt die Behandlung von Krankheit indas Funktionssystem Medizin auszugliedern. So kann Entdtffer enzierung

beobachtet werden, wenn ein Priester um Genesung eines Patienten betet

und Differen zierung, wenn derselb e Priester demselb en Patienten Aspiringegen die Kopßchmerzen überreicht.22

'Was hier als Entdifferenzierung bezeichnet wird, hat Trnv¡xr¡N(1985 ; 7992) als,,dedifferentiation" beschrieben ." Drbei behandelt er

dies nicht als pathologischen und regressiven Prozess, sondern als ein in

22 lnbeidenFállen geht es um ein medizinisches Behandlungsziel, im Fall des Betens

wird dies jedoch mit religiöser Kommunikation verbunden.23 Frtr diesen Literaturhinweis danke ich Rafael Walthert.

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292 Dorothea Lüddeckens

der Moderne notvvendiges Pendant zur Ausdifferenzierung der ver-schiedenen Teilsysteme der Gesellschaft, welches zur verstärkten aktivenTeilnahme an der Gesellschaft beiträgt (TrnvaxraN 1,992: B9-9I).24Entdifferenzierungen lassen sich damit auch in anderen Kontexten mo-derner Gesellschaften beobachten, z.B. bei den sozialen Bewegungen wieder ökologischen Bewegung oder dem Feminismus oder den grossen

nationalistischen Bewegungen. Anderungen in der (Jmwelt können einsoziales System damit konfrontieren, dass es auf diese in seiner Diffe-renzierung nicht mehr adäquat reagieren kann (TrnvaxraN 1992: 90).Dies ist im Fall der ausdifferenzierten akademischen Medizin zu beob-achten. Im Rahmen des gesellschaftlichen Prozesses der Individualisie-rung wurde es für Individuen zunehmend wichtig ihre Rolle als Patientlnals durch eigene Entscheidungen geprägt wahrzunehmen. Individuenwollen sich zudem hinsichtlich ihrer Krankheitsbilder und deren Be-handlung als Individuen begriffen sehen. Damit gingen Bedürfnisseeinher, auf die zum Teil aufgrund einer entsprechenden Semantik vonaltemativmedizinischen Angeboten reagiert werden konnte. Zadernkann ein,/eine Patientln mit ihrer Wahl in besonderem Mass eine indi-viduelle Entscheidung anzeígen, im Gegensatz zur eher zu erwartenden-Wahl

akademischer Medizin.Mit dem Verlust traditioneller Sinnbezüge verloren einerseits tradi-

tionelle Modelle zur Deutung von Krankheit im Rahmen transzendenterSinnzusammenhänge an Plausibilität, während andererseits die akade-mische Medizin keine neuen anbieten konnte. In der Altemativmedizinzeigensich Überschneidungen zu dem als Populäre Religion beschriebenFeld. Damit, und mit der Fokussierung auf das Individuum als ,,selbst-ermächtigtes Subjekt" (GEnHanrr/ENcErsn¡cHr/BocnrNcER 2005),können neue Plausibilitätsmuster aufgezeigt werden.2s

Im Rahmen der gesellschaftlichen Karriere des Themas Gesundheitwiederum ist es verständlich, wenn religiöse Organisationen sich nicht aufHeil beschränken, sondern im Hinblick auf Heilung entdifferenzieren.Heilung ist in der Moderne tendenziell plausibler als Heil geworden und

24 lm Gegensatz zu der Verwendung des Begriffes bei TIrrv (1972: 1I4) werdendarunter im Folgenden auch keine devolutionären Vorgänge verstanden, die daztführen, dass gesellschaftliche Gebilde mit ihrer selbstständigen Struktur undFunktion verschwinden (vgl. auch Buss,/Scnöns 1979).

25 ,,Die Entdifferenzierung wirkt integrativ durch strukturelle Assimilation sys-temfremder Prinzipien und Funktionen und durch Einbettung von Frernd-mustern und Kulturmustern, seien sie ökologischer, [... oder] religiöser [...] Art,in das systemeigene Handlungsfeld" (Buss/Scuörs 1,97 9 : 3tB).

III.5 Religion und Medizin in der europäischen Moderne 293

Bewertungen, was im Leben als relevant anzusehen ist, haben sich ver-schoben. Der Referenzrahmen ist nicht mehr ein Dasein auf das EwigeLeben hin, in welchem zum Beispiel Schmerzen als religiöse Passion

verstanden werden können. Stattdessen werden Schmerzen in einemLeben, das als Selbstzweck gesehen wird, als sinnlos gedeutet, wobei sie

im Rahmen alternativmedizinischer Angebote wieder als sinnvoll kon-zipiert werden können.

Hinzu kommt, dass ausdifferenziefte Systeme, so auch die Medizin,einen starken hierarchischen Charakter aufweisen und entdifferenzie-rende Bewegungen mit einer Kritik an den (angenommenen) Träge-rlnnen von Macht einhergehen (TmvaxIaN 1992: 90). Ein solcher an-tielitärer Zug findet sich auch in der Alternativmedizin. Dabei wird,ausgehend von der Konzeption eines selbstermächtigten Subjekts, dieàr ztliche Auto rität hinterfragt.

Die Bewegung der Alternativmedizin ins institutionelle Zentrum des

Gesundheitswesens zeigt sich an ihrer Integration in die Universitäten mitder Gründung entsprechender Lehrstühle und darin, dass ihre Legitimitätdurch ihre gesetzliche Verankerung26 bestätigt wird. In der Schweizwurde im Mai 2009 per Volksentscheid mit einer Zweidrittel-Mehrheitdie Berücksichtigung der Komplementärmedizin in die Verfassung auÊgenommen." lHLirrzu kommt die Aufnahme in das therapeutische An-gebot, wie zum Beispiel im Fall der Akupunktur (vgl. Sars 1992; 1995)

oder auch Mindfulness-based stress reduction (MBSR) im Bereichchronischer Schmerzambulanzen und -kliniken (Kanar-ZrNN 2003)28.

Die Entdifferenzierung kann so von zwei Seiten her betrachtetwerden: Einerseits von derjenigen des Medizinsystems, andererseits vondefenigen religiöser Organisationen her. Die Aftìnität von ,Religion'und Medizin findet sich in beiden Fällen wieder.

26 So z.B. durch die sog. Binnenanerkennung, die Sonderstellung der,,besonde-ren" Therapierichtungen im Arzneimittelgesetz (Sozialgesetzbuch V, $ 135,

Abs. 1) oder die in den W'eiterbildungsordnungen der Landesärztekammernverankerte Zusatz:weiterbildung in ,,Naturheilkunde" (W'eiterbildungsordnungfür die Ärzte Bayerns vom24. April 2004 in der Fassung der Beschlüsse vom17. Oktober 2010).

27 ^rt.

778a52 Komplementärmedizin: ,,Bund und Kantone sorgen im Rahmenihrer Zuständigkeiten fir die Berücksichtigung der Komplementärmedizin."Impliziert sind hier die Anthroposophische Medizin, Homöopathie, Neural-therapie, Phytotherapie und Traditionelle Chinesische Medizin (TCM).

28 Für den psychotherapeutischen Bereich siehe auch: BBnrrNc/voN ICiNsr 2007.

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