Die philosophische Bedeutung der modernen Physik Author(s): Hans Reichenbach Source: Erkenntnis, 1. Bd. (1930/1931), pp. 49-71 Published by: Springer Stable URL: http://www.jstor.org/stable/20011588 . Accessed: 16/01/2015 09:30 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Springer is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Erkenntnis. http://www.jstor.org This content downloaded from 89.206.116.130 on Fri, 16 Jan 2015 09:30:46 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions
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Die philosophische Bedeutung der modernen PhysikAuthor(s): Hans ReichenbachSource: Erkenntnis, 1. Bd. (1930/1931), pp. 49-71Published by: SpringerStable URL: http://www.jstor.org/stable/20011588 .
Accessed: 16/01/2015 09:30
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diesen Versuchen trotzdem bisher kein durchgreifender Erfolg be?
schieden war, so m?ssen tiefere Gr?nde am Werke sein. In der Tat
glauben wir, da? durch blo?e Organisation, durch den Versuch, weitere Schichten in p?dagogischen Kunstgriffen mit den Resultaten
der Wissenschaft vertraut zu machen, nichts Entscheidendes geleistet werden kann. Vielmehr scheint uns die Quelle dieser Spannung in
der Schicht der Geistigen selbst zu liegen, da es auch dieser Schicht
keineswegs gelungen ist, Fachwissenschaft und t?gliches Leben zu
innerer Einheit zu bringen. Solange sich der Gebildete mit einem
Doppelleben abfindet, solange wird der Ungebildete, der zu solcher
intellektueller Unredlichkeit nicht aufgelockert ist, die Wissenschaft
als ein totes Gut betrachten.
Wir sehen deshalb die eigentliche Wurzel dieser kulturellen
Spannung darin, da? es innerhalb der Schicht der Geistigen nicht
gelungen ist, wissenschaftliche Entdeckungen mit der Welt des
t?glichen Lebens zu einem einheitlichen Weltbild zusammenzuf?gen. Die entscheidende Schuld hieran aber tr?gt die Philosophie. Denn
anstatt die Resultate der Fachwissenschaft zu verarbeiten und um?
zusetzen in eine neue Art, die Wirklichkeit zu sehen, hat die Philo?
sophie die Grenzen zwischen Wissenschaft und Tageswelt nur um so
sch?rfer aufgerichtet. Sie hat nicht gemerkt, da? sich in der Fach?
wissenschaft nur eine stetige Abwandlung jener Grundbegriffe voll?
zogen hat, die wir im t?glichen Leben genau so anwenden, und hat
anstatt dessen eine Zweiwelten-Theorie begr?ndet. Da sie nicht
imstande war, fachwissenschaftliche Erkenntnis philosophisch zu
deuten, hat sie in blinder Beschr?nkung die naive Erkenntnisform
der Tageswelt zu Denknotwendigkeiten, zu apriorischen Kategorien
gestempelt; sie mu?te deshalb der Wissenschaft ein Sonderdasein
einr?umen, in dem man sich um Denknotwendigkeiten nicht zu
k?mmern braucht, das eine Art Sportplatz f?r Gehirnturnen be?
deutet, und da? deshalb bei aller oft betonten Bewunderung f?r die
Kunst solchen Geistesturnens von der Wahrheit im philosophischen Sinn durch eine un?bersteigbare Scheidewand abgetrennt ist. Wenn
die Philosophen Entdeckungen wie die relativistische Zeitlehre, die
nicht-euklidischen Raumformen, die quantenmechanische Begren?
zung des Kausalit?tsgedankens Arbeitshypothesen oder begriffliche Fiktionen genannt haben, so haben sie eben damit diesen Grenzstrich
gezogen. Hier liegt deshalb die Quelle jener ungl?cklichen Spaltung, und der wissenschaftlich Ungeschulte wird sie bei aller Tapferkeit seines Lernbed?rfnisses nicht ?berbr?cken, wenn nicht von Seiten
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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik ?I
der Philosophie her zuvor der Weg zur Einheit aufgezeigt worden
ist. Wir sehen deshalb die Arbeit neuer Naturphilosophie nicht nur
unter dem Gesichtspunkt ihrer fachwissenschaftlichen Bedeutung, als einer Kl?rung naturwissenschaftlicher Grundbegriffe, wir sehen
sie vielmehr zugleich auch unter dem sozialen Gesichtspunkt, da?
Kl?rung der Grundbegriffe zugleich Umdeutung ?berkommener
philosophischer Vorstellungen darstellt, und da? nur die Aufzeigung der Kontinuit?t zwischen Tageswelt und Welt der Fachwissenschaft
jene Eingliederung wissenschaftlichen Kulturgutes zu vollziehen
vermag, unter deren Unvollziehbarkeit wir gegenw?rtig noch leiden
m?ssen. Es geht nicht an, den Raum der Physiker, oder ihre Sub?
stanz, oder ihre Gesetzlichkeit, etwas f?r sich Bestehendes, etwas
Fiktives zu nennen, das von dem grunds?tzlich verschieden ist, was der Mensch des t?glichen Lebens mit denselben Worten be?
zeichnet. Nur allzu deutlich stellt sich heraus, da? eine Philosophie, die dies behauptet, nichts anderes bedeutet als dogmatisches Fest?
halten an dem Raum, der Substanz, dem Gesetzesbegriff, den die
Physik vor 300 Jahren geschaffen hat, und der nun einmal vor der
F?lle und Tiefe heutigen Wissens nicht mehr zu halten ist. Erst
wenn diese Einsicht Allgemeingut der F?hrenden geworden ist, wenn die F?hrenden ihre Philosophie nicht mehr aus den philo?
sophischen Systemen der Vergangenheit, sondern aus den natur?
wissenschaftlichen Theorien der Gegenwart konstruieren, erst dann
wird die k?nstliche Grenze zwischen Wissenschaft und Person, zwischen der Welt der Formeln und der Welt der Erlebnisse, ver?
schwinden, und man wird begreifen, da? jene Formeln nichts sind
als eine Deutung von Erlebnissen, eine Deutung, zu der den Wissen?
schaftler derselbe Weg gef?hrt hat, den jeder von uns im t?glichen Leben auf Schritt und Tritt geht.
Es soll deshalb an dieser Stelle der Versuch gemacht werden, unter Verzicht auf entsprechende ?berlegungen f?r die Biologie, in gro?en Z?gen darzulegen, wie das physikalische Weltbild der
Gegenwart zu begreifen ist, und wie es sich mit Begriffen der Tages? welt zusammenschlie?t, wenn man die Anspr?che der Apriorit?ts
philosophie fallen l??t.
II.
Zun?chst: da? ein Unterschied zwischen Weltbild der Wissen?
schaft und Weltbild des t?glichen Lebens besteht, soll von uns nicht
bestritten werden. Im Gegenteil wollen wir hier einmal in aller
Sch?rfe diesen Unterschied herausstellen.
4*
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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik 55
elektrischer Spannung zahlenm??ig studiert. In solcher quantita? tiven Erfassung der Naturzusammenh?nge liegt nicht nur eine ganz au?erordentliche Versch?rfung unseres Wissens; es werden vielmehr
damit zugleich auch neue Zusammenh?nge aufgedeckt, an die man
sonst nicht denken w?rde. Man erinnere sich etwa, da? die Ein*
f?hrung der Atomtheorie in der modernen Chemie wesentlich auf
quantitativer Erfassung der Verbindungsgewichte beruht.
Die vierte Quelle endlich ist die gedankliche Durchdringung der
Tatsachen, wie sie in der modernen Naturwissenschaft weitgehend
gegl?ckt ist. Wir begn?gen uns nicht mit der Aufz?hlung vieler
einzelner Gesetzlichkeiten; wir machen vielmehr den Versuch, die
Vielheit zu verringern und mit m?glichst wenig Voraussetzungen einen m?glichst weiten Umfang von Tatsachen zu erfassen. Dieser
Proze? ist ganz eigentlich das, was wir Erkl?rung nennen; erkl?ren,
begreifen hei?t im Grunde nichts anderes als Zusammenfassen unter
ein einheitliches Gesetz. Als Musterbeispiel d?rfen wir das Newton
sche Gravitationsgesetz nennen, welches die Gesetze eines Koperni?
kus, eines Galilei, eines Kepler in einer einzigen Formel ver?
einigt. Gerade dieser Teil des wissenschaftlichen Arbeitsprozesses ist
nicht m?glich ohne den von uns beschriebenen Proze? der quanti? tativen Erfassung; andererseits ist der Proze? der gedanklichen
Durchdringung gerade der interessanteste Teil der Forschung, weil
er erst zu dem Zusammenhang f?hrt, den wir ein Weltbild nennen.
Fassen wir diese ?bersicht ?ber die Quellen wissenschaftlicher
Forschung zusammen, so k?nnen wir sie auf die Formel bringen, da? der Wissenschaftler viel mehr von der Welt wissen
und viel genauer begreifen will als der naive Verstand.
Kein Wunder, da? er zu anderen Resultaten kommt. Vor allem
haben denn auch die beiden ersten Quellen gro?e Unterschiede er?
geben zwischen dem Wissen des t?glichen Lebens und dem feineren
Befund der Natur. Aber ebenso haben die beiden letzten Quellen Einblicke in die Natur gelehrt, wie sie das kurzatmige Denken des
t?glichen Lebens niemals zu enth?llen vermochte. Und diese Diskre?
panz gilt nicht nur f?r die Wissenschaft der letzten Jahrhunderte, wo sie zwar auch schon auftritt; sie gilt in ?berraschender Sch?rfe
in unserer Generation von neuem, wo wir den ?bergang einer klas?
sischen Physik zu einer Quantenphysik erleben.
Als Ergebnis dieser Umstellung d?rfen wir formulieren: wir
wissen heute, da? die Welt im kleinen und im gro?en wesentlich anders aussieht als in den mittleren Gr??en
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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik 5Q
tungen, welche wir von den Quantenvorg?ngen machen, vollziehen
sich aber wieder mit Hilfe von Instrumenten mittlerer Dimensionen, d. h. also mit Hilfe von Prozessen, bei welchen eine gro?e Zahl von
Elementarakten beteiligt ist; wir d?rfen deshalb f?r die Theorie
dieser Instrumente den strengen Kausalbegriff voraussetzen und
k?nnen trotzdem auf Abweichungen von der Kausalgesetzlichkeit im kleinen schlie?en, ohne damit einen Widerspruch zu begehen. So k?nnen wir etwa, wenn wir Interferenzerscheinungen im Fern?
rohr beobachten, den Strahlengang im Innern des Fernrohres nach
den strengen Gesetzen der geometrischen Optik berechnen, ohne
da? wir dabei auf den im Grunde quantenhaften Proze? der Licht?
ausbreitung mit seinen einzelnen St??en und seine Unregelm??ig? keiten R?cksicht nehmen; und es ist kein Widerspruch, wenn wir
auf Grund solcher Beobachtungen auf den Wahrscheinlichkeits
charakter des elementaren Quantenvorganges schlie?en. Auch wenn
wir auf die statistischen Vorg?nge in der kinetischen Theorie der
W?rme schlie?en, benutzen wir dabei Thermometer und Manometer, deren Ver?nderungen zwar in strenger Betrachtung nur Durch?
schnittsbildungen von Elementarprozessen bedeuten, von uns aber
als thermische und mechanische Prozesse im Sinne der makrosko?
pischen Physik behandelt werden.
Das Verfahren, welches die Physik zur Abwandlung ihrer Vor?
aussetzungen eingef?hrt hat, kann deshalb als ein Verfahren
stetiger Erweiterung bezeichnet werden. Es gelingt, f?r die Welt
des Gro?en und des Kleinen eine wesentlich andere Struktur auf?
zuzeigen, wenn diese Struktur so beschaffen ist, da? sie in der Welt
der mittleren Dimensionen mit der bisherigen Struktur nahe zu?
sammenf?llt. Dieses Zusammenfallen vollzieht sich f?r die Welt des
Gro?en dadurch, da? die bisherige Struktur als Infinitesimalprinzip
angenommen wird, d. h. als g?ltig f?r das Kleine. F?r die Welt
des Kleinen mu? dagegen gerade umgekehrt die bisherige Struktur
als Integralprinzip, d. h. als g?ltig f?r das Gro?e, angesetzt werden.
Der Riemannsche Aufbau der nicht-euklidischen Geometrie aus
dem Postulat der euklidischen Geometrie im Infinitesimalen, und
das Bohr sehe Korrespondenzprinzip, welches f?r gr??er werdende
Quantenzahlen einen allm?hlichen ?bergang des quantenhaften Atommodells in das klassische, d. h. das mittleren Dimensionen
nachgebildete, ausspricht, bedeuten typische Anwendungsformen dieses Gedankens. Und es lie?en sich noch viele Beispiele nennen.
In der Durchf?hrung des Verfahrens stetiger Erweiterung hat die
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Physik eine virtuose Kraft begrifflicher Verallgemeinerung entdeckt, von der sie in ihren neueren Theorien st?ndig Gebrauch macht und
der sie die ?berraschend neuen Z?ge ihres Weltbildes verdankt.
IV.
Diese Aufkl?rung f?r die M?glichkeit, neue Grundbegriffe in
die Wissenschaft einzuf?hren, entwickelt zugleich eine gro?e Trag?
weite, wenn es sich darum handelt, die psychologischen Gr?nde f?r
die Unbedingtheitsanspr?che aufzudecken, mit welchen die alten
Grundbegriffe auftreten.
Denn es wird durch die geschilderten ?berlegungen deutlich, da? die ?lteren Grundbegriffe nur deshalb in dem Menschen ent?
stehen konnten, weil die Umwelt gewisse allgemeine Verhaltungs? weisen in sich tr?gt, die eine Anwendung dieser Begriffe nahe legen. So ist es eine Eigent?mlichkeit der starren K?rper, da? sie bei
Messungsoperationen in Gebieten mittlerer Dimensionen gewisse Ge?
setze befolgen, die Euklid dann als Axiome der Geometrie formu?
liert hat; die Vorstellung des euklidischen Raumes ist also aus der
Besch?ftigung mit Dingen der Umwelt entstanden, die entsprechende Gesetze in sich tragen. Ebenso ist auch der Begriff der strengen Kausalit?t durch die gro?e Regelm??igkeit nahe gelegt worden, welche sich in den raumzeitlichen Ver?nderungen makroskopischer
Materie, in der Mechanik also, zeigt. Wenn man dar?ber hinaus
diese Begriffe f?r das Gro?e und f?r das Kleine ebenso postulierte, so hat man falsch extrapoliert. Aber zu sagen, da? das Gro?e und
das Kleine f?r uns deswegen nicht begreiflich seien, weil es sich
den ?lteren Begriffen nicht f?gt, hei?t den Ursprung jener Begriffe in der physikalischen Welt verkennen, hei?t physikalische Tat?
s?chlichkeit irrt?mlich in Denknotwendigkeit umzudeuten. Unsere
sogenannten Grundbegriffe sind umweltbedingt; die t?glich wieder?
holte Anwendung hat sie zur Vertrautheit gebracht, und solche
Gew?hnung hat man f?r Denknotwendigkeit gehalten. Ist dies einmal erkannt, so steht nichts im Wege, da? eine
entsprechende Gew?hnung sich schlie?lich auch einmal f?r Begriffe anderer Art einstellt. W?rden wir in einer Umwelt leben, deren
starre K?rper die Lagerungsverh?ltnisse der nicht-euklidischen Geo?
metrie befolgen, so w?rde uns die nicht-euklidische Geometrie genau so anschaulich erscheinen wie die euklidische. Wir w?rden gelernt
haben, die Kongruenz anders als jetzt in den Raum hineinzusehen, und w?rden deshalb die Axiome einer Riemannschen Geometrie
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Kleinen anschaulich zu machen, wenn wir uns nur f?r die Welt der
mittleren Dimensionen Erlebnisse vorstellen, wie sie dem Verhalten
der K?rper in gro?en und kleinen Dimensionen entsprechen. Sind diese Gedanken zwar aus der Fachwissenschaft entstanden,
so sind sie doch noch nicht etwa in der Fachwissenschaft allgemein anerkannt. Vielmehr hat sich unter Fachwissenschaftlern die un?
gl?ckliche Vorstellung ausgebildet, da? Anschaulichkeit etwas sei, worauf man zugunsten der Exaktheit zu verzichten habe, da? An?
schaulichkeit sozusagen ein Bed?rfnis des Laien sei, von dem der
Fachwissenschaftler sich freigemacht haben m?sse. So haben denn
die Physiker auf ihrem Wege in die neue Begriffswelt hinein zahl?
reiche Verbotstafeln aufgerichtet, die an kritischen Stellen eine Ver?
anschaulichung verbieten und den Glauben erwecken sollen, da? die
eigentliche Physik nur noch aus mathematischen Formeln bestehe.
Dieses Verbotssystem hat sich f?r die Praxis zweifellos bew?hrt; es hat n?mlich verhindert, da? ?berkommene Anschauungen sich
mit unberechtigten Geltungsanspr?chen in die neue Begriffswelt
eindr?ngen. Die Konstruktion neuer Anschaulichkeit kann im all?
gemeinen erst einsetzen, wenn das begriffliche Ger?st gefestigt ist; es gibt einen Weg, traditionelle Anschauungen auf Begriffen gleich? sam zu umklettern und dann zu neuen Anschauungen vorzudringen.
Die Entwicklung der modernen Physik ist ein ?berzeugendes Bei?
spiel f?r dieses psychologische Faktum. Dennoch kann das System der Verbotstafeln nur provisorische Bedeutung besitzen; es bedeutet
ein Arbeitsprinzip, aber kein Endstadium, und es wird schlie?lich
doch ein Zustand erstrebt werden m?ssen, in dem alles ebenso ver?
anschaulicht werden kann, wie es begrifflich formulierbar ist. Und
man braucht sich nicht damit zu begn?gen, da? die ?nderungen der
Welt im gro?en und im kleinen den Bereich der mittleren Dimensionen
so wenig beeinflussen, da? hier die ?nderung von Anschauungs? bildern ?berfl?ssig wird; dies w?rde ?berhaupt keine echte Ver?
anschaulichung bedeuten, sondern vielmehr den Verzicht auf an?
schauliches Erfassen von Unterschieden, die sich erst in extremen
Dimensionen bemerkbar machen. Wir m?ssen schon deshalb an
einer weitergehenden M?glichkeit der Veranschaulichung festhalten, weil es nicht grunds?tzlich ausgeschlossen erscheint, da? jene ?nde?
rungen eines Tages auch die Welt der mittleren Dimensionen merk?
lich ergreifen. Das Ausmalen entsprechender Verhaltungsweisen f?r
die Welt der mittleren Dimensionen ist deshalb grunds?tzlich durch?
f?hrbar; aber es ist zugleich auch alles, was f?r eine Veranschau
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Die philosophische Bedeutung der modernen Physik 65
tionsprinzip aufgeben, so w?rde damit Willk?r in die Wissenschaft
einziehen, und jede beliebige Behauptung ?ber die physikalische Natur mit vorliegenden Beobachtungen vereinbar sein.
Denn das Induktionsprinzip erlaubt erst den Schlu? von den
Tatsachen auf das allgemeine Gesetz. Wir beobachten etwa, da? ein
durch eine Drahtschleife geschickter Strom einen Magneten ablenkt, und schlie?en, da? dies immer der Fall sein wird; wir beobachten, da? bei allen uns bisher bekannten Vorg?ngen die Energie niemals
kleiner oder gr??er geworden ist, und schlie?en, da? die Energie in allen ?berhaupt vorkommenden F?llen konstant bleibt. Auch in
komplizierteren gedanklichen Verbindungen kann dieser Schlu? auf?
treten, wenn der Beobachtungsbefund in einen gr??eren theoreti?
schen Zusammenhang eingebettet ist und dadurch indirekt Voraus?
setzungen ganz anderer Art best?tigt. So beobachtet man die Licht?
ablenkung an der Sonne oder die Perihelverschiebung des Merkur und
sieht darin eine indirekte Best?tigung der Eins teinschen Behaup?
tung, da? f?r den Weltraum eine nicht-euklidische Geometrie gilt. Auch dies ist ein Induktionsschlu?, da hier von einem Beobachtungs? befund auf ein allgemeineres Gesetz geschlossen wird; nur ist dieses
Gesetz nicht einfach die Verallgemeinerung des Beobachteten auf
weitere ?hnliche F?lle, sondern der ?bergang auf ein tiefer liegendes Gesetz.
Ohne Benutzung des Induktionsprinzips w?re es allerdings nicht
m?glich, von Beobachtungen auf allgemeine Gesetzlichkeiten zu
schlie?en. Denn das im einzelnen Beobachtete k?nnte dann immer
Ausnahmefall sein; da? z. B. jedesmal, wenn in der Drahtspule der
elektrische Strom eingeschaltet wird, auch die Magnetnadel aus?
schl?gt, k?nnte ein zuf?lliges Zusammentreffen von Ereignissen sein, ohne da? damit ein Gesetz ausgesprochen w?re. So k?nnte es auch
ein Zufall sein, da? die von der Eins teinschen Gravitationstheorie
gelieferte Perihelverschiebung des Merkur gerade 43 Bogensekunden
betr?gt und damit genau soviel, wie die Astronomen unabh?ngig von der Eins teinschen Theorie gefunden hatten; oder es k?nnte
ein Zufall sein, da? die Spektrallinien der gl?henden Stoffe, soweit
man dies bisher beobachtet hat, gerade die Gesetzm??igkeit in sich
tragen, die von der Bohrschen Formel ausgesprochen wird. Aber
das glaubt nun einmal der Physiker nicht, ja, diese M?glichkeit scheint so absurd, da? kein Mensch sie ernsthaft in Betracht ziehen
w?rde; man glaubt nun einmal nicht an so sonderbare Zuf?lle, zu?
mal wenn die ?bereinstimmung nicht nur einmal, sondern, wie
Erkenntnis I. 5
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etwa bei den Spektrallinien, in zahlreichen F?llen beobachtet worden
ist. Es ist aber nichts anderes als das Prinzip der Induktion, was
hinter dieser Schlu?weise steht.
Man hat dagegen eingewandt, da? die Physik in zahlreichen
und gerade bedeutungsvollen F?llen die Entscheidung zwischen
widersprechenden Theorien nicht erst durch eine Anzahl von Beob?
achtungen f?llt, sondern schon durch ein einziges Experiment trifft.
So gen?gt nach dieser Ansicht etwa ein einziger Versuch, der die
Interferenz von Lichtwellen zeigt, zur Widerlegung der Newton
schen Emissionstheorie. Aber man erkennt bei tieferem Nachsehen, da? es sich hier nur um eine scheinbare Ausschaltung des Induktions?
prinzips handelt. Denn indem man der Versuchsanordnung die?
jenige Bedeutung beilegt, die man f?r das Resultat braucht, also
etwa den Durchgang des Lichts im Fernrohr nach den Gesetzen
der geometrischen Optik berechnet, oder die Zeigerangabe eines
Amperemeters als Ma? der elektrischen Stromst?rke benutzt, hat
man bereits das Induktionsprinzip f?r ?ltere Erfahrungsbest?nde
vorausgesetzt. Es gibt eine Reihe von prim?ren Erfahrungsbest?nden, die auf Grund der Induktion einen so hohen Grad von Wahrschein?
lichkeit f?r eine bestimmte zugeh?rige Deutung gewonnen haben, da? wir sie nur einmal zu realisieren brauchen, um dann eine hohe
Wahrscheinlichkeit f?r das Vorliegen der zugeh?rigen Deutungs?
behauptung zu besitzen. Das experimentum crucis kann sich des?
halb mit einer einmaligen Realisierung begn?gen, weil f?r seine
Deutung eine Reihe von prim?ren Deutungen seiner Komponenten
zugrunde gelegt werden kann; aber in diesen prim?ren Deutungen steckt wieder das Induktionsprinzip. Und genauer betrachtet, zeigt sich das Auftreten des Induktionsprinzips noch einmal, sowie es
sich darum handelt, im Experiment quantitative Angaben zu ge?
winnen. Denn f?r die Ausschaltung der Beobachtungsfehler, die
nur auf statistischem Wege erfolgen kann, ist eine gro?e Menge von
Messungen n?tig. Ein moderner physikalischer Versuch sieht des?
halb wesentlich anders aus, als der Laie sich vorstellt. Das ber?hmte
Experiment von Michelson, ein Musterbeispiel f?r ein experi? mentum crucis, st?tzt sich in seiner neueren Ausf?hrung auf
5000 Einzelbeobachtungen; der ?eine" Versuch bedeutet also in
Wirklichkeit 5000 Versuche. In der Anwendung der Fehlertheorie
dr?ckt sich deshalb das Induktionsprinzip noch einmal wieder
aus; es ist hier nur in den schmalen Bereich der Genauigkeits?
regulation hineingeraten, weil der gro?e Bereich weiterer M?glich
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bedeutet deshalb nichts anderes als den Schlu? vom beobachteten
Fall auf unbeobachtete F?lle.
IV.
In nichts pr?gt sich die antimetaphysische Haltung der modernen
Naturwissenschaft so sichtbar aus, wie in dieser Auffassung des
Geltungsproblems. Es kommt der Naturforschung nicht darauf an,
Erfahrungen in ein bestimmtes, von der Vernunft vorgegebenes Schema zu pressen, wie etwa Kant geglaubt hatte; es kommt ihr
nicht darauf an, die Beobachtungen in Raum und Zeit einzuordnen
oder unter dem Zwang eigent?mlicher Begriffsbildungen wie Sub?
stanz und gesetzlicher Notwendigkeit zusammenzufassen, sondern
es kommt ihr allein darauf an, aus beobachteten Erfahrungen zu?
k?nftige zu prophezeien. Weil sie nichts weiter will als dieses, ist
die moderne Naturforschung in der Lage, auf den Ballast alther?
gebrachter Vorstellungen zu verzichten, mit dem der historische
Entwicklungsgang das Denken angef?llt hat. Um diesen ent?
scheidenden Schritt ist das Weltbild des t?glichen Lebens noch
hinter dem der Wissenschaft zur?ck. Wenn das Weltbild des t?g? lichen Lebens angef?llt ist von bildhaften Beschreibungen, in denen
die Natur nach dem Wesen des Menschen konstruiert wird, wenn man
etwa die Kraft einer angespannten Feder der Anspannung eines
Menschen vergleicht, der eine schwere Last emporschleppt, wenn
man die Einordnung des fallenden Steins in das galileische Fall?
gesetz der Einordnung des Menschen in Polizeigesetze vergleicht, wenn man das Licht als einen feinen und farbigen Stoff ansieht, sowie er unserem Auge erscheint, so sind das Ausf?llungen von
Naturgesetzen mit Anschauungsinhalten, die aus andern Erlebnis?
zusammenh?ngen zu Unrecht auf die physikalische Welt ?bertragen sind. Auf solche unberechtigte Extrapolation zu verzichten, ist die
Grundforderung, die an jeden zu stellen ist, der das physikalische Weltbild begreifen will. Man mag diese Entmenschlichung der Natur
bedauern, man mag sie eine Entseelung nennen und die physikalische Natur deshalb lebensfern und uninteressant ? das sind Begriffe, an die sich der Physiker nicht kehrt, weil sie die Naturforschung mit
Ma?st?ben messen, die aus der Welt des Dichters und Malers ge? nommen sind, und deshalb eine Bedeutung auch nur f?r eine andere
Sph?re besitzen. Es mu? vielmehr als eine Angelegenheit intellek?
tueller Sauberkeit anerkannt werden, da? solche Ma?st?be auf wissen?
schaftliche Forschung nicht anwendbar sind; und gerade der k?nst
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deshalb nicht zwei Welten verschiedener Erkenntnisarten, sondern
es gibt nur eine Wahrheit, und ihre Forderung bestimmt in gleicher Weise das Verhalten des Gelehrten und des Ungelehrten. Wenn
die Anerkennung dieses Wahrheitskriteriums die Wissenschaft zu
so ver?nderten Aussagen ?ber die Welt zwingt, so verbindet sie
mit dem Glauben an die neuen Einsichten die ?berzeugung, da?
prinzipiell jeder zu dem gleichen Resultat kommen w?rde, der mit
gleicher Gr?ndlichkeit, gleichem Ernst und gleicher Unvorein
genommenheit die Erlebnisse der Erfahrung zu begreifen sucht.
Und wenn der Weg der Wissenschaft dabei ein Weg der Er?
n?chterung war, ein Weg, dessen Entfernung von traditionellen
Phantasiewelten nicht ohne moralische Kraft ertragen werden
konnte, so liegt gerade darin ein Zug, der sich in gleicher Form in
dem Entwicklungsproze? wiederfindet, den das Weltbild des Tages? menschen seit einiger Zeit mit soziologischer Notwendigkeit durch?
l?uft. Denn die Entseelung und Entzauberung der Welt ist Grundzug nicht nur der Naturforschung, sie ist zugleich Grundzug unseres t?g? lichen Daseins, ist die Kategorie, unter der wir unsere Gegenwart zu
sehen haben. Man mag auch hier den Verlust von Gef?hlswerten be?
dauern, wie sie die naive und technisch noch nicht rationalisierte Welt
fr?herer Jahrhunderte ausf?llten; aber man gewinnt sie dadurch
nicht zur?ck, so wenig, wie man in den Jahren der Reife die Kindheit
zur?ckzaubern kann. Wer aber genug Lebenskraft in sich f?hlt, die Gegenwart zu bejahen, der wird auch angesichts einer ern?chterten
Welt nicht den Blick in die Vergangenheit richten. Was unser
Wissen von der Welt anbetrifft, so gilt f?r uns nichts als die Wahrheit; nicht aber k?nnen uns ressentiments ?berholter Gef?hlsbest?nde
binden. Und was die Gef?hle anbetrifft, so gibt es noch genug,
worauf wir sie richten, wodurch wir ihnen Ausdruck schaffen k?nnen.
Nicht das theoretische Weltbild, das Leben selbst sei es, wohin
Gef?hle ihre Form pr?gen. Und hier scheint sich deshalb die gleichsam moralische M?g?
lichkeit zu er?ffnen, da? auch der Nichtwissenschaftier in seinem
Weltbild den entscheidenden Schritt tut, der ihn bisher von der Welt
der neuen Physik trennte. Der Zusammenbruch traditioneller Ge?
f?hlswelten ist heute das Problem f?r das Leben jedes Einzelnen,
f?r das Leben des Tages, und die physikalische Wissenschaft, so
sehr ihre Wendung logischer Kritik entsprang, vollzieht darin nichts
anderes als ihre Eingliederung in eine soziologische Tendenz unserer
Zeit. Der Einsturz des Systems apriorischer Kategorien und ihr Er
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