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1. Decker, Oliver; Brähler, Elmar; Geißler, Norman: Vom Rand zur
Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in
Deutschland. Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin 2006 S. 11f.,
Decker, Oliver et al.: Ein Blick in die Mitte. Zur Entstehung
rechtsextremer und
demokratischer Einstellungen in Deutschland.
Friedrich-Ebert-Stiftung, Form Berlin, 2008 S.16
2. Vom Rand zur Mitte S. 54f.3. ebd., S. 1604. ebd., S. 1675.
ebd., S. 168
6. Ein Blick in die Mitte S.1277. ebd., S. 1288. ebd,. S. 4439.
Ein Beispiel bieten die rassistischen Thesen des Berliner
Ex-Senators Thilo Sarrazin:
http://www.sueddeutsche.de/politik/gutachten-zu-sarrazin-eindeutig-rassistisch-1.54865
10. Ein Blick in die Mitte, S. 27411. ebd., S. 37612. ebd., S.
44913. Ein Blick in die Mitte, S. 450f.
14. ebd., S. 28015. Grass, Günter, Im Krebsgang. März 2004, 5.
Auflage
März 2009, München, S.11716. ebd., S. 81f.. siehe auch S. 183 zu
Konrads Haltung
gegenüber den „Glatzen“ im Prozess 17.
http://de.wikipedia.org/wiki/Junge_Freiheit
18. Krebsgang, S. 81f.19. s. Anm. 17
D er Begriff „Rechtsextremismus“ wird hier verwendet, obwohl er
irreführend ist. Er suggeriert, dass es sich um eine
gesellschaftliche Randerscheinung handelt und eine
gesellschaftliche Mitte existiert, die frei von Rechtsextremismus
sei. Das ist nicht der Fall.1
„Im Überblick lässt sich feststel-len, dass rechtsextreme
Einstellungen durch alle gesellschaftliche Gruppen und in allen
Bundesländern gleicher-maßen vertreten werden. [...]
Rechts-extremismus ist [..] ein politisches Problem in der Mitte
der Gesellschaft. [...] Dies zeigt sich sehr deutlich in den
Zustimmungswerten zu einzelnen rechtsextremen Aussagen, bei denen
teilweise über 40% der Befragten zu-stimmen konnten. Aber auch
[...] in einer Beschränkung auf geschlossene Weltbilder werden sehr
hohe Werte erreicht.“2 „Jugendliche stellen nicht die größte Gruppe
der Rechtsextremen. Des weiteren setzt sich die Gruppe nicht nur
aus Arbeitslosen zusammen, sondern zu einem großen Prozentteil aus
Erwerbstätigen (38,4%). Zusam-menfassend lässt sich sagen, dass die
Rechtsextremen in allen Schichten der Bevölkerung vertreten sind.“3
„Die Ausländerfeindlichkeit ist sehr hoch, es kann sogar von einem
dauerhaft hohen Sockelwert gesprochen werden.[...] Die
Ausländerfeindlichkeit auch bei den Anhängern etablierter Parteien
weist auf ein großes Problem hin. Die demokratischen Parteien haben
mit der Übernahme von mindestens in der Tendenz
ausländerfeindlichen Po-sitionen zwar einerseits diese
Wähler-schichten an sich binden können. Die Frage ist aber,
inwiefern sie damit an-dererseits eine Spirale in Gang gesetzt
haben: Die öffentlich dokumentierte Akzeptanz von
Ausländerfeindlichkeit macht diese zu einer ebenso akzep-tierten
politischen Position. [...] Beim Einsatz von scheinbar harmlosen
aus-länderfeindlichen Strategien durch demokratische Parteien muss
bedacht werden: Ausländerfeindlichkeit ist die Einstiegsdroge in
ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild.“4
„Jede Ausgrenzung von Gruppen, wie Sündenbock-Schemata
überhaupt, basiert im Kern auf einer rechtsextre-men Einstellung,
da sie die Ungleich-heit von Menschen im Alltag legiti-miert und
verfestigt. Die Legitimation von rechtsextremer Einstellung wird
immer dann erfahren, wenn die Un-gleichheit in der Gesellschaft in
der öf-fentlichen Inszenierung zur Erfahrung der Ungleichwertigkeit
wird. Dies gilt insbesondere und bespielhaft auch im
sozioökonomischen Bereich: jede Form der Denunziation von
Arbeitslosen als zu faul, als nicht leistungsbereit, oder die
periodisch auftretende Ahndung von Transferempfängern als Betrüger
schafft ein Klima der Stigmatisierung und Ungleichwertigkeit, das
der Nähr-boden für rechtsextreme Einstellungen ist. Die
Stigmatisierung von Auslän-dern und Leistungsbeziehern schafft eine
Hackordnung, an deren unterstem Ende die Migranten stehen.“5
(Hervor-hebungen: A.W.)
Der zeitgenössische deutsche Rechts-extremismus bedient sich
meist nicht mehr der rassistischen Diskriminie-rungsmuster des 19.
und 20. Jahrhun-derts: „Während ‚klassische‘ Diskrimi-nierungen mit
einer konstitutionellen, weil ‚rassischen Minderwertigkeit‘ der
jeweiligen Gruppe (Migrant/innen, Ju-
den und Jüdinnen) begründet werden, stehen in der ‚modernen‘
Begründung Normen im Vordergrund, die von Sei-ten einer
Gemeinschaft (In-Group) aufgestellt und an andere Gruppen
(Out-Group) angelegt werden. Die dann festgestellte Normabweichung
ist die Begründung der Ablehnung und Diskriminierung der Mitglieder
der Out-Group.“6 Dieser subtilere neue Rassismus wird als
„Kulturalismus“ be-zeichnet.7 „Markantester Auslöser für
kulturalistische Argumentation scheint derzeit der islamische
Glaube zu sein.“8 Der Kulturalismus kann zu klassischem
biologistischen Rassismus werden, nämlich wenn der Normverstoß der
stigmatisierten Gruppe auf genetische Gegebenheiten zurückgeführt
wird.9 Selbst offener Rassismus findet in der deutschen
Gesellschaft Zustimmung:
„Dass es ‚wertvolles und unwertes Le-ben Leben‘ gebe, fanden ein
Zehntel der Deutschen zustimmungsfähig, bei der Aussage ‚wie in der
Natur sollte sich auch in der Gesellschaft der Stär-kere
durchsetzen‘ waren es knapp 18%, und die Aussage, die Deutschen
seien von Natur aus anderen Völkern überle-gen, hielten 15% für
richtig.“10
Die Einstellungen der Mitglieder rechtsextremer Organisationen
unter-scheiden sich vom Rechtsextremismus in der Mitte der
deutschen Gesell-schaft: durch die offene Verherrlichung des
Dritten Reiches. „[...] bei organi-sierten Neonazis [gehört] die
Bezug-nahme auf und die Verherrlichung des Nationalsozialismus ganz
explizit zum Programm [...] und zeigt nach wie vor die größten
Mobilisierungserfolge.“11 Diese Rechtsextremisten haben also den
Schritt zur offenen Feindschaft ge-genüber dem „System“ getan,
indem sie
R e c h t s e x t r e m i s m u s
Konrads Rechtsextremismusvon Anja Wolfgramm
einen Tabubruch begingen, um sich Gleichgesinnten
an-zuschließen. Ihre Ansichten müssen sich ansonsten nicht von
denen der Rechtsextre-misten in der Mitte der Ge-sellschaft
unterscheiden.
Zu dem Ursachen: „Wir fanden als Einflussfaktoren für die
Herausbildung die-ser rechtsextremen Einstel-lungen den als stark
emp-fundenen Normierungsdruck, die Angst vor Zugriffen auf das
Individuum, ein nicht reflektiertes Verhältnis von vermeintlich
bedrohlicher Fremdheit und idealisierter Heimat sowie
kulturalistische Vorbehalte gegenüber Mi-grant/innen, vor allem
gegen-über Muslimen.“12 Also nicht zuletzt die
(Neo-)Liberalisie-rung Deutschlands und der durch sie ständig
wachsende Konformitätsdruck in Schule, Ausbildung und Arbeitsle-ben
schüren den deutschen Rechtsextremismus. Angst vor Statusverlust,
sozialem Abstieg und dem Dasein der sozial „Abgehängten“ – für die
seitens der Mehrheit der Deutschen ironischerweise immer mehr
Härten gefordert werden – löst Aggression gegen Sündenböcke aus,
welche von Medien und Politik präsentiert werden. Deren
Normverstöße sollen schuld da-ran sein, dass ein phantasiertes
Ideal-Deutschland nicht existiert.
„Ein Blick in die Mitte“ zu den bi-ographischen Ursachen von
Rechtsex-tremismus: Je autoritärer und strenger die Erziehung,
desto eher besteht die Tendenz zur Befürwortung von Dikta-tur und
zu Hass und Verachtung gegen Schwächere.13 „Ein harter, kalter und
strafender Vater war besonders bei Menschen mit rechtsextremer
Einstel-lung anzutreffen.“14
Konrad Prokriefke, der Rechtsextremist
Konrad Prokriefke ist ein sehr un-gewöhnlicher Rechtextremist.
Es soll hier nicht behauptet werden, die Figur könnte nicht
Ent-sprechungen in der Wirklichkeit haben, dafür ist der deutsche
Rechtsextremis-mus zu heteromorph. Aber schon in bi-ographischer
Hinsicht weicht er stark vom typischen Rechtsextremisten ab. Der
Vater erzieht ihn nicht mit Härte, sondern gar nicht, und die
Mutter, bei-nahe die Karikatur einer Pädagogin15, ersetzt nicht die
autoritäre Vaterfigur.
Er bleibt ein Einzelgänger, nach-dem sein Erlebnis mit „den
Glatzen“ für ihn negativ verlaufen war.16 Diese
sind (neben einigen stumm bleibenden Mitgliedern einer
rechtsextremen Partei in der selben Szene) die einzigen im Buch
auftretenden orga-nisierten Rechtsextremisten. Mit weniger
bildungsfernen rechten Zirkeln17 sucht Kon-rad keinen Kontakt, was
da-ran liegen kann, dass sie im Gesichtskreis der Novelle keine
Rolle spielen.
Diese untypische „Kar-riere“ als Rechtsextremist entspricht
einer ebenso un-typischen Entwicklung des rechtsextremen Weltbilds
der Figur. Die „Einstiegsdroge“ Ausländerfeindlichkeit wird in
„Krebsgang“ „den Glatzen“ zugeschrieben18, sie ist weder in der
Mitte der Gesellschaft verbreitet noch von sicht-barer Relevanz für
Konrad. Existenz- und Zukunftsäng-ste kennt er nicht, sein selbst
auferlegter Leistungsdruck macht gesellschaftlichen
Normierungsdruck für ihn irrelevant. In offen disziplina-risch
geprägten Umgebungen fühlt er sich wohl.19 Die oben
zitierten Studien zeigen dagegen, dass reale Rechtsextremisten
typischerweise der Disziplin verbal huldigen und sie für die
Objekte ihrer Aggression for-dern, selbst aber unter hohem
Normie-rungsdruck leiden.
Inhaltlich fehlt vom Kulturalismus der Neuen Rechten bei Konrad
jede Spur. Dieser für den zeitgenössischen Rechtsextremismus so
wichtige neue Rassismus kommt in „Krebsgang“ praktisch nicht vor.
Das ist nur kon-sequent, denn die Quelle für Konrads
Rechtsextremismus ist nicht die durch die Zerrbrille der
Rechtsextremisten gesehene Gegenwart, sondern die Ver-gangenheit.
Auch das ist für Rechtsex-tremisten und organisierte Neonazis in
der Realität untypisch, bei denen die
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teilweise davon ab, sie beschuldigt auch „das Computerding“ und
sieht in Kon-rads Deutschland-Glorifizierung kein Problem. Aber
auch sie beschuldigt die Eltern. Rechtsextremismus ist diesen
Aussagen zu Folge ein Fehlschlag bei der Normalisierung eines
Heranwachsen-den, ein Normverstoß. Impliziert ist eine Forderung
nach effizienterer Norma-lisierung, die dann Rechtsextremismus
vermieden hätte bzw. vermeiden würde.
Bezug nehmend auf die zitierten Studien muss dem entgegen
gehalten werden, dass Rechtsextremismus im
zeitgenössischen Deutschland eben kein Normverstoß ist. In der
Mitte der deutschen Gesellschaft können Rechts-extremisten offenbar
unbehelligt leben und ihre Ansichten verbreiten, sofern sie nicht
offen erkennbar zu den orga-nisierten Neonazis gehören. Der
An-schluss an diese ist – noch – ein Tabu-bruch. Normverstöße
werden hingegen
„Ausländern“, Muslimen und Arbeitslo-sen pauschal vorgeworfen,
ob sie diese nun begehen oder nicht.
Zudem gehört starker Normierungs-druck zu den Auslösern von
Rechtsex-
tremismus. Dem Rechtsextremismus durch Normalisierungs- und
Diszipli-narmaßnahmen zu begegnen hieße Öl ins Feuer gießen.
Inhaltlich wäre eine Aussage wie „Du sollst nicht Rechtsex-tremist
sein, sondern Demokrat, weil wir, die wir Macht über dich ausüben,
es so wollen“, nicht nur wenig zielführend, sondern auch absurd.
Sie wäre jedoch nicht absurder als der Versuch, mit
Nor-mierungsdruck und Disziplinierung Menschen zur Achtung vor
Rechten und Freiheiten anderer zu bewegen. Zwang erzeugt vielleicht
Gehorsam, aber keine Einsicht.
Faszination für das Dritte Reich ge-wöhnlich erst eintritt,
nachdem sich ihr gegenwartsbezogenes rechtsextremes Weltbild
verfestigt hat.
Gemessen am typischen Werdegang des organisierten Neonazis
beginnt der Einzelgänger Konrad nicht am Anfang, sondern am Ende
des Weges. Nicht nur der Ich-Erzähler, sondern auch Konrad bewegt
sich im Krebsgang: Um den Rechtsextremismus als
vergangen-heitsbezogene Verwirrung zeigen zu können, lässt Grass
Konrad alle wich-tigen Elemente des realen deutschen
Rechtsextremismus quasi seitlich um-gehen. Der „Blick in die Mitte“
wird dem Leser erspart, und damit womög-lich der Blick in den
Spiegel.
Die Aussagen der Prozessbeteiligten zu den
Ursachen von Konrads Rechtsextremismus Aus
aller Welt
LDie Mutter des Ich-Erzäh-lers gibt den Eltern und dem
„Computerding“ die Schuld.20 Konrads „unverbrüchlichen Stolz auf
Deutschland“21 rühmt sie vor Gericht und sieht anscheinend keinen
Zusam-menhang zwischen diesem und dem Mord. Den Vorwurf gegen die
Eltern wiederholt der Ich-Erzähler: „Blind gestellt haben wir
uns.“22 In der Pas-sage zeigt sich allerdings, dass bereits Konrads
Schulreferate seinen Rechts-extremismus deutlich erkennen ließen.
Ebenfalls dem Vater geben die Gutach-ter die Schuld, der deren
Auffassungen als „wissenschaftliches Geschreibsel“ und
„Schnitzeljagden im familiären Gehege“ bezeichnet.23 Im
Wider-spruch zu seiner Selbstbezichtigung beschuldigt er jedoch
sowohl Konrads als auch seine Mutter.24 Der Verteidiger versucht,
in der Spur der Gutachter sei-nem Anliegen dienen zu können und
versucht sogar, Konrads Faszination für den „Blutzeugen“ als Suche
nach einem
R e c h t s e x t r e m i s m u s
Vaterersatz zu deuten.25 Die Zusam-menfassung liefert der
Ich-Erzähler:
„... während Anklage und Verteidigung, die dreieinigen Gutachter
und auch der Richter samt Beisitzern und Schöffen hilflos auf der
Suche nach dem Tat-motiv herumirrten, wobei sie Gott und Freud als
Wegweiser bemühten.“26
Allen Aussagen ist gemeinsam, dass sie Konrads Rechtsextremismus
als Ergebnis eines Fehlschlags seiner Er-ziehung deuten. Allenfalls
weicht die Einschätzung der Mutter des Ich-Er-zählers teilweise
davon ab, sie beschul-digt auch „das Computerding“ und sieht in
Konrads Deutschland-Glori-fizierung kein Problem. Aber auch sie
beschuldigt die Eltern. Rechtsextre-mismus ist diesen Aussagen zu
Folge ein Fehlschlag bei der Normalisierung eines Heranwachsenden,
ein Normver-stoß. Impliziert ist eine Forderung nach effizienterer
Normalisierung, die dann Rechtsextremismus vermieden hätte bzw.
vermeiden würde.
Bezug nehmend auf die zitierten Studien muss dem entgegen
gehalten werden, dass Rechtsextremismus im zeitgenössischen
Deutschland eben kein Normverstoß ist. In der Mitte der deutschen
Gesellschaft können Rechtsextremisten offenbar unbehelligt leben
und ihre Ansichten verbreiten, sofern sie nicht offen erkennbar zu
den organisierten Neonazis gehören. Der Anschluss an diese ist –
noch – ein Ta-bubruch. Normverstöße werden hinge-gen „Ausländern“,
Muslimen und Ar-beitslosen pauschal vorgeworfen, ob sie diese nun
begehen oder nicht.
Zudem gehört starker Normie-rungsdruck zu den Auslösern von
Rechtsextremismus. Dem Rechtsextre-mismus durch Normalisierungs-
und Disziplinarmaßnahmen zu begegnen hieße Öl ins Feuer gießen.
Inhaltlich wäre eine Aussage wie „Du sollst nicht Rechtsextremist
sein, sondern Demo-krat, weil wir, die wir Macht über dich ausüben,
es so wollen“, nicht nur wenig
zielführend, sondern auch absurd. Sie wäre jedoch nicht absurder
als der Ver-such, mit Normierungsdruck und Dis-ziplinierung
Menschen zur Achtung vor Rechten und Freiheiten anderer zu bewegen.
Zwang erzeugt vielleicht Ge-horsam, aber keine Einsicht.
Die Aussagen der Prozessbeteiligten zu den
Ursachen von Konrads Rechtsextremismus
Die Mutter des Ich-Erzählers gibt den Eltern und dem
„Com-puterding“ die Schuld. Konrads „unverbrüchlichen Stolz auf
Deutsch-land“ rühmt sie vor Gericht und sieht anscheinend keinen
Zusammenhang zwischen diesem und dem Mord. Den Vorwurf gegen die
Eltern wiederholt der Ich-Erzähler: „Blind gestellt haben wir uns.“
In der Passage zeigt sich al-lerdings, dass bereits Konrads
Schulrefe-rate seinen Rechtsextremismus deutlich erkennen ließen.
Ebenfalls dem Vater geben die Gutachter die Schuld, der de-ren
Auffassungen als „wissenschaftliches Geschreibsel“ und
„Schnitzeljagden im familiären Gehege“ bezeichnet. Im Wi-derspruch
zu seiner Selbstbezichtigung beschuldigt er jedoch sowohl Konrads
als auch seine Mutter. Der Verteidiger versucht, in der Spur der
Gutachter sei-nem Anliegen dienen zu können und versucht sogar,
Konrads Faszination für den „Blutzeugen“ als Suche nach einem
Vaterersatz zu deuten. Die Zu-sammenfassung liefert der
Ich-Erzähler:
„... während Anklage und Verteidigung, die dreieinigen Gutachter
und auch der Richter samt Beisitzern und Schöffen hilflos auf der
Suche nach dem Tatmotiv herumirrten, wobei sie Gott und Freud als
Wegweiser bemühten.“
Allen Aussagen ist gemeinsam, dass sie Konrads Rechtsextremismus
als Er-gebnis eines Fehlschlags seiner Erzie-hung deuten.
Allenfalls weicht die Ein-schätzung der Mutter des
Ich-Erzählers
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Plädoyer des Jugendstaatsanwalts
„Hohes Gericht, der Angeklagte Konrad Prokriefke hat durch seine
langen Ausführungen selbst den Be-weis erbracht, dass er über für
sein Alter überdurchschnittliche geistige Fähigkeiten verfügt. Sein
absurdes Weltbild tut hierbei nichts zur Sa-che, sehr wohl aber die
inhaltliche Schlüssigkeit seines Vortrags. Damit ist hinlänglich
erwiesen, dass er vor, während und nach der Tat genau wusste, was
er tat bzw. getan hatte. Er hat dies im Laufe des Verfahrens
auch immer wieder bekräftigt. Sei-ner warmherzigen Begeisterung
für den Nazi Gustloff steht die Art und Weise gegenüber, wie er
sein Opfer kaltblütig in den Tod lockte und „hinrichtete“, um seine
eigenen Worte zu gebrauchen. Zeit seines Lebens verschlossen und
kaltblütig, richtete sich seine einzige zwischen-menschliche Regung
auf Gustloff, den er zum Helden stilisierte. Er nutzte die liberale
Einstellung seiner Mutter aus, für die er aufgrund sei-nes
Weltbilds nur Verachtung haben kann, um dauerhaft in die Nähe
sei-ner Großmutter zu gelangen. Diese
benutzte er als Quelle für seinen Heldenkult, und für diese
Phanta-sien tötete er vorsätzlich und kalt-blütig einen Menschen
von Fleisch und Blut. Sein nüchternes und be-herrschtes Verhalten
auch nach der Tat ist nicht mit dem verwirrten Ju-gendlichen in
Einklang zu bringen, den die Gutachter in ihm sehen, sondern mit
einen skrupellosen und kalten Erwachsenen, der für seine absurden
Ideale über Leichen geht. Hohes Gericht, ich plädiere auf die
zulässige Höchststrafe für den An-geklagten.“
Plädoyer des Verteidigers
„Hohes Gericht, die Gutachter ha-ben bereits dargelegt, dass der
Ange-klagte Konrad Prokriefke an einer schweren emotionalen Störung
lei-det, die seine Zurechnungfähigkeit erheblich beeinträchtigt.
Entgegen seinen Beteuerungen wusste er nicht, was er eigentlich
tat, und er weiß es immer noch nicht. Er wird es erst begreifen,
wenn er durch intensive therapeutische Hilfe gelernt hat, in der
wirklichen Welt zu leben und andere als wirkliche Menschen
wahrzunehmen. Seine schreckliche Tat war ein Hilferuf. Einsam
und
ängstlich-verschlossen litt er stumm am Fehlen der für die
Entwicklung junger Menschen so wichtigen nor-malen familiären
Bindungen. Trau-matisiert durch die Trennung der Eltern, suchte er
unterbewusst nach dem Vater, der im wahren Leben nicht für ihn da
war. Zu verletzlich, um sich realen Menschen zu öffnen, floh er in
die Weiten des Internet, wo die Anonymität und die Virtua-lität ihm
Schutz boten. Es war nichts als ein unseliger Zufall, dass die
Erzählungen seiner Großmutter vom Untergang der „Wilhelm
Gust-loff“, die den sensiblen Jungen stark aufgewühlt hatten, ihn
zu dem Mann führten, der für Konrad Pro-
kriefke den Platz des Vaters ein-nahm. Ihm fehlte der Vater, dem
kinderlosen Ehepaar Gustloff der Sohn. Hier war ein Platz, den
Kon-rad Prokriefke einnehmen konnte. Der Angeklagte klammerte sich
mit einer solchen emotionalen Intensität an den endlich gefundenen
Ersatz-vater, dass er sogar für ihn tötete. Selbst jetzt, da es um
sein künftiges Schicksal geht, versteckt er sich hin-ter markigen
Sprüchen aus der Ver-gangenheit und vorgetäuschter Ruhe und
Selbstsicherheit. Konrad Prokriefke braucht Hilfe. Hohes Gericht,
ich plädiere auf Einweisung des Angeklagten in eine therapeu-tische
Heilanstalt.“
20. Krebsgang, S. 18021. ebd., S. 18122. ebd., S. 183f. Die
Uneinigkeit der Eltern bezüglich der
Schulreferate siehe S. 187 f.23. ebd., S. 19324. ebd.
25. ebd., S.195 26. ebd., S. 196