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Rechtliche Grundlagen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion von Prof. Dr. iur. utr. Dr. h.c. Manfred A.Dauses, D.E.S., Dipl. E.N.A. Verlag C.H. Beck München 2003
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Rechtliche Grundlagen der Europäischen Wirtschafts- und ... · Zwar reicht das Konzept nicht so weit, daß inkompatibles nationales Recht eo ipso seine Gültigkeit verliert (Geltungsvorrang),

Aug 08, 2019

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Page 1: Rechtliche Grundlagen der Europäischen Wirtschafts- und ... · Zwar reicht das Konzept nicht so weit, daß inkompatibles nationales Recht eo ipso seine Gültigkeit verliert (Geltungsvorrang),

Rechtliche Grundlagender Europäischen

Wirtschafts- und Währungsunion

von

Prof. Dr. iur. utr. Dr. h.c. Manfred A.Dauses,D.E.S., Dipl. E.N.A.

Verlag C.H. Beck München 2003

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2 Strukturprinzipien des Rechts derWirtschafts- und Währungsunion

2.1 Grundlagen

Anders als das frühere Europäische Wahrungssystem (EWS), das als „mixtumcompositum" aus dem Tätigwerden verschiedener europaischer Organe undnationaler Währungsbehörden (Entschließungen des Europäischen Rates, Ge-meinschafts Verordnungen, Abkommen der nationalen Zentralbanken)1 hervor-gegangen war, somit nur partiell auf Gemeinschaftsrecht beruhte und nur be-schränkt der Jurisdiktion der EuGH unterlag, sind die Regetungen über dieWWU in ihrer Gesamtheit Gemeinschaftsrecht, mithin durch dessen Struktur-und Ordnungsprinzipien geprägt und vollumfänglich der Rechtmäßigkeits-kontrolle des EuGH unterworfen.

Die einschlägigen Vorschriften finden sich im EG-Vertrag bzw. wurden aufder Grundlage von Ermächtigungsvorschriften im EG-Vertrag von den Ge-meinschaftsorganen oder der EZB erlassen. Über den Grundsatz der Einheitder Gemeinschafts vertrage (vgl. Art. 305 [ex-Art. 232] EGV), der aus der Ge-meinsamkeit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundziele" sowieder institutionellen1 und funktionellcn4Verklammerimg der drei Gemeinschaf-

1 Vgl. H.J. Hahn/J. Siebelt, Von der Zusammenarbeit der Zentralbanken zurWährungsunion, in: M. A. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschafts rechts, 2. Auf-lage, 9. EL 2000,Bd.l,F.I.,R.dnr.I3.

" Diese sind nach den Präambeln und Eingangsartikeln der Gründungsverträge derdrei Gemeinschaften in erster Linie die Friedenssicherung, die wirtschaftliche undsoziale Prosperität (harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens, beständige und aus-gewogene Wirtschafeausweitung, größere Stabilität, beschleunigte Hebung der Lebens-haltung) und der immer engere Zusammenschluß der europäischen Völker. Dazu E. Gra-bitz, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union, 14.EL 1999,Art. 2 EWGV, Rdnr. 3 ff.

• Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften vom25.3.1957 (Versammlung, Gerichtshof, Wirtschafts- und Sozialausschuß); Vertrag zurEinsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission derEuropäischen Gemeinschaften vom 8.4. 1965. Zuleeg spricht von einer „einheitlichenOrganverfassung": M. Zuleeg, in: von der G ro eben/ 'I 'hiesing/ E hl er mann (Hrsg.), EWG-Vertrag, 4. Auflage 1991, Art. 1, Rdnr. 20.

4 ,.Prinzip der funktioneilen Integration": W Hallstein, Die Europäische Gemein-schaft, 5. Auflage 1979, S. 22 ff.; vgl. H.E Ipsen, Europäisches Gemeinschafts recht, 1972,S. 981 ff.

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2 Stntkturprinzipien des Rechts der Wirtschafts- und Wähmngsunion

ten mit identischem Mitgliederkreis * fließt, gelten diese Vorschriften auch fürSachverhalte im primären Anwendungsbereich des EGKS- und EAG-Vertrags.

Es erscheint daher angebracht, der Analyse der technischen Einzelregelun-gen betreffend dieWWU einen Überblick über die strukturellen Grundlagendes Gemeinschaftsrechts (Eigenständigkeit,Vorrang und direkte Wirkung; Haf-tung bei Verletzungen des Gemeinschaftsrechts; Schutz der Grundrechte imGemein schaftsrecht) voranzustellen.

2.2 Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts

Das Europäische Gemeinschaftsrecht bildet eine von seinem völkerrechtlichenUrsprung weitgehend losgelöste eigenständige Rechtsordnung mit autono-mem Geltungsgrund, eigenen Rechtsquellen, Konstitutions- und Struktur-prinzipien, eigener Begrifflichkeit und besonderen Auslegungsniethoden. Es ist,,Ausdruck eines besonderen, durch eine europäische Rechtsgemeinschaft ge-prägten "Wertbewußtseins"1'.

So kommt z.B. im Rahmen der Freizügigkeitsregeln (Art. 39 ff. [ex-Art. 48 ff.] EGV) den Begriffen „Arbeitnehmer"', „öffentliche Ordnung undSicherheit" (ordre publicf und „öffentliche Verwaltung'"' ein eigenständiger Be-deutungsgehalt zu, der nicht durch Rückgriff auf entsprechende Definitionenin den Rechtsordnungen der verschiedenen Mitgliedstaaten ermittelt werdenkann, sondern zentral und einheitlich für das gesamte Unionsgebiet durch denEuGH ausgelegt wird. Zugleich stellt das Gemeinschaftsrecht ein interdiszi-

? Der Grundsatz der einheitlichen Mitgliedschaft in den drei Europäischen Gemein-schaften galt als politisches Prinzip schon seit den Römischen Verträgen vom 25.3.1957.Art. 49 [ex-Art. O] EUV (Aufnahme weiterer Mitglieder in die Europäische Union) hatdie Einheitlichkeit der Mitgliedschaft in den Rang eines geschriebenen Verfassungsprin-zips erhoben.

'' U. Everling, Sind die Mitgliedstaaten noch Herren derVemäge5 ZumVerhältnis vonEuropäischem Gemcinschaftsrecht und Volkerrecht, in: Festschrift fiir H. Mosler, 1983,S. 173 (177). Siehe dazu auch: M Seidel, National Origins of European Law:Towards anautonomous system of European Law?, in: P.-Ch. Müller-Graff/E. Selvig (Hrsg.), Euro-pean Law in the German-Norvegian Context, Origins and Perspec tives, 2002, S. 37 ff.

7 Urteil vom 23.3.1982,Levin,Rs.53/81,EuGHE 1982,1035; Urteil vom 3.6.1986,Kempf, Rs. 139/85, EuGHE 1986,1741; Urteil vom 3.7.1986, Lawrie-Blum, Rs.66/85,EuGHE 1986,2121.

8 Urteil vom 27.10.1977, Bouchereau, Rs. 30/77. EuGHE 77, 1999; Urteil vom5.2.1991, Roux, Rs.C-363/89, EuGHE 1991, 1-273; Urteil vom 28.10.1975, Rutih,Rs.36/75, EuGHE 1975, 1219; Urteil vom 4.12.1974, van Duyn, Rs.41/74, EuGHE1974, 1337; Urteil vom 26.2.1975. Bonsignore, Rs. 67/74, EuGHE 1975, 297.

"Urteil vom 27.11.1991, Bleis, Rs.C-4/91, EuGHE 1991, 1-5627; Urteü vom26.5.1982, Kommission/Belgien, Rs. 149/79, EuGHE 1982, 1845; Urteil vom3.7.1986, Lawrie-Blum, Rs. 66/85, EuGHE 1986. 2121.

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2.2 Eigenständigkeit da Gememschaftsmhts.

plinäres Recht dar, das zunehmend alle wirtschaftlich relevanten und, darüberhinaus, auch zahlreiche weitere Regelungsbereiche umfaßt.

Obwolü die EG/EU (noch) kein Bundesstaat, sondern ein Verbund souver-äner Staaten ist, die nur auf begrenzten Gebieten ihre Hoheitsrechte auf einesupranationale Einrichtung übertragen haben, trägt die Gemeinschaftsrechrs-ordnung bereits in verschiedener Hinsicht eher staatsverfassungsrechtliche alsvölkerrechtliche Züge.

Dies kommt nicht zuletzt in der vom EuGH entwickelten Auslegungsme-thodik zum Ausdruck. Unter den klassischen hermeneutischen Methodennimmt die systematische und ideologische Auslegung den ersten Platz cm; ihrgegenüber tritt die am Wortlaut orientierte Auslegung in den Hintergrund. Be-sonderes Gewicht mißt die Rechtsprechung des EuGH dem „effet utile"(principle of effectiveness) und der dynamischen Evolution des Gemeinschafts-rechts bei, wohingegen die (retrospektive) historische Auslegung keine nen-nenswerte Rolle spielt1". In klarem Gegensatz zur Praxis völkerrechtlicher Ge-richte, insbesondere des (Ständigen) Internationalen Gerichtshofes, tendiert derEuGH überdies dahin, Souvenimtätsvorbehalte der Mitgliedstaaten den Inte-grationsbedürfnissen der Gemeinschaft unterzuordnen. Er versteht dasGemeinschaftsrecht als eine Integrationsordnung mit der Folge, daß ihretragenden Begriffe und Grundsätze, insbesondere die Grundfreiheiten desGemeinsamen Marktes/Binnenmarktes, weit, Ausnahmen und staatliche Vor-behalte aber eng zu definieren sind (sog. Regel-Ausnahme-Schema)1 .

Die Autonomie des Gemeinschaftsrechts ist jedoch eine nur relative. Korn-munitäres und nationales Recht sind keine strikt getrennten Rechtskreise, son-dern über die Gemeinsamkeit des historischen Ursprungs und die gemein-europäischen Rethtstraditionen eng miteinander verflochten und verschränkt.Zahlreiche EG-Regelungen greifen tief in gewachsene nationale Strukturenein, man denke nur an das Ausländerrecht, das Berufs- und Gewerberecht, dasLebensmittelrecht, das Recht der technischen Vorschriften und Normen, dasSteuer-, Gesellschafts- und Wettbewerbsrecht, das Verbraucherschutz-, Umwelt-und Medienrecht, das internationale Zivil- und Zivilverfahrensrecht. Ihren po-sitivrechthchen Ausdruck findet diese wechselseitige Verflechtung in der Auf-forderung der Gemeinschaftsverträge zur rechtsvergleichenden Bezugnahmeauf die gemeineuropäischen Verfassungsüberlieferungen im Bereich des Grund-

ü Vgl. H. Kutscher,Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gerichtshofs aus derSicht eines Richters, Luxemburg 1976, S. 1-1; C. Hamson, Methoden der Auslegung -Kritische Wertung der Ergebnisse, Luxemburg 1976, S. II—1; A. Bleckmann/S. U. Pieper,Rechtsquellen, in: M.A. Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts. aaO.,Bd. 1, B. I., Rdnr. 5ff.;M. A. Dauses, Der EuGH: Garant der Einheit des Gemeimchafts-rechts, in: DRiZ 1984, S. 349 (355); ders., Das Vorab entscheidungsverfahren nach Artikel177 EG-Vertrag, 2. Auflage 1995, S.77ff.

!l So insbesondere A. Bleckmann/S. U. Pieper, aaO., Rdnr. 56 ff.; M.A. Dauses, aaO.,S.355;ders.,aaO.,S.79f,

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H 2 Stmktmprinzipien des Rechts der Wirtschafts- und Wähnmgsunion

rechtschutzes (Art. 6 [ex-Art F] II EUV)12 und die allgemeinen, den mitglied-staatlichen Rechtsordnungen gemeinsamen Rechtsgrundsatze im Bereich deraußervertraglichen Haftung (Art. 288 [ex-Art.215] II EGV)'\

Mit anderen Worten, das Gemeinschaftsrecht bildet eine noch unvollständi-ge „Teilrechtsordnung"'4, die der rechtsvergleichenden Ergänzung aus demFundus der mitgliedstaattichen Rechtsordnungen, aber auch der ungeschriebe-nen allgemeinen Rechtsgrundsätze bedarf, die den Rechtsordnungen der Mit-gliedstaaten zugrunde liegen. So enthält das Gemeinschaftsrecht, von raren Aus-nahmen abgesehen, keine Organisations- und Verfahrensvorschriften zu seinerDurchsetzung vor den staatlichen Behörden und Gerichten. Die wenigenrechtsstaatlichen Rahmenanforderungen, welche die Judikatur des EuGH ent-wickelt hat (Gebot eines leich: zugänglichen und zügigen Verwaltungsverfah-rens11, Garantie eines gerichtlichen Rechtswegs"', einschließlich Maßnahmendes vorläufigen Rechtsschutzes17) müssen für ihre praktische Anwendung erstdurch nationales Ordnungsrecht konkretisiert werden. Gemeinschaftsrecht undeinzelstaadiches Recht wirken hier arbeitsteilig zusammen.

2.3 Vorrang des Gemeinschafts rechts

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH, beginnend mit dem UrteilCosta/ENEL (1964)1N,hat das europäische Gemeinschaftsrecht Vorrang vor jeg-lichem internen Recht, einschließlich des Verfassungsrechts der Mitgliedstaa-ten. Das Vorr^ngprinzip ist monistisch ausgestaltet, d.h. es beinhaltet nicht nurdie Verpflichtung des Gesetzgebers, das nationale mit dem höherrangigen Ge-rneinschaftsrecht in Einklang zu bringen, sondern erfordert darüber hinaus, in

12 Art. 6 [ex-Art. F] II HUV lautet: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in deram 4.11. 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schütze derMenschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den ge-meinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ais allgemeine Grundsätzedes Gemeinschaftsrechts ergeben". Der Amsterdamer Vertrag hat überdies einen Sak-tionsmechanismus für den Fall schwerwiegender Vorstöße von Mitgliedstaaten gegenGrundrechte geschaffen (Art. 7 EUV n.E).

13 Gemäß Art. 288 [ex-Art 215] II EGV leistet im Bereich der außervertraglichen(deliktischen) Haftung die Gemeinschaft Schadensersatz „nach den allgemeinen Rechts-grundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind".

14 H. Kutscher, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften 1952-1982:Rückblick — Ausblick, in: Integration (Beilage zur Europäischen Zeitung), 4/83, S. 149(151).

1:1 Z.B. Urteil vom 12.3.1987, Kommission/Deutschland, „Reinheitsgebot für Bier",Rs. 178/74, EuGHE 1987,1227(1274).

"' Z.B. Urteil vom 12.3.1987, aaO.17 Urteil vom 19.6.1990, Factortame, Rs. C-213/89, EuGHE 1990,1-2433.ls UrteÜ vom 15.7.1964, Costa/ENEL, Rs.6/64, EuGHE 1964, 1251.

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2.3 Vorrang des Gemeinschaftsrechts

Verbindung mit dem Grundsatz der unmittelbaren Geltung (effet direct)1 , auchdie Beachtung der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts seitens der Judikativeund Exekutive, sofern diese hinreichend klar, präzise und unbedingt sind, umohne weiteren (kommunitären oder nationalen) Durchflihrungsakt Anwen-dung finden zu können.

Behörden und Gerichte haben das innerstaatliche Recht, so weit wie mög-lich, in Übereinstimmung mit den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechtsauszulegen und anzuwenden und, sofern eine gemeinschaftsrechtskonformeAuslegung nicht möglich ist, entgegenstehendes innerstaatliches Recht unan-gewendet zu lassen"1'. Zwar reicht das Konzept nicht so weit, daß inkompatiblesnationales Recht eo ipso seine Gültigkeit verliert (Geltungsvorrang), jedochbedeutet es, daß derartiges Recht im Kollisionsfall außer acht zu bleiben hat(Anwendungsvorrang).

Nach allgemeinem Verständnis entsteht der Anwendungsvorrang des Ge-meinschaftsrechts - anders als die innerstaatliche Geltung von „self-executingtreaties" im Völkervertragsrecht - nicht aufgrund einer Anordnung des staatli-chen Verfassungs rechts, sondern aufgrund der „Natur" des Gemeinschaftsrechtsselbst, da andernfalls die Grundlage der Gemeinschaft/Union in Frage gestelltwürde. Für das von den Gemeinschaftsorganen erlassene „sekundäre" Gemein-schaftsrecht impliziert diese Feststellung, daß es zu seiner innerstaatlichen Wirk-samkeit grundsätzlich - von dem Sonderfall der umsetzungsbedürftigen Richt-linien abgesehen — keiner besonderen Übernahme (Transformation) in dienationale Rechtsordnung bedarf.

In der Praxis bedeutet dies, daß die Mitgliedstaaten kein dem Europarechtwidersprechendes nationales Recht setzen oder beibehalten dürfen. Darüberhinaus ist es ihnen verwehrt, in Bereichen ausschließlicher Gemeinschaftskom-petenz (z.B. Abschluß von Zoll-. I landeis- oder Assoziierungsabkommen mitDrirtstaaten) oder im Falle einer abschließenden Gemeinschaftsregelung (z.B.Gemeinsame Agrarpolitik) einseitig nationales Recht zu erlassen" , und zwarselbst dann, wenn dieses inhaltlich mit dem Europarecht in Einklang steht22.

Für Verwaltungen und Gerichte gilt, daß sie uilra vires erlassenes oder nachseinem Regelungsinhalt gemeinschaftsrechtswidriges nationales Recht, soweit

'̂ Gefestigte Rechtsprechung des EuGH seit Urteil vom 5.2.1963, Van Gend &Loos, Rs. 26/62, EuGHE 1963, 1.

i0Urteil vom 4.2.1988, Murphy, Rs. 157/86, EuGHE 1988, 673; Urteil vom11.7.1989, Ford Espana, Rs. 170/88, EuGHE 1989, 2307.

21 Z.B. Urteil vom 5.2.1981, Horvath, Rs-50/80, EuGHE 1981, 385; Urteil vom26.10.1982, Wolf, Rs. 221/80, EuGHE 1982, 3681; Urteil vom 26.10.1982, Emberger,Rs. 240/81, EuGHE 1982, 3699 (Verbot der Erhebung nationales Zölle bzw. Ein-fuhrumsatzsteuer auf Betäubungsmittel im illegalen Handel).

" Z.B. Urteil vom 14.7.1988, Drei Glocken u.a., Rs.407/85, EuGHE 1988,4233(4285); Urteil vom 14.7.1988, Zora, Rs. 90/86, EuGHE 1988, 4285 (4397) (ergänzen-de nationale Maßnahmen zur Unterstützung der Gemeinsamen Agrarpolitik).

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III 2 Strukturprinzipien des Rechts der Wirtschafts- und Währungsunion

es direkte Wirkung entfaltet, nicht mehr anwenden dürfen. Vor dem Hinter-

grund des in den Verfassungen fast aller Mitgliedstaaten enthaltenen Verbots für

den „einfachen" Prozeßrichter, parlamentarische Gesetze in eigener Verant-

wortung für nichtig oder ungültig zu erklären (vgl. für die Bundesrepublik

Deutschland das in Art. 1001 Grundgesetz statuierte „Verwerfungsmonopol"

des Bundesverfassungsgerichts), verdient der Unistand Beachtung, daß dem-

gegenüber jeder nationale Instanzrichter aufgrund des Vorrangs des Gemein-

schaftsrechts berechtigt und verpflichtet ist, gemeinschaftsrechtswidriges

innerstaatliches Recht aus eigener Entscheidungsbefugnis und in eigener

Verantwortung unangewendet zu lassen, ohne dessen vorherige Beseitigung

durch den Gesetzgeber oder durch ein Verfassungsgericht abwarten zu müs-

sen"1. Die Normenkontrollbefugnis der nationalen Gerichte nach Gemein-

schaftsrecht kann somit weiter reichen als ihre entsprechende Prüfungskompe-

tenz nach innerstaatlichem Verfassungsrecht.

Vorbehalte gegen den Primat des Gemeinschaftsrechts werden heute unter den15 EU-Mitgliedstaaten nur noch in der Bundesrepublik Deutschland gehendgemacht. Der umstrittenen „Solange"-Rechtsprechung des deutschen Bundesver-fassungsgerichts (BVerfG) liegt der methodische Ansatz zugrunde, daß die Über-tragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft nicht zu einer Minderung desnach nationalem Verfassungsrecht gewährleisteten Grundrechtsschutzes fuhrendarf, Hohcitsrechte somit nur an die Gemeinschaft abgegeben werden dürfen,wenn dort ein dem nationalen Standard kongruenter Grundrechtsschutz gewähr-leistet ist24. Mittlerweile ist dieser Konflikt weitgehend entschärft. Das UVerfGanerkennt nunmehr, daß der EuGH inzwischen einen wirksamen Grundrechts-schutz gewährleistet, der dem vom deutschen Grundgesetz gebotenen im wesent-lichen gleichzuachten ist, so daß das BVerfG seine Gerichtsbarkeit über dieAnwendbarkeit von abgeleitetern Genieinschaftsrecht in der BundesrepulikDeutschland grundsätzlich nicht mehr ausübt und Gemeinschaftsrecht mithin

::i Urteil vom 9.3.1978, Simmenthai, Rs. 106/77, EuGHE 1978, 629 (644). Der Ent-scheidung lag der Sachverhalt zugrunde, daß nach italienischem Recht das Monopol derVerwerfung formeller Gesetze auch im Fall ihrer Unvereinbarkeit mit dem Gemein-schaftsrecht beim italienischen Verfassungsgerichtshof (Corte Costituzionale) lag. DerEuGH hat mit seiner Entscheidung die bis dahin im Schrifttum vertretene Auffassungverworfen, die es ausschließlich als eine Frage des innerstaatlichen Rechts ansah, ob undin welchem Umfang der nationale Prozeßrichter gehalten war, von einer eigenen Kol-lisionsentscheidung abzusehen und vorab im Wege des Normenkontro 11 Verfahrens hier-zu die Entscheidung des nationalen Verfassungsgerichts einzuholen. Siehe auch Urteilvom 11.7.1989, Ford Espana, aaO.. 2307; Urteil vom 19.6.1990, Factortame, aaO-,1-2433.

24 „Solange I" - Beschluß vom 29.5.1974. BVerfGE Bd. 37, S. 271. In diesem Be-schluß wurde die Richter vorläge im Normenkontro 11 verfahren des Art. 1001 GG fürzulassig erachtet, soweit mit ihr die Klärung des Verhältnisses zwischen den Grund-rechtsgarantien des Grundgesetzes und Vorschriften des sekundären Gemeinschaftsrechtserstrebt wird. Die Gemeinschaft bilde zwar eine eigenständige, aus autonomer Rechts-quelle fließende Rechtsordnung, jedoch sei keine hinreichende Rechtsgewißheit übereinen wirksamen Grundrechtsschutz gewährleistet, „solange" die Gemeinschaftsordnungnoch über keinen von einem Parlament beschlossenen, formulierten Katalog vonGrundrechten verfuge, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat sei.

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i .

2,4 Direkte Wirkung des Gemeinschaftsrechts 1 I

nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes über-prüft25.

Das jüngste einschlägige Urteil des BVerfG (betreffend das Zustimmungsgesetzzum EUV) läßt wiederum eine Akzentsetzling im Sinne einer verstärkten lendenzzur „Denationalisierung" des Grundrechtsschutzes gegenüber der HoheitsgewaJtder Gemeinschaft erkennen. Das BVerfG bekräftigt darin seine Zuständigkeit zurgenerellen Gewährleistung eines wirksamen Grundrechtsschutzes im Geltungsbe-reich des Grundgesetzes, betont allerdings, seine Gerichtsbarkeit in einem„Kooperationsverhältnis" zum EuGl i ausüben zu wollen, „in dem der Europäi-sche Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Ge-biet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgerichtsich deshalb auf eine generelle Gewährleistung des unabdingbaren Grundrecht-Standards ... beschränken kann''"''.

Trotz des in der „Solange II" - Rechtsprechung (auf die das „Maastricht"-Ur-teil ausdrücklich Bezug nimmt) aufgestellten Grundsatzes der bedingten„Nichtausübung" der Gerichtsbarkeit des BVerfG ist das deutsche Verfassungsver-ständnis somit immer noch durch die These geprägt, daß die Integrationskompc-ten/ der Bundesrepublik (gemäß Art. 23 GG n.F.) ihre Schranken in der Identitätdes Grundgefüges der geltenden Verfassungsordnung findet.

2.4 Direkte Wirkung des Gemeinschaftsrechts

2.4.1 Allgemeines

Im Lichte der Artikel 2 und 3 EGV über die Ziele der Gemeinschaft setzt dieErrichtung eines Gemeinsamen Marktes/Binnenmarktes und die Verwirkli-chung gemeinsamer Politiken voraus, daß eine bestimmte Anzahl von Berei-chen, die bisher ausschließlich durch innerstaatliches Recht geregelt waren, nun-mehr einem in die innerstaatliche Ordnung integrierten und im Hoheitsgebietaller Mitglicdstaatcn einheitlich anwendbaren gemeinsamen Recht unterworfensind. Hierbei bandelt es sich nicht um klassisches Völkerrecht, das lediglich aufzwischenstaatliche Zusammenarbeit gerichtet ist und „nur wechselseitige Ver-pflichtungen zwischen den vertragschließenden Staaten begründet"" . Die Ge-meinschaft ist vielmehr nach dem Willen ihrer Gninder ein Zusammenschlußeuropäischer Staaten mit einer eigenen und eigenständigen Rechtsordnung, die„in die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und vonihren Gerichten anzuwenden ist""', eine Integrationsordnung, deren Rechts-subjekte nicht nur die Mitghedstaaten selbst, sondern auch die einzelnen sind.Den an die Mitgliedstaaten gerichteten Verboten der Behinderung des grenz-

•\,Solange II" - Beschluß vom 22. 10.1986, BVerfGE Bd. 73. S. 339; dazu M. Hilf,Solange II: Wie lange noch Solange?, in: HuGRZ 1987, S. \.

36 Urteil vom 12. 10. 1993, BVerfGE ßd.89, S. 155.r Urteil vom 5. 2.1963, Van Gend & Loos, aaO., 24.:s Urteil vom 15.7.1964, Costa/ENEL, aaO., 1269f.

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12 2 Stmkturprinzipien des Rechts der Wirtschafte- und Wähmngsunioti

überschreitenden Freiverkehrs entsprechen mithin subjektive gerichtlich ein-klagbare Rechte der einzelnen Marktbürger auf beschränkungsfrcie Teilnahmeam Wirtschaftsverkehr^ Damit ist die Gemeinschaft nicht nur das politische undökonomische Ordnungskonzept eines Staatenverbundes, sondern zugleich eineBürgergemeinschaft. Aus der Institution Gemeinsamer Markt/Binnenmarkt ha-ben sich europaische Grundfreiheiten der Marktbürger entwickelt1".

Während die normenhierarchische Vorrangigkeit vor dem innerstaatlichenRecht, einschließlich der Verfassung, jeglichem, mithin auch dem sekundärenGemeinschaftsrecht zukommt, setzt die direkte Wirkung (unmittelbare Geltung)eine bestimmte inhaltliche Normquahtät des betreffenden Gemeinschaftsrechts-satzes voraus. Direktwirkung bedeutet „Durchgntfsfahigkeit" in dem Sinne, daßdie betreffende Vorschrift unmittelbare Rechtsbeziehungen in der innerstaatli-chen Rechtsordnung schafft, auf die die einzelnen sich berufen können, und diedie staatlichen Behörden und Gerichte beachten müssen. Die unmittelbare Wir-kung entsteht aufgrund des Geltungsanspruchs des Gemeinschaftsrechts selbst,ohne daß es der vorherigen Übernahme der fraglichen Norm in das nationaleRecht durch einen Transfermationsakt oder Vollzugsbetehl bedürfte. Maßgeb-lich ist insoweit die am „effet utile" orientierte Spruchpraxis des EuGH. Danachsind alle hinreichend genauen, präzisen und unbedingten Rechtssätze des Ge-meinschaftsrechts unmittelbar in der nationalen Rechtsordnung wirksam. DieseKriterien sieht der EuGH fast ausnahmslos hinsichtlich aller binnenmarktbezo-genen Vertragsbestimmungen als gegeben an.

Im Lichte dieser gefestigten Rechtsprechung ist eine Vorschrift hinreichendklar und genau, um von den einzelnen geltend gemacht und vom nationalenProzeßgencht angewendet werden zu können, wenn sie in unzweideutigenWorten eine Verpflichtung festlegt11. Sie ist unbedingt, wenn sie eine Verpflich-tung normiert, die an keine Bedingung geknüpft ist und zu ihrer Durchführungoder Wirksamkeit keiner weiteren Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane oderder Mitgliedstaaten bedarf1", diesen mithin keinen Ermessensspielraum beläßt.

Hinsichtlich der „Unbedingtheit" ist in der EuGH-Rechtsprechung geklärt1', daßdieses Kriterium weder allein deswegen entfallt, weil die betreffende Bestimmungetwa Mindest- oder Höchststandards vorschreibt, welche die Mitglieds taaien

•'' I. Schwartz, Zum Konzept „Gemeinsamer Markt" in: R. Hrbek/V. Schwarz(Hrsg.), 40 Jahre Römische Verträge: Der deutsche Beitrag, 1998, S. 154 (159).

'l; I. Schwartz, aaO., S. 159ff.; vgl. auch U. Everling. Zur Stellung der Mitgliedstaatender Europäischen Union als „Herren der Vertrüge", in: Festschrift für E.Bernhardt, 1995,S. 1161 (1165 ff.).

11 Urteil vom 26.2.1986, Marshall, Rs. 152/84, EuGHE 1986, 723: Urteil vom4-12. 1986,1-ederatie NederlandseVakbewegmg, Rs. 71/85, EuGHE 1986, 3855.

"Urteil vom 3.4.1968, Molkerei-Zentrale Westfalen/Lippe, Rs. 28/67, EuGHE1968,216 (230f.).

" Urteil vom 19.11.1991, Francovich, Bonifaci u.a., verb. Rs.C-6/W und C-9/90,EuGHE 1991.1-5357 (5409 f.); Urteil vom 2.8.1993, Marshall, Rs. C-271/91, EuGHE1993,1-4367 (4410).

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2.4 Direkte Wirkung des Gemeinschaftsrechts i *

über- oder unterschreiten dürfen (z.B. sog. „Minimalharmonisierung" in den Be-reichen des Verbraucher- oder Umweltschutzes, vgl. Art. 153 |ex-Art. 129a] IIIEGV, Art. 176 [ex-Art 130t] EGV), noch auch deswegen, weil den Mitgliedstaa-ten unter bestimmten Voraussetzungen eine Derogationsmöghchkeit eröffnet ist(z.B. „optmg out" gemäß Art.95 [ex-Art. 100a] IV EGV)14. Vielmehr erstrecktsich in diesen Fällen die direkte Wirkung auf den zwingend vorgeschriebenenMindeststandard; in Fällen einer bedingten Dcrogation greift die direkte Wirkungein, sofern die formellen oder materiellen Voraussetzungen der Dcrogation nichterfüllt sind'1.

ä2.4.2 Primär recht

Die Gemeinschafts vertrüge enthalten keine Aussage über eine etwaige unmit-telbare Wirkung ihrer Vorschriften. Abgesehen von wenigen ausgewähltenNormen wie Art. 81 [ex-Art. 85] EGV und Art- 82 [ex-Art. 86] EGV (Wettbe-werbsregeln), die sich ihrer Natur nach AU die einzelnen Marktbiirger (Wirt-schaftsunternehmen) richten, betreffen die meisten Bestimmungen nach ihremWortlaut ausschließlich die Mitgliedstaaten. So begründen die Vorschrittenüber den freien Warenverkehr (Errichtung der Zollunion und Beseitigung dermengenmäßigen Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung) undüber dem freien Personenverkehr (Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Niederlas-sungsrech: und freier Dienstleistungsverkehr) nach ihrem Wortlaut lediglichVerpflichtungen der Mitgliedstaaten, ohne den einzelnen die Befugnis ein-zuräumen, daraus den Staatsverpflichtungen entsprechende subjektive Rechtherzuleiten.

Erst die Rechtsprechung des EuGH hat im Wege der prätorischen Rechts-schöpfung den entscheidenden Schritt von der objektiven Staatenverpflichtungzum subjektiven Rechtsanspruch der einzelnen getan. Die rechtsdogmatischenGrundlagen wurden in dem frühen Urteil Van Gend & Loos (1963) gelegt ''. Inihm hat der EuGH Art. 12 EWGV, der die Einführung neuer Zölle und Abga-ben gleicher Wirkung und die Erhöhung bestehender Zölle und Abgaben imVerhältnis zwischen den Mitgliedstaaten verbot, „unmittelbare Wirkungen" inder Weise zuerkannt, daß er „individuelle Rechte begründet, welche die staat-lichen Gerichte zu beachten haben". In den Urteilsgründen wird systematisch-teleologisch argumeniert: Ob eine bestimmte Vorschrift unmittelbare Wirkungentfalte, sei „nach dem Geist, der Systematik und dem Wortlaut des Vertrages"(„selon l'esprit, l'economie et le texte du traite") zu beurteilen. Das Ziel desEWG-Vertrags sei die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes, dessen Funktio-nieren die Gemeinschaftsbürger unmittelbar betrifft, d.h. der Vertrag ist mehr

t4 Urteil vom 26.2.1986, Marshall, aaO.15 Urteil vom 19.1.1982, Becker, aaO., 73; Urteil vom 19. 11.1991, Francovich. Bo-

nifaci u.a., aaO.•"' Urteil vom 5.2. 1963,Van Gend & Loos, aaO.

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14 2 Struktitrprinzipien des Rechts der Wirtschaßs- und Währnngsittihn

als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den Mit-

gliedstaaten begründet.

Das Gemeinschaftsrecht ist somit nicht nur für die Mitgliedstaaten als

vertragschließende Parteien beachtlich, sondern hat auch unmittelbaren nor-

mativen Bezug auf jeden betroffenen einzelnen. Normenkonflikte zwischen

Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht bilden daher nicht nur einen Ge-

genstand möglicher Vertragsverletzungsverfahren, sondern sind zugleich ein

Problem der vollziehenden Verwaltung und der niitghedstaadienen Gerichte,

die das unmittelbar geltende Gemeinschaftsrecht in den bei ihnen anhängigen

Verfahren anzuwenden haben.

Die Lehre von der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts wurdezunächst aus Anlaß der Auslegung von Vertragsbestimmungen entwickelt' . MitAusnahme des früheren Art. 67 EWGV betreffend den freien Kapitalverkehr'" (derseit dem 1.Januar 1994 durch die Art. 56 bis 60 |ex-Art 73b bis 73g] EGV ersetztworden ist) hat der EuGH allen Marktfreiheiten direkte Wirkung zuerkannt. Hier-

Direkte Wirkung wurde insbesondere folgenden Vertragsbestimmungen zuerkannt:Art. 13 und 16 EWGV/EGV a.F. (aufgehoben durch den Amsterdamer Vertrag) über

die Abschaffung der Einfuhr- und Ausfuhrzölle und Abgaben gleicher Wirkung zwischenden Mitgliedstaaten: z.B. Urteil vom 17.12.1970, SACE, Rs. 33/70, EuGHE 1970,1213;Urteil vom 26.10.1971, Di Porro, Rs. 18/71, EuGHE 1971.811:

Art. 28 und 29 EGV [ex-Art 30 und 34 EWGV/EGV] über die Beseitigung men-genmäßiger Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkungzwischen den Mitgliedstaaten: z.B. Urteil vom 22.3.1977, Iannelli & Volpi, Ks.74/76,EuGHE 1977, 577; Urteil vom 29.11.1978, Pigs Marketing Board, Rs. 83/78, EuGHE1978,2347;

Art. 39, 43 und 49 EGV [ex-Art. 48, 52 und 59 EWGV/EGVJ über die Herstellungder Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstlei-slungsverkehr. Diese Vorschriften sehen vor, daß die genannten Freiheiten im Laufe derÜbergangszeit schrittweise unter anderem durch Koordinierungsrichtlinien zu verwirk-lichen sind. Obwohl bis Ablauf der Übergangsfrist nur wenige der einschlägigen Berei-che ,,harnionisiert" waren, hat der EuGH entschieden, daß zumindest das in diesen Vor-schriften enthaltene Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeitunmittelbare Wirkung entfaltet: z.B. Urteil vom 216.1974. Reyners, Rs. 2/74, EuGHE1974, 631; Urteil vom 3.12 1974,Van Binsbergen. Rs. 33/74, EuGHE 1974, 1299; Ur-teil vom 4.12.1974.Van Duyn, Rs. 41/74, EuGHE 1974, 1337; Urteil vom 12.12.1974,Walrave und Koch, Rs. 35/74, EuGHE 1974, 1405; Urteil vom 14.7.1976, Dona,Rs. 13/76, EuGHE 1976, 1333;

Art. 90 EGV [ex-Art. 95 EWGV/EGV] Über das Verbot, auf Waren aus anderen Mit-gliedstaaten höhere inländische Abgaben zu erheben, als sie gleichartige oder in Wettbe-werb stehende inländische Waren zu tragen haben: z.B. Urteil vom 16.6. 1966, Lütticke.Rs. 57/65, EuGHE 1966,258;

Art. 106 EWGV über die Freiheit des Zahlungsverkehrs: Urteil vom 31.1.1984,Luisi und Carbone, verb. Rs. 286/82 und 26/83, EuGHE 1984,377;

Art. 141 EGV [ex-Art. 119 EWGV/EGV] über die Lohngleichheit zwischen Män-nern und Frauen: z.B Urteil vom 8.4. 1976, Defrenne, Rs. 43/75, EuGHE 1976, 453;Urteil vom 4.2.1988. Murphy. Rs. 157/86, EuGHE 1988, 673; Urteil vom 27.6.1990,Kowalska, Rs.C-33/89, EuGHE 1990, 1-2591; Urteil vom 7.2.1991, Nimz. Rs.C-184/89, EuGHE 1991,1-297.

18 Urteil vom 11.11.1981, Gasati. Rs. 203/80, EuGHE 1981,2595 (2614 ff.).

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2.4 Direkte Wirkung des Qemeinschaftsrechts 15

bei hat er weder daran AmtolS genommen, daß die betreffende Vorschrift nur sehrallgemeine und abstrakte Begriffe („unbestimmte Rechtsbegriffe") enthält, dieerst durch implementierendes Richterrecht konkretisiert werden müssen (z.B.„Abgabe /ollgleicherWirkung" in Art. 23 ff. [ex-Art. 9 ff.] EGV, „Maßnahme glei-cher Wirkung" in Art. 28 ff [ex-Art 30 ff. j EGV) noch daran, daß die rechtlichenVorschriften teilweise ihre volle nützliche Wirkung (,,effet utile") erst durch se-kunda'rrechtliche Harmonisieningsakte erhalten.

Im Hinblick auf diese Rechtsprechungslinie dürfte die direkte Wirkung aller

inhaltlich geeigneten (d.h. hinreichend präzisen und unbedingten) Vertragsbe-

stimmungen über die W W U zu bejahen sein.

2.4.3 Verordnungen

Von Anfang an bestand kein Zweifel daran, daß die im Hinblick auf das kom-munitäre Primärrecht herausgearbeiteten Kriterien mutatis mutandis auch flirdas abgeleitete Gemeinschaftsrecht heranzuziehen sind.

Für Verordnungen (die auf dem Gebiet der WWU die wichtigste Hand-lungsform darstellen) folgt deren Direktwirkung bereits aus dem Wortlau: derArL 249 [ex-Art. 189] II, Art. 110 [ex-Art. 108 a] II UAbs. 1 EGV. Danach ist dieVerordnung „in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedemMitgliedstaat;". Dieser Grundsatz impliziert, daß die Ausübung der von einerVerordnung verliehenen Rechte nicht vom Erlaß anderer als der möglicher-weise aufgrund der Verordnung selbst erforderlichen Durchführungsvorschrif-ten abhängig gemacht werden darf1'.Verordnungsbestimmungen sind somit aussich heraus „operativ"; sie bedürfen zu ihrer Wirksamkeit keines (kommn-nitären oder nationalen) Durchfuhrungsaktes. Ihre Direktwirkung ist mithinder Regelfall, die fehlende Direktwirkung die atypische Ausnahme.

Ebenso wie Bestimmungen des Primär rechts können Verordnungen den ein-zelnen nich: nur subjektive Rechte verleihen, sondern ihnen auch Verpflichtun-gen auferlegen; Die Direktwirkung kann sich sowohl zugunsten als auch zuLasten der Bürger auswirken. Damit ist auch eine Horizontal Wirkung, d.h. Wir-kung im Verhältnis von Privaten untereinander (so etwa bei kollektiven Rege-lungen im Arbeits- und Dienstleistungsbereich""), bzw. eine sog. „umgekehrte"Vertikalwirkung im Verhältnis des Staates zum Bürger nicht ausgeschlossen.

Die prätonsch flir Verordnungen im Sinne des Art. 249 [ex-Art. ! 89] II EGVherausgeschälten Kriterien gelten auch für die von der EZB erlassenen Verord-nungen im Sinne des Art. 110 [ex-Art. 108 a] II UAbs. 1 EGV, die dort gleich-lautend wie in Art. 249 [ex-Art. 189] II EGV definiert sind.

"'Urteil vom 14.12.1971, Politi, Rs.43/71, EuGHE 1971, 1039; Urteil vom17.5.1972, Leonesio, Rs. 93/71, EuGHE 1972, 287.

40 Z.B. Urteil vom 22.3.1977, Iannelli & Volpi, aaQ; Urteil vom 29.11.1978. PigsMarketing Board, Rs 83/78, EuGHE 1978, 2347; Urteil vom 3.12.1974,Van Binsber-gen.Rs. 33/74, EuGHE 1974,1299.

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Ih Stnikturprinzipien des Rechts der Wirtschaft*- und Wähmngsunioti

2,4.4 Richtlinien und an Mitgliedstaaten gerichteteEntscheidungen

Da Richtlinien im Bereich der WWU nur eine untergeordnete Rolle spielen,wird auf die Voraussetzungen bzw. Einschränkungen der Direktwirkung dieseskommurütären Handlungsinstruments nur vergleichsweise kurz eingegangen.Gleichwohl erscheint die Behandlung der spezifischen Problematik von Richt-linien unerläßlich, weil vergleichbare Grundsätze auch für an Mitgliedstaatengerichtete Entscheidungen gelten, deren Wirkungen in beziig aut die einzelnenmithin denen von Richtlinien ahnein. Entscheidungen aber sind (anders alsRichtlinien) im Bereich der WWU ausdrücklich vorgesehen (Art. 110 [ex-Art. 108a] I, 2. Spiegelstnch EGV).

Richtlinien als H an dl ungs formen im Bereich der WWU sind lediglich in Art. 119[ex-Art. 109h] II 2 EGV (als mögliche Instrumente zur Behebung von Zahlungs-bilanzschwierigkeiten) ausdrücklich erwähnt; sie sind auf diesem Gebiet ein atypi-sches Aktionsinstrument. Ihr Erlaß auch außerhalb des Anwendungsbereichs desArt. 119 [ex-Art. 109 h] II 2 EGV ist jedoch nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wiesich aus folgender Überlegung ergibt: Nach der Rechtsprechung können auch inBereichen, in denen grundsätzlich nur der Erlaß von Richtlinien vorgesehen ist,Verordnungen erlassen werden, wenn die Voraussetzungen der Lückenfullungsklau-sel des An. 308 [ex-Are. 235] EGV erfüllt sind und das in dieser Bestimmung vor-geschriebene Verfahren eingehalten wird. Der betreffende Rechtsakt ist dann aufdie bereichsspezifische Ermächtigungsgrundlage in Verbindung mit Art. 308[ex-Art. 235J EGV zu stützen"11. In anderen Worten, Art. 308 [ex-Art. 2351 EGVüberbrückt das Ermä chtigungsdefiz.it im Hinblick auf die Wahl der Rechtsform. Afortiori muß umgekehrt der Grundsatz gelten, daß in Bereichen, in denen eine spe-zifische Ermächtigungsgrundlage den Erlaß von Verordnungen vorsieht, auchRichtlinien als weniger eingriffsintensive Handlungsform erlassen werden können.

Infolge der Umsetzungsbedürftigkeit der Richtlinie (Art-249 [ex-Art. 189] IIIEGV) treten die Wirkungen von Richtlinien grundsätzlich erst mit deren Um-setzung in nationales Recht ein; sie treffen die einzelnen ideal typischerweiseüber die staatliche Umsetzungsgesetzgebung. Jedoch erkennt der EuGH seitdem Urteil Van Duyn (1974)1" auch Richtlinienbestimmungen unter gewissen,wenngleich engeren, Voraussetzungen als für Primärrecht und Verordnungeneine unmittelbare Wirkung zu. Er räumt auf diese Weise den Gemeinschafts-bürgern das Recht ein, sich für den Fall der unterbliebenen oder nicht ord-nungsgemäßen Umsetzung nach Ablauf der Umsetzungsfrist gegenüber demsäumigen Mitgliedstaat unmittelbar auf den Richtlimentext zu berufen4'. Die

" In diesem Sinne implizit Urteil vom 12.7.1973, Massey-Ferguson, Rs.8/73,EuGHE 1973,897 (907).

(- Urteil vom 4.12.1974, Van Duyn, aaO., 1348.41 Urteil vom 19.1.1982, Becker, Rs. 8/81, EuGHE 1982,53; UrteÜ vom 22.2. 1984,

Kloppenburg, Rs. 70/83, EuGHE 1984,1075; Urteil vom 17.9. 1996, Cooperative Agn-cola Zootecnica, verb. Rs.C-246/94, C-247/94, G-248/94 und C-249/94, EuGHE1996,1-4373.

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2.4 Direkte Wirkung des Gemeinschaftsrechts 17

ratio der direkten Wirkung von Richtlinienbestimmungen wurzelt im Grund-satz von Treu und Glauben (,,estoppel"-Prinzip): Die Mitgliedstaaten könnenihren Bürgern gegenüber nicht die richtlinienwidrige Unterlassung oder man-gelnde Ordnungsmäßigkeit der Umsetzung geltend machen. Dem Mitglied-staat soll aus seinem Gemeinschaftsrechtsverstoß kein Vorteil erwachsen44.

Einzelne können sich somit in Fällen, in denen Bestimmungen einer Richt-linie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, nach Ablauf der Umset-zungsfrist vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat oder diesem zu-zurechnenden Einrichtungen auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieRichtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht um-gesetzt wurde45. Diese Voraussetzungen müssen nicht für die Richtlinie insge-samt gegeben sein. Vielmehr kommt es darauf an, ob sie bei der betreffenden Be-stimmung vorhegen, um die es im konkreten Streitfall geht, denn Richtlinienkönnen sowohl unmittelbar wirksame als auch andere Regelungen enthalten46.

In dem Urteil Johnston (1986) hat der EuGH ausgeführt, daß „in allen Fällen, indenen eine Richtlinie ordnungsgemäß durchgeführt ist, ... deren Wirkungen deneinzelnen auf dem Wege über die von dem betreffenden Mitgliedstaat erlassenenDurchführungsmaßnahmen [treffen]. Die Frage, ob die Berufung auf [die betref-fende Richtlinienbestimmung] vor einem innerstaatlichen Gericht möglich ist, istdaher gegenstandslos, wenn diese Bestimmung im nationalen Recht durchgeführtworden ist"47. Dieses Diktum schließt jedoch, ungeachtet seines mißverständli-chen Wortlauts, keinenfalls aus, daß einzelne sich im Prozeß auf Richtlinienbe-stimmungen berufen können, „um festzustellen zu lassen, ob die zuständigen na-tionalen Stellen bei der ihnen überlassenen Wahl der Form und der Mittel zurUmsetzung der Richdinie innerhalb der von der Richtlinie gezogenen Ermes-sensgrenzen geblieben sind"48.

Anders als für Primärrecht oder Verordnungsbestimmungen hat der EuGH dieunmittelbare Wirkung von Richtlinienvorschriften jedoch auf die „vertikale"Direktwirkung zugunsten einzelner und zu Lasten des Staates beschränkt; dieentschiedenen Fälle betrafen in erster Linie den Bereich des fiskalischen Staats-handelns49. Die Durchgriffswirkung von Richtlinien hat nämlich Sanktions-charakter; dem Mitgliedstaat sollen aus seinem Gemeinschaftsrechtsverstoß kei-

44 Diese EuGH-Rechtsprechung ist auch vom deutschen Bundesverfassungsgerichtausdrücklich gebilligt worden: Urteil vom 8.4.1987, BVerfGE Bd. 75, S. 223, betreffenddie unmittelbare Wirkung einer Bestimmung der 6. MWSt-Richtlinie.

45 Urteil vom 19.1.1982, Becker, aaO.; Urteil vom 22.6.1989, Costanzo, Rs. 103/88,EuGHE 1989, 1839.

46 Urteil vom 15.5.1986, Johnston, Rs. 222/84, EuGHE 1986,1651 (1691 f.); Urteilvom 19.1.1982, Becker aaO., 71; Urteil vom 22.2.1990, Busseni, Rs.C-221/88,EuGHE 1990,1-495 (525).

47 Urteil vom 15.5.1986, Johnston, aaO., 1690; ähnlich Urteil vom 19.1.1982,Becker, aaO., 70; Urteil vom 15.7.1982, Felicitas Rickmers-Linie, Rs. 207/81, EuGHE1982, 2771 (2786f.).

48 Urteil vom 1.2.1977, Nederlandse Ondernemingen, Rs.51/76, EuGH 1977, 113(126f.).

49 Z.B. Urteil vom 19.1.1982, Becker, aaO.

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18 2 Strukturprinzipien des Rechts der Wirtschafts- und VVährnngsunion

ne Vorteile erwachsen1'. Richtlinienbestimmungen, die unbedingte und hinrei-chend genau umrissene Verpflichtungen enthalten, können daher nach Ablaufder Umsetzungsfrist^' dem umsetzungssauniigen Staat entgegengehalten wer-den.

Hingegen können Richtlimenbestiminungen keine unmittelbare Wirkungim Verhältnis von Privaten untereinander (horizontale Direktwirkung) oder garim Verhältnis des Staates zu den einzelnen zugunsten des ersteren und zu La-uten der letzteren entlalten (sog. umgekehrte vertikale Direktwirkung). Nachder Systematik des Vertrags verpflichten Richtlinien nämlich nur die Mitglied-staaten, an die sie gerichtet sind, und die allem die Verantwortung für derenordnungsgemäße Durchführung im Rahmen ihres innerstaatlichen Rechtssy-stems tragen1".

Der EuGH hat diese Schlußfolgerung wiederholt ausdrücklich und unein-geschränkt gezogen, zum ersten Mal in dem Urteil Marsliall (1986), in dem.ausgeführt wird,

„d:iß eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen einzelnen begründenkann und daß die Richtlinienbestimmung daher als solche nicht gegenüber einerderartigen Person in Anspruch genommen weiden kann"'""'.

Die Beschränkung der direkten Wirkung auf Vertikalverhältnisse (einzelner ge-genüber Staat) rechtfertigt sich aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten. EinerHorizontalwirkung stehen insbesondere die Grundsatze der Rechtssicherheitund des Vertrauensschutzes entgegen. Der Bürger braucht nämlich, weil er auf

50 Vgl. Urteil vom 8.10 1987, Kolpinghim Nijmegen, R.s. 80/86, EuGHE 1987, 3969(3985).̂

'Urteil vom 5 4.1979, Ratii, Rs. 148/78, EuGHE 1979, 1629; Urteil vom22.2. 1984, Kloppenburg, Rs. 70/83, 1085; Urteil vom 8. 10. 1987, Kolpinghuis Nijme-gen, aaO.

" Vgl. Urteil vom 27.3.1980, Macarthys, Rs. 129/79, EuGHE 1980, 1275. Dort hatder EuGH die Frage nach der direkten Wirkung der Richtlinie 75/117/EWG des Ra-tes vom 10.2. 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über dieAnwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (ABI. EG1975, L45/19) dahingestellt sein lassen und die Entscheidung lediglich auf die unmit-telbare Wirkung von Art. 119 EWGV gestützt; vgl. auch die Urteile vom 10.4.1984, vonColson, Rs. 14/83, EuGHE 1984, 1891, und Harz, Rs. 79/83, EuGHE 1984, 1921. Da-zu M. Seidel, Die Direkt- oder Drittwirkung von Richtlinien des Gemeinschaftsrechts,in: NJW 1985, S.517; U. Everling, Zur direkten innerstaatlichen Wirkung der EG-Richtlimen: ein Beispiel richterlicher Rechtsfortbildung auf der Basis gemeinsamerRechtsgrundsätze, in; Festschrift für K. Carstens, 1984, Bd. 1, S. 95; R. Herber, Direkt-wirkung sogenannter horizontaler EG-Richtlinien, in: EuZW 199(1, S.401. A.A. OLGCelle, Urteil vom 28. 8. 1990, in: EuZW 1990, S. 550.

"Urteil vom 26.2.1986, Marshall, Rs. 152/84, EuGHE 1986,723 (749); ebenso Ur-teil vom 8. 10. 1987, Kolpinghuis Nijmegen, aaO; Urteil vom 11.6. 1987, Pretore dl Salö,Rs, 14/86, EuGHE 1987, 2545 (2570); Urteil vom 22.2.1990, Bussem, Rs.C-221/88,EuGHE 1990, 1-495; vgl. auch Urteil vom 12.7.1990, Foster, Rs.C-188/89, EuGHE1990, 1-3313 (3348); Urteil vom 4.12.1997, Daihatsu, Rs.C-97/96, EuGHE 1997,I- 6843.

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2.4 Direkte Wirkung des Gemeinschafisrechts 19

er-

die Umsetzung der Richtlinie vertrauen darf, nicht damit zu rechnen, daß sich

aus den Richtlinienbestimmungen allein für ihn belastende Konsequenzen

ergeben. Er kann vielmehr darauf vertrauen, daß ihn die Wirkungen von

Richtlinien nur nach Maßgabe der nationalen Umsetzungsmaßnahmen treffen.

Andernfalls würde der Gemeinschaft die Befugnis zuerkannt, „mit unmittelba-

rer Wirkung zu Lasten der Bürger Verpflichtungen anzuordnen, obwohl sie dies

nur dort darf, wo ihr die Befugnis zum Erlaß von Verordnungen zugewiesen"54

ist

Anerkannt ist jedoch, daß auch eine nicht frist- und ordnungsgemäß umge-

setzte Richtlinie unter Umständen mittelbar zu einer Belastung einzelner

führen kann, weil nationales Recht so weit wie möglich richtlinienkonform

auszulegen ist55.

Am Rande sei angemerkt, daß die Direktwirkung von Richtlinien in der Recht-sprechung der deutschen Gerichte mittlerweile unbestritten anerkannt ist. Dasdeutsche BVerfG hat die oben skizzierten Grundsätze des EuGH zur unmittelba-ren Wirkung von Richtlinien gebilligt. Hierbei hat es ausdrücklich auf den Sank-tions-charakter dieser Rechtsfortbildung abgestellt. Es ist somit davon auszugehen,daß auch das BVerfG eine Direktwirkung von Richtlinien zu Lasten einzelnernicht anerkennen würde, um im Gefüge der Handlungsformen des Art. 249 [ex-Art. 189] EGV die Grenze zwischen Verordnung und Richtlinie nicht zu verwi-schen55. Hingegen weigert der französische Conseil d'Etat sich noch heute, die di-rekte Wirkung von Richtlinien anzuerkennen. Er hat von einem entsprechendenVorabentscheidungsersuchen (nach Art. 234 [ex-Art. 177] EGV) bisher abgesehen,da für ihn der Wortlaut des Art. 249 [ex-Art. 189] EGV insoweit eindeutig ist57.

54 Urteil vom 14.7.1990, Faccini Dori.Rs. 91/92, EuGHE 1990,1-3325 (3356); ähn-lich Urteil vom 7.3.1996, El Corte Ingles, Rs. C-192/94, EuGHE 1996,1-1281 (1303).Im Bereich des öffentlichen Auftragswesens, das in den Ländern des romanischenRechtskreises (z.B. in Frankreich und Spanien) öffentlich-rechtlich geregelt, in den Län-dern des germanischen Rechtskreises (z.B. in der Bundesrepublik Deutschland, in Groß-britannien, den Niederlanden und Dänemark) hingegen von den Normen des Pri-vatrechts bestimmt ist, wird wegen des die betroffenen Bieter unmittelbar belastendenCharakters der EG-Vergaberichtlinien deren Direktwirkung grundsätzlich bejaht: z.B.Urteil vom 10.2.1982, Transporoute, Rs. 76/81, EuGHE 1982, 417; Urteil vom20.9.1988, Beentjes, Rs. 31/87, EuGHE 1988, 4635; Urteil vom 22.6.1989, Costanzo,Rs. 103/88, EuGHE 1989, 1839; Urteil vom 26.3.1996, British Telecommunications,Rs. C-392/93, EuGHE 1996,1-1631.

55 Z.B. Urteil vom 10.4.1984, von Colson & Kamann, Rs. 14/83, EuGHE 1984,1891 (1909); Urteil vom 10.4.1984, Harz, Rs. 79/83, EuGHE 1984,1921 (1940); Urteilvom 8.10.1987, Kolpinghuis Nijmegen, aaO., 3986.

56BVerfGE Bd. 75, S.223 (241). Mit der Entscheidung wurde ein die direkte Wir-kung einer Richtlinienvorschrift (6. Mehrwertsteuerrichtlinie) verneinendes Urteil desBundesfinanzhofes (EuR 1985, S. 191 ff.) wegen Verstoßes gegen das Recht auf den ge-setzlichen Richter (Art. 1011 Satz 2 GG) im Wege der Verfassungsbeschwerde aufgeho-ben. Dazu: M. Hilf, Der Justizkonflikt um EG-Richtlinien: gelöst, in: EuR 1988, S. 1.

57 Entscheidung des Conseil d'Etat vom 22.12.1978, in: EuR 1979, S.292; dazuC.Tomuschat, La justice - c'est moi, in: EuGRZ 1979, S. 257. Zur Rechtslage in Italien:P.Winkler, Italien, das EG-Recht und die Direktwirkung der Richtlinien, in: EuZW1992, S. 443.

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20 2 Stmkturprinzipien des Rechts der Wirtschafts- und Währungsunion

Entsprechend stellt sich die Rechtslage bei Entscheidungen dar, die an Mit-gliedstaaten gerichtet sind. Sollen hier gleichzeitig die Bürger verpflichtet wer-den, so wirkt die Entscheidung nicht unmittelbar. Erst wenn der betreffendeMitgliedstaat seinen Verpflichtungen aus der Entscheidung nachgekommen ist,treten auch für die Bürger die entsprechenden nachteiligen Wirkungen ein, oh-ne daß sie sich auf günstigeres nationales Recht berufen könnten1". Anders istdie Rechtslage bei Entscheidungen, die Mitgliedstaaten dazu verpflichten,ihren Bürgern bestimmte Rechte einzuräumen. Insoweit erkennt der EuGH -ahnlich wie bei Richtlinien - eine unmittelbare Wirkung «in, vorausgesetzt, diebetreffende Verpflichtung ist zwingend und allgemein, unbedingt und hinrei-chend klar und genau3 .

2.4.5 An Einzelpersonen gerichtete Entscheidungen

Entscheidungen, die an natürliche oder juristische Personen, d.h. insbeson-dere Unternehmen, gerichtet sind, entfalten unmittelbare Wirkung nur für diejeweiligen Adressaten, denen sie Rechte verleihen, aber auch Verpflichtungenauferlegen können. Dritte können durch sie allenfalls mittelbar betroffensein.

2.4.6 Völkerrechtliche Verträge

Völkerrechtliche Verträge, die die Gemeinschaft bzw. die EZB in ihrem Zu-ständigkeitsbereich mit Drittländern oder internationalen Organisationen ab-schließen, ähneln in ihren Wirkungen im Hinblick auf Einzelpersonen teils Ver-ordnungen, teils an die Mitgliedstaaten gerichteten Entscheidungen. DerartigeAbkommen können Regelungen von sehr unterschiedlicher Tragweite enthal-ten. Während gewisse Vorschriften ihrer Natur nach nur die vertragschließen-den Parteien selbst berechtigen und verpflichten, können andere Vorschriftenauch unmittelbar Rechte und Pflichten für die einzelnen begründen („self-executing treaties").Voraussetzung hierfür ist, daß sie hinreichend klar, präziseund unbedingt formuliert und nach dem Willen der Vertragspartner dazu be-stimmt sind, unmittelbare Wirkungen für die einzelnen zu entfalten'".

;s Vgl. Urteil vom 21.5.1987, Albako, Rs. 249/85, EuGHE 1987, 2345."Urteil vom 6.10.1970, Grad, Rj.9/70, EuGHE 1970, S.825 (839); Urteil vom

21.10.1970, Haselhorst, Rs. 23/70, EuGHE 1970,881 (894).50 Urteil vom 30.4.1974, Haegemann, Rs. 181/83, EuGIIE 1974, 449 (460); ähnlich

UrteÜ vom 26.10.1982, Kupferberg, Rs. 104/81, EuGHE 1982, 3641 (3662); vgl. auchUrteil vom 5.2.1976. Bresciani, Rs.87/75, EuGHE 1976, 129; Urteil vom 9.2.1982,Polydor. Rs. 270/80, EuGHE 1982, 329; Urteü vom 30.9.1987, Demircl, Rs.12/86,EuGHE 1987,3719 (3752).

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2.4 Direkte Wirkung des Gemeinschafisrechts 21

Dasselbe gilt für Beschlüsse von Gremien, die durch das betreffende Ab-

kommen selbst zu dessen Durchflihrung ins Leben gerufen worden sind (z.B.

Beschlüsse des Assoziationsrats)''1.

Im Hinblick auf das GATT-Übereinkommen von 1947 ist festzuhalten, daß

der EuGH sei: dem Leiturteil in der Rechtssache International Fruit Company

(1972)''" die unmittelbare Wirksamkeit der GATT-Vorschriften kategorisch

verneint, insbesondere im Hinblick auf den relativ geringen Integrationsgrad

des GATT-Systems, das tendenziell eher auf zwischenstaatliche Kompromisse

als auf inhaltlich und prozedural eindeutig durchsetzbare Pflichten der Ver-

tragsparteien ausgerichtet sei. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die

Aussage, das GATT sei durch „große Geschmeidigkeit seiner Bestimmungen"

gekennzeichnet, insbesondere was Schutzmaßnahmen und Streitschlichtung

angehe'1.

2.4.7 Empfehlungen und Stellungnahmen

Für Empfehlungen und Stellungnahmen, die per definitionem nicht verbind-

lich sind (Art. 249 [ex-Art. 189] V, Art. 110 [ex-Art. 108a] II UAbs.2 EGV),

stellt sich das Problem der direkten Wirkung wegen ihrer Unverbindlichkeit

nicht.

(l1 Z.B. Urteil vom 20.9.1990, Sevinee, Rs. C-l92/89, EuGHE 1990,1-3461 (3501);Urteil vom 16. 12.1992, Kus, Rs. C-237/91, EuGHE 1992,1-6781 (6816ff.).

62 Urteil vom 12.12.1972, International Fruit Company, Rs.21-24/72, EuGHE1972,1219 (1228); Urteil vom 19.11.1975, Nederlandse Spoorwegen, Rs. 38/75, EuG-HE 1975. 1439 (1450); Urteil vom 16.3 1983, SIOT, Rs.266/81, EuGHE 1983, 731(780). In diesen: Sinne auch Urteil vom 5.10.1994, Deutschland/Rat, R.s.C-280/93(Nichtigkeitsklage), EuGHE 1994.1-4973 (5071 ff.). Im Rahmen dieses Verfahrens wur-de der Erlaß einer einstweiligen Anordnung zugunsten der Klägerin BundesrepublikDeutschland abgelehnt: Beschluß vom 29.6.1993, Deutschland/Rat, Rs. C-280/93R,EuGHE 1993,1-3667. Das o.g. Urteil vom 5. 10. 1994 wurde bestätigt durch Urteil vom9.11.1995, Atlanta Fruchthandelsgesdlschaft, Rs.C-466/93 (Vorabemscheidungsersu-chen des Verwaltungsgerichrs Frankfurt am Main), EuGHE 1995, 1—3799.

13 Urteil vom 24. 10.1973, Schlüter, Rs.9/73, EuGHE 1973, 1135 (1157). Ob dieseFeststellung auch nach Inkrafttreten des WTC-Übereinkommens, das eine deutliche Ver-rechtlichung des Streitbeilegu ngs Verfahrens eingeführt hat, aufrecht erhalten werdenkann, erscheint fraglich. Das neue Übereinkommen sieht einen detailliert geregelten Ver-fahre nsablauf vor, wobei verschiedene Organe mit unterschiedlichen Funktionen (Kon-sultationen der beteiligten Kontrahenten; Panelbericht; ggf. Entscheidung des StandingAppellate Body; Bestätigung durch den Dispute Seitiemeni Body = Allgemeiner Rat derWTO) zusammenwirken. Die frühere relative Schwäche der Rechtsdurchsetzung konn-te durch den Grundsatz der verbindlichen Streitbeüegung, verbunden mit einem wirk-samen Durchsetzungsmechamsmus, weitgehend ausgemerzt werden.

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22 2 Struktitrprirtzipien des Rechts der Wirtschafts- und Währungsunion

2.5 Haftung bei Verletzungen des Gemeinschaftsrechts

Die Gemeinschaftsvcrträge enthalten für den Fall der Verletzung von Gemein-

schaftsrecht lediglich Vorschriften über die Haftung der Gemeinschaften selbst

(Art. 288 [ex-Art.215l U EGV.Art. 188 II EAGV; ähnlich Art. 40 EGKSV) und

- seit der Novellierung durch den EUV - analog die Haftung der EZB

(Art.288 [ex-Art.215] III EGV)"4. Danach „ersetzt die Gemeinschaft [und

entsprechend die EZB] den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung

ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechts-

grundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind".

Haftungsauslösend ist jedes rechtswidrige Verhalten der Gemeinschaftsorgane

(bzw. der EZB) oder ihrer Bediensteten, wozu neben Rechtsakten auch ein

faktisches Verhalten, so auch ein Unterlassen, das eine Handlungspfhcht verletzt,

gehört'11. In der Praxis liegt der Hauptanwendungsfall der sog. „außervertragli-

chen Haftung" im Bereich der Haftung für normatives Unrecht, d.h. für ein

rechtswidriges Handeln oder Unterlassen des Geniemschaftsgesetzgebers. Indiesem Zusammenhang hat der EuGH als zentrales Kriterium das der „hinrei-

chend qualifizierten Verletzung" („violation suffisamment caractcrisec,,) von Ge-

meinschaftsrecht im Sinne einer „offenkundigen und erheblichen" Befugnis-

überschreitung seitens des inkrimiinerten Gemeinschaftsorgans entwickelt'''.

Für derartige Schadensersatzklagen ist der EuGH (bzw. im ersten Rechtszug

das EuG) zuständig.

Hingegen treffen die Gemeinschaftsverträge keine Vorkehrung für die Haf-

tung der Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen Gemeinschaftsrecht.Verletzt mit-

hin ein Mitgliedstaat oder eine seiner Teilgliederungen durch seine Organe

oder Bediensteten primäres oder sekundäres Gemeinschaftsrecht oder die in

der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze,

insbesondere die Grundrechte, und verursacht dadurch einen Schaden, ist für

diesen Fall den Gemeinschafts vertragen keine ausdrückliche Haftungsgrundla-

"* Zu den einschlägigen Verfahrensfragen im Bereich der Gemeinschaftshaftung sieheunten Kapitel 10.2.5. („Rechtsschutzsystem der Wirtschafts- und Währungsunion -Schadensersatzklagen").

65 Vgl. Urteil vom 5.6.1980, Oberthür, Rs.24/79. EuGHE 1980,1743 (1759).""Urteil vom 2.12.1971, Schöppensredt, Rs. 5/71, EuGHE 1971,975 (985); Urteil

vom 14.5.1975, CNTA, Rs. 74/74, EuGHE 1975, 533 (546); Urteil vom 2.6.1976,Kampffmeyer, verb. Rs.56-60/74, EuGHE 1976, 711 (744); Urteil vom 25 5. 1978,HNL, verb. Rs.83 und 94/76, 4, 15 und 40/77, EuGHE 1978, 1209 (1224); Urteil vom4.10.1979, lnterquell Stärke-Chemie, verb. Rs.26] und 262/78, EuGHE 1979, 3045(3064); Urteil vom 30.5.1989, Roquette Frerei, Rs, 20/88. EuGHE 1989, 1553 (1586);Urteil vom 6.6.1990,AERI'Ü, Rs. C-l 19/88, EuGHE 1990,1-2189 (2211); Urteil vom26.6.1990, Sofrimport, Rs C-152/80. EuGHE 1990, 1-2477 (2511); Urteil vom19.5.1992, Mulder und Heinemann, verb. Rs.C-104/89 und C-37/90, EuGHE 1992,1-3(161 (3131).

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2.5 Haftung bei Verletzungen des Geminschaßsrechts

ge zu entnehmen1^. Die bislang allein einschlägigen nationalen Haftungsrege-lungen divergieren stark von einander. Im Hinblick auf Schaden, die auf „le-gislatives Unrecht" zurückgehen, sieht von den derzeit 15 EU-Mitgliedstaatenlediglich Spanien die grundsätzliche Möglichkeit einer Entschädigung vor. DieBundesrepublik Deutschland läßt für dergleichen Fälle nur in Sondersituatio-nen (Enteignung/enteignungsgleicher Eingriff; Aufopferung/aufopferungsglei-cher Eingriff) Schadensersatzansprüche zu ' .

Die Entwicklung und Ausforniung einer gememschaftseinheitlichen Staats-haftungsdoktrin für Fälle der Verletzung kommunitären Rechts durch die Mit-gliedstaaten blieb daher, ebenso wie Herausbildung der Grundsätze der Auto-nomie, des Vorrangs und der Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts, derprätorischen Rechtsschöpfung durch den EuGH überlassen.

Die neue, mit dem leading case Francovich und Bonifaci (1991)'1' eingeleite-te Rechtsprechungshnie bejaht einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungs-anspruch bei schwerwiegenden Verstößen eines Mitgliedstaats gegen das Ge-meinschaftsrecht, wobei es sich sowohl um Verletzungen der Verpflichtung zurRichtlinienumsetzung als auch sonstige Gemeinschaftsrechtsverletzungen han-deln kann. Der Entschädigungsanspruch scheint, soweit die knappen und apo-diktischen Urteilsgründe erkennen lassen, aus dem Effektivitätsgebot („effetutile") des Gemeinschaftsrechts abgeleitet und als Ausgleich für die durch dasFehlverhalten des Mitgliedstaats bedingte mangelnde Durchsetzbarkeit ge-meinschaftsrechtlich verliehener Rechte konzipiert zu sein. Er ist gleichsam diesachnotwendige Ergänzung der unmittelbaren Wirkung der Gemeinschaftsvor-schriften, auf deren Verletzung der entstandene Schaden beruht7":

„Die volle Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen wäre beein-trächtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn dereinzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu verlan-

'" Siehe dazu auch R. Stettner, Gemeinschaftsrecht und nationales Recht - Haftungder Mitgliedstaaten bei Verletzungen des Gemeinschaftsrechts, in: M. A. Dauses (Hrsg.),Handbuch des EU-Wirtschafts rechts, aaO., Bd. 2, A. IV, Rdnr. 46 ff.

* Im deutschen Verfassungsrecht wird für dieses Haftungsdefizit gemeinhin die we-nig überzeugende Begründung gegeben, daß eine etwaige Pflicht des Gesetzgebers zumErlaß verfassungskonformen (und analog europarechtskonformen) Rechts bzw. zur Auf-hebung verfassungswidrigen (und analog europarechtswidrigen) Rechts jedenfalls keine„drittbezogene", d.h. dem Gesetzgeber im Interesse des betroffenen Einzelnen oblie-gende Amtspflicht sei: BGHZ 24, S. 302 (307); 56, S. 40 (44); 91, S. 243 (251); 102, S. 350(367).

"" Urteil vom 19.11.1991, Francovich, Bonifaci u.a., verb. Rs.C-6/90 und C-9/90,EuGHE 1991,1-5357. Dieser cause celebre lag der Sachverhalt zugrunde, daß Italien dieRichtlinie 80/987/EWG vom 20.10.1980 (sog. „Insolvenzrichdinie", ABI. EG 1980,L283/23) nicht fristgerecht in italienisches Recht umgesetzt hatte, weshalb die klagen-den Arbeitnehmer die Lohnforderungen, die sie gegen ihren zahlungsunfähigen Arbeit-nehmer hatten, nicht durchsetzen konnten.

"Urteil vom 5.3.1996, Brassene du Pecheur und Factortame, verb. Rs.C-46/93und C-48/93, EuGHE 1996,1-1029 (1143).

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24 2 Strukturprinzipien des Rechts der Wirtschafts- und Währungsunion

gen, daß seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Genie-inschaftsrecht verletzewerden, der einem Mitgliedstaat zuzurechnen ist.

Die Möglichkeit einer Entschädigung durch den Mitgliedstaat ist vor allemdann unerläßlich, wenn die volle Wirkung der gemeinschaftsrechtlichen Bestim-mungen wie im vorliegenden Fall davon abhängt, daß der Staat tätig wird, und dereinzelne deshalb im Falle einer Untätigkeit des Staates die ihm durch das Ge-meinschaftsrecht zuerkannten Rechte vor den nationalen Gerichten nicht geltendmachen kann.

Der Grundsatz einer Haftung des Staates fiir Schäden, die dem einzelnen durchdem Staat zurechenbare Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, folgtsomit aus dem Wesen der mit dem EWG-Vertrag geschaffenen Rechtsordnung" '.

Anders ais das Recht der meisten Mitgliedstaaten schließ: das kommunitäre

Staarshaftungsrechr auch die Haftung fiir legislatives Unrecht ein. Es beruht auf

dem Grundsatz der verschuldensunabhängigen (objektiven) Haftung, d.h. die

Verpflichtung zum Schadensersatz ist an keinerleiVerschuldenselement (Vorsatz

oder Fahrlässigkeit) geknüpft, sondern wurzelt im objektiven Organisations-

fehlverhalten des Staates.

In verschiedenen Folgeurteilen wurden die Haftungsmodalitäten näher prä-

zisiert. Danach greift die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung ein, sofern die

folgenden Voraussetzungen erfüllt sind'":

• Das Gemeinschaftsrecht verleiht dem einzelnen subjektive Rechte.

• Der betreffende Mitgliedstaat hat „offenkundig und erheblich" die Grenzen

seiner Befugnisse überschritten und dadurch in hinreichend qualifizierter

Weise gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen. Dies ist insbesondere der

Fall, wenn eine Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt wird, des wei-

teren wenn ein im Vertragsverletzungsverfahren oder im Vorabentschei-

dungsverfahren ergangenes Urteil nicht beachtet wird oder sonstwie von ei-

ner „gefestigten einschlägigen Rechtsprechung" des EuGH abgewichen

wird".

71 Urteil vom 19. 1 1.1991, Francovich, Bomfaci u.a.,aaO.72 Urteil vom 16.12.1993, Wagner Miret, Rs. C-334/92, EuGHE 1993.1-6911; Ur-

teil vom 5.3. 1996, Brasscrie du Pecheur und Factortame, aaO.; Urteil vom 26.3.1996,Bntish Telecommunications, Rs.C-392/93, EuGHE 1996, 1-163, Urteil vom23.5.1996, Hedley Lomas, Rs. C-5/94, EuGHE 1996, 1-2553; Urteil vom 8.10.1996,MP Travel Line, Rs. C-178/94, EuGHE 1996,1-4845; Urteil vom 17.10.1996, Denka-r t , verb. Rs.C-283/94, C-291/94 und 0-292/94, EuGHE 1996,1-5063.

" In den Gründen des Urteil vom 5.3.1996, Brasserie du Pecheur und Factortame,wird dazu ausgeführt: ,,Insoweit gehören zu den Gesichtspunkten, die das zuständigeGericht gegebenenfalls zu berücksichtigen hat, das Maß an Klarheit und Genauigkeit derverletzten Vorschrift, der Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschriftden nationalen oder Gemeinschaftsbehörden beläßt, die Frage, ob der Verstoß vorsätzlichoder nicht vorsätzlich begangen oder der Schaden vorsätzlich oder nicht vorsätzlichzugefügt wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechts-irrmms und der Umstand, daß die Verhaltensweisen eines Gcmein&chaftsargans mögli-cherweise dazu beigetragen haben, daß nationale Maßnahmen oder Praktiken in ge-meinschaftsrechtswidriger Weise unterlassen, eingeführt oder aufrechterhalten wurden.

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2.5 Haftung bei Verletzungen des Gemimchaßsrechts 25

• Dem Betroffenen ist infolge der mitgliedstaatlichen Pflichtverletzung einSchaden entstanden (Kausalzusammenhang).

Ein Großteil der Urteile betriff: die Nicht- oder Fehlumsetzung von Richtli-nien. Dies ist aber nach der oben zitierten Formulierung des EuGH nicht dereinzige Bereich, in dem die Staatshaftung greift. Ausreichend ist vielmehr jedehinreichend qualifizierte Gememschaftsrechtsverletzung, unabhängig davon, obder schadensverursachende Verstoß der Legislative, der Judikative oder der Exe-kutive des betreffenden Mitghedstaats zuzurechnen ist'4. Dabei müssen die Haf-tungsvoraussetzungen grundsätzlich die gleichen sein wie diejenigen, von de-nen die Haftung der Gemeinschaft in einer vergleichbaren Situation abhängt 3.

Liegen die vom Genieinschattsreclit bestimmten Haftlingsvoraussetzungenvor, folg: auch der Anspruch auf Entschädigung dem Grunde nach unmittelbaraus Gemeinschaftsrecht. Weil Schadensersatzklagen gegen die Mitgliedstaatenaber - anders als die von den Verträgen ausdrücklich der Jurisdiktion desEuGH/EuG zugewiesenen Schadensersatzklagen gegen die Gemeinschaft -vor den nach nationalem Recht zuständigen einzelstaatlichen Gerichten zu er-heben sind, richtet sich die Geltendmachung des Anspruchs mangels einer ge-meinschaftsrechtlichen Regelung nach dem Schadensersatzrecht des jeweiligenMitghedstaats, insbesondere was die Bestimmung des zuständigen Gerichts unddie Ausgestaltung des Klageverfahrens anbelangt. Allerdings sind dabei zwei ge-meinschaftsrechtliche Vorgaben zu beachten, nämlich, daß die formellen undmateriellen Anspruchsvoraussetzungen nicht ungünstiger sein dürfen als beiKlagen, die allem das innerstaatliche Recht betreffen (Schlechtersteilungsver-bot), und daß dem einzelnen die Erlangung einer Entschädigung nicht prak-tisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf'1

Im Hinblick auf das Fehlen umfassender Staatshaftungsregelungen auch fürlegislatives Unrecht in der großen Mehrzahl der EU-Mitgliedstaatcn kann dieBedeutung dieser revolutionären EuGH-Rechtsprechung kaum hoch genugeingeschätzt werden. Sie dürfte im Wege des Feed-back ihrerseits die nationa-len Haftungsrechte der Mitgliedstaaten beeinflussen und befruchten.

I

jedenfalls ist ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht offenkundig qualifiziert, wenner trotz des Erlasses eines Urteils, in dem der zur Last gelegte Verstoß festgestellt wird,oder eines Urteils im Vorubentscheidungs verfahren oder aber einer gefestigten einschlä-gigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, aus denen sich die Pflichtwidrigkeit des frag-lichen Verhaltens ergibt, fortbestanden hat." (aaQ, 1-1150).

' Urteil vom 5.3. 1996, Rrasserie du Pecheur und Factortame, aaO., 1-1145." A a C , 1-1148."''Urteil vom 19.11.1991. Francovich. Bonifaci u.a., aa(>, 1-5416.