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Text – Textgeschichte – Textwirkung Festschrift zum 65. Geburtstag von Siegfried Kreuzer Herausgegeben von Jonathan M. Robker, Frank Ueberschaer und Thomas Wagner
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Quinque iura talionis

Mar 07, 2023

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Oliver Rettig
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Page 1: Quinque iura talionis

Text – Textgeschichte – Textwirkung

Festschrift zum 65. Geburtstag von Siegfried Kreuzer

Herausgegeben von Jonathan M. Robker, Frank Ueberschaer

und Thomas Wagner

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Alter Orient und Altes Testament Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte des Alten Orients und des Alten Testaments

begründet von Manfried Dietrich und Oswald Loretz†

Band 419

Herausgeber

Manfried Dietrich • Ingo Kottsieper • Hans Neumann

Lektoren

Kai A. Metzler • Ellen Rehm

Beratergremium

Rainer Albertz • Joachim Bretschneider • Stefan Maul Udo Rüterswörden • Walther Sallaberger • Gebhard Selz

Michael P. Streck • Wolfgang Zwickel

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Text – Textgeschichte – Textwirkung

Festschrift zum 65. Geburtstag von Siegfried Kreuzer

Herausgegeben von Jonathan M. Robker, Frank Ueberschaer

und Thomas Wagner

2014 Ugarit-Verlag

Münster

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Text – Textgeschichte – Textwirkung Festschrift zum 65. Geburtstag von Siegfried Kreuzer

Herausgegeben von Jonathan M. Robker, Frank Ueberschaer und Thomas Wagner

Alter Orient und Altes Testament, Band 419

© 2014 Ugarit-Verlag, Münster www.ugarit-verlag.com All rights preserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, electronic, mechanical, photo-copying, recording, or otherwise, without the prior permission of the publisher. Printed in Germany

ISBN: 978-3-86835-132-3

Printed on acid-free paper

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Quinque iura talionis

Texte, Kontexte und Rezeptionen zentraler alttestamentlicher Rechtsprinzipien

Manfred Oeming, Heidelberg

I Einleitung

Man dürfte kaum übertreiben, wenn man behauptet, dass der in unserer Kultur am stärksten rezipierte Text des Alten Testaments das sogenannte ius talionis ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Es ist geradezu sprichwörtlich geworden.1 Für viele moderne Menschen bedeutet es eine Art Kurzformel des alttestament-lichen Glaubens und beinhaltet nichts weniger als eine Wesensbeschreibung des alttestamentlichen Gottes: Er werde als ein Gott der Vergeltung und der Rache vorgestellt. Viele glauben, es handele sich hierbei auch um eine knappe Zusam-menfassung der jüdischen Ethik und sogar der Politik des modernden Staates Israel. Mit dem ius talionis sei die knallharte Vergeltung einer Straftat an dem Täter selbst (oder sogar an seiner Familie) durch das Zufügen eines gleicharti-gen Übels gemeint. Man zitiert diese sechs Worte vor allem dann gerne, wenn man Kritik am Alten Testament, am Judentum und / oder Kritik am Staat Israel üben will, weil doch diese angeblich „jüdische Moral“ so unmenschlich und brutal sei. Entsprechend sei auch die systematische Vergeltungsstrategie des modernen Staates Israel ein Beleg dafür, wie viele Grausamkeiten dort geschä-hen, wo dieser Text politische Realität werde.2 Allerdings ist ein solches Urteil aus mehreren Gründen sehr problematisch.

1 Belege dafür sind legio; zwei sollen hier genügen: Marius Müller-Westernhagen singt in seinem Lied Halleluja auf der gleichnamigen CD (1989) als Zusammenfassung: „In der Bibel steht geschrieben: Auge um Auge, Zahn um Zahn“. – In der Debatte des Europaparlaments Straßburg am 03.09.2003 argumentierte Ortuondo Larrea, ein spanischer Abgeordneter: „Herr Präsident, im spanischen Staat werden die Grundrechte durch terroristische Morde, Erpres-sungen, Drohungen und Gewalt verletzt. Die Antwort dieses Rechtsstaats darf nicht lauten: Auge um Auge, Zahn um Zahn, sondern muss in der Anwendung der demokratischen Rechte und der gewissenhaften Einhaltung der Menschenrechte für alle Bürgerinnen und Bürger bestehen, die Gewalttäter eingeschlossen“ (http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do? pubRef=//EP//TEXT+CRE+20030903+ITEMS+DOC+XML+V0//DE&language=DE). Das ist charakteristisch: Immer wieder wird dieses Bibelwort zitiert, wenn primitive und grausame Gewaltanwendung mit einer griffigen Kurzformel angeprangert (oder aber legiti-miert) werden soll. 2 Das in theologischen Dingen gewöhnlich sehr schlecht informierte Hamburger Unterhal-tungsmagazin SPIEGEL sprach von der „geradezu biblischen Vergeltungspolitik Scharons ‚Auge um Auge Wahn um Wahn‘“ (Spiegel (2002/15, 132; ähnlich 2000/43, 206; 2000,

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a. Die Todesstrafe als Vergeltung für die Tötung eines Menschen war in nahezu allen Gesellschaften der Erde üblich und ist es auch gegenwärtig weithin noch.3 Nach der Liste, die Amnesty International jährlich veröffentlicht und die eine genaue Auflistung der entsprechenden Länder enthält,4 ist für das Jahr 2012 festzuhalten, dass 97 Staaten die Todesstrafe vollständig abgeschafft haben (also noch nicht ganz die Hälfte der Staaten der Erde), dass sie aber in 101 Staaten noch in Geltung steht, wobei 8 Staaten nur in Sonderstrafverfahren (v.a. im Kriegsrecht und bei Terrorismus) die Todesstrafe kennen, dass in 36 Staaten die Todesstrafe zwar verhängt wird, aber ein Hinrichtungsstopp besteht; in 57 Staa-ten ist die Todesstrafe gegenwärtig in Geltung und wird im Schnitt von ca. 23 Staaten pro Jahr auch durchgeführt. Dies gilt für christliche, jüdische, islamische und vor allem für atheistische Staaten; als typisch alttestamentlich-jüdisch kann sie wahrlich nicht gelten.5 Die meisten Exekutionen gab es 2012 in folgenden Einzelstaaten: Weit führend ist Volksrepublik China mit mehreren Tausend (die letzten bekannten Schätzungen für 2009 reichten von mindestens 1700 bis zu über 5000;6 Amnesty verzichtet seither auf Schätzungen zu China); es folgen sodann Iran: 314 (2011: 360, 2010: 252); Irak: 129 (2011: 68, 2010: 1); Saudi-Arabien: 79 (2011: 82, 2010: 27): USA: 43 (2011: 43, 2010: 46); Jemen: 28 (2011: 41, 2010: 53). Aufgrund fehlender Angaben einiger Staaten – gegenwär-tig Ägypten, China, Libyen, Malaysia, Mongolei, Nordkorea, Singapur, Vietnam und Weißrussland – geben die Jahresberichte von Amnesty International nur die registrierten Zahlen zu gefällten und vollstreckten Todesurteilen an. Diese sind vermutlich aber nur ein Bruchteil der tatsächlich jedes Jahr Hingerichteten. Laut Amnesty International warten gegenwärtig mindestens 18.750 zum Tod verur-teilte Menschen auf ihre Hinrichtung.

48.227). Vgl. R. Behrens, ‚Raketen gegen Steinewerfer‘. Das Bild Israels im „Spiegel“. Eine Inhaltsanalyse der Berichterstattung über Intifada 1987–1992 und „Al-Aqsa-Intifada 2000–2002“, Münster 2003, 73–101. 3 Todesstrafe wird meist für Mord verhängt. Allerdings gibt es zahlreiche Sondertatbestände: z.B. Bankraub (Saudi-Arabien), Entführung, Menschenhandel (China), Vergewaltigung (Chi-na, Saudi-Arabien, Indien [Vergewaltigung mit Todesfolge oder wenn das Opfer dauerhaft ins Koma fällt]), Drogenhandel bzw. Drogenbesitz ab einer bestimmten Menge (Indonesien, Saudi-Arabien, Malaysia, Singapur, Thailand, Taiwan), illegaler Schusswaffengebrauch (Singapur), terroristische Anschläge auf Erdöl– und Gasleitungen (Indien), Herstellung und Verkauf von illegalem Alkohol (Indien), Korruption (China). In manchen islamischen Staaten gelten folgende Tatbestände als todeswürdige Vergehen: Ehebruch (Saudi-Arabien, Iran, Afghanistan), praktizierte männliche Homosexualität (u.a. Iran, Saudi-Arabien, Jemen, Su-dan, Mauretanien, Nigeria), Abkehr vom islamischen Glauben (Afghanistan, Iran, Jemen, Mauretanien, Pakistan, Katar, Saudi-Arabien, Somalia, Sudan). In vielen Ländern werden Landesverrat, Spionage, Sabotage oder Desertion mit dem Tode bestraft. 4 http://www.amnesty.org/en/death-penalty/abolitionist-and-retentionist-countries. 5 Angaben von Amnesty International, siehe A4. 6 Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Todesstrafe - cite_note-18.

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b. Auch Körperverletzungen als Strafe für Körperverletzung (sogenannte Spie-gelstrafen) sind rechtsgeschichtlich betrachtet keineswegs typisch jüdisch: So war das Abtrennen der Hand für einen Diebstahl oder das Abschneiden der Zunge für einen Meineid im christlichen Strafvollzug bis hoch ins Mittelalter üblich;7 heute ist die Strafamputation (allerdings als chirurgischer Eingriff unter Narkose) nur noch in wenigen islamischen Ländern (selten) ausgeübte Rechts-praxis, bes. die kreuzweise Amputation von rechter Hand und linkem Fuß,8 etwa in Saudi-Arabien, Sudan, Libyen, Nigeria, Iran und Pakistan – hier freilich unter Berufung auf Sure 2,178f. und 5,38.9

c. Eine wichtige Ursache für das negative Image der Talio in christlichen Krei-sen dürfte ein Satz aus der Bergpredigt des matthäischen Jesus sein: Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ (Mt 5,38f.)

d. Mit dem „ich aber sage euch“ scheint eine klare Absage und ein radikales Gegenprogramm zur Talio gemeint zu sein (zur richtigen Auslegung s.u.): Keine Vergeltung, sondern Hingabe an das Böse bzw. Überwindung des Bösen durch verblüffende Nachgiebigkeit. Da ferner Mahatma Ghandi kritisch bemerkt ha-ben soll: „Auge um Auge lässt die Welt erblinden“, gilt die Aufhebung der Talio als wichtiges Unterscheidungsmerkmal von brutalem Judentum und Islam einer-seits, friedlichem Christentum, Hinduismus und höherer moderner Zivilisation des Humanismus andererseits. Diese Konstruktion ist aber – wie die obigen Beispiele gezeigt haben – historisch und faktisch falsch;10 sie gehört in den in den Bereich der antijüdischen Ressentiments.

Es stellt sich also die Frage nach der ursprünglichen Intention der drei altte-stamentlichen Belege in ihren jeweiligen Buch-Kontexten, nach den Wegen der Kontextualisierungen und Texterweiterungen innerhalb des Alten Testaments, aber auch in der Septuaginta und im NT, sowie nach den diversen Rezeptionen der Texte bis hin zum bürgerlichen Gesetzbuch.

7 „Die Strafe selbst soll sagen, warum sie verhängt wird. Man kann solche Strafen, weil sie das Verbrechen widerspiegeln sollen, als spiegelnde Strafen bezeichnen.“ H. Brunner, Deut-sche Rechtsgeschichte. Band 2, München / Leipzig 21958, 767ff. 8 R. Peters, Crime and Punishment in Islamic Law. Theory and Practice from the Sixteenth to the Twenty-first Century, Cambridge 2005, 165–169. 9 Sure 2,178: „Ihr Gläubigen! Bei Totschlag ist euch die Wiedervergeltung vorgeschrieben.“ Sure 5,38: „Wenn ein Mann oder eine Frau einen Diebstahl begangen hat, dann haut ihnen die Hand ab! (Das geschehe ihnen) zum Lohn für das, was sie begangen haben, und als ab-schreckende Strafe (nakaal) von Seiten Allahs. Allah ist mächtig und weise“ (Übersetzung von Rudi Paret [Der Koran, übers. v. R. Paret, Stuttgart 112010]). 10 Vgl. M. Arnold / J.-M. Prieur (Hg.), Dieu est-il violent? La violence dans les représentati-ons de dieu, Straßburg 2005, in dem bedrückende Beispiele für Gewalt im Christentum und auch in fernöstlichen Religionen zu finden sind.

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Dazu wird erstens zunächst die Forschungsgeschichte ganz knapp darauf ab-gehört werden, wie und vor allem wie unterschiedlich man die Talio in der ge-genwärtigen Forschung deutet. Danach sollen zweitens die drei alttestamentli-chen Belege der Talio in ihren drei unterschiedlichen Kontexten Bundesbuch, deuteronomisches Gesetz und Heiligkeitsgesetz differenziert analysiert werden. Dabei wird sich herausstellen, soviel sei schon vorweg gesagt, dass es weit mehr als nur eine Talio gibt. Abschließend sollen drittens Momente der Rezeptions-geschichte im Lichte der neu gewonnen exegetischen Einsichten überdacht wer-den.

Aber bevor diese Differenzierungen entfaltet werden können, ist ein kurzer Blick auf die bisherigen Deutungen notwendig. Nach meiner Sicht kann man zehn Typen unterscheiden.

II Völlig konträre Interpretationen – zehn Typen der Deutung der Talio11

II.1 Die Talio als heilsame Begrenzung des ungezügelten Rachegeistes

In Genesis 4,24 heißt es: Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal.

Nach Hans Jochen Boecker12 ist die Intention der Talio die Begrenzung des Rachegeistes: „Nur ein Leben für ein Leben, nur ein Auge für ein Auge, nur einen Zahn für einen Zahn usw.“ Mit dem limitativen Gebot soll „dem Geschä-digten […] untersagt (werden), auf Böses böse zu reagieren“. Alle drei Beleg-stellen des ius talionis sind daher nicht Präambel oder Paragraph Eins einer Rechtssammlung, auch nicht expliziter Grundsatz einer Rechtsdogmatik, noch nicht einmal irgendwie exponiert, sondern nur mit Nebenton (sekundär?) einge-setzt. Daher betont Boecker energisch, dass es hier ausschließlich um den Fall der Körperverletzung gehe und somit keineswegs um einen Grundsatz alttesta-mentlichen Rechts und Ethos, und schon gar nicht um das Prinzip des Juden-

11 Vgl. R. Westbrook, Lex Talionis and Exodus 21,22–25, RevB 93 (1986), 52–69; C. Carmi-chael, Biblical Laws of Talion, in: R. Ahroni (Hg.), Biblical and other Studies in memory of Shelmo Dov Goitein = Hebrew Annual Review 9 (1986), 107–126.; R. Martin–Achard, Récents travaux sur la loi du talion selon l’Ancien Testament, RHPhR 69 (1989), 173–188; B.S. Jacks, The Talion Principle in Old Testament Narratives, JNWSL 20 (1994), 21–29; J. van Seters, Some Observations on the Lex Talionis in Exod 21:23–25, in: S. Beyerle u.a. (Hg.), Recht und Ethos im Alten Testament. Gestalt und Wirkung (FS Seebass), Neukirchen-Vluyn 1999, 27–37; J. F. Davis, Lex Talionis in Early Judaism and the Exhortation of Jesus in Matthew 5:38–42, London / New York 2005. 12 H.J. Boecker, Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient, Neukirchen-Vluyn 21984, 149–153.

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tums. Die Ursprungsintention der Talionsformel sei es, ein in der Frühzeit ver-breitetes krasses Ungleichgewicht von Vergehen und Strafe einzudämmen.

II.2 Die Talio als ein Dokument einer überwundenen Phase der Rechtsgeschichte

Manche nehmen an, dass die Talionsformel aus einem relativ primitiven vor-staatlichen Milieu stamme. In den (nomadischen) Wurzelzeiten Israels (ca. 1400–1000 v.Chr.) hätte dieser Grundsatz eine archaische Rechtsnorm darge-stellt, die aber im Laufe der Rechtsgeschichte des Staates Israel (ab 1000 v.Chr.) alsbald zivilisiert und faktisch überwunden worden sei. Eckart Otto13 z.B. ver-tritt die These, man müsse die Talio ausschließlich in der Entwicklungslinie Blutrache – Talio – Ersatzleistung betrachten; sie stelle ein überholtes Stadium der Rechtsgeschichte dar und werde im Alten Testament nur noch als Relikt zitiert und tradiert, um seine Geltung sogleich aufzuheben. Die Texte dokumen-tierten, dass sich das „kasuistische, auf Konfliktregelung zielende Recht der Tor- und Ortsgerichte“ gegen die talionische Körperstrafe durchgesetzt habe.

Diese Sicht überzeugt kaum. Es leuchtet mir nicht ein, dass ein Rechtssatz dreimal zitiert wird, obwohl seine Geltung längst aufgehoben ist. Zudem bleibt unverständlich, warum die Formel in den jüngsten Rechtssammlungen (Lev 24 um 400 v.Chr.) immer noch (sogar in ihrer prägnantesten Formulierung) begeg-net, ohne irgendeinen Hinweis darauf, dass sie gar nicht mehr in Geltung stehe. Das Wort der Bergpredigt (ca. 80 n.Chr.) würde schließlich völlig ins Leere laufen, wenn die Geltung der Talio bereits längst aufgehoben wäre.

II.3 Talio als „kultische“ Ersatzleistung an die Gottheit Albrecht Alt hat unter Berufung auf eine punische Votivinschrift anima pro anima, sanguis pro sanguis, vita pro vita dafür argumentiert, dass die Talio ihren ursprünglichen Sitz im Leben innerhalb des Opferkultes gehabt habe. Der Eigentümer allen Lebens ist die Gottheit, „wenn durch Tötung oder Körperver-letzung eines Menschen die Gottheit geschädigt ist, die ihm Leben und Körper gegeben und darum den ersten Besitzanspruch auf beides hat“, dann muss die Gottheit pünktlich „entschädigt“ werden.14 Diese Deutung scheitert jedoch dar-an, dass ein alttestamentlicher Text, der eine Verbindung der talio mit einer Ersatzleistung an Gott nahelegt, fehlt.15 Zudem bezeichnen in der punischen 13 E. Otto, Geschichte der Talion im Alten Orient und im Alten Testament, in: D.R. Daniels (Hg.), Ernten, was man sät (FS Koch), Neukirchen–Vluyn 1991, 101–130. 14 A. Alt, Zur Talionsformel, in: A. Alt, Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel I, München 1934 (21959), 341–344, hier 343. 15 Boecker, Recht, 151f., im Anschlus an V. Wagner, Rechtssätze in gebundener Sprache und Rechtssatzreihen im israelitischen Recht. Ein Beitrag zur Gattungsforschung (BZAW 127), Berlin / New York 1972, 12; vgl. auch Kaiser, Gott, 305 (O. Kaiser, Gott, Mensch und Ge-schichte. Studien zum Verständnis des Menschen und seiner Geschichte in der klassischen, biblischen und nachbiblischen Literatur (BZAW 413), Berlin / New York 2010, 305).

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Inschrift anima, sanguis und vita das Opfertier als Ganzes, während die talio nach der generalisierenden Überschrift „Leben für Leben“ doch einzelne Kör-perteile und dann bestimmte Verletzungen aufzählt.

II.4 Die Talio als ein Meilenstein des demokratischen Fortschritts

1905/06 entdeckten französische Archäologen bei Susa den Codex Hammurabi. Dieser Rechtstext aus der Zeit ca. 1700 v.Chr. enthält die Talionsformel.

§ 196 Wenn ein Bürger ein Auge eines (anderen) Bürgers zerstört, so soll man ihm ein Auge zerstören. § 197 Wenn er einen Knochen eines Bürgers bricht, so soll man ihm einen Kno-chen brechen. § 198 Wenn er ein Auge eines Palasthörigen zerstört oder einen Knochen eines Palasthörigen bricht, so soll er eine Mine Silber zahlen. § 199 Wenn er ein Auge eines Sklaven eines Bürgers zerstört oder einen Kno-chen eines Sklaven eines Bürgers bricht, so soll er die Hälfte seines Kaufpreises

zahlen. § 200 Wenn ein Bürger einem ihm ebenbürtigen Bürger einen Zahn ausschlägt, soll man ihm einen Zahn ausschlagen. § 201 Wenn er einem Palasthörigen einen Zahn ausschlägt, so soll er ein drittel Mine Silber zahlen.16

Dieser Auszug macht klar, dass der Grundsatz auch in Hochkulturen galt und keineswegs einer primitiven Wüstenkultur zuzurechnen ist. Die Talio erschien als eine Neuerung Hammurabis mit deutlicher Intention: Wie in der gesamten Rechtssammlung geht es um eine Stabilisierung der streng hierarchischen Glie-derung der Gesellschaft in drei Klassen. Die Talio gilt nur für Menschen erster Klasse, den freien Mann. Wer Sklaven oder Abhängige verletzt, kann sich mit Ersatzleistungen schadlos halten, wer aber wagt, einen freien Vollbürger zu verletzen, der wird mit der gleichen Verletzung bestraft.

Vor diesem Hintergrund lassen sich die alttestamentlichen Regelungen – das ist die These von Frank Crüsemann – als Demokratisierung begreifen. Hier ist demnach das egalitäre Ethos der frühen Prophetie am Werk: Die Talio ist nach der Heiligen Schrift Israels auf alle Menschen anzuwenden; jeder Mensch wird Mensch erster Klasse. Das Klassenrecht des Hammurabi wird überwunden; die eingerissene Praxis von Ersatzleistungen, die wohlhabende Freie enorm begün-stigte, wird abgeschafft.17

Diese Deutung der Talio als nahezu singulärem Rechtsfortschritt und als po-litische Revolution, die ein neues allgemeines Menschenrecht hat entstehen lassen, hat aber ein Problem: Kannte man in Israel um 700 v.Chr. das Recht Hammurabis, das zeitlich und räumlich weit weg lag, überhaupt? 16 Zitiert nach R. Borger, TUAT I/1, 39.68. 17 F. Crüsemann, ‚Auge um Auge...‘ (Ex 21,24f.). Zum sozialgeschichtlichen Sinn des Tali-ongesetzes im Bundesbuch, EvTh 47 (1987), 411–426.

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II.5 Die stellvertretende Talio Cees Houtmann hat versucht nachzuweisen, dass die Talio in Ex 21,23 nicht am Täter, sondern stellvertretend an der im Haushalt des Täters symmetrischen Person vollzogen worden wäre; für Ex 21,23–25 wäre dies die Ehefrau des Tä-ters.18 Das ist zwar nicht grundsätzlich undenkbar (wie z.B. Hi 31,10 zeigt, wo im Falle des Ehebruchs Hiobs seine eigene Frau mit einem anderen Mann Ge-schlechtsverkehr vollziehen müsste), aber den Gedanken der Stellvertretung heben die Regelungen im unmittelbaren Kontext eher auf, wonach der Täter selbst verurteilt wird bzw. selbst bezahlen muss (Ex 21,29.30).19

II.6 Die Talio als Forderung nach Zahlung einer Ersatzleistung

Schon im rabbinischen Judentum wurde das (vermeintlich) wörtliche Verständ-nis verworfen; vielmehr lautet die Standarddeutung:

Wer seinen Nächsten verwundet, ist ihm fünf Dinge dafür schuldig: Scha-densersatz, Schmerzensgeld, Heilungskosten, Entschädigung für Versäumnis der Arbeit und Strafgeld für die Beschämung (bBQ 8a).

Diese Interpretation auf pekuniäre Wiedergutmachung, d.h. auf Zahlung eines Schadenersatzes wurde von Benno Jacob besonders eindrucksvoll vertreten und ausführlich begründet.20 Nach Jacob handelt es sich im AT überhaupt nicht um eine Talio, weil nach seinem Verständnis das ius talionis per definitionem eine reale Vergeltungsstrafe bedeuten müsse. Aus dem Rechtsvergleich kann man ihm zufolge aber erkennen, dass die ursprünglich im Codex Hammurabi wört-lich gemeinte Vergeltung im AT selbst schon durch eine Ersatzzahlung abgelöst wurde. Hauptargument dafür ist das „du sollst geben“ sowie das Wort tachat, was immer nur ein „Ausdruck für Stellvertretung“ meine. „Wie und wem soll das ausgerissene Auge etwas leisten? Kann der Verletzte etwas mit ihm se-hen?“21

Die Ablösung der spiegelstrafenden Körperverletzung des Täters vollzog sich auch schon im altorientalischen Recht. So heißt es im Kodex Eschnunna 18 C. Houtmann, Eine schwangere Frau als Opfer eines Handgemenges (Exodus 21,22–25): ein Fall von stellvertretender Talion im Bundesbuch?, in: M. Vervenne (Hg.), Studies in the Book of Exodus. Redaction – Reception – Interpretation (BEThL 126), Leuven 1996, 381–397. C. Houtmann, Das Bundesbuch: Ein Kommentar (Documenta Et Monumenta Orientis Antiqui), Leiden 1997, 165f. 19 Kritisch zu Houtmann auch A. Schenker, Drei Mosaiksteinchen. ‚Königreich von Prie-stern‘, ‚und ihre Kinder gingen weg‘, ‚wir tun und wir hören‘ (Ex 19,6; 21,22; 24,7), in: A. Schenker, Recht und Kult im Alten Testament. Achtzehn Studien (OBO 171), Fribourg / Göttingen 2000, 99; M. Köckert, Ungeborenes Leben. Wandlungen im Verständnis des Rechtssatzes Ex 21,23–25, in: M. Köckert, Leben in Gottes Gegenwart. Studien zum Ver-ständnis des Gesetzes im Alten Testament (FAT 43), Tübingen 2004, 217–245, hier 229 A48. 20 B. Jacob, Auge um Auge. Eine Untersuchung zum Alten und Neuen Testament, Berlin 1929. 21 B. Jacob, Das Buch Exodus, Stuttgart 1997, 668.

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(ca. 1920 v.Chr.), von dem zwei Exemplare 1945 und 1947 bei Bagdad entdeckt wurden (also nach Jacobs Studien), die heute im Iraq-Museum zu Bagdad zu besichtigen wären:

§§42f. Wenn ein Mann die Nase eines Mannes abbeißt und abtrennt, zahlt er eine Mine Silber. Für ein Auge zahlt er eine Mine (ca. 500g), für einen Zahn eine halbe Mine, für ein Ohr eine halbe Mine, für einen Schlag auf die Wan-ge 10 Schekel (ca. 83 g) Silber. Wenn ein Mann den Finger eines Mannes abtrennt, zahlt er 2/3 Minen Silber. 22

Dieser Rechtstext setzt für Körperverletzungen Ersatzleistungen in Silber fest. Wenn man die biblischen Belege im Lichte dieser „Tariftabelle“ liest, gewinnen sie am wahrscheinlichsten folgenden Sinn: Bei dem Ausdruck „du sollst geben Leben um Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde“ handelt es sich dann um einen fest gefügten Terminus ausschließlich für eine finanzielle Kom-pensation. Schon die Formulierung: „du sollst geben“ (Ex 21,30.32) legt diese Deutung nahe.23 Eine reale (Selbst-?)Verstümmelung des Täters wäre im AT niemals intendiert gewesen und wäre auch niemals vollzogen worden. Das Tali-onsrecht forderte nicht die Opferangehörigen zur Vergeltung, sondern die Täter-angehörigen zum Schadensersatz auf. Dessen Maß wurde von einem Gericht ermittelt und festgelegt. Es wurde sogar denkbar, selbst ein getötetes Leben auf andere Weise als durch Töten des Täters auszugleichen.

II.7 Die Talio als lex sine poena

In Fortführung und Verstärkung dieser „symbolischen“ Talio hat Axel Graupner die These entfaltet, dass das Bundesbuch Ex 20–23 (um 800 v.Chr. oder jünger) „ein Recht ohne Strafidee und ein Recht der Friedenspflicht“ repräsentiert, wo-bei er Anregungen von Horst Seebass und Klaus Grünwaldt aufgegriffen hat.24 Leitende Idee des im Bundesbuch kodifizierten Gesetzes ist die Bewahrung der Gemeinschaft, ihres Bestandes vor Gott und ihres inneren Friedens. Ursprüng-lich intendierte die Talio nach Graupner zwar, den Bluträcher auf das Maß der erlittenen Schädigung zu beschränken. Im jetzigen rechtssystematischen Kon-text des Bundesbuches ist sie aber weiterentwickelt worden; aus dem Todesrecht abgelöst wird sie als haftungsrechtlicher Grundsatz gefasst. Sie ist zur „Ver-pflichtung des Verursachers einer Körperverletzung mit und ohne Todesfolge zur Zahlung eines angemessenen Schadenersatzes geworden. Damit tritt an die

22 Übersetzung W. von Soden, TUAT I/1, 37. 23 U.a. deuten so auch H.W. Jüngling, ‚Auge für Auge‘. Bemerkungen zu Sinn und Geltung der alttestamentlichen Talionsformeln, ThPh 59 (1984), 1–38; L. Schwienhorst-Schönberger, ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘, BiLi 63 (1990), 163–175. 24 H. Seebass, Recht und Gesetz im Alten Testament, GuL 7 (1992), 17–27, 17; vgl. auch K. Grünwaldt, Auge um Auge, Zahn um Zahn? Das Recht im Alten Testament, Mainz 2002, bes. 31–44 sowie 123–132.

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Stelle der Vergeltung der Tat am Täter die Wiedergutmachung. Die talio hat mithin auch im Haftungsrecht keinerlei strafrechtliche Funktion. Vielmehr ord-net das Haftungsrecht das ius talionis seiner hauptsächliche Intention, der Kon-fliktregelung durch gerechten und billigen Ausgleich von Ansprüchen, ein und unter.“25 An die Stelle der Rache und der Vergeltung der Tat am Täter tritt die friedliche pekuniäre Wiedergutmachung am Geschädigten ohne jede Strafab-sicht.

II.8 Die Talio als universales Grundprinzip der strafenden Gerechtigkeit

Im krassen Gegensatz zur eben beschriebenen Deutung hat Jan Rothkamm in einer rezenten Monographie die Talio im Alten Orient und im Mittelmeerraum des 1. Jahrtausends v.Chr. untersucht, wobei er die Belege nach drei Formeln untergliedert: „Kopf um Kopf“, „Leben um Leben“ und „Auge um Auge“.26 Er gelangt zu einer sehr weitreichenden Hochschätzung der Talio als streng wört-lich zu verstehender Strafformel: Er begreift sie „comme un principe général de justice“ (83). Dieses Urprinzip sei jedem vernünftigen Menschen gleich zugäng-lich; daher sei die Frage nach dem Ursprung schwer zu beantworten, ja eigent-lich sinnlos; denn der gesunde Menschenverstand sei natürlicherweise unabhän-gig an verschiedenen Stellen und Zeiten auf diese Grundidee gekommen. Roth-kamm unterscheidet dabei zwei Grundformen der Talio: „talion pénal“ und „ta-lion réparatrice“. Diese beiden Formen, deren erste nach Strafe für den Täter strebt und deren zweite nach Wiedergutmachung für die Opfer sucht, kommen aber logisch stets zusammen: Je nachdem, ob der erlittene Verlust des Opfers überhaupt wiedergutzumachen ist, muss entweder eine materielle lebendige Wiederherstellung erfolgen, oder aber dem Täter muss ein gleichartiger Schmerz zugefügt werden: „Le talion est en conséquence un concept universel … un principe de justice (terrestre) qui cherche à réparer la perte encourue par la victime en infligeant à l’agresseur une peine égale“ (88). Eine Kompensation des Leidens durch Geldzahlungen hält Rothkamm explizit für ausgeschlossen; ihr fehle jegliche philologische Basis. Strafe muss sein.

II.9 Die Talio als Teil der Sapientialisierung der alttestamentlichen Überlieferungen

Der Verfasser selbst hat sich mehrfach mit der Talio-Formel befasst und dabei versucht, zwei Entwicklungen im alttestamentlichen Recht nachzuweisen: Er-

25 A. Graupner, Vergeltung oder Schadensersatz? Erwägungen zur regulativen Idee alttesta-mentlichen Rechts am Beispiel des ius talionis und der mehrfachen Ersatzleistung im Bun-desbuch, EvTh 65 (2005), 459–477. 26 J. Rothkamm, Talio esto. Recherches sur les origines de la formule ‚oeil pour oeil, dent pour dent‘ dans les droits du Proche-Orient ancien, et sur son devenir dans le monde gréco-romain (BZAW 426), Berlin / New York 2011.

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stens gibt es – wie z.B. Dtn 4, oder Sir 1 aufzeigen – eine allgemeine Tendenz zur Sapientialisierung der Tora, wobei auch die Talio – zumal in ihrer jüngsten Fassung in Lev 24 – eine solche Akzentuierung bekommen hat. Die Weisheit verfolgt dabei die Grundintentionen, die Wirkung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs als allgemeines vernünftiges Prinzip des Ausbalancierens auf-zuzeigen und zweitens die Erziehung zu einem entsprechenden Verhalten zu leisten.

Zum andern lässt sich in den Geschichtswerken eine ähnliche Entwicklung feststellen: was in der sog. Deuteronomistischen Historiographie angelegt ist, wird in der chronistisch beeinflussten Geschichtsschreibung stark ausgebaut.27

II.10 Die Theologisierung der Talio

Von der Sapientialisierung durchaus zu differenzieren ist die Theologisierung des Rechts. Rechtssätze gehen aus dem engeren Bereich des Juristischen hinüber in die Sphäre von theologischen Glaubenssätzen. So auch in der Formulierung von Lev 24: „wie er getan hat, so soll ihm getan werden“ (כן יעשה לו); die passi-vische Formulierung kann als passivum divinum verstanden werden und besagt dann, dass Gott es ist, der die Talionsforderung erfüllen wird. Es ist wie ein Credo: ER wird dafür sorgen, dass jeder Verbrecher für seine Taten haftbar gemacht wird. Solche Metaphorisierung gehört in die Sprache der Katechetik, die die Strafe in den Raum der Zukunft Gottes verlegt. Die „Höllenpredigt“ von der gerechten Vergeltung zielt auf eine gegenwärtige ethische Bewusstseinsbil-dung. Der Täter soll wissen, dass seine Untat von Gott stets gesehen wird und dass sie auf keinen Fall folgenlos bleibt. Dabei ist zu beachten, dass Rechtstext und tatsächliche Praxis durchaus nicht übereinstimmen müssen. Rechtssätze beschreiben nicht selbstverständlich die real vollzogenen Strafen, sondern for-mulieren – mit didaktischer Übertreibung – moralische Grundgedanken der „juristisch-theologischen“ Weisheit.

II.11 Fazit aus 1 Wenn man die zerklüftete und zerstrittene Forschungslandschaft überblickt, dann stellt sich schon die Frage, wie es sein kann, dass so unterschiedliche Deu-tungen und Wertungen miteinander konkurrieren: – von archaischem, ja geradezu primitivem „Recht“ bis hin zum höchsten

Rechtprinzip,

27 M. Oeming, Wisdom as a Central Category in the Book of the Chronicler. Considerations on the Significance of the Talio-Principle in a Sapiental Construction of History, in: M. Bar-Asher u.a. (Hg.), Shai le-Sara Japhet. Studies in the Bible, its Exegesis and its Language (FS Japhet), Jerusalem 2007, 125–143.

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– von einem bloßen Übergangsstadium der Mäßigung der Rache bis hin zum Inbegriff des gesunden Menschenverstandes,

– von brutaler Körperverstümmelung – die via Stellvertretung sogar völlig unbeteiligte und unschuldige Familienmitglieder ereilen kann – bis hin zu ganz friedlicher Konfliktlösung sogar ganz ohne den Gedanken von Strafe,

– vom Ausdruck niveauloser Vergeltungsgelüste bis hin zu den Tiefen der Weisheit und der Gotteslehre –

diese Pluralität der Auslegungen kann und sollte jeden Leser zunächst tief ver-unsichern.

III Ein neuer Vorschlag: Quinque iura talionis oder die Differenzierung von fünf unterschiedlichen talio-Formeln

Niemand sollte sich einbilden, in diesem Dickicht der Auslegungen einen einfa-chen Ausweg bahnen zu können – selbst wenn man sich dezidiert auch durch Publikationen in eine Richtung festgelegt hat. Wie eingangs angekündigt, sollen in diesem Aufsatz zu Ehren von Siegfried Kreuzer vor allem Differenzierungen eingebracht werden. Eine Crux der Interpretation ist – so scheint mir – die sin-gularisierende Redeweise von der, d.h. von der einen ius talionis. Bei der Durchsicht der Auslegungen war schon deutlich geworden, dass unterschiedli-che Begriffe verwendet werden: „strafende Talio“ gegen „wiedergutmachende Talio“ bei Rothkamm, „stellvertretende Talio“ bei Houtmann versus gar „keine Talio“ bei Jacob. Zunächst soll eine tabellarische Übersicht den Textbestand, um den es geht, synoptisch vor Augen führen.

Bundesbuch Ex 21,23–25 (1000–700 v.Chr.)

Deuteronomisches Gesetz Dtn 19,19–21 (550 v. Chr.)

Heiligkeitsgesetz Lev 24,18–20 (400 v.Chr.)

23 ואם־אסוף

ונתתה

נפש תחת נפש 24 עין תחת עין

שן תחת שן יד תחת יד

רגל תחת רגל 25 כויה תחת כויה

פצע תחת פצע

19 ועשיתם לו

כאשר זמם לעשות לאחיו ובערת הרע מקרבך

20 והנשארים ישמעו ויראו

ולא־יספו לעשות עוד כדבר הרע הזה בקרבך

נפש בנפש ולא תחוס עינך

21

עין בעין שן בשן יד ביד

רגל ברגל

17 ואיש כי יכה כל־נפש אדם יומת־מות

18 ומכה נפש בהמה ישלמנה

נפש תחת נפש 19 ואיש כי־יתן מום בעמיתו

כאשר עשה כן יעשה לו

20 שבר תחת שבר

עין תחת עין שן תחת שן

כאשר יתן מום באדם כן ינתן בו

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Bundesbuch Ex 21,23–25 (1000–700 v.Chr.)

Deuteronomisches Gesetz Dtn 19,19–21 (550 v. Chr.)

Heiligkeitsgesetz Lev 24,18–20 (400 v.Chr.)

21 ומכה בהמה ישלמנה חבורה תחת חבורה

ומכה אדם יומת23Wenn ein dauernder Schaden entsteht, dann sollst du geben Leben um Leben, 24Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, 25Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde.

19So sollt ihr ihm tun, wie er gedachte, seinem Bruder zu tun, damit du das Böse aus deiner Mitte wegtust, 20Die andern sollen aufhor-chen und sich fürchten und hinfort nicht mehr tun solche bösen Dinge in deiner Mitte. 21Dein Auge soll ihn nicht schonen: Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß.

17Wer irgendeinen Menschen erschlägt, der soll des Todes sterben. 18Wer aber ein le-bendiges Vieh erschlägt, der soll’s ersetzen Leben um Leben.

19Und wer seinen Nächsten eine Verletzung gibt, WIE ER IHM GETAN HAT, SO SOLL IHM GETAN WERDEN,

20Bruch um Bruch, Auge um Auge, Zahn um Zahn; Und wie er seinen Nächsten eine Verletzung gibt, SO SOLL IHM GEGEBEN

WERDEN. 21Wer ein Stück Vieh er-schlägt, der soll’s erstatten; wer aber einen Menschen erschlägt, der soll sterben.

Die sogenannte Talio-Formel kommt im AT nur dreimal vor. Es ist sehr wichtig zu beachten, dass die Formel mitnichten dreimal in gleicher Weise begegnet, erst recht, wenn man auf den jeweiligen Kontext achtet, in welchem die ver-schiedenen Teilelemente begegnen.

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III.1 Zu Ex 21,18–2328 In Ex 21,18–23 geht es um Köperverletzung und die daraus resultierenden (Rechts-) Folgen. Dabei wird zunächst ein doch wohl eher spezieller Fall erör-tert, dass nämlich eine bei einer Schlägerei unter Männern bloß dabei stehende Frau „gestoßen“ wird (נגף). Es geht also nicht um vorsätzliche, sondern um fahr-lässige Körperverletzung. Wenn besagte Frau durch einen gewaltsamen Schlag „nur“ ihr Baby verliert, sonst aber kein 29אסון eintritt, dann wird vermittelt „durch die Hand der Richter“ ein einmaliger Geldbetrag wohl an den Ehemann, der seine Höhe festlegt, fällig (obwohl es unklar ist, ob nicht auch die Frau et-was bekommt). Was genau besagt es aber, dass ein אסון eingetreten ist? Die Vokabel begegnet ja nur 5 mal im AT; neben Ex 21 dreimal in der Josefserzäh-lung; der greise Jakob hat Angst, dass Benjamin ein „Unglück“ zustoßen könnte (Gen 42,4.38; 44,29 [vgl. auch Sir 31,22; 38,18; 41,9]). Geht es um eine Schädi-gung des Säuglings, die erst bei seiner Geburt sichtbar werden wird? Wird ein Kind mit körperlicher Einschränkung zur Welt gebracht, muss dann der Täter hierfür noch aufkommen? Oder geht es um ein Unglück30, das die Frau selbst zusätzlich zum Abgang des Embryos trifft? Allerdings bleibt hier wiederum Einiges unklar, z.B. bis wann eine solche nachhaltige Tatfolge geltend gemacht werden kann; es könnte ja z.B. durch die Gewalteinwirkung eine Unfruchtbar-keit der Frau eintreten, die sich natürlich erst in geraumem zeitlichen Abstand feststellen lässt. Wer stellt finanzbindend fest, welcher Schaden genau vorliegt? Kann der Beschuldigte sich gegen die Ansprüche wehren? Vor allem aber ist nicht klar, wie die Durchführung der Schadensersatzleistung erfolgt. Muss man an eine Art ‚Rente‘ denken, die dem Opfer die Folgekosten dauerhaft erstattet? Es ist aufgrund all dieser Unklarheiten relativ klar, dass die Detailregelung nicht beabsichtigt ist, sondern dass ein Grundsatz eingeschärft werden soll. An wel-chen Adressatenkreis richtet sich diese „juristische“ Anweisung überhaupt? An die lokalen Richter? An die in Rechtsprechung Auszubildenden? Oder an das gesamte Volk Israel als „Volk Gottes“ im Sinne einer moralischen Gewissens-bildung?31

28 B.S. Jackson, The Problem of Exodus 21:22–25 (Ius Talionis) (Studies in Judaism in Late antiquity 10), Leiden 1975; Y.S. Kim, Lex talionis in Exod 21:22–25. Its Origin and Context. JHS 6 (2006), 1–11: „The Laws of Hammurabi have underlying values of ‚serve the master‘ according to social structure. So hierarchy is clear in it. Class distinction is important in that society: awilu-class, commoner-class and slave. In contrast, biblical law in general is concer-ned with community as God’s people, chosen by God as a covenant community. So the domi-nant value is to ‚serve God and the community‘“ (11). 29 Nach Gesenius, Handwörterbuch18, 83: „Tragödie, Unglücksfall“. 30 Luther: „ein dauernder Schaden“, Elberfelder und EÜ: „weiterer Schaden“, Buber / Rosen-zweig: „das Ärgste“. 31 Vgl. C. Dohmen, Exodus 19–40 (HThK), Freiburg 2004, 166: „Das, was zuvor einmal in den Bereich der – Ausbildung zur – Rechtsprechung gehörte, ist nun zur Grundlage der mora-lischen Bildung des Volkes geworden“ (Hervorhebung MO).

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Über den konkreten Fall weit hinausgehend wird das Rechts-Prinzip hier sehr ausführlich expliziert. Es ist in acht Glieder aufgefächert:

„Lebenersatz für Leben, 1 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Augersatz für Auge, 4 Zahnersatz für Zahn, Handersatz für Hand, Fußersatz für Fuß, –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Brandmalersatz für Brandmal, 3 Wundersatz für Wunde, Striemersatz für Strieme.“ (Übersetzung von Buber / Rosenzweig)

Die Aufzählung scheint nach mehreren Gesichtspunkten zu erfolgen: Zunächst dürfte die Anordnung der acht Glieder nach der empfundenen Größe der Tragö-die erfolgen: Der Tod der Frau ist das größte anzunehmende Unglück, das Auge gilt als besonders wertvoll, die bloße Strieme als die geringste dauerhafte Folge. Sodann zerfällt die Aufzählung in drei Teile: Nach dem Oberbegriff „Leben“ folgen vier Körperglieder in anatomischer Reihenfolge von oben nach unten. Die abschließenden drei Glieder zählen Verletzungen auf. Letzteres ist in den altorientalischen Parallelen ohne Analogie, scheint mithin eine „spezifisch altte-stamentliche Erweiterung“ zu sein.32 Geht es hier um eine Art gestaffeltes „Schmerzensgeld“? Am schmerzhaftesten wären danach Brandwunden, dann offene, aufgerissene Wunden und schließlich Striemen? Allerdings sind die Begriffe nicht leicht zu präzisieren. Die Wörterbücher schwanken hier zwischen „(Brand-) Wunde, offener Wunde und Beule, Striemen“.

Das erste Glied ונתתה נפש תחת נפש hat auch inhaltlich eine Kopfstellung. „Du sollst geben Leben für Leben“ ist wohl zu Recht oftmals auch als Lex generalis verstanden worden. תחת heißt „anstelle“33 oder „als Entgelt für“ (bei Wieder-vergelten oder Tausch). „An die Stelle“ von Leben soll Leben treten, aber wie? Die Regelung ist undeutlich: Die Kombination von נתן und נפש ist singulär.34 Geht es etwa „nur“ um einen psychischen Defekt, um ein Trauma? Wohl kaum. Es geht eher um die Todesstrafe. Aber Leben kann man doch nicht ersetzen. In der Formel drückt sich am ehesten die Wertschätzung des Lebens aus. Wer Le-ben zerstört, hat dafür das Höchste hinzugeben, was er selbst besitzt: das eigene Leben. Dann wären in dieser Talio – in Analogie zum Pikuach Nefesch – der höchste Schutz und der höchste Wert von Leben festgeschrieben. Um sprachlich zum Ausdruck zu bringen, dass es hier nicht um eine grausame Strafe geht,

32 Boecker, Recht, 151. 33 Gesenius, Handwörterbuch18, 1435: „er brachte ihn (den Widder) als Brandopfer anstelle seines Sohnes dar“ (Gen 22,13). 34 Allenfalls im NT gibt es ähnliche Formulierungen, z.B. „Größere Liebe hat niemand als die, dass er sein Leben hingibt für seine Freunde“ (ἵνα τις τὴν ψυχὴν αὐτοῦ θῇ ὑπὲρ τῶν φίλων αὐτοῦ) (Joh 15,13).

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sondern um den basalen Schutz des Lebens, möchte ich diese Talio Lebens-schutz-Talio nennen, die von der Schadenersatz-Talio klar zu unterscheiden ist. Die Todesstrafe steht im AT ja auf eine ganze Fülle von Delikten (u.a. auf Mord, Gotteslästerung, Schlagen der Eltern, diverse von der Norm abweichende sexuelle Verhaltensformen, Ehebruch, Inzest, Vergewaltigung, magische Prakti-ken)35. Wie aber Thomas Hieke in einer eingehenden Studie aufgezeigt hat, spiegeln diese überaus harten Bestimmungen des Todesrechts letztlich nicht unmittelbar die exekutive Realität, sondern vielmehr die Ethik!36 Es geht um Taten, die im moralischen Sinne unbedingt vermieden werden sollen! „Die mot-Sätze gehören also nicht zum Strafrecht, in die ‚Justiz‘, sondern sind Drohungen von Gemeindevorstehern, die ethische Grundregeln einschärfen wollen. Es geht – trotz der harten Worte – letztlich um Paränese, um Ermahnung und Warnung. Daher ist auch aus dem Alten Testament die Todesstrafe nicht zu begründen.“37 Lebensschutz-Talio ist ein ethisches Ur-Prinzip.

III.2 Zu Dtn 19,19–21

Der Kontext ist hier ein völlig anderer als in Ex 21. Es geht nicht um die Kom-pensation von angerichtetem Schaden, sondern um das Verhalten vor Gericht (Dtn 16,18–21,9). „Das Böse“ (הרע) soll ausgerottet werden. Was dieses Böse genau ist, wird mit einem Verrat der „Geschwister-Ethik“ angedeutet.38 Inner-halb des als Familie gedachten Volkes Gottes gelten besondere moralische Standards. So wie man innerhalb der Familie keine Zinsen nimmt, keine Skla-ven hält oder keine Jungvermählten zum Kriegsdienst heranzieht, so besteht innerhalb der familia dei ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis. Hier geht es speziell um das Ethos eines Zeugen vor Gericht. Er hat die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit. Darin zeigt sich die hohe Wertschätzung der Recht-sprechung, dass sie als der heilige Ort betrachtet wird, an dem jedem die Ge-rechtigkeit zuteil wird, die er verdient. Hier ist der Ort der radikalen Wahrheit. Wer hier als Falschzeuge auftritt, erweist sich als „Kameradenschwein“, das seinen Freunden und Verwandten die Solidarität verweigert und ihnen verräte-risch in den Rücken fällt. Das erklärt die emotionale Bewegtheit der Sprache.

Hammer und Schwert und geschärfter Pfeil,

35 C. Teupe, ‚Des Todes sterben‘ und ‚ausgerottet werden‘. Die Todesstrafe im Alten Testa-ment, Jahrbuch des Martin-Bucer-Seminars 2 (2002), 37–58. 36 Ähnlich hat L. Massmann dafür plädiert, die mot-jumat-Sätze als hyperbolische Formulie-rung für einen Ausschluss aus der Kultgemeinschaft zu interpretieren (L. Massmann, Der Ruf in die Entscheidung. Studien zur Komposition, zur Entstehung und Vorgeschichte, zum Wirk-lichkeitsverständnis und zur kanonischen Stellung von Lev 20 [BZAW 324], Berlin / New York 2003, 105–113). Da aber auch die in die Bluttat verwickelten Tiere des Todes sterben sollen (Lev 20,15.16, vgl. Ex 21,28), ist diese an sich attraktive Deutung nicht möglich. 37 T. Hieke, Das Alte Testament und die Todesstrafe, Bibl. 85 (2004), 349–374, hier 373f. 38 H.-J. Fabry, Deuteronomium 15. Gedanken zur Geschwister-Ethik im Alten Testament (ZAR 3), 92–111.

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so ist ein Mann, der als falscher Zeuge gegen seinen Nächsten aussagt. (Spr 25,18)

Hier ist durchaus der Gedanke der Bestrafung präsent. Es soll gerade vermieden werden, dass eine Falschaussage ohne Folgen und die böse Sache friedlich auf sich beruhen bleibt. Nein, die Strafe, die der Falschzeuge einem anderen zufü-gen wollte, soll rigide auf ihn selbst zurückfallen. Ich möchte diesen Gedanken als Falschzeugen-Talio benennen. Diese hat sogar einen starken Akzent auf der Bestrafung. Wie die wiederholten Aufforderungen, „das Böse aus deiner Mitte auszurotten“ bzw. „böse Dinge in deiner Mitte nicht mehr zu tun“ signalisieren, muss hier eine „knallharte“ Strafe vollzogen werden. „Dein Auge soll ihn nicht schonen“ – das impliziert die Aufforderung, wirklich die Spiegelstrafe an dem „Kameradenschwein“ zu vollstrecken.

Diese Talio ist auch hier unterteilt, diesmal in zwei Blöcke: An oberster Stel-le steht wiederum die Bewahrung des Wertes von Leben als eine Art Lex gene-ralis. Sollte man also z.B. behauptet haben, vergewaltigt worden zu sein, und es stellt sich heraus, dass dies gar nicht der Wahrheit entspricht, sondern eine hin-terhältige Lüge war, dann soll die fälschlich Anzeigende genau die Strafe erhal-ten, die dem angeblichen Vergewaltiger in dem Fall drohte: er wäre gesteinigt worden (Dtn 22,23–27)! Niemand kann sich aus dieser Strafe freikaufen. Die Formulierung in Dtn 19 weicht von der in Ex 21 leicht ab: נפש בנפש, also ב statt Diese Variation lässt sich aus einer Nähe zur Lebenschutz-Talio in der .תחתpriesterschriftlichen Urgeschichte und dem Gedanken der Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen erklären.

[Gott spricht zu Noah:] 5Auch will ich euer eigen Blut, das ist das Leben ei-nes jeden unter euch, rächen und will es von allen Tieren fordern und will des Menschen Leben fordern von einem jeden Menschen. 6Wer Menschen-blut vergießt, dessen Blut soll auch wegen des Wertes des Menschen (באדם)39 vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht. (Gen 9,5f.)

Diese Falschzeugen-Talio ist eingebaut in ein volkspädagogisches Konzept. „Die anderen sollen (auf)horchen, sich fürchten, und hinfort nicht mehr die böse Sache in deiner Mitte tun“! Neben die Falschzeugen-Talio tritt somit ein weite-rer Gedanke, den man deutlicher differenzieren sollte, und den ich der Klarheit halber als pädagogische Talio bezeichnen möchte. Demnach soll die Spiegel-strafe aus erzieherischen Gründen auch tatsächlich vollzogen werden. Das, was der unschuldige „Bruder“ erleiden hätte müssen, wenn die eigentlich selbstver-ständliche Forderung nach Ehrlichkeit als erfüllt angesehen worden wäre, genau das soll dem jetzt zugefügt werden, der ihn verleugnet hat. Der Gedanke der Abschreckung durch Strafe wird deutlich festgehalten. Das sollte man nicht bestreiten. Wer z.B. jemanden des Diebstahls beschuldigt, soll die Strafe er-

39 Vgl. A.B. Ernst, ‚Wer Menschenblut vergießt ...‘. Zur Übersetzung von באדם in Gen 9,6, ZAW 102 (1990), 252f.

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leiden, die der angebliche Dieb zu erwarten gehabt hätte, wenn man dem Falschzeugen geglaubt hätte. Es geht um eine wirklich gnadenlose absolut rigo-rose Anwendung des Strafmaßes, das den Unschuldigen beinahe ereilt hätte, auf den falschen Zeugen. Die Talio von Ex 21 wird somit in Dtn 19 zu einem ande-ren Gesetz. Ex 21 hat Unfallfolgen durch Schadenersatz zu regeln, Dtn 19 Meineide.

III.3 Zu Lev 24,17–21 In Lev 24 ist der Kontext der Talio durch das Stilmittel des Chiasmus gleich dreifach geformt:

a. In V. 17b wird gefordert (ואיש יכה כל־נפש מות יומת), was in V. 21b knapp repe-tiert wird (ומכה אדם יומת). Dadurch ergibt sich ein erster äußerer Rahmen.

b. V. 18a stellt ebenso wie V. 21a das Tier (בהמה) unter den Schutz der Talio. Somit ist die Lebensschutz-Talio – jeweils in Ex 21, Dtn 19 und Lev 24 präsent – die einzige Talio-Formulierung, die ausführlicher erläutert wird. Dadurch wird sie in Lev 24 massiv hervorgehoben.

c. Ein dritter Chiasmus behandelt das Thema Verletzungen (מום) eines „Näch-sten“ (עמית). Die Vokabel מום hat eine doppelte Konnotation: einerseits geht es um eine körperliche Verletzung, um einen physischen Defekt, um ein „Gebre-chen“40; andererseits um eine Schande, um eine Beschädigung der gesellschaft-lichen Stellung, um einen „Schandfleck“. Vermutlich ist die Doppelbedeutung gewollt. Das Opfer wird explizit als עמית angesprochen, d.h. es wird als Mitglied der Gemeinschaft und als Volksgenosse angesehen.41 V. 19a+b mit 20b haben eine klare Struktur: Protasis mit einem Tatbestand, den eine Person aktiv her-beigeführt hat, Apodosis mit dem gleichen Verb, aber im Niphal, sprich einer Spiegelung darin, was die Person passiv erleidet. Luther übersetzt das mit einem ganz neutralen Ausdruck: „dem soll man tun, wie er getan hat“, ähnlich EÜ: „soll man ihm antun, was er getan hat“; die Elberfelder und Buber / Rosenzweig sind da genauer: „wie er getan hat, so soll ihm getan werden“ bzw. „wie er tat, so werde ihm getan“! Die Zürcher Übersetzung mischt die beiden Möglichkei-ten, also einmal „Und wenn jemand seinem Nächsten einen Schaden zufügt, soll man ihm antun, was er getan hat“, das andere Mal „Der Schaden, den er einem Menschen zufügt, soll ihm zugefügt werden.“ Bei dieser Formulierung ist die Frage, wer das Subjekt der passivischen Formulierungen ist, unklar: die mensch-liche Gerichtsgemeinde oder aber ein Passivum divinum mit Gott als Richter? Das Leben von Mensch und Tier ist so heilig, dass bei seiner Zerstörung keine Vergebung möglich zu sein scheint. Leib und Leben von Mensch und Tier wer-den nachhaltig tabuisiert und damit stark aufgewertet. In diesem zweiten Rah-men eingestellt ist der dreifache Ausdruck „Bruch um Bruch, Auge um Auge, 40 Gesenius, Handwörterbuch18, 643. 41 Gesenius, Handwörterbuch18, 982.

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Zahn um Zahn“. Gegenüber Ex 21 und Dtn 19 ist „Bruch für Bruch“ neu und hier singulär. Der Ausdruck שבר deutet an, an welche Verletzung gedacht ist, nämlich an eine solche, bei der ein Knochen zerbricht. Knochenbrüche waren in der Antike sehr viel schwerer zu reparieren als in der Moderne; nach Lev 21,19 schloss eine solche Verletzung vom Priesterdienst grundsätzlich aus. Vermutlich liegt in der Vokabel auch ein Akzent auf der Dauer der Folge. Es ergibt sich folgende Struktur:

Tod

Verletzung Knochenbruch – Augenverlust – Zahnverlust

Verletzung Tod

Das Passivum legt den Akzent deutlich auf die Mitteilung eines Vorgangs, ohne die handelnden Personen herauszustellen. Die Verwendung des Niphal muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass das handelnde Subjekt absichtlich verhüllt werden soll. Mögliches Subjekt sind die Rechtsgemeinde oder aber Gott. Einige Übersetzungen interpretieren die Formulierung so, dass man ihm geben soll (so z.B. Luther und EÜ). Wenn man aber Gott als handelndes Subjekt annehmen will, wäre ein klarer Hinweis darauf hilfreich. Aber die Aktivität Gottes ist hier wie anderswo oftmals nicht sicher erkennbar, und so haben manche Forscher vor der „Überstrapazierung“ des Passivum Divinum gewarnt.42 All dieser Ad-monita eingedenk scheint es mir dennoch angeraten, die Möglichkeit eines Pas-sivum theologicum zu prüfen: Dann ergäbe sich, dass eine Untat durch göttliche Intervention zum Täter zurückkehrt.43 Die Autorität, die hinter diesem gerechten Vergeltungsdenken steht, wäre nicht die Rechtsgemeinde, auch nicht eine quasi naturgesetzliche Tatsphäre, sondern Gott.44 Die Diskussion um Klaus Kochs Thesen, dass Gott nicht unmittelbar beteiligt sei,45 hat aufgezeigt, dass Gott im

42 M. Reiser, Die Gerichtspredigt Jesu. Eine Untersuchung zur eschatologischen Verkündi-gung Jesu und ihrem frühjüdischen Hintergrund (NTA 28), Münster 1990, 255–261; C. Ma-cholz, Das ‚Passivum Divinum‘, seine Anfänge im Alten Testament und der „Hofstil“, ZNW 81 (1990), 247 – 253, der es als Passivum regium begreift, eine vornehme Form, wie man über das Wirken höher gestellter Persönlichkeiten spricht. 43 In Anlehnung an B. Janowski, Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des ‚Tun-Ergehen-Zusammenhangs‘, ZThK 91 (1994), 247–271 (= B. Janowski, Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 167–191). 44 K. Koch, Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?, ZThK 52 (1955), 1–42 (= in: K. Koch (Hg.), Um das Prinzip der Vergeltung in Religion und Recht des Alten Testaments (WdF 125), Darmstadt 1972, 130–180 = ‚Is There a Doctrine of Retribution in the Old Te-stament?‘, in: J.L. Crenshaw (Hg.), Theodicy in the Old Testament (IRT 4), Philadelphia / London 1983, 57–87). 45 Zur Debatte um Kochs Hypothesen vgl. H. Gese, Lehre und Wirklichkeit in der alten Weisheit. Studien zu den Sprüchen Salomos und zu dem Buche Hiob, Tübingen 1958; H. Graf Reventlow, ‚Sein Blut komme über sein Haupt‘, VT 10 (1960), 311–327; H.H.

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Quinque iura talionis 57

Tun-Ergehen-Zusammenhang sehr wohl als logisches Subjekt mitgedacht wer-den muss.46

III.4 Fazit aus 2

Man muss eine Schadensersatz-Talio, eine Lebensschutz-Talio, eine Falschzeu-gen-Talio, eine (volks-) pädagogische Talio und eine weisheitliche Tun-Ergehen-Talio sorgfältig unterscheiden. Diese fünf Formen des ius talionis hän-gen in gewissem Maße miteinander zusammen (so wie die vier Formulierungen des kategorischen Imperatives47). Wenn man sie aber nicht schlicht und schlecht zusammenmengt, sondern die jeweiligen Konzepte und kontextuellen Zusam-menhänge stark macht, erscheinen die unter II. dargestellten heftigen Ausle-gungsdifferenzen in der gegenwärtigen Forschung zumindest verständlicher, zum Teil aber auch überflüssig. Denn jeder der beteiligten Wissenschaftler legt auf einen Teilaspekt der Talioformeln alles Gewicht und übersieht dabei, dass in den anderen Kontexten andere Aspekte hervorgehoben werden. Dieser Sicht, das ius talionis je nach Kontext in fünf verschiedene Gesetze zu differenzieren, erlaubt zwar nicht, alle Konflikte der Interpretation aufzulösen, aber man kann doch einige heftige Kontroversen relativieren:

– Das Deuteronomium kennt im Unterschied zu Ex 21 durchaus den Gedan-

ken der Strafe. Die friedliche Grundstimmung beim Ausgleich von Körper-verletzungsfolgen tritt hier in den Hintergrund und wird durch eine harte Pädagogik der Abschreckung ersetzt.

Schmid, Gerechtigkeit als Weltordnung. Hintergrund und Geschichte des alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriffs, BHTh 40, 1968, 175–179; H. Graf Reventlow, Rechtfertigung im Horizont des Alten Testaments, 1971, 33–36; P.D. Miller, Sin and Judgement in the Prophets. A Stylistic and Theological Analysis (BZAW 180), Berlin / New York 1989, 86–90; H.D. Preuß, Theologie des Alten Testaments I, Stuttgart 1993, 217–222; J. Hausmann, Studien zum Menschenbild der älteren Weisheit (FAT 7), Tübingen 1994, 231f.; H. Delkurt, Ethische Einsichten in der alttestamentlichen Spruchweisheit (BThSt 21), Neukirchen-Vluyn 1993, 148–161. 46 Vgl. M. Oeming, Behinderung als Strafe? Zum biblisch fundierten seelsorglichen Umgang mit dem Tun-Ergehen-Zusammenhang, in: J. Eurich / A. Lob-Hüdepohl (Hg.), Behinderung – Profile inklusiver Theologie, Diakonie und Kirche (Behinderung – Theologie – Kirche 7), Stuttgart 2014 (im Druck). 47 1. Grundformel = Universalisierungsregel: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, 421); 2. Naturgesetzformel: „[H]andle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.“ (GMS, AA 421); 3. Menschheitsformel: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (GMS, AA 429); 4. Reich-der-Zwecke-Formel: „Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetz-gebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre.“ (GMS, AA IV, 438).

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58 M. Oeming

– Der theologische Gedanke von Lev 24, dass Gott die bösen Taten nicht ohne Konsequenzen lässt, sondern dass Gott die Täter zur Rechenschaft ziehen wird, hat auch tröstliches Potenzial, zumal für die Opfer.

– In jedem Fall ist die Talio keineswegs ab irgendeinem Zeitpunkt überholt, sondern sie steht in allen Phasen der alttestamentlichen Rechtsgeschichte in dieser oder jener Form in Geltung. In der Spätzeit erhält sie einen theologi-schen Schwerpunkt.

– Die Hauptintention bleibt in allen fünf Varianten die Reduzierung von Ge-walt entweder durch Schadensersatzausgleich, durch rechtzeitige Erziehung, durch Abschreckung angesichts von harten Strafen, durch Furcht vor Gott und Einsicht in die Vergeltung, die das Leben durch Gottes Eingreifen mit sich bringt.

IV Streiflichterartige Ausblicke in die Rezeptionsgeschichte Die quinque iura talionis dürften im 5. / 4. Jh. v.Chr. vorgelegen und eine Wir-kungsgeschichte entfaltet haben. Wenngleich stark davon auszugehen ist, dass alle Formen ältere Wurzeln haben, soll hier nur ein Blick auf Traditionen gewor-fen werden, die wahrscheinlich nach dieser Zeit datieren.

a. Dass die Geschichtsschreibung der Chronik massiv vom Gedanken der Tun-Ergehen-Talio geprägt ist, habe ich in der Festschrift für Sara Japhet aufge-zeigt:48 Wir finden in den Chronikbüchern ein komplexes multifaktorielles Den-ken,49 für das ich den terminologischen Vorschlag „Tun-Ergehen-Großzusam-menhang“ (TEGZ) gemacht habe. Das Bewusstsein, dass mein Handeln einge-bettet ist in viele Faktoren, bewirkt ein komplexes Gemisch von Talio-Gedanken: Strafe, stellvertretendes Leiden, pädagogische Abschreckung, vor allem aber Gottesfurcht angesichts des Handelns Gottes. Ähnliche theologische und geschichtstheologische Konzeptionen lassen sich für andere späte Ge-schichtswerke wie z.B. das Buch Tobit konstatieren,50 aber auch für die Ge-schichtspsalmen, wobei die Überwindung der Vergeltung durch den gnädigen Heilswillen Gottes immer stärker hervortritt.51

48 Vgl. Oeming, Wisdom; R.B. Dillard, Reward and Punishment in Chronicles: the Theology of Immediate Retribution, WThJ 46 (1984), 164–172; B.E. Kelly, Retribution and Eschatolo-gy in Chronicles (JSOT.S 211), Sheffield 1996; H.P. Mathys, Die Ethik der Chronikbücher. Ein Entwurf, in: H.P. Mathys, Vom Anfang und vom Ende. Fünf alttestamentliche Studien (BEATAJ 47), Frankfurt 2000, 156–255, bes. 165–181; M. Oeming, Newton and Solomon?, in: M. Welker (Hg.), Law in Theology and Exact Sinces (im Druck). 49 E. Ben Zvi, History, Literature and Theology in the Book of Chronicles (Bible World), London 2006. 50 M.D. Kiel, The ‚Whole Truth‘: Rethinking Retribution in the Book of Tobit (The Library of Second Temple Studies), London 2013. 51 J. Gärtner, Die Geschichtspsalmen. Eine Studie zu den Psalmen 78, 105, 106, 135 und 136 als hermeneutische Schlüsseltexte im Psalter (FAT 84), Tübingen 2012.

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b. Es ist außerordentlich bemerkenswert, dass die Weisheit selbst schon die Mahnung kennt, auf die rigide Durchsetzung der Talio zu verzichten:

Sprich nicht: ‚Wie einer mir tut, so will ich ihm tun ich will jedem gemäß seinem Tun vergelten‘ (Spr 24,29)

אל־תאמר כאשר עשה לי כן אעשה לו

אשיב לאיש כפעלו

Die Intention der quinque iura talionis ist hier klar aufgenommen: Der Geist der Rache und der Vergeltung soll gedämpft werden, sogar berechtigtes „Heimzah-len“ und nachvollziehbare Aggressionen sollen unterlassen werden. Selbstbe-herrschung und Langmut sind die besseren Tugenden.

Besser ist einer, der lang zum Zorn ist, als ein Kriegsheld, und wer sich selbst beherrscht, der ist besser als einer, der Städte erobert. (Spr 16,32)

טוב ארך אפים מגבור ומשל ברוחו מלכד עיר

c. Die quinque iura talionis in der LXX

Exodus 21,23–27 Deuteronomium 19,19–21 Leviticus 24,17–21 23ἐὰν δὲ ἐξεικονισµένον ἦν, δώσει ψυχὴν ἀντὶ ψυχῆς, 24ὀφθαλµὸν ἀντὶ ὀφθαλµοῦ, ὀδόντα ἀντὶ ὀδόντος, χεῖρα ἀντὶ χειρός, πόδα ἀντὶ ποδός, 25κατάκαυµα ἀντὶ κατακαύµατος, τραῦµα ἀντὶ τραύµατος, µώλωπα ἀντὶ µώλωπος.

19καὶ ποιήσετε αὐτῷ ὃν τρόπον ἐπονηρεύσατο ποιῆσαι κατὰ τοῦ ἀδελφοῦ αὐτοῦ, καὶ ἐξαρεῖς τὸν πονηρὸν ἐξ ὑµῶν αὐτῶν.

20καὶ οἱ ἐπίλοιποι ἀκούσαντες φοβηθήσονται καὶ οὐ προσθήσουσιν ἔτι ποιῆσαι κατὰ τὸ ῥῆµα τὸ πονηρὸν τοῦτο ἐν ὑµῖν. 21οὐ φείσεται ὁ ὀφθαλµός σου ἐπ᾿ αὐτῷ· ψυχὴν ἀντὶ ψυχῆς, ὀφθαλµὸν ἀντὶ ὀφθαλµοῦ, ὀδόντα ἀντὶ ὀδόντος, χεῖρα ἀντὶ χειρός, πόδα ἀντὶ ποδός.

17καὶ ἄνθρωπος, ὃς ἂν πατάξῃ ψυχὴν ἀνθρώπου καὶ ἀποθάνῃ, θανάτῳ θανατούσθω. 18καὶ ὃς ἂν πατάξῃ κτῆνος καὶ ἀποθάνῃ, ἀποτεισάτω ψυχὴν ἀντὶ ψυχῆς. 19καὶ ἐάν τις δῷ µῶµον τῷ πλησίον, ὡς ἐποίησεν αὐτῷ, ὡσαύτως ἀντιποιηθήσεται αὐτῷ· 20σύντριµµα ἀντὶ συντρίµµατος, ὀφθαλµὸν ἀντὶ ὀφθαλµοῦ, ὀδόντα ἀντὶ ὀδόντος· καθότι ἂν δῷ µῶµον τῷ ἀνθρώπῳ, οὕτως δοθήσεται αὐτῷ. 21ὃς ἂν πατάξῃ ἄνθρωπον καὶ ἀποθάνῃ, θανάτῳ θανατούσθω·

23Wenn es (das Kind oder der Schaden der Frau?) aber nachhaltig ausgebildet ist, so soll er geben Leben für Leben

19Dann sollt ihr ihn [den betrügerischen Zeugen] so behandeln, wie er die Bos-heit hatte, seinen Bruder zu behandeln, Und du sollst den Bösen aus eurer Mitte entfernen. 20Und die übrigen werden es hören, sich fürchten und

17Und ein Mensch, der einen lebendigen Menschen schlägt, sodass er stirbt, soll durch den Tod hingerichtet werden. 18Und wer ein Stück Vieh erschlägt, sodass es stirbt, soll Ersatz leisten. Leben für Leben.

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Exodus 21,23–27 Deuteronomium 19,19–21 Leviticus 24,17–21 24Auge für Auge Zahn für Zahn Hand für Hand Fuß für Fuß 25Brandmal für Brandmal Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.

nicht fortfahren, etwas wie diese böse Sache unter euch zu tun. 21Dein Auge soll ihn nicht verschonen, Leben für Leben Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß.

19Wenn jemand dem Näch-sten einen Schaden zufügt, – so wie er ihm getan hat, ebenso soll ihm vergolten werden: 20Zertrümmerung für Zer-trümmerung, Auge für Auge Zahn für Zahn. 21[Tötung des Tieres fehlt] Und wer einen Menschen schlägt, sodass er stirbt, soll durch den Tod hingerichtet werden.

Wenn man die griechische Version synoptisch liest, kann man folgende Unter-schiede zum MT feststellen: In Ex 21,23 bietet LXX statt „du sollst geben“ die dritte Person „er soll geben“, nimmt damit den paränetischen Ton etwas zurück und verleiht den eher neutralen Klang eines Gesetzes. Die Übertragung von אסון mit ἐξεικονισµένον, d.h. mit dem Partizip von ἐξεικονίζοµαι ist stark interpreta-tionsbedürftig. Das Verb kann „vollständig ausgeformt“ bedeuten, aber auch „vollständig umgestaltet“. Nimmt man letztere Bedeutung, dann legt man den Akzent darauf, dass das Aussehen der betreffenden Person, d.h. der Mutter, nachhaltig stark verunstaltet ist, und das entspräche MT. Moderne Exegese hat aber in Anschluss an altkirchliche Traditionen darin eine Anspielung auf die volle Gottebenbildlichkeit des Embryos sehen wollen.52 Die Trennlinie zwischen ebenbildlichem und noch nicht ebenbildlichem Foetus wird nach rabbinischer Anschauung 40 Tage nach der Befruchtung gesetzt. Bereits Benno Jacob hatte vermutet, dass LXX im Gefolge eines hethitischen Gesetzes das Neutrum auf τὸ παιδίον beziehe und „zwischen schon lebensfähigem und noch nicht lebensfähi-gem Foetus“ unterscheide: „Die LXX hat die Unterscheidung dem Worte אסון untergelegt und dieses fälschlich auf den Embryo (statt auf das Weib) bezo-gen“53. Aus dieser Differenz „bleibender Schaden bei der Mutter“ (MT) und „voll ausgebildeter Embyo“, der schon alle Kennzeichen personalen 52 M. Köckert / H. Köckert, Ungeborenes Leben in Ex 21,22–25. Wandlungen im Verständnis eines Rechtssatzes, in: I. Hübner u.a. (Hg.), Lebenstechnologie und Selbstverständnis. Hinter-gründe einer aktuellen Debatte (Religion – Staat – Kultur. Interdisziplinäre Studien aus der Humboldt-Universität zu Berlin 3), Münster 2004, 43–73. 53 Jacob, Exodus, 666.

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Menschseins beinhalte, leiten sich weitgehende Konsequenzen für die Diskussi-on um Abtreibung, pränatale Implantationsdiagnostik und Stammzellenfor-schung ab.54

Ferner wird in Dtn 19,19 das Böse in der Absicht des Täters durch das Verb ἐπονηρεύσατο unterstrichen. In Lev 24,21a fehlt die zweite Erwähnung der Tötung des Tieres, so dass der Chiasmus zu Vers 18 nicht mehr gegeben ist. Stattdessen wird der Ton ganz auf die Tötung eines Menschen gelegt.

d. Jesu Sätze in der Bergpredigt des Matthäus erscheinen im Kontext des Bishe-rigen in neuem Licht:

38Ἠκούσατε ὅτι ἐρρέθη·ὀφθαλµὸν ἀντὶ ὀφθαλµοῦ καὶ ὀδόντα ἀντὶ ὀδόντος. 39ἐγὼ δὲ λέγω ὑµῖν µὴ ἀντιστῆναι τῷ πονηρῷ· ἀλλ᾿ ὅστις σε ῥαπίζει εἰς τὴν δεξιὰν σιαγόνα [σου], στρέψον αὐτῷ καὶ τὴν ἄλλην· 40καὶ τῷ θέλοντί σοι κριθῆναι καὶ τὸν χιτῶνά σου λαβεῖν, ἄφες αὐτῷ καὶ τὸ ἱµάτιον· 41καὶ ὅστις σε ἀγγαρεύσει µίλιον ἕν, ὕπαγε µετ᾿ αὐτοῦ δύο.

38Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.’ 39Ich aber sage euch [sogar], dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. 40Und wenn jemand mit dir rechten will und dir das Untergewand nehmen, dem lass auch deine Tunika. 41Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzu-gehen, so geh mit ihm zwei. (Mt 5,38–41)

Jesu Auslegung der Talio richtet sich kaum exklusiv an Heiden,55 sondern be-wegt sich innerhalb der jüdischen Diskussion um das Gesetz. Nach der rabbini-schen Auslegung geht es im Kern um Billigkeit und Ausgleich, ja um Versöh-nung. Jesu Forderung nach radikaler Friedfertigkeit hebt diese Vorschrift der Tora also keineswegs auf, wie eine schier unausrottbare antijüdische christliche Auslegungstradition immer wieder gemeint hat, sondern Jesus kritisiert nur einen Teil der Talio-Überlieferungen um gleichzeitig die Schadenersatz-Talio aufzugreifen und zu verstärken. Er hat die Intention der Schadenersatz-Talio, eine friedliche Konfliktlösung zu ermöglichen um so eine gemeinschaftsdienli-che Aussöhnung zu schaffen, erkannt und zugespitzt, um sie so noch klarer zu machen, als sie im AT bisher der Fall war. Die Bergpredigt ist eine positiv zu-gewandte Exegese der alttestamentlichen Überlieferung, und zwar im Sinne einer Radikalisierung der Gebotsobservanz: Der Geschädigte soll – in seinem privaten Umgang – ganz entsprechend dem grundlegenden Geist der quinque iura talionis – nicht nur auf übertriebene Rache verzichten, sondern sogar auf

54 Vgl. M. Oeming, The Jewish Perspective on Cloning, in: S. Vönekey / R. Wolfrum (Hg.), Human Dignity and Human Cloning, Leiden 2004, 35–46. 55 Das „ihr habt gehört“ bezieht sich demnach auf die Nicht-Juden, so B. Jacob, Auge um Auge. Eine Untersuchung zum Alten und Neuen Testament, Berlin 1929, 137: „Wir wissen nur Eine Lösung, aber sie beseitigt auch alle Schwierigkeiten. Es ist nicht die jüdische Moral der Thora und der Schriftgelehrten, die der Ausspruch der Bergpredigt trifft und treffen will, sondern die antike heidnische Vulgärmoral. Für sie ist er allerdings der vollkommen adäquate Ausdruck einer allgemein anerkannten und befolgten Maxime des Durchschnittsmenschen.“

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gerechte Wiedergutmachung überhaupt (vgl. Spr 16,32; 24,29). Er soll über das vernünftige Maß an Konfliktvermeidung zeichenhaft hinausgehen, um auf diese verblüffende Weise seinen Willen zur Begrenzung und Durchbrechung der Ge-waltspirale und zur Befriedung der Gemeinschaft unmissverständlich deutlich zu machen.56 Ein Motiv für ein solch übervolles Maß an Versöhnungsbereit-schaft liegt auch darin, dass jeder Angeklagte wissen sollte, dass auch er darauf angewiesen ist, dass Gott ihm weit über das legitime Maß hinaus Vergebung schenken wird.57

e. Mit ihrem Willen, friedliche und verantwortungsvolle Rechtsformen zu fin-den, gehört die Talio zur geistigen Basis des Bürgerlichen Gesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland, wo es im §249 Abs. 1 und Abs. 2 BGB heißt: „Wer zum Schadensersatz verpflichtet ist, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. Ist wegen Verletzung einer Person oder wegen Beschädigung einer Sache Schadensersatz zu leisten, so kann der Gläubiger statt der Herstellung den dazu erforderlichen Geldbetrag verlangen.“ Somit ist die Talio auch das geistige Fun-dament der Mediation58, die in der modernen Rechtsfindungspraxis gegenwärtig als Möglichkeit einer außer- und vorgerichtlichen Einigung der Parteien eine immer größere Bedeutung erlangt. An die Stelle von bloßen Strafen für die Täter sollen versöhnliche Formen des Schadenersatzes zum direkten Nutzen der Opfer treten!

56 Vgl. K. Wengst, Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010, 118f. (mit rabbinischen Parallelen). 57 B. D. Chilton, The New Testament’s interpretation. Jesus’ Lex Talionis, in: J. Neusner u.a. (Hg.), Torah revealed, Torah fulfilled. Scriptual Laws in Formative Judaism and Earliest Christianity, London 2008, 217–228. 58 Vgl. R. Kirchhoff, Wieder herstellende Gerechtigkeit – Gerechtigkeit wiederherstellen. Restorative Justice in biblischer Perspektive, Reader Gefängnisseelsorge Heft 16 (2008), 4–15 (http://www.gefaengnisseelsorge.de/uploads/media/RGS16_2008.pdf, abgerufen 10.2. 2014); M. Oeming, Mediation im Kontext biblischer Rechtsordnungen, Infodienst. Rundbrief zum Täter–Opfer–Ausgleich 40 (2010), 20–24 (http://www.toa-servicebuero.de/sites/toa–servicebuero.de/files/magazin/2011-02_id40_gesamt.pdf; abgerufen 10.2.2014).