Psychologie und Psychiatrie für ZahnmedizinerInnen 26.11.2014 Dr. med. Robert Hämmig Leitender Arzt Schwerpunkt Sucht Universitätsklinik für Psychiatrie & Psychotherapie Universitäre Psychiatrische Dienste Bern
Psychologie und Psychiatrie für ZahnmedizinerInnen
26.11.2014
Dr. med. Robert Hämmig
Leitender Arzt Schwerpunkt Sucht
Universitätsklinik für Psychiatrie & Psychotherapie
Universitäre Psychiatrische Dienste Bern
Fall
• Aktuelle Situation– 41-jährige Ärztin hatte sich ein
Fentanylpflaster auf die Haut geklebt und wurde komatös. Nachdem sie sich somatisch auf der Notfallstation des Inselspitals stabilisiert hatte, wurde sie zur Weiterbehandlung in ein psychiatrisches Spital überwiesen.
Fall
• Konsilliarische Anfrage– Wie soll die eingeleitete
Substitutionsbehandlung mit Subutex® weitergeführt werden, nachdem die ursprüngliche Verabreichung von 4 x 3mg/d p.o. auf 2 x 4mg/ p.o. umgestellt wurde.
Überblick
• Grundlagen vermitteln, um den Fall zu verstehen
• Psychiatrisches Vorgehen darstellen
Mensch•Leib•Seele•Geist
• Was ist Leib ohne Seele / Geist?• Was ist Seele / Geist ohne Leib?
Leib vs. Seele / Geist
Psychiatrie, Psychologie
• Psychiater: Facharzt für seelische Störungen und für Geisteskrankheitenaus: psyche „Hauch, Atem; Seele (als Träger bewusster Erlebnisse)“ &iatros „Arzt“
• Psychologe: „Seelenkundiger; Forscher auf dem Gebiet der Seelenlehre“aus: psyche & logos „Rede, Wort; Untersuchung usw.“
Sitz der Seele?
• Gehirn• (Herz? „Sich etwas zu Herzen nehmen“)• (Bauch? „Das bereitet mir
Bauchschmerzen“)• (Leber? „Was ist dir über die Leber
gekrochen?“)
Neurowissenschaften
• Überwindung der “mind - brain barrier”• Vom Molekül zu den menschlichen
Gefühlen und dem Verhalten• Entwicklung von Erklärungsmodellen
«Neuromythologie»
Felix Hasler (Dr. pharm.) ist Forschungsassistent an der Berlin School of Mind and Brain der Humboldt-Universität zu Berlin und Wissenschaftsjournalist.
Semiotik (nach Charles Sanders Pierce)
Referenz
Interpretanz
Repräsentanz
Referenz
Interpretanz
Repräsentanz
Patient Therapeut
19. und 20. Jahrhundert
• Psychologie• Soziologie• Kulturelle Anthropologie• Politologie• Ökologie • Moderne Psychiatrie
Emil Kraepelin (1856 – 1926)
• Grenze zwischen normal und abnormal• Psychose
– Dementia praecox– Manische Depression
• Symptommuster• Biologie und Genetik
Jahrhundertwende
Sigmund Freud• Individuum im
Zentrum des Interesse
• Objekt der Medizin wird das Subjekt
Industrialisierte Medizin
Eugen Bleuler (1857 – 1939)
• “Dementia praecox”– Keine Demenz– Nicht immer praecox
• Grenze zwischen normal und abnormal fliessend
• Erfinder des Wortes des 20. Jahrhunderts: Schizophrenie
Emil Kraepelin 1904
• Transkulturelle Untersuchung– Gleiche biologische und genetische
Bedingungen in Java und Europa– die lokale Kultur formt nur den variablen
Inhalt, durch den sich die Erkrankungen manifestieren
• Begründung der transkulturellen Psychiatrie
Diagnose nach Kraepelin
• Genetische und biologische Grundlage• Spezifisches Symptommuster• -> heutige Forschung
– Neurowissenschaften– Gentypisierung
Diagnostik: ICD-10
• Beobachtete Phänomene werden “theoriefrei” zu einer Kategorie zusammengefasst.
• Eine Kategorie entspricht nicht unbedingt einer Entität.
Nutzen der Diagnose
• Kommunikation unter Fachleuten• Einleiten einer spezifischen Behandlung• Verhindern von Fehlbehandlungen• Entlastung der Patienten und dadurch
Förderung der Genesung
Arthur Kleinman (1961 - )
• Krankheit = sickness• Erkrankung = disease• Kranksein = illness
disease
Fehlfunktion von• physiologischen
und / oder• psychologischen Prozessen
• -> messbar!
illness
• Psychosoziale Erfahrung und Bedeutung der wahrgenommenen „disease“
• Umformung der „disease“ in Verhalten und Erfahrung
• -> beobacht- / erfragbar!
sickness
• Dichotomie von „disease“ und „illness“• Verständnis einer Störung in Bezug auf die
makrosozialen Kräfte (Ökonomie, Politik, Institutionen).
• -> mit verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen erhebbar (Medizin, Psychologie, Soziologie, Anthropologie, Politikwissenschaften, ökonomische Wissenschaften etc.)
Sickness, disease, and illness
Model by Arthur Kleinman:Sickness, disease, and illness
power of definitions!
Diagnostik ist dynamisch
• Diagnosen werden revidiert(aktuell: ICD-11 wird diskutiert, Inkrafttreten ws. 2017)
• Diagnosen werden entfernt(z.B. Homosexualität)
• Diagnosen werden neu eingeführt(z.B. ADHD im Erwachsenenalter)
Vom Befund zur Diagnose
• Wichtig: Interaktion zwischen Patient und Arzt!
• Ablauf– Kontaktaufnahme: Gespräch– Erfassen: Beschwerden, Anamnese, Befund– Abklärungen: Labor, bildgebende Verfahren,
(neuro-)psychologische Testung• Kategorisierung der Erhebung• Wahrnehmung!
Erstkontakt
• Ziele des Interviews– Kontakt herstellen, sich eine Übersicht verschaffen
• Erzählung des Patienten unterstützen– Das Narrativ ist der wichtigste Zugang zum Patienten,
Erzählfluss nicht unnötig stoppen– Aber: Strukturieren; Vermitteln, was verstanden wurde
• Nicht-verbale Kommunikation• Ethik
Fall
• K + L Situation: Ziele des Interviews – Erhalten von Informationen– Errichten einer professionellen Beziehung– Erfassen der PatientInnen in ihrer Gesamtheit– Hypothesen entwickeln– Vorschläge zu einem Procedere (weitere
Abklärungen, Therapievorschläge etc.)
Arzt-Patient-Beziehung
• Institutioneller Rahmen – Status und Rolle der Beteiligten
• Individual-psychologische Komponenten– Einstellung und Persönlichkeit des Arztes und
Einflussnahme auf Patienten– Affektive Bindung des Patienten zu dem Arzt
(Übertragung)
Institutionelle Grundaspekte der Arzt-Patient-Beziehung
• Kulturbedingte Gemeinsamkeiten– Ähnliche Grundvorstellungen von
Krankheiten, Ursache und Behandlung• A) Schwierigkeiten in der gleichen Kultur
– Populäre vs. wissenschaftlicher Nosologie• B) Differenzen, wenn Arzt und Patient
verschiedener Kulturen angehören
Institutionelle Grundaspekte der Arzt-Patient-Beziehung
• Kulturelles Primat somatischer Faktoren
A) zwei Kausalvorstellungen der Krankheit– Exogene Konzeption– Endogene Konzeption
B) Schuld in der Krankheit
Institutionelle Grundaspekte der Arzt-Patient-Beziehung
C) Körperliche Krankheitskonzeption– Rangordnung der Krankheiten:
Schwerste Erkrankung: anatomische Läsion„funktionelle Störung“: letzter Rekurs
D) Lernvorgänge von Seiten des Kranken– Kranker ist auf 3 Dinge eingestellt:
1. Körperliche Untersuchung2. Verordnung3. Evtl. Besuch eines Facharztes
Fall
• Die Patientin erzählt:– Sie besitze ein „Suchtgen“ und verschiedene ihrer
Vorfahren litten unter schweren Suchtstörungen. – So habe sie selber vor Jahren eine Tramadol-
Abhängigkeit entwickelt. Sie habe sich deswegen in eine mehrmonatige stationäre Behandlung gegeben. Sie sei dort unter ständigen Urinkontrollen gestanden, wobei nicht entdeckt worden sei, dass sie während der ganzen Dauer der Behandlung weiter Tramadol konsumiert habe.
Fall
• Tramadol (Tramal®)– Tramadol ist ein zentral wirksames Opioid
Analgetikum. Es ist ein nicht selektiver reiner Agonist an µ-, δ- und κ-Opioidrezeptoren mit grösserer Affinität an µ-Rezeptoren. Andere Mechanismen, die zu einer analgetischen Wirkung beitragen, sind die Hemmung der neuronalen Wiederaufnahme von Noradrenalin sowie die Verstärkung der Serotonin-Freisetzung.
Fall
• Die Patientin erzählt:– Sie habe danach selber das Tramadol
ausgeschlichen und sei auf Dextromethorphan (Bexin®) umgestiegen, das sie in den letzten Monaten regelmässig einnahm.
Fall
• Dextromethorphan (Bexin®)– Dextromethorphan ist ein Morphinderivat.
Dextromethorphan und sein aktiver Metabolit Dextrorphan dämpfen den Hustenreflex durch Erhöhung der zentralen Reizschwelle.
– Dextromethorphan und Dextrorphan binden im ZNS u.a. an Sigma- und PCP2-Rezeptoren (Dopamin-Wiederaufnahme). Dextrorphan ist zudem ein N-Methyl-D-Aspartat-Antagonist.
Fall
• Erklärungsmodell– Die Patientin erklärt sich ihre Erkrankung als
genetische Störung– Sie kann die Erklärung, dass genetische
Anlagen sich nicht voll ausprägen müssen, im Gespräch akzeptieren.
Fall
• 1. Arbeitshypothese– Patientin leidet unter einer Suchtstörung
• Fragen– Wie ist die Störung im Kontext zu
positionieren?– Co-Morbidität?
Psychiatrie
• Bio-psycho-soziales Krankheitsmodell ->• Bio-psycho-soziale Therapie:
– Medikamente– Psychotherapie– Soziale Unterstützung