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Einleitung „ You, the pen, are most sanely insane. You cannot be spoken of rationally. Opposites are drawn into your presence, but not to be resolved. You are not whole or ever complete. You are the wonder without willpower going where you want“ - Rumi Der Themenfindungsprozess für die vorliegende Arbeit ging einher mit meinen Beobachtungen während des Studiums an der Hochschule in Darmstadt. Im Laufe der vorigen sechs Semester fiel mir auf, dass die Interaktion zwischen den Studierenden 1 , aber auch den Lehrenden, die sich der sozialpolitisch verankerten Kritischen Sozialen Arbeit nahe fühlen, und denjenigen, die sich mit der eher kirchlich geprägten Sozialen Arbeit identifizieren, häufig entweder auf offizielle Notwendigkeiten beschränkt oder von Unverständnis und Spannungen geprägt ist. Die Frage der religiösen Motivation im Gegensatz zur politischen Motivation der Studierenden und Professionellen der Soziale Arbeit schien Auswirkungen auf ihr Selbstverständnis sowohl auf der Ebene der Profession als auch der Disziplin zu haben. Als ich im Rahmen des Praktikums meine Anleiterin bei einem Netzwerktreff der Jugendberufshilfe begleitete, sagte eine Beraterin der Diakonie zu der Tatsache, dass Geflüchtete von diesen Maßnahmen ausgeschlossen sind: „Das ist ja eine politische Sache, wir machen hier nur Beratung.“ Andererseits lehnte ein Kommilitone meinen Vorschlag ab, im Semester-Eröffnungsgottesdienst Werbung für eine Protestaktion gegen die Flüchtlingspolitik zu machen. Seiner Meinung nach war der Gottesdienst angeblich der falsche Ort, Widerstand zu mobilisieren. Diese und ähnliche Erfahrungen brachten mich zu der Frage, inwieweit Religion und Protest sich zueinander und zu sozialer Veränderung verhalten. Auf diese Frage stieß ich erneut, als ich mich mit den Dichtungen der Sufi-Mystiker Jelaluddin Rumi (1207-1273) und Kabir (1398/1440-1518) beschäftigte, die aus dem indo- persischen Sprachraum stammten. Ich war erstaunt über das Widerstandspotential für soziale Veränderung, dass diese von Mystik gefärbt Dichtung mir eröffnete. Zum anderen hat mich die Literatur über Protest- und Widerstandsbewegungen z. B. von Arundhati Roy, Howard Zinn, Noam Chomsky etc. im Rahmen meiner Teilnahme an den Blockupy-Protesten (Proteste in BDR, angelehnt an der Occupy-Bewegung) neugierig gemacht. Insbesondere 1 Ich verwende durchgängig die männliche Schreibweise in dieser Arbeit. Alle andere Geschlechter sind damit ebenfalls gemeint. 1
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Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Mar 28, 2023

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Page 1: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Einleitung

„ You, the pen, are most sanely insane. You cannot be spoken of rationally.

Opposites are drawn into your presence, but not to be resolved.

You are not whole or ever complete.

You are the wonder without willpower going where you want“

- Rumi

Der Themenfindungsprozess für die vorliegende Arbeit ging einher mit meinen

Beobachtungen während des Studiums an der Hochschule in Darmstadt. Im Laufe der vorigen

sechs Semester fiel mir auf, dass die Interaktion zwischen den Studierenden1, aber auch den

Lehrenden, die sich der sozialpolitisch verankerten Kritischen Sozialen Arbeit nahe fühlen,

und denjenigen, die sich mit der eher kirchlich geprägten Sozialen Arbeit identifizieren,

häufig entweder auf offizielle Notwendigkeiten beschränkt oder von Unverständnis und

Spannungen geprägt ist. Die Frage der religiösen Motivation im Gegensatz zur politischen

Motivation der Studierenden und Professionellen der Soziale Arbeit schien Auswirkungen auf

ihr Selbstverständnis sowohl auf der Ebene der Profession als auch der Disziplin zu haben.

Als ich im Rahmen des Praktikums meine Anleiterin bei einem Netzwerktreff der

Jugendberufshilfe begleitete, sagte eine Beraterin der Diakonie zu der Tatsache, dass

Geflüchtete von diesen Maßnahmen ausgeschlossen sind: „Das ist ja eine politische Sache,

wir machen hier nur Beratung.“ Andererseits lehnte ein Kommilitone meinen Vorschlag ab,

im Semester-Eröffnungsgottesdienst Werbung für eine Protestaktion gegen die

Flüchtlingspolitik zu machen. Seiner Meinung nach war der Gottesdienst angeblich der

falsche Ort, Widerstand zu mobilisieren. Diese und ähnliche Erfahrungen brachten mich zu

der Frage, inwieweit Religion und Protest sich zueinander und zu sozialer Veränderung

verhalten.

Auf diese Frage stieß ich erneut, als ich mich mit den Dichtungen der Sufi-Mystiker

Jelaluddin Rumi (1207-1273) und Kabir (1398/1440-1518) beschäftigte, die aus dem indo-

persischen Sprachraum stammten. Ich war erstaunt über das Widerstandspotential für soziale

Veränderung, dass diese von Mystik gefärbt Dichtung mir eröffnete. Zum anderen hat mich

die Literatur über Protest- und Widerstandsbewegungen z. B. von Arundhati Roy, Howard

Zinn, Noam Chomsky etc. im Rahmen meiner Teilnahme an den Blockupy-Protesten

(Proteste in BDR, angelehnt an der Occupy-Bewegung) neugierig gemacht. Insbesondere

1 Ich verwende durchgängig die männliche Schreibweise in dieser Arbeit. Alle andere Geschlechter sind damitebenfalls gemeint.

1

Page 2: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

gaben mir Zinns Essays über die 'Sit-ins', Proteste gegen die Segregationspraxen in den USA

in den 60er Jahren wichtige Anregungen über die religiösen Dimensionen von politischem

Protest und sozialer Veränderung. Das bewog mich, die Überkreuzungen, Verbindungslinien

und Spannungsfelder dieser zwei Dimensionen in Bezug zu meinen akademischen

Erkenntnissen und Erfahrungen mit der Sozialen Arbeit zu setzen.

Die vorliegende Arbeit intendiert, Religion und Protest als Phänomene und Dimensionen

sozialer Veränderungen zu untersuchen. Was verbindet sie? Was unterscheidet sie? Wie sind

sie in der dialektischen Spannung zwischen dem Persönlichen und dem Politischen

eingebettet? Wie entfalten sie sich in ihrer Historizität, Glokalität und Aktualität? Wie

beeinflussen sie die Praxen und theoretischen Orientierungen der Sozialen Arbeit? Zunächst

wird diese Fragestellung exploriert und präzisiert. Danach werden theoretische Perspektiven

dargestellt, anhand dessen dieses Thema untersucht wird. Wichtige Impulse hierfür sind: die

Konstitution und Konstruktion des Sozialen; die sozialen Ursachen von Unterordnung und

Widerstand; die Formen, Kontexte und Bewegungen der Religion in modernen und

postmodernen Zeiten; und die Beziehung zwischen Mystik und Widerstand. Anhand dieser

theoretischen Perspektiven werden zwei sozialpolitische Bewegungen und eine religiöse

Bewegung genauer untersucht. Zunächst wird Sufismus als eine religiöse Bewegung

erforscht, gefolgt von der Bürgerrechtsbewegung gegen Segregation in den USA und die

aktuelle internationale Occupy-Bewegung. In einem nächsten Schritt werden die Kohärenzen

und Divergenzen dieser drei Bewegungen untersucht. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse

werden dann mit Blick auf die Soziale Arbeit kontextualisiert. Es wird geprüft, in wieweit die

Soziale Arbeit im Prozess sozialer Veränderung eingebettet ist und wie sie zur Unterbindung

oder Ermöglichung von sozialer Veränderung dient. Abschließend wird kurz erörtert,

inwieweit die Soziale Arbeit Impulse aus den drei Bewegungen für sich nutzbar machen kann.

Das ursprüngliche Vorhaben dieser Arbeit war es, die Wirkungen und das Potential von

Religion und Protest hinsichtlich sozialer Veränderungen zu untersuchen und dabei auf die

Ambivalenzen und Widersprüche beider Phänomene hinzuweisen. Während des Schreibens

habe ich mich allerdings mehr auf die soziale Veränderung ermöglichenden Aspekte von

Religion und Protest fokussiert. Der Aspekt der Frömmigkeit von Widerstands- bzw.

Protestphänomenen und ihre dialektische Einbettung im gesellschaftlichen System konnte im

Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden. Dies könnte besonders in Hinblick auf die

Verbindung zur Sozialen Arbeit Thema einer weiteren Untersuchung werden.

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1. Exploration der Fragestellung

Was würde der Mystiker und Dichter Rumi zu den Occupy-Protesten sagen? Diese Frage hat

mir wichtige Hinweise für die wissenschaftliche Untersuchung des Verhältnisses von Religion

und Protest zur sozialen Veränderung gegeben. Zum einen macht sie aufmerksam auf die

strukturellen, diskursiven und interaktionellen Verbindungslinien und Divergenzen zwischen

Religion und Protest. Zweitens schlägt sie eine Brücke zwischen dem 8. und 21. Jahrhundert.

Es wäre interessant zu erforschen, wie sich in diesem Zeitraum die Überkreuzungen zwischen

Religion und Protest verwandelt haben. Drittens eröffnet sie eine transnationale

Untersuchungsarena, in der sich das Zusammenspiel zwischen Religion und Protest entfaltet.

Unter Berücksichtigung dieser drei Untersuchungsdimensionen möchte ich folgende

Fragenfelder markieren, explorieren und präzisieren, die für diese Arbeit wichtig sind.

Intersektionelle Fragen: Zum einen geht es um die inhaltlichen Bestimmungen: Welche

Konzeptionen und Konstruktionen von Religion und Protest sind erkennbar, wenn es um

soziale Veränderung geht? Wie wird Religion zwischen der Transzendenz und Immanenz des

menschlichen Lebens verortet? Hat Religion auch einen Widerstandsauftrag? Wo gibt es

Momente der Revolte in religiöser Praxis? Hat Protest bzw. Widerstand religiöse Elemente

oder Momente aufzuweisen? Und wenn Ja, welche? Was hat Protest mit religiöser

Überzeugung oder Motivation zu tun? Gibt es z. B. bestimmte Funktionalitäten der Religion,

die besonders interessant sind für die Mobilisierung von Widerstand? Welche Auswirkungen

haben Protestbewegungen auf die Religiosität ihrer Mitglieder und andere Menschen?

Zum anderen geht es um Form-Fragen, Fragen, die sich mit den unterschiedlichen

Expressionen von Religiosität und Protestkultur beschäftigen. Wie sehen die Inszenierungen

und Liturgien von religiösen und sozialen Protestbewegungen aus? Wer z. B. sind die Akteure

von solchen Bewegungen? Wie fromm oder gehorsam sind sie (im Sinne von Status quo

erhaltend) und was für ein subversives Potential haben sie in Bezug auf soziale

Veränderungen? Welche Organisationsformen haben diese Bewegungen? Welche Praxen

werden kultiviert und praktiziert, welche werden verhindert?

Zeitliche Fragen: Die Untersuchung der Intersektion von Religion und Protest ist sowohl in

historischen als auch in gegenwärtigen Kontexten eingebettet. In der zeitlichen Dimension

gibt es hierbei sowohl Kontinuitäten als auch Brüche. So lässt sich fragen, warum gerade in

den letzten zehn Jahren öffentliche Proteste zugenommen haben? Gibt es da

Strukturparallelen zu der Revitalisierung der Religion als Akteur des sozialen und politischen

3

Page 4: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Lebens? Sind die Proteste des arabischen Frühlings, die Proteste gegen die

Vergewaltigungsfälle in Indien, die Occupy-Proteste etc. ein Hinweis darauf, wie Protest als

Akteur der sozialen Veränderung wieder entdeckt wird oder sind sie als Teil der neoliberalen

Maschinerie zu verstehen, bei der Proteste Produkte im Sinne der Dialektik der Aufklärung

verkörpern ? Unterscheiden sich die Proteste der Vormoderne und der Moderne von denen der

Postmoderne? Verkörpern gegenwärtige soziale und religiöse Bewegungen alte Konflikte, die

neu inszeniert werden? Unter welchen zeitlichen Besonderheiten, Bedingungen und

Bestimmungen lassen sich Protest-Bewegungen religiös mobilisieren?

Räumliche Fragen: Die Frage der räumlichen Kontexte, unter denen religiöse und soziale

Bewegungen sich organisieren, machen sowohl eine globale – im Sinne einer transnationalen

und transkulturellen Perspektive – als auch eine lokale Verortung notwendig. So kann es

interessant sein zu fragen, welchen Einfluss koloniale Mächte auf indigene Protest-

Bewegungen haben? Inwieweit hat die religiöse Mobilisierung von Protest mit den

Machtasymmetrien zwischen den Entwicklungsregionen und den industrialisierten Regionen

zu tun? Fragen der kulturellen Konstruktionen des 'Orients' und 'Okzidents' und ihrer

Auswirkungen auf die Überkreuzung von Religion und Protest werden virulent. Außerdem

lässt sich fragen, ob es eine transnationale Organisation von Religions- und Protest-

Bewegungen gibt? Auch die Frage der Beteiligung von Migranten in lokalen Protest-

Bewegungen wird interessant, wenn man Proteste privilegierter Aktivisten mit denen von

unterprivilegierten Betroffenen vergleicht.

Fragen bezüglich der Sozialen Arbeit: Insofern Soziale Arbeit die Arbeit mit dem 'Sozialen'

beinhaltet, lässt sich fragen, wo sich die theoretischen Konzeptionen der Sozialen Arbeit als

'fromm' (sich dem Ordnungswissen unterordnend) oder kompensatorisch erweisen. Welche

Handlungspraxen der Sozialen Arbeit weisen auf eine soziale Nicht-Veränderung hin? Welche

Sprecher-Positionen teilt die Soziale Arbeit ihren Adressaten, ihren Auftraggebern und ihren

Akteuren zu? Wie positioniert sich die Soziale Arbeit zwischen 'Solidarity' und 'Charity'?

Beinhaltet Soziale Arbeit auch 'Social Activism'? Wie können Konzeptionen und Praxen einer

widerstandsfähigen Sozialen Arbeit aussehen?

Dieser Untersuchung bewegt sich entlang dieser Fragestellungen, ohne den Anspruch alle zu

beantworten. Sie sind eher als Bezugspunkte zu denken und dienen dazu, den Suchprozess

anzutreiben, Irritationen nachzugehen und nicht eine eindeutige Antwortsprogrammatik zu

generieren.

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Page 5: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

2. Theoretische Perspektive

Im Folgenden möchte ich die theoretischen Grundlegungen darstellen, die als Eckpfeiler für

diese Untersuchung – das Verhältnis zwischen Religion und Protest – wichtige Impulse

geliefert haben. Um der Vielschichtigkeit, Uneindeutigkeit und Komplexität dieses

Verhältnisses Rechnung zu tragen, erscheint mir eine interdisziplinäre Herangehensweise

sinnvoll. Beitrage aus der Kritische Psychologie, Soziologie, Theologie, Anthropologie,

Religionssoziologie und Literaturwissenschaft werden in den theoretischen Überlegungen

berücksichtigt.

2.1. Konstitution und Konstruktion des Sozialen

Religion und Protest können sowohl als individuelle als auch gesellschaftliche Phänomene

betrachtet werden. Beide haben eine persönliche und eine sozialpolitische Dimension, die

nicht dichotom, sondern eher rekursiv wirken. Insofern ist für das Thema ein theoretisches

Framework sinnvoll, welches die dialektische Untersuchung des Verhältnisses zwischen

Mensch und Gesellschaft ermöglicht. Die kritische Psychologie formuliert u. a. die

Konzeption der gesellschaftlichen Vermitteltheit des Individuums oder der Intersubjektivität,

um die Verbindungen, Bedingtheiten und Wechselwirkungen zwischen dem Individuum und

seiner Umwelt, also um die Konstitution und Konstruktion des Sozialen zu untersuchen.

Außerdem gibt sie interessante Impulse für die Analyse der Prämissen, die für subjektives

Sein und Handeln wichtig sind. Weiterhin macht sie aufmerksam auf die unterschiedlichen

Handlungsfähigkeiten der Subjekte. Im Folgenden werden einiger dieser Impulse skizziert.

2.1.1. Die Intersubjektivität

Die kritische Psychologie versucht, durch die Idee der Intersubjektivität eine Verbindung

zwischen der ontogenetischen (individuellen) und der phylogenetischen (gesellschaftlichen)

Entwicklung des Menschen herzustellen (vgl. Meretz 2012, S. 111). Der Mensch lebt oder

überlebt nicht allein, sondern in seiner Umwelt. Der menschliche Organismus entwickelt in

diesem Prozess Eigenschaften und Fähigkeiten, mit der Umwelt (Gesellschaft) zu

interagieren, mit ihr zu kooperieren bzw. auf sie einzugehen oder ihr zu widerstehen, sie zu

verändern und gestalten. Er wird zu einem gesellschaftlichen Wesen, das die Gesellschaft

formt und gleichzeitig von ihr geformt wird. Somit ist der Mensch und seine Umwelt in einer

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intersubjektiven Beziehung. „Die gesellschaftlichen Menschen sind gleichzeitig die

menschliche Gesellschaft, vermittels derer sie leben, indem sie ihre Lebensbedingungen und

damit auch sich selbst herstellen“ (ebd. S. 66).

Die Intersubjektivität zwischen Mensch und Gesellschaft, wie in der kritischen Psychologie

formuliert, würdigt die Herstellung der Verhältnisse sowie die Werdung des Individuums als

subjektives und alltägliches 'Tun' und hebt damit die Passivität der Subjekte auf (vgl.

Brenssell 2012, S. 200). Sie sucht die scheinbar subjektiven Verhaltensweisen auf ihre

Vermitteltheit mit objektiven Lebensbedingungen hin zu durchdringen. Somit liefert die

Intersubjektivität Impulse, um die Erschaffung und Entwicklung des Menschen und der

Gesellschaft als einen rekursiven und widersprüchlichen Prozess zu betrachten und die

Situation der aktiv handelnden Menschen in dynamischen Verhältnissen in den Blick zu

nehmen.

Nicht nur individuelles Verhalten, sondern auch gesellschaftliche Differenzkategorien, z. B.

männlich/weiblich, Migrant/Nicht-Migrant, homosexuell/heterosexuell, religiös/areligiös sind

intersubjektiv zu verstehen. Sie ordnen soziale Interaktion in gesellschaftliche Verhältnisse

ein. Sie können einerseits als Wirklichkeitskonstruktionen gesehen werden, die als Produkte

verschiedener gesellschaftlicher, symbolischer Ordnungen entstehen, verhandelt werden und

wirksam sind. Andererseits sind sie auch sehr prozessual, da sie von Menschen gelebt, erlebt,

erzählt und produziert bzw. reproduziert werden. Sie haben reale Auswirkungen auf ihr

Leben, ihre Teilhabe- und Gestaltungsmöglichkeiten. Mecheril und Melter fassen diese beide

Aspekte der Hergestelltheit und der Prozesshaftigkeit der Differenzkategorien sehr treffend

zusammen:

„Erfahren, begriffen und verstanden wird mit Hilfe von Differenzordnungen gesellschaftlicher Realität und die

eigene Position in ihr. Differenzordnungen strukturieren und konstituieren Erfahrungen, sie normieren und

subjektivieren, rufen historisch aufklärbare Individuen als Subjekte an. Differenzordnungen können zugleich

durch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse in ihrer Machtförmigkeit, ihrer grundlegenden Bedeutung und

ihrem Verhältnis zu anderen Differenzordnungen verschoben, destabilisiert, verändert oder weniger bedeutsam

gemacht werden. Sie sind kontingente und sich wandelnde Zusammenhänge“ (Mecheril/Melter 2012, S. 265).

2.1.2. Restriktive versus verallgemeinerte Handlungsfähigkeit

Im Hinblick auf soziale Veränderung wird die Frage der Handlungsfähigkeit der Subjekte

relevant, sei es als Akteure der Religion oder des Protests. Die kritische Psychologie

unterscheidet zwischen „restriktive[r] Handlungsfähigkeit, als individuell-unmittelbare

Bedürfnisbefriedigung und 'verallgemeinerte[r] Handlungsfähigkeit' als gemeinsame

Erweiterung der gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten“ (Meretz S. 100). Die restriktive

Handlungsfähigkeit kann als eine Fähigkeit zur Bewältigung von eigenen Problemen unter

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gegebenen sozialen Umständen verstanden werden. Hier geht es darum, die Probleme unter

gegebenen, restriktiven, als nicht veränderbar gesehenen sozialen Bedingungen, d. h. auch

Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu lösen. Die Subjekte arrangieren sich oder gehen eine

Komplizenschaft mit Machtverhältnissen ein und verzichten möglicherweise auf eine

Erweiterung eigener Lebensmöglichkeiten. Die eigene Mitverantwortung für die

Reproduktion bzw. die Verfestigung der sozialen Verhältnisse und Bedingungen wird dabei

häufig ins Unbewusste verdrängt (vgl. Kalpein 2012, S. 253). Im Gegensatz dazu bezieht die

verallgemeinerte Handlungsfähigkeit die gesellschaftlichen Verhältnisse bei der Bewältigung

von individuellen Problemlagen mit ein. Sie ist somit als „die Verfügung des Individuums

über seine eigenen Lebensbedingungen in Teilhabe an der Verfügung über den

gesellschaftlichen Prozess“ (Meretz S. 76) zu verstehen. Sie beinhaltet den Versuch, eigene

Lebensmöglichkeiten durch aktive Veränderung der Lebensbedingungen bzw.

Machtverhältnisse zu erweitern. Darin wird ihr intersubjektiver Charakter deutlich. Damit ist

sie auch mehr konfliktorientiert als die restriktive Handlungsfähigkeit und spricht die

Widersprüche zwischen den individuellen Handlungsmöglichkeiten und gesellschaftlichen

Handlungsbeschränkungen an.

2.2. Enteignung und Entstehung von Widerstand

Um die Frage der menschlichen Handlungsfähigkeit im Hinblick auf soziale Veränderung

genauer zu untersuchen, gibt der Soziologe Barrington Moore interessante Hinweise. Er geht

in seinem Buch 'Injustice – The Social Bases of Obedience and Revolt' der Frage nach,

warum Menschen sich mit ihren gesellschaftlichen Verhältnissen abfinden und warum sie

manchmal dagegen Widerstand leisten und diese Verhältnisse zu verändern versuchen. Dabei

scheint die Vorstellung und das Empfinden von Ungerechtigkeit und ihre Vermeidbarkeit eine

wichtige Rolle zu spielen. Moore geht einmal auf psychologische und soziologische

Mechanismen ein, die das Unrechtsempfinden der Menschen unterdrücken oder abtöten bzw.

sie verleiten, in Gehorsam mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu leben. Zweitens geht er

auf die Elemente von moralischer Entrüstung bzw. Empörung ein, die er als konstitutionell für

die Entstehung von Widerstand betrachtet. Damit meint er nicht das 'Leiden der

Intellektuellen', die ungerechte Weltverhältnisse beklagen, sondern eher die Empörung oder

Wut, die Menschen antreibt, gegen Unterdrückung aufzubegehren. Diese Empörung hat zwar

auch eine moralische Komponente, ist aber nicht moralisierend, herablassend oder

selbstgerecht, sondern viel unmittelbarer und direkter (vgl. Moore 1982, S. 9).

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Nach Moore sind soziale Regeln und ihre Verletzung entscheidende Komponente bei der

Wahrnehmung von Ungerechtigkeit und der Entstehung moralischer Empörung. Diese kann

sich auf die Tatsache beziehen, dass die herrschenden Regeln falsch sind oder dass jemand

diese gültigen Regeln bricht (ebd. S. 21). Andererseits geht Moore von einer 'natürlichen

Moral' im Sinne einiger moralischer Präferenzen aus, die nicht nur Folgen sozialer

Konditionierung sind (ebd. S. 24). Anhand von Beispielen aus ganz unterschiedlichen

Gesellschaften mit und ohne Schriftkultur zeigt er, dass es unter bestimmten Voraussetzungen

und Situationen (z. B. beim Versagen einer Autorität bei der Erfüllung ihrer expliziten oder

impliziten Verpflichtungen; einer ungerechten Arbeitsteilung oder der ungerechten Verteilung

des Sozialprodukts) zu einer allgemeinen Reaktion der moralischen Empörung kommen kann

(ebd. S. 76). An diesem Punkt kann festgehalten werden, dass auch moralische Empörung ein

intersubjektives Phänomen ist, das einerseits gesellschaftlichen Regeln unterliegt, andererseits

nicht ganz in ihnen aufgeht.

2.2.1. Enteignung moralischer Empörung

Moore beschreibt anhand von drei konkreten Beispielen, durch welche psychologischen,

kulturellen und gesellschaftlichen Mechanismen Menschen ihr vorhandenes Gefühl für

Ungerechtigkeit unterdrücken und schmerzhafte oder herabwürdigende Erfahrungen als

moralisch gerechtfertigt empfinden. Erstens nennt er die Asketen, die das Leiden bzw.

schmerzhaft erlebte Verhältnisse als unvermeidbar akzeptieren und die dadurch

hervorgerufene Feindseligkeit gegen die eigene Person richten anstatt gegen die Verhältnisse

(vgl. ebd. S. 87).2 Somit handelt es sich um eine Internalisierung von Konflikten. Zweitens

nennt er die Kaste der Unberührbaren in Indien, die den vorherrschenden Glauben der

herrschenden Kasten über Schicksal und Karma (Handlung) verinnerlicht haben. Dieser

Glauben lässt den Status der Unberührbaren als eine Folge individueller Handlungen

erscheinen und verbindet ihn mit der Möglichkeit eines gesellschaftlichen Aufstiegs und

Abstiegs im nächsten Leben (vgl. ebd. S. 90). Zusätzlich wird ihr Verhalten durch Sanktionen

geformt, die verhindern, dass sie ein Selbstwertgefühl entwickeln und die Autorität der

herrschenden Kasten in Frage stellen.3 Hier ist die Unterdrückung der moralischen Empörung

mit dem Versprechen einer bessere Zukunft und dem Akzeptieren des niedrigen

Selbstwertgefühls verbunden. Dies kann als eine sozio-religiöse Rationalisierung von

Ungerechtigkeit verstanden werden. Drittens nennt er die Gefangenen in

Konzentrationslagern, die durch sehr komplexe Machtmechanismen dazu gebracht wurden,

die moralische Autorität ihre Unterdrücker zu akzeptieren. Dies erreichte man u. a. durch

2 Moore benennt die Askese hier als negative Utopie oder Ersatz für die Revolution, vgl. S. 87.3 Der Diskurs der individuellen und sozialen 'Verunreinigung' wurde hierfür eingeführt.

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Isolation bzw. Verhinderung der Solidarität, Formen der Kooption (z. B. durch materiellen

Entzug), Degradierung durch Homogenisierung, Zerstörung der Selbstachtung etc. Hier kann

von einer Repression von Empörungspotential gesprochen werden.

2.2.2. Entstehung und Konstitution moralischer Empörung

„Menschen neigen offenbar dazu, dem, was unvermeidlich scheint oder ist, Legitimität

zuzusprechen. (…) Die Überwindung dieses Gefühls der Unvermeidbarkeit ist wesentlich für

die Entwicklung einer politisch wirksamen moralischen Empörung“ (Moore S. 605). In einem

weiteren Schritt zeigt Barrington Moore, welche Bedingungen die Entstehung von Widerstand

zur notwendigen sozialen Veränderung begünstigen.

Der Prozess der Entstehung von moralischer Empörung beinhaltet auf der Ebene der

individuellen Persönlichkeit, die Abhängigkeit von anderen zu überwinden. „Es ist ein Teil

des Lernprozesses, der moralischen Autorität der Unterdrücker zu widerstehen, sich selbst zu

sagen, daß die Bestrafungen der Unterdrücker unverdient sind. (…) Wie jeder Revolutionär

erkennt, müssen die Opfer »ihren Sinn stählen«“ (ebd. S. 615). Nach Moore geht es

psychologisch gesehen um eine 'Stählung'4 der menschlichen Seele, die ihr die Kraft zu

urteilen und zu handeln geben soll (vgl. ebd. S. 122). Dieses 'Stählen des Sinns' oder

moralische Autonomie beinhaltet drei Elemente. Erstens: Moralisches Erwachen als die

Fähigkeit, unterdrückende gesellschaftliche Zwänge und Regeln zu erkennen. Zweitens:

Moralischer Mut als eine Fähigkeit, diesen machtvollen Zwängen zum Gehorsam zu

widerstehen. Und Drittens: Moralische Erfindungsgabe als die Fähigkeit, neuartige Formen

der Verurteilung dessen, was besteht, zu entwickeln (vgl. ebd. S. 134).

Zum andern weist er anhand von Milgram und anderen psychologischen Experimenten darauf

hin, dass gesellschaftliche Unterstützung, Einfühlungsvermögen mit Opfern, Solidarität

zwischen Gleichgestellten sowie Allianzen zwischen verschiedenen Gruppen für die

Entstehung von Widerstand von Bedeutung sind (vgl. ebd. S. 142). Auf der Ebene

gesellschaftlicher Organisation plädiert er für neue Formen der Solidarität und Netze der

Zusammenarbeit. „Anstelle einer Solidarität der heroischen Haltung, die die Gruppe

gefährdet, werden Wege gefunden werden müssen, um effektiv Widerstand zu leisten“ (ebd.

S. 609). So beobachtet er: „Die Zersetzung muß sich auf die herrschenden Klassen ausdehnen

und sie in einer solchen Weise spalten, daß zwischen Elementen der herrschenden wie der

unterdrückten Klassen Bündnisse geschlossen werden können“ (ebd. S. 621). In der Moderne

nehmen diese Zusammenschlüsse verschiedene Organisationsformen an. Er benennt die

Gewerkschaften, revolutionäre politische Parteien und die revolutionäre Masse bzw. den Mob

4 Der englische Wort 'extract' (to extract iron from iron-ore) beschreibt sehr bildhaft den Prozess der Berufungdes 'Eigensinns', um gesellschaftliche Verhältnisse bzw. Konditionierung in Frage zu stellen.

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als die drei wichtige Formen, um gesellschaftliche Veränderungen durchzusetzen (ebd. S.

632).

Auf der Ebene kultureller Normen ist die Überwindung der Illusion wichtig, dass die

bestehende Ordnung gerecht oder die ungerechte Ordnung unvermeidlich sei. Dies impliziert

die Erarbeitung neuer moralischer Normen der Verurteilung (vgl. ebd. S. 130/609). Hierfür ist

die Rolle der moralischen Erfindungsgabe der Intellektuellen5 wichtig, so Moore. Die

„Vorstellungen einer neuen gesellschaftlichen Ordnung entstanden hauptsächlich unter

andersdenkenden Intellektuellen“ (ebd. S. 629).

Nach Moore „gab es keine soziale Bewegung ohne ihre Armee von Predigern und Militanten, die die frohen

Botschaften der Rettung von Schmerzen und Übeln dieser Welt verbreiten. (…) Es ist immer eine aktivistische

Minderheit, die neue Maßstäbe der Verurteilung befürwortet und verkündet. (…) Im allgemeinen sind sie

ziemlich jung und nicht mit gesellschaftlichen Bindungen und Verpflichtungen belastet. (…) Sehr häufig sind sie

Außenseiter in der Gegend, wo sie tätig sind. Ihre Aufgabe liegt darin, latenten Unmut aufzuspüren und zu

artikulieren, die herrschende Mythologie infrage zu stellen und eine Auseinandersetzung mit den herrschenden

Kräften zu organisieren. Die Agitatoren von außerhalb leisten die schwere Aufgabe, das alte Gefühl der

Unvermeidlichkeit zu unterminieren“ (ebd. S. 623).

Im Hinblick auf die Enteignung moralischer Empörung in der kapitalistischen Entwicklung

beobachtet Moore: „das System teilt dem gesellschaftlichen Vorrat an moralischer Empörung

in genau derselben Weise zu, wie es dem Markt das Angebot an Fruchtsaft oder eingemachten

Kartoffeln zuteilt. Diejenigen, die das Produkt am meisten brauchen, können es nicht

bekommen, weil ihnen die Ausdrucksmittel für den Marktmechanismus fehlen, und neue

Anbieter können Mühe haben, in einen überfüllten Markt einzubrechen“ (ebd. S. 661). Diese

Beobachtung wird interessant im Kontext der Unterscheidung zwischen privilegierten

intellektuellen Aktivisten und unterdrückten Betroffenen, die in der Regel nicht in der Lage

sind Widerstand zu leisten.

Sowohl Prozesse der Enteignung als auch Entstehung von moralischer Empörung sind

intersubjektiv zu verstehen. Bei den Enteignungsprozessen kann von einer restriktiven

Handlungsfähigkeit der Menschen gesprochen werden, die versuchen, innerhalb der als

gegeben und unveränderbar erachteten Verhältnisse für sich die bestmöglichen Wege zu

finden. Im Gegensatz dazu wird bei der Entstehung und Aneignung von moralischer

Empörung eine veränderte Handlungsfähigkeit sichtbar, die durch Veränderung der gegebene

Verhältnisse Handlungsspielräume eröffnet.

5 Mit Intellektuellen meint er nicht nur 'Gelehrte', sondern Menschen mit einem geistigen Horizont, die die gesellschaftlichen Gegebenheiten sprengen.

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Page 11: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

2.3. Religion in modernen und postmodernen Kontexten

Nachdem ich Widerstand als soziales Phänomen untersucht habe, möchte ich als nächstes das

Thema der Religion aufgreifen. Um etwas so komplexes, dynamisches und volatiles wie

Religion im Kontext des Sozialen zu thematisieren, sind Systematisierungen hilfreich. Die

Theologin Linda Woodhead und der Anthropologe Paul Heelas untersuchen in ihrem Buch

'Religion in modern times' die unterschiedlichen Typen/Formen der Religion, die

verschiedenen Kontexte ihrer Einbettung und ihres Wirken sowie ihrer diversen Trends. Ihre

Systematisierungen sind nicht linear, statisch und eindeutig zu verstehen. Im Folgenden

skizziere ich einige Aspekte dieser theoretischen Systematisierungen, die mir im Hinblick auf

die Verbindungslinien zwischen Religion und Widerstand sinnvoll erscheinen.

2.3.1. Typen/Formen von Religion

Basierend auf dem Verständnis der Beziehung zwischen Gott, Mensch und Welt bzw. Natur,

haben Woodhead und Heelas Religionen in den folgenden drei Kategorien eingeordnet.

Religions of Difference: Religionen unter dieser Kategorie betonen das 'Transzendente'

(Göttliche), das über dem Immanenten (dem Menschlichen und Weltlichen) liegt (vgl.

Woodhead/Heelas 2000, S. 15). Sie haben einen eher autoritären Stil. Die göttliche Autorität

manifestiert sich durch weltliche (mediating) Autoritäten. Diese können heilige Texte, heilige

Personen oder heilige Traditionskörper sein. Hier geht es um „correctly structured

differences“, also Unterschiede zwischen Gott-Mensch, Mann-Frau, Kind-Erwachsener,

Autorität-Gefolge, Zugehörige-Außenstehende, die 'prescriptive' (d. h. auf das Richtige und

Gute wegweisend) sind (ebd.). Die Idee der Sünde und Erlösung durch Gott machen

Gehorsam, Demut und Selbstkontrolle moralisch interessant (ebd.). In ihrer Sozialität zeigen

sie sich als „tightly bounded communities“, die identitär, exklusiv und durch einen

Wahrheitsanspruch selbstbestätigend sind (ebd. S. 27f.).

Religions of Humanity: „Religions of Humanity attribute considerably greater authority and

goodness to what the human has to offer, in particular the excercise of reason“ (ebd. S. 15).

Diese humanistischen Religionen haben einen vergleichsweise liberalen Stil. Sie sind

gegenüber Autoritäten jeglicher Art misstrauisch und vertrauen eher auf eigene Denkweisen.

Freiheit und Toleranz sind wichtige Werte. Sie zeigen sich als „loosely bounded communities“

oder 'Denominations', die eher inclusiv sind und die kollektive Dimension der Sozialität

unterstreichen. Sie sind in ihren Handlungsansätzen ethisch orientiert und nicht so sehr in

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Doktrinen befangen (vgl. ebd. S. 70f.).

Spiritualities of Life: „Spiritualities of life locate the sacred within the self and nature“ (ebd.

S. 15). Hier ist das Wichtigste die spirituelle Erfahrung des Einseins zwischen Mensch, Gott

und Natur bzw. Umwelt. Lehren und Praxen sind auf dieses Ziel gerichtet. Menschen sind

gemeinsam mit Gott und Natur die 'Co-creaters of reality'. Sie haben einen expressiven Stil.

Das Sein und Handeln im Hier und Jetzt ist bedeutend. Das mystische Element betont die

'perennial' Philosophie6, die alles miteinander verbindet. Sie sind in ihrer Sozialität eher als

ent-traditionalisierte und pluralistische communities sichtbar, deren Bindungen sowohl 'tigh'

als auch 'loose' sein können (vgl. ebd. S. 110-115).

„Religious life and thought is often messy, transgressing the neat divisions of the academic“

(ebd. S. 16). Dementsprechend sind die oben genannten Formen der Religionen nicht immer

'pur', sondern sie überlappen, variieren und mischen sich. Sie sind manchmal im Konflikt

miteinander oder sie ergänzen sich.

2.3.2. Kontextualisierung der Religion

„Religions are historically and materially defined. They occupy a concrete time and space. They are cultural,

political and material enterprises. They involve individuals, social groups and social action. They interact with

their economic and political contexts, and excercise a transforming or determinative role in relation to their

social frame“ (ebd. S. 171).

Woodhead und Heelas machen hier darauf aufmerksam, dass das Phänomen Religion (so wie

der Widerstand) einen intersubjektiven Charakter hat. Im Folgenden möchte ich das

Zusammenspiel der Religion mit den ökonomischen und politischen Kontexten kurz

darstellen.

Ökonomischer Kontext: Spätestens seit Max Weber ist die These von der Trennung zwischen

dem Religiösen und dem Ökonomischen in der Gesellschaft aufgehoben. Sein Werk zeigt die

Rolle, die Religion in der Entwicklung der kapitalistischen Marktwirtschaft gespielt hat.

Anthony Giddens macht in seiner Zusammenfassung von Weber darauf aufmerksam, wie die

Reformation eine protestantische Ethik etablierte, in der Arbeit und 'wealth creation' durch

biblische Autorität legitimiert wird, als ein Zeichen, dass die Reichen von Gott zur Erlösung

'auserwählt' wurden. Somit wurde ein arbeitsames und sparsamen Leben zur moralischen

Pflicht (vgl. ebd. S. 183ff). Peter Berger zeigt auch: „churches have been the most important

conduits for lower class people into the 'Protestant ethic' and thus into the promised land of

6 Vgl. 'The perennial philosophy' von Aldous Huxley, in: Woodhead/Heelas.

12

Page 13: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

bourgeois respectability“ (vgl. ebd S. 201). Andererseits sprechen Woodhead und Heelas von

'Prosperity Religion' als die 'sacralization of utilitarian individualism.' Dies sei „a way of

empowering, indeed legitimating and giving substance to the utilitarian self intent on enjoying

the materialistic life“ (ebd. S. 175). Ferner ist die Rolle der Religion als Lieferant für 'social

capital' (creating strong communities and plausibility structures) sowie 'moral Capital'

(generating a life of meaning) sehr interessant7 (vgl. ebd. S. 55-60). Auch die Idee der

Selbstverwirklichung in der religiösen Sphäre, wie Michael Rose sie thematisiert, verkörpert

die kapitalistische Wertsteigerung des Selbst im post-bourgeoisen Komplex. Nigel Thrift

benennt hier 'Soft Capitalism', in der „the significance of work is transformed in that it is

concieved as providing the opportunity to work on oneself“ (ebd. S. 205-208).

Andererseits wird der These der 'Bastardization' von Religion durch die Ökonomie auch

widersprochen: Die Religion kann auch eine wichtige Rolle spielen, um kapitalistische

Tendenzen zu kritisieren und andere Alternativen zu entwickeln. Die Beispiele hierfür sind die

Impulse der 'Liberation Theologie' oder der 'Eco-spiritualism'8. Die Rolle der Religion in

ökonomischen Kontexten (Entwicklung der Marktwirtschaft) muss in der Überkreuzung mit

den politischen Kontexten (Entwicklung des Nationalstaats) gesehen werden.

Politischer Kontext: Um das Zusammenspiel von Religion und Politik zu untersuchen,

orientieren sich Woodhead und Heelas an der die Konstitution des Politischen, wie es Alfred

Stephan formuliert. Demnach sind drei Komponente wichtig: Erstens der Staat – „the

extensive and interconnected administrative, bureaucratic, legal and coercive system, which

includes the apparatus of government“. Zweitens die Politik (politcal society) – „the arena in

which a polity specifically arranges itself for political contestation to gain control over public

power and the state apparatus“. Und drittens die Zivilgesellschaft – „the arena of institutions

and movements which are not explicitly political or involved in state activities, but which can

excercise profound political influence“ (ebd. S. 216). So kann Religion entweder in der

Verfassung des Staates komplett abgeschafft werden. Oder der Staat distanziert sich von

religiöser Parteilichkeit, indem er Allparteilichkeit verspricht bzw. allen Religionen religiöse

Freiheit garantiert. Der Staat kann aber auch Religion instrumentalisieren, indem er ihre

Legitimation auf einer nationalen Ebene institutionalisiert.

Die Religion kann den Nationalstaat legitimieren, ihn finanzieren und mit religiösen Mythen

und Symbolen die nationale Identität festigen9 (vgl. ebd. S. 214-216). Andererseits kann die

Zivilgesellschaft durch Religion durch dem Nationalstaat Widerstand leisten, sogar

7 Vgl. Andrew Greeley, Peter Berger, Nancy Ammerman, in: Woodhead/Heelas.8 Vgl. Szersynski über 'radical environmental protest as a new mode of performing public sphere'.

In:Woodhead/Heelas9 Vgl. David Martin, Wuthnow, Troeltsch und Parsons, in: Woodhead/Heelas.

13

Page 14: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Kolonialmächte entmachten.10 Dies ist besonders im Zusammenhang mit 'ethnic- or cultural

nationalism' zu beobachten.11 Außerdem kann Religion alternative communities hervorrufen,

ein ziviles Ethos12 fördern, im Hinblick auf Menschenrechte Druck ausüben, Kapitalismus-

Kritik liefern und 'public policy'-Debatten führen.

2.3.3. Trends in der Religion

Religiöse Trends sind als transformative gesellschaftliche Prozesse zu verstehen, die in dem

Zusammenspiel von Religion und Gesellschaft geschehen. Zum einen geht es hier um

Prozesse, in denen die Quantität und/oder Bedeutung der Religion ausgehandelt wird, zum

anderen um Prozesse der Veränderung des Religiösen an sich (vgl. Woodhead/Heelas S.

305f.). Im Folgenden möchte ich einige Trends der Religion thematisieren, die in ihrer

Koexistenz sowohl 'congenial' als auch 'conflictual' sein können (vgl. ebd. S. 481).

Secularization: Hierbei geht es um Prozesse der Moderne, in der erstens Religion aus

gesellschaftlichen und privaten Sphären verschwindet (disappearance theory)13; zweitens in

den sozialen Zonen an Bedeutung verliert, wobei sie im privaten Bereich wichtig bleibt

(differentiation theory)14; und drittens nur als 'consumerised experience' zugänglich bleibt

(deintensification theory) (vgl. ebd. S. 307f.).

Sacralization: Im Gegensatz zu den Prozessen der Säkularisierung geht es hier um die

Prozesse der Expansion der religiösen Gemeinschaften (durch Konversionen); die

Wiederverzauberung von 'public space' (dedifferentiation bzw. deprivatization15) und die

Revitalisierung (intensification through 'applied religiosity') der Religion (vgl. ebd. S. 430).

Detraditionalization: Damit werden Prozesse innerhalb des Religiösen bezeichnet, die einen

„shift from the authority of an external, supra-individual and traditional source of sacrality to

the authority of the self (…) that is sacred“ verkörpern (ebd. S. 306). Dies beinhaltet Prozesse

der Deinstitutionalisierung, Dekulturalisierung und Individualisierung der Religion, durch

welche die ethische Erfahrung wichtiger wird als ethische Prinzipien.

10 Vgl. Chaudhuri, in: Woodhead/Heelas.11 Vgl. Juergenmeyer über religiösen Nationalismus und die westliche Trennung zwischen Religion und

Politik, in: Woodhead/Heelas.12 'Civic Religion' – „an informal transdenominational civic religion which serves to undergird American

democracy“, in: Woodhead/Heelas S. 215.13 Vgl. Peter Berger zur Entzauberung der Welt, in: Woodhead/Heelas; Peter Berger, Zur Dialektik von

Religion und Gesellschaft, 1967.14 Vgl. Byron Wilson zur privatization of religion. in: Woodhead/Heelas.15 Vgl. Jose Casanova zur deprivatization. in: Woodhead/Heelas.

14

Page 15: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Universalization: Hier geht es um die Prozesse der Deterritorialisierung16, Dedifferenzierung17

und Pluralismus. Das 'Humane', was Menschen verbindet (the human ethic18), wird

hervorgehoben im Sinne eine 'unity in diversity'.

Im Hinblick auf die oben genannten Thematisierungen lässt sich fragen: Wie verhalten sich

verschiedene Religionsformen zu Prozessen der Enteignung und Mobilisierung von

moralischer Empörung; in welche polit-ökonomischen Kontexte sind sie eingebettet bzw. wie

verhalten sie sich im Hinblick auf Nationalstaat und Marktwirtschaft; und wie beeinflussen

gesellschaftliche Trends bzw. transformative Prozesse das Zusammenspiel von Religion und

Protest.

2.4. Mystik und Widerstand

Als nächstes möchte ich Mystik als eine besondere Dimension des Religiösen thematisieren,

in der die Frage der Transzendenz eine wichtige Rolle spielt. Da aber Transzendenz in

weltlichen Kontexten eingebettet ist, hat es auch soziale Motive und Auswirkungen. Insofern,

dass Prozesse der Entstehung und Aneignung von moralischer Empörung auch Elemente des

'Überschreitens' der gesellschaftlichen Codes (social transgression) beinhalten, könnte es

zwischen Mystik und Widerstand Kohärenzen geben. Die Theologin Dorothee Sölle stellt in

ihren Buch 'Mystik und Widerstand' einige Charakteristiken der Mystik vor, die hinsichtlich

der Überkreuzung von Religion und Protest interessante Hinweise geben. Im Folgenden gehe

ich auf diese ein.

Nicht selten wird Mystik mit 'Magie' verwechselt. „(...) many social scientists unfamiliar with

serious academic studies of the mystical traditions of self-transcendence (...) still erroneously

use the terms 'magic' and 'mysticism' casually as synonyms“ (Howell/van Bruinessen, 2007 S.

5). Im deutschen Sprachgebrauch ist das Wort Mystik relativ spät, vor etwa 200 Jahren, im

Zusammenhang mit der Romantik aufgetaucht. „Das lateinische Wort 'Mysticus' im Sinne von

geheimnisvoll oder verborgen war schon lange im Gebrauch. (…) Die sprachliche Wurzel des

Wortes liegt im griechischen verbum myo, ich schließe die Lippen oder die Augen“ (Sölle

1998, S. 33f.). In diesem Sinne geht es in der Mystik um eine unmittelbare Erfahrung des

Seins, das verborgen ist bzw. 'nicht mit gewöhnlichen Mitteln oder intellektuellem Bemühen'

zu erreichen ist, sondern durch die Gnosis, also die Weisheit des Herzens ermöglicht wird

16 Vgl. Oliver Roy, in: Heilige Einfalt, 2011.17 Vgl. Heelas zur differentiation and dedifferentiation, in: Woodhead/Heelas. 18 Vgl. Heelas zur ethic of humanity, in: Woodhead/Heelas.

15

Page 16: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

(vgl. Schimmel, 1995 S. 16f.). In der abendländischen Tradition erinnern die griechischen

Mysterienkulte an die Mystik im Hinblick auf 'veränderte Bewusstseinszustände' (ebd.). Die

religiösen Traditionen anderer Kulturen weisen eine viel längere Tradition der Mystik auf.

Obwohl es dafür unterschiedliche Bezeichnungen gibt, geht es in der Mystik um die zentrale

Erfahrung der 'Unio Mystica' oder Begegnung bzw. Vereinigung des Menschlichen mit der

göttlichen Wirklichkeit. Im Folgenden möchte ich wichtige Elemente der Mystik und ihre

Interpretation darstellen, um ihren Weltbezug oder sozialen Bezug, insbesondere zum

'Widerstand', hervorzuheben.

2.4.1. Liebesverhältnis statt Herrschaftsverhältnis

Die Liebe scheint ein zentrales Element der Mystik zu sein. Im Gegensatz zur religiösen

Orthodoxie, die eine autoritäre oder herrschaftliche Beziehung zwischen Gott und Mensch

vertritt, verkörpert die Mystik eine Liebesbeziehung zwischen dem Menschlichen und dem

Göttlichen. Die berühmte Religionswissenschaftlerin Annemarie Schimmel definiert sie als

„'Liebe zum Absoluten' (...) Diese Liebe kann das Herz des Mystikers in die göttliche

Gegenwart tragen“ (vgl. ebd. S. 17). Dorothee Sölle betont in einer ungewöhnlichen Umkehr

der evangelischen Interpretation dieser Liebe, dass es nicht nur Gott ist, der uns liebt,

beschützt, neu macht und errettet, sondern dass Menschen Gott lieben, beschützen, neu

machen und erretten (vgl. Sölle S. 16). Diese Gegenseitigkeit der Liebe ist ein wichtiges

Element der Mystik. Es verkörpert eine 'Ver-rücktheit' in der Beziehung zu Gott. Nicht selten

wurden Mystiker von anderen als verrückt angesehen, weil sie das Herrschaftsverhältnis zu

Gott in ein Liebesverhältnis verwandelten (vgl. ebd. S. 366). So sagt Rabi'a Al Adawiya, eine

der wichtigsten Sufi-Mystikerin : „Ich will Feuer ans Paradies legen und Wasser in die Hölle

gießen, damit diese beiden Schleier verschwinden und es deutlich wird, wer Gott aus Liebe

und nicht aus Höllenfurcht oder Hoffnung aufs Paradies anbetet“ (ebd. S. 57). Diese

zwecklose Liebe, bedingungslose Annahme von Mensch und Gott entstammt einer

'gleichwürdigen' Beziehung zwischen Mensch und Gott. Insofern kann die Mystik als die

antiautoritäre Religion schlechthin begriffen werden, in der aus dem befehlenden Herrn der

Geliebte wird (vgl. ebd. S. 58).

2.4.2. Erfahrung statt Verdinglichung

Das unmittelbare 'Sein' oder die unmittelbare 'Erfahrung' ist wesentlich in der Mystik. Einige

Züge der mystische Grunderfahrung können sein: das Gefühl des Einssein mit allem; die

Versenkung ins unbekannte Ganze; das Erstaunen; das Erschrecken, die Überwältigung; die

Verzückung, die intensive und unbegründbare Freude (vgl. ebd. S. 28/29/39). Diese

16

Page 17: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Erfahrungsdimension widersteht der 'Verdinglichung' des Seins. C. J. Lewis beschreibt in dem

Satz „Ich bin was ich tue“ die Übereinstimmung von Sein und Handeln oder die 'Unio

Mystica' zwischen Gegenstand und Gegenwart als die grundlegende Erfahrung der Mystik.

„Auch die gewöhnlichen Formen religiöser, pantheistischer oder ästhetischer Erfahrung haben mystische

Elemente in sich. Oft übersteigt das (…) 'religiöse' Gefühl den gegenständlichen Inhalt des Erlebens, und die

verborgenen, nicht rationalen, oft unbewußten Anteile sind expressiver und mächtiger als die kenntlich

gemachten. Das normale Bewusstsein weitet sich (...) so daß Wahrheit im Sinne von Unverborgenheit erscheinen

kann. Die Erfahrung einer Gegenwart des Göttlichen geschieht dann nicht mehr durch Lehre, heilige Schrift oder

Sakrament vermittelt. Die Zeit steht still in der Gegenwart des mystischen Nun“ (ebd. S. 32).

Diese unmittelbare Erfahrung ist jedem zugänglich. Sie ist nicht nur in sogenannten

spirituellen oder kontemplativen Praxen möglich. Es ist eine „allgemeine menschliche

Erfahrung wie die Hingabe an etwas oder jemanden, das nicht 'Ich' ist, in der gerade das Ich

als Gefängnis erscheint, viel zu eng, und klein für die Wirklichkeit des Du“ (ebd. S. 39).

Insofern ist mystische Erfahrung eine, in der die „Abgeschlossenheit des Selbst durchbrochen

wird“ (ebd. S. 41). Indem die Mystik die unmittelbare eigene Erfahrung als die relevanteste

Legitimationsinstanz betont, widersteht sie dem Ordnungskörper des Evidenz-basierten

Wissens und technokratischem Handeln. Sie ruft auf, 'second hand'-Wissen oder -Erfahrung in

Frage zu stellen. So meint Sölle: „Es sind diese unmittelbaren Erfahrungen, die mich

mißtrauisch machen gegen Einteilung derer, die sich mit Mystik beschäftigen“ (ebd. S. 32).

2.4.3. Ekstase statt Ichsucht

Die Erfahrung der Ekstase im Sinne der Selbsttranszendenz ist ein wichtiges Element der

Mystik. Dabei wird nicht die gelebte Immanenz aufgegeben, um einer phantastischen

Transzendenz willen (vgl. Sölle S. 49), sondern die Grenzen des Ichs, das in der Trivialität

oder im Totsein der Welt gefangen ist, werden durchbrochen. „All die [sozialen] Hüllen,

Formen, Rollen, Erfrierungen, die das Ich normalerweise unter Kontrolle haben, fallen weg“

(ebd. S. 44) und man ist auf sich selbst zurück geworfen. C. J. Lewis beschreibt dieses „Bei

sich selber sein als eine Erfahrung des Außer sich Geratens“ (ebd. S. 45). Es kann auch als

eine Erweckung aus der gesellschaftlichen Narkose verstanden werden. Martin Buber

beschreibt die Situation der Verdinglichung als Getriebe der Welt: „Das Getriebe läßt mich die

Dinge haben und die Ideen dazu, nur nicht die Einheit. (…) Name und Subjekt sind des

Getriebes, und mein ist die Hand, die sich ausstreckt – ins Leere“ (Buber, zitiert von Sölle S.

51). Diese Unmittelbarkeit der Erfahrung oder, wie Anthony De'mello es formuliert,

„unencumbered by Baggage“ zu sein, feiert das 'Ich' bzw. das Sein an sich. Die grundlose

Freude an der eigenen nackten Existenz ohne die Zwänge der Welt ist eine mystische

17

Page 18: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Erfahrung. Das ekstatische 'Ich' verleugnet das soziale Ich nicht, sondern tritt bewusst aus ihm

heraus. Paradoxerweise geschieht dies, indem das eigene Verflochtensein in den Verhältnissen

sichtbar wird. Die Ekstase, die die Grenzen des sozialen Ichs und die gesellschaftlichen

Verhältnisse transzendiert, kann als eine Form von Widerstand verstanden werden.

2.4.4. Gemeinschaft statt Isolation

Die Mystik ist nicht eine exklusive Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch, sondern eine

Liebesbeziehung zwischen Gott, Mensch und Welt im Sinne von Gemeinschaft. Die

mystische Erfahrung der Liebe, der Unmittelbarkeit und der Ekstase entfalten sich in der

realen Gemeinschaft. Nach Martin Buber vollzieht sich religiöses Leben im Alltag der Welt,

in dem dialogischen Ich-DU und dem daraus entstehenden 'Wir'-Bezug (vgl. Sölle S. 209-

212 ). „Das dialogische Denken besteht nicht in einer geschichtslosen und gesellschaftsfreien

Zweisamkeit von Ich und DU [Mensch-Gott-Dialog], vielmehr in der Konkretion von

Gemeinsamkeit (…) Philosophisch formuliert er sie als eine Sozialität, die in der Sprache

selbst, im Angesprochenwerden und Antwortgeben wurzelt. Das Subjekt wird nur Subjekt in

der Sozialität“ (ebd.). Bubers berühmter Satz „Im Anfang war die Beziehung“ macht darauf

aufmerksam, dass das „Verhältnis vom Baum zum Wald, von Individualität zu Sozialität, von

Liberté zu Fraternité (...) ein immer wieder neu geträumter mystischer Traum“ ist (ebd. S.

202). Buber sieht eine größere mystische Aufgabe darin, in der Welt zu bleiben und in ihr dem

Drang nach Besitz und Herrschaft zu widerstehen. Das bedeutet auch, den Anderen nicht nur

als das eigene Erlebnis, nur als 'Meinheit' bestehen zu lassen (ebd.). Dabei grenzt er das echte

'Wir' ab vom Kollektivismus des 'Man' und erinnert, dass nur Menschen, die fähig sind,

zueinander wahrhaft 'Du' zu sagen, miteinander wahrhaft 'Wir' sagen können (ebd.).

In der Gemeinschaft entfaltet sich auch eine „Demokratisierung der Mystik“ (Sölle S. 28).

Sölle zitiert den flämischen Mystiker Ruysbroeck, der Gott als „gemein“, d. h. für jeden

verfügbar bezeichnete. So sind Mystiker gewöhnliche Menschen, Schuhmacher,

Kindermädchen, Wollfärber, Hausfrauen oder Physiker. Mystik ist nicht Angelegenheit von

Auserwählten, sondern ist allen zugänglich (vgl. ebd. S. 28/37). Eine wahrhaftig

demokratische Mystik ist im Alltag und in der Gemeinschaft eingebettet, wo sie nicht als

Konsum oder spirituelle Flucht des Individuums oder zum 'spiritual bypassing' (vgl. Welwood

o. S.) der individuellen bzw. gesellschaftlichen Konflikte praktiziert wird.

2.4.5. Weltdistanz statt Weltflucht

Mystische Erfahrungen entfalten sich in der Welt und müssen sich zu ihr verhalten. In ihr wird

die Unterscheidung des spirituellen Innen und soziopolitischen Außen aufgehoben. Mystik ist

18

Page 19: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

nicht als Flucht von der Welt zu verstehen, sondern als eine bewusste Distanzierung zu

weltlichen Verhältnissen. Mystik ist Widerstand: das Praktizieren der Verrücktheit des Nein

(mystischer Trotz) aus einer Liebe zum Leben (vgl. Sölle S. 18f). Sie ist nicht „Rückzug aus

der schrecklichen Wirklichkeit, sondern eher als ein Innehalten, um diese Wirklichkeit

anzusehen, in ihrer Schrecklichkeit und in ihrer Schönheit“ zu verstehen (ebd. S. 260).

„Faith is a way of participating in the world, faith is the lived protest against the belief that

life is meaningless“ (vgl. Peter Rollins o. S.). In diesem Sinne ist Mystik Widerstand gegen

Hoffnungslosigkeit, gegen „es bringt nichts“ oder das TINA-Syndrom (there is no

alternative). Mystik als Widerstand bedeutet auch, den „Agenten der Macht in uns

wegzuschicken, der uns von der Aussichtslosigkeit des Unternehmens, der Übermacht der

Institutionen überzeugen will“ (ebd. Sölle S. 289). Die Mystik wirft die Frage nach dem

gelebten Widerstand auf. Sölle kritisiert in diesem Kontext den 'einsamen Analytiker', der

alles schlimm findet, sich in seinen Argumenten abschottet und auftrumpft. Sie spricht von

einer widerstandsunfähigen Trauer unter uns, die für die reiche Welt charakteristisch ist.

Gemeint ist hiermit auch eine Kritik an dem 'schlechten Gewissen' der Privilegierten (vgl.

ebd. S. 257f.). Mystik als Wiederverzauberung der Welt ist Widerstand gegen die

'Entzauberung der Welt'. Die widerständige Mystik ist eine Form der Subversion der Religion,

die als Ordnungsmacht fungiert oder als 'Opium fürs Volk'. In der Mystik fungiert Religion als

ein Akteur des Protests und des sozialpolitischen Wandels. Henning Luther beschreibt eine

solche Religion folgendermaßen:

„Sie kann (…) die der Beruhigung vorausgehende Beunruhigung und Verunsicherung gerade wachhalten und das

normalerweise nicht thematisierte Hintergrundwissen problematisieren und in Klammern setzen („als ob“). (...)

Die Beunruhigung wird hier nicht als abzuwehrendes Unheil wahrgenommen, sondern gerade als heilsam.

Religiöse Sprache bietet hierzu die Artikulationshilfe, das, was selbstverständlich ist, verfremdend von seiner

Differenz her zu denken. (…) Religion, die sich nicht zur Beruhigung instrumentalisieren läßt, vermittelt so die

Gewissheit der Ungewissheit, die Bergung im Ungeborgenen, die Anfreundung mit dem Befremdlichen, die

Beheimatung im Unbehausten“ (Luther 1992, S. 215f.).

Spuren der Mystik lassen sich in unterschiedlichen religiösen Formen finden, vor allem in

dem Typus 'Spiritualities of Life'. Häufig ist zu beobachten, dass sie als Gegenströmungen zu

den 'Religions of Differenz' wirkt, ohne sie ganz von ihnen abzukoppeln. Nicht selten sind

auch demokratische Prinzipien der 'Religions of Humanity' in der Praxis der Mystik

erkennbar. Die Mystik ist eingebettet in den gesellschaftlichen, polit-ökonomischen

Kontexten und nimmt auch Einfluss auf diese und ist so gesehen intersubjektiv. Abgeschnitten

von der Gemeinschaft und als spirituelle 'Gluttony' kann sie aber auch zur Enteignung

moralischer Empörung oder zu Widerstand führen.

19

Page 20: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

3. Konkretisierungen in religiösen und sozialen Bewegungen

Die Untersuchung religiöser und sozialer Bewegungen bietet ein interessantes Feld, um die

Verbindungslinien, Überkreuzungen und das Zusammenspiel zwischen Religion und Protest

hinsichtlich gesellschaftlicher Veränderung zu untersuchen. Gleichzeitig wirft dies auch

einige formbezogene Schwierigkeiten auf: Bewegungen, ob sozial oder religiös, sind schwer

als strukturierte Einheiten zu erfassen, da sie als fluide Zusammenschlüsse eher in ihrer

Mobilisierungswirkung sichtbar werden (vgl. Wagner 2009, S. 10). Sie haben ein eher

dialektisches Verhältnis zu sozialem Wandel: einerseits sind sie Ergebnis und Ausdruck

gesellschaftlicher Transformationsprozesse, andererseits können sie solche Prozesse auslösen

und hervorrufen. Sie bewegen und sind gleichzeitig auch beweglich. Fast alle sozialen und

religiösen Bewegungen beinhalten Elemente wie Zusammenschlüsse von Menschen, eine

Identitätsbildung, eine gewisse Kontinuität des Geschehens bzw. Prozesshaftigkeit und einen

Anspruch auf die Gestaltung der Lebensweisen (ebd.).

Als nächstes untersuche ich Sufismus als eine religiöse Bewegung in ihrem Verhältnis zu

Protest und sozialem Wandel. Danach gehe ich auf die amerikanische Bürgerrechtsbewegung

und die gegenwärtige Occupy-Bewegung als soziale Protestbewegungen und ihr Verhältnis zu

Religion und sozialer Veränderung ein.19Da diese Bewegungen von Kontinuitäten sowie

Diskontinuitäten geprägt sind, möchte ich auf ihre Kategorisierung als alte oder neue soziale

bzw. religiöse Bewegung für dieser Arbeit verzichten.

3.1. Der Sufismus

„For we shall be mostly talking in sociological and political terms. Poetry will not have a place in our discourse,

nor will the language of spirituality lead us astray. But who knows? Maybe at a certain moment in the

proceedings the three Qalandars20 will suddenly march in. Beyond all forms of academic orgy, they know the real

story, and they are always good for a surprise“ (Van Ess S. 44).

Wissenschaftliche Untersuchungen zum Sufismus stellen zwar, etwa durch Übersetzungen,

dieses Gedankengut für den Sufi-Fremden zur Verfügung, aber nicht ohne sie durch eigene

Prägungen zu beeinflussen oder gar zu verändern. Van Ems weißt darauf hin, dass, „quite a

number of publications considered to be authoritative reports about mystical movements in

19 Ich stelle nur ein paar Aspekte dieser Bewegungen dar, die meines Erachtens relevant für die Untersuchung vom Verhältnis von Religion und Protest sein könnten. Auch andere Untersuchungsperspektiven sind möglich.

20 Wandernde Derwische, die im Sufismus im Gegensatz zum Anhänger einer Tariqa (Derwischorden mit fest geregelten Grundsätzen) stehen.

20

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the begining of our century were closely linked to colonialism and mirrored its anxieties and

prejudices. (…) We are dealing, (...) with a littérature de surveillance or when the writings are

produced by british or american missionaries, an 'Islamic Peril Literature'“ (ebd. S. 39f.). Im

Bewusstsein dieser Gefahren habe ich in der folgenden Darstellung des Sufismus versucht,

sowohl Sufi-Dichtung/Texte (in Hindi, Urdu, englischer Übersetzung) als auch

wissenschaftliche Texte über den Sufismus zu beachten.

3.1.1. Wichtige Elemente der Sufimystik

Sufismus oder 'Tasawwuf', wie die Sufis es nennen, als eine Form der islamischen Mystik

entstand mit Beginn des 2. Jahrhunderts nach Higra (islamische Zeitrechnung), also seit dem

7. bzw. 8. Jahrhundert in Bagdad und Basra. Es war eine Gegenbewegung zu den

Verweltlichungstendenzen der Muslime dieser Zeit, so waren Frömmigkeit, Askese und

Gottesfurcht wichtige Ausdrucksformen dieser Lebensart (vgl. Günes o. S.). Der Name 'Sufi'

stammt von dem arabischen 'Suf' und bedeutet Wolle. Diese deutet auf ihre Herkunft aus dem

Asketentum in Ostpersien hin, wo Sufis das Wollgewand der Askese und der Armut trugen

und ihr Leben in Wanderschaft und Gebet verbrachten (vgl. Sölle S. 55). Einige Zeitgenossen

von Junaid (ca. 910) beschrieben die asketische Lebensform folgendermaßen: „Sufismus

bedeutet, nichts zu besitzen und von nichts besessen zu sein“ (Schimmel S. 32). Andere hoben

den Aspekt der 'Safa' oder Reinheit hervor, was auf die rituellen Waschungen und auf das

Freiwerden von aller Ich-Sucht bezogen werden kann (vgl. Sölle S. 55).

Nach der Frühphase der 'Askese' und 'Gottesfurcht' stand im Sufismus relativ bald die

'Gottesliebe' im Mittelpunkt. „Im Akt der Gottesminne (ishq), dessen Gipfel die Unio mystica

ist, sind Liebender, Geliebter und die Liebe eins“ (Günes o. S.). Mit ihrer überströmenden und

leidenschaftlichen Liebessehnsucht nach Gott haben die Sufis die islamische Orthodoxie

irritiert. Sie haben „gegen den Widerstand der Orthodoxie die Begriffe mahabba, hubb

(Liebe) für die Beziehung zwischen Gott und Mensch gebraucht. In der Orthodoxie wurde

Liebe meistens als 'Liebe zum Gehorsam Gottes' verstanden. Später würde vor allem in der

persisch-türkischen Tradition der Ausdruck 'asq' 'ishq' (starke glühende Liebe) zum zentral

Begriff“ (Günes o. S.). In der für viele mystischen Traditionen typischen Umkehr des

Gehorsams- bzw. Herrschaftsverhältnisses zwischen Gott und Mensch in einem

Liebesverhältnis findet man im Sufismus den Gedanken, dass „Gott ein verborgener Schatz

war, der sich sehnte, erkannt zu werden, (…) daß Gott lieben und geliebt werden wolle“

(Schimmel S. 202).

Ein wichtiger Aspekt des Verständnisses der Liebe im Sufismus ist 'Fana' oder das

'Entwerden'. „Der Mensch entwird seinen Eigenschaften, indem er Gottes Eigenschaften

21

Page 22: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

annimmt.“ Fana weist auf „die völlige Aufhebung des Ichbewusstseins (...) der Zustand vor

der Spaltung in Subjekt und Objekt“ (ebd. S. 208). Die Liebe wird als ein Akt des Sterbens

gedeutet, „denn Tod bedeutet die Vernichtung der individuellen Qualitäten, das Aufheben des

Schleiers, der den ur-ewigen Geliebten von dem zeitlich geschaffenen Liebenden trennt“ (ebd.

S. 197). Nimmt die Tradition „Sterbt bevor ihr sterbt“ Bezug auf 'Fana' oder das mystische

Entwerden, so sprechen die Sufis auch von 'Baqa', oder dem Zustand des Bleibens in Gott, das

oft mit prophetischer Aktivität verbunden wird. So wird im Sufismus die Prophetie als eine

Weiterführung der Mystik in der Welt verstanden.

Die Spannungen zwischen der Orthodoxie und den Sufis beruhte auch auf der Relativierung

des 'Ilm' oder Wissens, das im Sufismus als der größte Schleier beschrieben wird, der den

Mensch von Gott trennt (vgl. ebd. S. 204). Die Wissenschaften werden gesehen als

Brillengläser, die selbst nichts sehen können, sondern zwischen Auge und Objekt stehen

(ebd.). Die Sufis dagegen legen Wert auf die 'Ma'rifa': Die unmittelbare Erkenntnis oder

Gnosis, ein Wissen, das man nicht mittels des diskursiven Verstandes erreichen kann (vgl.

ebd. S. 191). „Manche Mystiker hielten es für den ersten Schritt im Sufismus, die Tintenfässer

zu zerbrechen und die Bücher zu zerreißen. (…) Andere Sufis wurden durch Träume dazu

getrieben, ihre kostbaren Büchersammlungen in einen Fluß zu werfen“ (ebd. S. 36). Diese

Vorliebe der Sufis für unmittelbare Erkenntnis im Gegensatz zur legalistischen Gelehrsamkeit

und ein technokratisches Verständnis von Wissen wurde oft durch ihren Spott über die

Rechtsschulen ausgedrückt (ebd.). Attar, eine bekannte Sufi des 9. Jahrhunderts, sagte: „Von

Worten wie 'Ursubstanz' und 'Prima Causa' wirst du nicht den Weg in die Gegenwart Gottes

finden“ (ebd. S. 38). Auch die von griechischem Gedankengut beeinflusste Philosophie diente

als Angriffsziel und der kleine Philosoph war für die Sufis sowohl Ziel des Spottes als auch

Sündenbock. Einen solchen Anti-Intellektualismus betrachteten die Orthodoxen als gefährlich

für das Leben der Gemeinschaft (ebd.).

Dagegen war die Figur des Narren oder des weisen Idioten im Sufismus sehr verbreitet, der

seine Kritik am sozialen und politischen Leben offen aussprach. Der Typus des 'Entrückten',

der unter dem Schock einer mystischen Vision seinen Verstand verloren hat und völlig nackt

herum gelaufen ist, hat bei der Orthodoxie sehr viel Aufsehen erregt. Im Sufismus aber wurde

dem Typus der analphabetischen, ungeschliffenen und manchmal recht 'unverschämten'

Heiligen eine wichtige Stellung eingeräumt (vgl. ebd. S. 39f.). Die Sufis waren beim Volk

auch für ihr charismatisches Verhalten und für Wundertaten beliebt. Andererseits bezeichnete

die Orthodoxie diese als 'satanistisch', weil es die Stellung des Propheten und der Sharia

gefährde (vgl. De Jong/Radtke, 1999 S. 4).

Auch die Praxis der 'Sama', das tiefes Hinhören der Sufi-Texte, die oft als Dichtung verfasst

22

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waren und mit Musik oder Bewegung begleitet wurden, erregte bei der Orthodoxie heftige

Kritik. Samakhanas (Gebetssäle), wo Sufis durch Poesie, Musik und Tanz ekstatische

Zustände erreichten, wurden in Bagdad schon in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts

gegründet und die Orthodoxie war empört über die Dinge, die dort geschahen (vgl. Schimmel

S. 258). Die Orthodoxen setzten diese Praxis mit sinnlicher Begierde und Frivolität gleich. So

wurden die tanzende Derwische auch später (z. B. durch Atatürk) verboten. Viele Sufis sahen

'Sama' als eine emotionale Form des Gottesdienstes, was ihnen das Ritualgebet nicht geben

konnte (vgl. ebd. S. 256).

Die Sprache der Sufimystik zeichnet sich im Gegensatz zu dem moralischen Skriptualismus

eher durch Poesie, Metaphern, Witz und Paradox aus. Manche Bemerkungen dürften von den

Sufi-Meistern als eine Art Ko'an, ein Paradox, geäußert worden sein, um den Hörer zu

schockieren, um eine Diskussion zu entfachen oder um das logische Denken zu verwirren

(autodeconstruction). So sollte beim Hörer ein nicht-logisches Verständnis des betreffenden

Wortes oder ein mystischer Zustand hervorgerufen werden. Die Sufis spielen mit Sprache und

genießen ihre unendlichen Möglichkeiten, sie lieben Reime oder stark rhythmisch betonte

Formen, in denen das magische Spiel von Laut und Sinn sich entfaltet. So wird oft der Sinn

eines Wortes eher verzerrt als erläutert (vgl. ebd. S. 28-30).

Unter den Sufis gab es auch selbstkritische Stimmen. Schimmel erwähnt Shibli, einen

Mystiker, der Asketen angriff, die ihre Augen vor der geschaffenen Welt verschlossen und

sich ausschließlich auf Gott konzentrierten. So fragte er, „wenn Gott doch die einzige Realität

ist, wie kann man da an 'Andersheit' denken und versuchen sie zu vermeiden?“ (ebd. S. 33f.).

Der persische Mystiker Mu'ahd warnte: „Vermeide die Gesellschaft von drei Gruppen von

Menschen – nachlässigen Gelehrten, heuchlerischen Koranlesern und dummen angeblichen

Sufis“ (ebd. S. 41). Hiermit meinte er Sufis, die nur auf die äußere Form achteten. Im 11.

Jahrhundert wurde oft geklagt: „Heute ist Sufismus ein Name ohne Realität, während er

früher eine Realität ohne Namen war (…) blinde Nachahmung hat den geistigen

Enthusiasmus ersetzt“ (ebd. S. 41).

3.1.2. Al Hallaj (858-922) und sein Ausspruch „Ana'l Haqq“ (Ich bin Gott)

Eine sehr bekannte Sufi-Figur, die mit der Orthodoxie in Konflikt geraten ist, war Hussain

Mansur Al Hallaj. Der Sohn eines Baumwollhechlers wurde als Pantheist, heimlicher Christ,

Erzketzer, orthodoxer Theologe und als Ideal verzückter Sufis beschrieben. Man warf ihm

Blasphemie vor und richtete ihn hin. Er gilt als der Märtyrer des Islam (vgl. Schimmel

S.101f.). Folgende Erzählung findet man in unterschiedlichen Überlieferungen: Als er von

Mekka zurückkehrte, klopfte er an die Tür seines Lehrers Junaid. Als der Meister fragte: ,Wer

23

Page 24: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

ist dort?, antwortete er in einem Zustand der Ekstase: „Ana'l Haqq“, was in der Übersetzung

soviel heißt wie: 'Ich bin die absolute oder schöpferische Wahrheit' oder 'die wahrer Realität'

oder 'Ich bin Gott' (vgl. ebd. S. 103). Dieser Satz erscheint in seinem Buch 'Kitab at-tawasin',

das er wahrscheinlich während seiner Gefangenschaft niederschrieb. Der wirkliche Kontext

des Ana'l Haqq ist unbekannt. Jedenfalls wurde er von seinem Lehrer beschuldigt, falsche

religiöse Ansichten zu verbreiten und stieß auch bei anderen Bagdader Mystikern auf

Ablehnung. Schließlich verließ er die Stadt und ging auf Wanderung, u. a. nach Indien.

Parallelen zwischen seinem Ana'l Haqq und dem 'Aham Brahmasmi' (Ich bin Gott) der Veden

sind mehrfach erwähnt worden. Er behauptete, wahre Vereinigung mit seinem göttlichen

Geliebten erreicht zu haben – eine Vorstellung, die die Anhänger der platonischen Liebe nicht

akzeptieren konnten. Aber es waren nicht nur subtile Fragen mystischer Liebe, sondern auch

politische Fragen im Spiel.

„Er war unwissend, frech, unterwürfig, doch mutig in der Gegenwart von Königen; er

versuchte große Dinge und wollte dringend einen Regierungswechsel“ (Ibn-an-Nadim, zitiert

von Schimmel S. 102). Manche Quellen besagen, dass seine Worte auf kostbarem Papier

niedergeschrieben wurden. Das machte ihn in den Augen der Bagdader Regierung verdächtig.

Und noch verdächtiger war die Tatsache, dass er möglicherweise mit den gefährlichsten

Gegnern der Regierung, den schiitischen Karmaten Kontakt hatte (vgl. ebd. S. 104).

„Hallaj war ein Freund des Kämmerers Nasr-al-Qushuri, der für eine bessere Verwaltung und eine gerechtere

Besteuerung eintrat. Das waren gefährliche Ideen in einer Zeit da der Kalif fast machtlos war und die jeweils fast

allmächtigen Wezire ständig wechselten. (...) Denn alle fürchteten, daß die Wirkung einer religiösen

Wiederbelebung der Massen Auswirkungen auf die soziale Organisation, ja auf die politische Struktur des

Reiches haben könnte. Der Gedanke, die Herzen aller Muslime zu bekehren und sie das Geheimnis persönlicher

Heiligung anstelle blinder Nachahmung zu lehren wäre gefährlich für eine Gesellschaft gewesen, deren religiöse

und politische Führer weder die Kraft noch die Absicht hatten, die muslimische Gemeinde wirklich zu beleben“

(Schimmel S. 105 ).

Sein Benehmen reizte sowohl politische als auch religiöse Kreise zur Opposition. Sowohl die

Schiiten als auch die orthodoxen Sunniten hielten ihn für gefährlich. Er vertrat die Lehre, dass

„gewisse religiöse Pflichten durch andere, im Moment nützlichere Akte ersetzt werden

können. Statt die Pilgerfahrt zu vollziehen, könnte man zum Beispiel Waisenkinder einladen,

sie speisen, neu einkleiden und am Tage des großen Pilgerfestes erfreuen. Solche Gedanken

waren natürlich für die Legalisten unannehmbar“ (ebd. S. 111). Hallaj war überzeugt, dass

alle Meinungen über Gott ihn verfehlten. Deswegen warnte er vor dem Bekenntnis der Einheit

Gottes, das zu den grundlegenden religiösen Pflichten jedes Islam-Gläubigen zählt. So meinte

er: „Lass dich nicht von Gott täuschen und verzweifle nicht an Ihm; begehre seine Liebe nicht

und gib dich nicht damit zufrieden, Ihn nicht zu lieben; spricht nicht über Ihn, um Ihn zu

24

Page 25: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

bestätigen, und neige dich nicht seiner Leugnung zu. Und hüte dich vor dem Bekenntnis

Seiner Einheit!“ (ebd.). Diese Überzeugung machte ihn zum Ketzer. Ende des Jahres 912

wurde er verhaftet und 922 hingerichtet. Er wurde verstümmelt, gekreuzigt oder gehängt und

dann enthauptet; seinen Körper verbrannte man und seine Asche warf man in den Tigris. Es

wird überliefert, wie er in seinen Fesseln tanzte und in seinem letzten Gebet das Geheimnis

der unaussprechlichen Einheit und Trennung von Mensch und Gott berührte (ebd. S. 106).

„Das Geheimnis, das im Herz ist,

Keine Predigt wird es sein –

Auf dem Galgen kannst du 's sagen.

Aber auf der Kanzel – nein!“ (ebd. S. 117)

So machte er seinen Tod zum politischen Akt von göttlicher Qualität. So sehr er von den

Orthodoxen und politische Kreisen gehasst wurde, so sehr wurde er von den Dichtern und den

nachfolgenden Sufi-Generationen geliebt und gefeiert. Seine Poesie und sein Leben, das die

Liebe als Kern des göttlichen Wesens und das Mysterium der Schöpfung feierte, machte ihn

in der ganzen islamischen Welt bekannt (vgl. ebd. S. 112).

3.1.3. Sufismus in verschiedenen Politlandschaften

In der Moderne waren die Sufis häufig in einem dialektischen Prozess der Integration und

Opposition in der jeweiligen sozio-politischen Umgebung. Es waren hauptsächlich drei

oppositionelle Kräfte, die gegen den Sufismus agierten:

„(...) the salafiyya for whom mysticism went against their puritanism and scriptualism, political reformers for

whom it went against their secularism and nationalism, and the Europeans for whom it went against their

imperialism and colonialism“ (Van Ess, 1999 S. 39).

Unter dem Einfluß der Aufklärung legitimierten viele Kolonialmächte Prozesse der

Säkularisierung, um das vermeintlich rationale Christentum zu verbreiten. Dabei wurde den

Religionen mehr Plausibilität zugeschrieben, die sich von magischen und ekstatischen Praxen

distanzierten (vgl. Howell/van Bruinessen S. 4f.). Im Folgenden möchte ich einige Beispiele

für die unterschiedlichen Positionierungen der Sufis in den verschiedenen politischen

Kontexten diverser Ländern skizzieren.

In Algerien koalierten die ottomanischen Herrscher mit den Juristen und der Orthodoxie

gegen die 'maraboutic tribes', die starken, lokalen Sufi-Gemeinschaften. Ab Mitte der 17.

Jahrhunderts wurden sie stärker bekämpft. Im Kontext wachsender ökonomischer wurden die

Sufis in der zweiten Hälfte der 18. Jahrhunderts massiv unterdrückt. Die konservative

Quasimi- und Wahabiorthodoxie verfolgte Sufi-Orden, vernichtete ihre Grabstätten, nahm

Sheikhs gefangen und verbrannte ihre Schriften (vgl. De Jong/Radtke S. 5f).

25

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Im Gegensatz dazu haben die Sufis im Jemen die ottomanischen Invasoren willkommen

geheißen und gemeinsam mit ihnen die 'Qasimi Imamate' bekämpft (ebd.). Nach der

Niederwerfung des Mahdireiches 1898 begrüßten viele Sufis im Sudan die anglo-ägyptischen

Invasoren, die es ihnen ermöglichten, ihre religiösen Praxen wieder auszuüben (vgl. ebd. S.

8f.). Im Senegal dagegen wurde die salafistische Organisation der Cheik Touré an der

Kolonialregierung beteiligt, um die Macht der eher säkularen Sufi 'Marabaouts' zu relativieren

(vgl. ebd. S. 10).

Im Indien der Mogul-Ära wurde der Sufismus unterdrückt, da sich die Königsmacht durch die

spirituelle Autorität der Mystiker gefährdet sah. Manchmal wurden aber auch Allianzen mit

den Sufis eingegangen. So ging König Akhbar im 16. Jahrhundert eine Verbindung mit der

'Chistiya'-Sufi-Bruderschaft ein, um seine Macht zu konsolidieren (vgl. ebd S. 11).

In Südafrika waren die Sufis im Kampf gegen die Apartheid aktiv. Dagegen wurden ihren

Gegnern, der südafrikanische Ulama und der Tabligh-Bewegung, mit einer (streng

orthodoxen) Wahabi-Orientierung vorgeworfen, die rassistische Politik der Regierung zu

unterstützen (vgl. ebd. S. 13).

In Ägypten wurden die Sufis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Muslim-

Bruderschaften unterdrückt. Als diese 1955 durch die neue sozialistische Regierung verboten

wurden, sind viele Sufi-Gemeinschaften wieder aktiv geworden (vgl. ebd. S. 18).

3.1.4. Sufismus in postmodernen Topoi

Bei der postmodernen Entwicklung des Sufismus wird ein breites Spektrum diverser Praxen,

Organisationsformen und theoretischer Bezugspunkte sichtbar:

„there is a diverse range of sufi cults that combine universalistic orientation with particularistic orientation to a

specific site or holy person . (…) A coexistence of local and global communities in the same organisations to

create their own 'sacred' topographies and flows of goods and people“ (Werbner 2007 S. 199).

Dabei überkreuzen sich „popular rural religiosity, sober urban-based scripturalism and new

age spiritualism in the Sufimileu“. Allen Religiositäten ist aber eine „heightened awareness of

the Divine“ gemeinsam (Howell/van Bruinessen S. 6). Außerdem sind auch „the relationship

between a guide and a seeker, bonds of solidarity among fellow seekers or the community“

wichtige gemeinsame Elemente (ebd. S. 17). Die Tendenz der Pluralität und Koexistenz

verläuft nicht ohne Widersprüche und Konflikte. So wird in Bezug auf die Meister-Schüler-

Beziehung berichtet, dass sie nicht in einer linearen Entwicklung von 'directing sheikh to the

mediating sheikh' eingeordnet werden kann (vgl. Werbner S. 198). Van Ess macht darauf

aufmerksam, dass

26

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„the sufis themselves looked at things in a different way. Where we see power structures, they talked about

rabita, the close connection between the disciple and his shaykh, the urge to become identical with him; (…)

where we see only political influence and the will to dominate, they talked about tasarruf, the ability of the

shaykh to dispose over other people, and what they meant by this was frequently the magical side of his

personality, his power to bewitch his enemies“ (Van Ess S. 40f.).

Trotzdem taucht auch, meistens von Intellektuellen, Kritik am 'Pirism' auf: eine übertriebene

Verehrung des geistigen Führers bzw. seine absolute Herrschaft über Gefolgsleute (vgl. Sölle).

Auch in postmodernen Kontexten bleibt der spirituelle Mentor oder 'Guide' eine wichtige

Figur. „The spiritual Director or Shaykh, Murshid or Pir is credited with great piety and an

especially powerful sense of God's presence. (…) His own Tutelage under his master in a line

of spiritual teaching (Silsila) justify his role as a guide“ (Howell/van Bruinessen S. 6).

Die Kräfte der Globalisierung haben die Gestaltung von Sufi-Gemeinschaften beeinflusst.

Moderne Kommunikationsmitteln und die Entstehung von verschiedenen Diasporas haben die

transnationale Verbundenheit zwischen communities gefördert (vgl. Voll S. 289ff.). Die Idee

der globalen Familie gewinnt konkrete Züge, wenn Menschen mit einer ähnlichen spirituellen

Gesinnung über politische und nationale Grenzen hinweg sich zusammenfinden. Es entstehen

'glokale' communities: „Even for those whose participation remains local, membership of a

transnational spiritual organisation, with more or less common perspectives and practices

across space, creates a sense of global belonging or family“ (Genn, 2007 S. 275).

Die Innovationen der sozialen Formen verbinden sowohl defensive Tendenzen, die

'Particularism' verteidigen, als auch liberale und inclusive Neigungen. Werbner spricht hier

von „elective forms of modern association“. Beispiele hierfür sind: „Pilgrimage and regional

cults are social formations going beyond territorial community fostering relations of amity or

communitas among community of strangers“ (Werbner S. 196). Diese neuen und elektiven

Formen der 'Social Intimacy' trotzen manchmal sowohl säkularen als auch traditionellen

Denkweisen. So wird z.B in westlichen Kontexten die unterlegene Rolle der Frau in den

communities verändert, aber die Mentor-Schüler-Beziehungsstruktur beibehalten. Werbner

berichtet von einer Sufi-Gemeinschaft in England, die von einer Frau als spiritueller

Mentorin21 geleitet wird. Dort verabreden sich Mitglieder aus verschiedenen Generationen

und kulturellen Hintergründen zum Beten, Meditieren und zusammen Kochen. „There was a

good deal of gossip and joking during meetings. (…) The group was as much a social club as

a religious association“ (Werbner S. 201). Howell und Van Bruissen berichten von einem

neuen Sufi-Heiligen in Mali, der ziemlich heterodoxe Ansichten vertritt, „embracing a

syncretism that combines Islam, Christianity and african religious elements and appears to be

inspired by a pan-african nationalism“ (Howell/van Bruinessen S. 14). Weiterhin machen sie

21 Baji Saeda, in: Werbner S. 200ff.

27

Page 28: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

aufmerksam auf Indonesien, wo „urbanites have formed new kinds of sufi networks linking

not only established sufi orders but also spiritual service providers (mosque based adult

education, alternative health groups, spiritual psychology groups) drawing on the global

spiritual networks“ (ebd. S. 16).

Allerdings sind diese neuen sozialen Formen nicht ganz immun gegenüber sozio-politischen

Konflikten. Immer wieder treten auch hier Spannungen zwischen orthodoxen und

heterodoxen Kräften auf. So wird auch von 'Neosufismus' gesprochen, bei dem manche

Gemeinschaften eine militante Ausrichtung haben, sich am Propheten und der Sharia

orientieren (vgl. ebd. S.10). Diese communities dienen manchmal als Plattform für die

Mobilisierung politischen Widerstands: „In Chechnya, for example the sufi orders have been

identified both with opposition to the Kremlin and as vehicles for pro-russian

rapproachment“. Howell und van Bruinessen machen auf die Widersprüche aufmerksam:

„The militancy of Sufi Orders in late colonial and contemporary contexts contrasts sharply

with their image of 'peaceloving, tolerant, and inclusivist' attitudes" (ebd.).

3.1.5. International Sufi Movement

Als Beispiel einer postmodernen Sufi-Bewegung möchte ich kurz das von Hazrat Inayat Khan

(1882-1927) gegründete International Sufi Movement skizzieren. Der aus Indien stammende

Inayat Khan spielte eine wichtige Rolle beim Export des Sufismus in den Westen zwischen

1910 und 1925. Er berief sich auf die Chistiya-Tradition, die aus Afghanistan im 12.

Jahrhundert nach Indien wanderte. In Indien entwickelte sich diese besondere Sufi-Tradition

in Zusammenhang mit anderen hinduistischen 'Bhakti'-Philosophien,22die zum Teil

pluralistische, aber auch universalistische Tendenzen hatten. Einerseits verkörperte Inayat

Khan traditionelle Attribute, andererseits wurde er auch im kolonialen Indien von westlichem

Gedankengut beeinflusst.

So schrieb er schon 1914, dass „women will lead humanity on to a higher evolution“ (Genn S.

262). Inayat Khan legte Wert auf die Entkopplung der Mystik von Dogmen und betrachtete

das Leben und die Menschen an sich als göttlich. Dieser persönliche Hintergrund des

Gründers findet sich in der liberale Philosophie sowie in der Praxis der Bewegung wieder. Er

legte viel Wert auf Praxen wie 'Sama' – das Hinhören von Dichtung mit Musik und Tanz –

und 'Universal Worship Service' – ein Gebetsritual, bei dem Texte aus verschiedenen

Konfessionen gelesen wurden (vgl. Genn S. 262). Diese Bewegung weist widersprüchliche

Entwicklungen auf. Einerseits gibt es die Überarbeitung traditioneller Glaubenselemente und

22 The term bhakti is defined as “devotion” or passionate love for the Divine. Moksha or liberation from rebirthfor the followers of the Bhakti tradition in Hinduism was not in the following of rules, regulations or societal ordering, it was through simple devotion to the Divine.

28

Page 29: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Organisationsstrukturen, um in neuen lokalen Kontexten anschlussfähiger zu sein.

Andererseits werden bestimmte Traditionen (z.B. die Mentor-Schüler.Beziehung), die

überholt erscheinen, weiter beibehalten (vgl. ebd. S. 260). Diese Entwicklungen sind sowohl

von pragmatischen als auch von idealistischen Motivationen geprägt. So bemerkt Genn: „The

combination in this Sufi order of a modern formal transnational voluntary organisation with a

charismatic monarchial model of spiritual authority creates a dualism of principle that has

never been entirely resolved“ (ebd. S. 267). Außerdem werden diese Widersprüche im

Kontext postmoderner Fragmentation interessant. „The model of the wise spiritual teacher

and loving guide retains great appeal (…) In that the relationship offers a contrast to the

emphasis in modern society on individualism and external achievement, and to the

fragmentation and transitoriness of many relationships, which may also be partly a response

to contemporary social conditions“ (ebd. S. 273). Besonders in westlichen Kontexten werden

die kulturellen Spannungen zwischen spiritueller Hierarchie und Anleitung durch moderne

Kommunikationsmittel schneller sichtbar. Um ihre Aufspaltung zu vermeiden, versucht diese

Bewegung die Balance zwischen der eigenen Werte-Integrität und der Orientierung an den

Marktbedingungen zu bewahren (vgl. ebd. S. 264).

3.1.6. Zusammenfassung

Die obengenannten Aspekte des Sufismus können im Hinblick auf die zuvor gestellten

theoretischen Kategorien folgendermaßen interpretiert bzw. zusammengefasst werden:

Die Enteignung von moralischer Empörung bei den Asketen als eine Internalisierung von

gesellschaftlichen Konflikten kann meines Erachtens nicht direkt auf die Askese-Praxis des

vor-modernen Sufismus übertragen werden, weil die Sufis sich bewusst als eine

Gegenbewegung zu materialistischem Denken und Lebensweisen verstanden haben und somit

eher dieses Paradigma in Frage stellten. Sie gingen Konflikte ein mit der Orthodoxie, aber

auch mit den politischen Mächten und verstörten und irritierten deren legalistischen Anspruch

auf Gehorsam. Leiden und Tod können im Sufismus nicht als Zeichen der Kapitulation vor

ungerechten Verhältnissen verstanden werden, sondern eher mit dem 'mystischen Trotz' (vgl.

Sölle) oder dem 'Stählen des Sinns' (vgl. Moore), wie das Beispiel von Al Hallaj zeigt. Sein

Spruch 'Ana'l Haqq' (Ich bin Gott bzw. die schöpferische Wahrheit) kann als ein Höhepunkt

moralischer Autonomie interpretiert werden. Die Wahrheit bzw. die Wahrhaftigkeit ist hier

nicht auf Eindeutigkeit beschränkt, sondern mit den schöpferischen bzw. kreativen

Möglichkeiten des 'Seins' freigegeben. Sie entsteht nicht aus einer moralischen Überhöhung

gegenüber anderen, sondern aus der Realisierung der eigenen Göttlichkeit, wenn das in den

gesellschaftlichen Verhältnissen verstrickte 'Ich' durch Fana ('Entwerden') aufgegeben wird.

29

Page 30: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Die Sufis zeigten moralische Erfindungsgabe, indem sie das Verhältnis zu Gott, die

Bedeutung von Liebe oder Erkenntnis neu definierten. Sie hatten moralischen Mut und

Autonomie, um dieses Liebesverhältnis durch ekstatische Erfahrungen und Ausdrucksformen

auszuleben und zu legitimieren. In seinen Grundlegungen kann Sufismus als eine

widerstandsfähige Mystik verstanden werden, die sich bewusst in Distanz zu den weltlichen

Verhältnissen positioniert und sie in Frage stellt.

Die Untersuchung über die Einbettung des Sufismus in moderne politische Kontexte gibt

Hinweise darauf, dass Sufismus sich häufig als Opposition zu den puritanischen und

orthodoxen Machtinstanzen positioniert hat. Allgemein kann gesagt werden, dass die

Entwicklung des Sufismus in politischen Kontexten nicht außerhalb von Machtinteressen des

Staates stattgefunden hat und die Sufis sich situativ ihren eigenen Interessen entsprechend

positioniert haben.

Im Hinblick auf die ökonomische Kontextualisierung kann Sufismus selten als 'Prosperity

Religion' gesehen werden, da es in seinen Grundsätzen die Akkumulation von Besitztümern

ablehnt. Allerdings ist es sehr wohl bedeutend in der Generierung von moralischem oder

spirituellem Kapital (Sinn des Lebens) sowie von sozialem Kapital (Generierung von sozialer

Intimität) (vgl. Berger, Ammermann, Greeley). Als spiritual service providers (z. B. in

Indonesien) können manche postmodernen Sufi-Gemeinschaften auch als Ausdruck des 'soft

capitalism' (vgl. Nigel Thrift) verstanden werden.

Die postmoderne Entwicklung des Sufismus ist geprägt von Diversität, Widersprüchen und

Koexistenz unterschiedlicher Entwicklungen. Als eine postmoderne soziale Form der Religion

ist Sufismus eher bei den 'Spiritualities of Life' zu verorten (vgl. Woodhead/Heelas).

Aufgrund der Globalisierung und der damit verbundenen Deterritorialisierung und

Dekulturalisierung sind sowohl partikulare (z. B. Pilgerkulte) als auch universale Elemente (z.

B. der Universal Worship Service) in den Netzwerken sichtbar. Die Sufis sind global vernetzt,

aber bilden auch sehr starke lokale communities. Diese communities haben moderne

Organisationsformen, verzichten aber nicht unbedingt auf traditionelle Elemente.

3.2. Die Bürgerrechtsbewegung

Douglas Rossinow untersucht in seinem Buch 'The Politics of Authenticity' die Entstehung,

Entwicklung und Verwandlung der neuen Linken (The new Left) in den USA im Kontext der

Bürgerrechtsbewegung. Diese Studie liefert interessante Hinweise über die Verbindungslinien

zwischen Religion und Protest, indem sie der Rolle der christlichen Existentialisten in der

30

Page 31: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Bürgerrechtsbewegung nachgeht. Ein paar wichtige Aspekte dieser Verbindungslinien möchte

ich im Folgenden darstellen.

3.2.1. Die alte und die neue Linke

Die neue Linke, die im Kontext der amerikanische Bürgerrechtsbewegung entstand, war ein

'melting pot' nicht nur von schwarzen und weißen Akteuren oder von Betroffenen und Nicht-

betroffenen im Hinblick auf Rassismus und Segregation.

„The new left cooperated with the christian liberals on the one hand and the 'hippies' of the counterculture with

their exploration of non western spirituality. Similarly they insisted on the irrelevance of communism and

anticommunism. They had ties to the old left (although they wanted to distance themselves from it) and to the

young people from the provinces“ (Rossinow,1998 S. 12).

Gegen Mitte der 50er sind die Klassen-Kategorien der alten Linke schwächer geworden und

es entstand die neue Linke, deren Wirkraum 'the universities and not the factories' waren (vgl.

ebd. S. 2). Unter den Akteuren der neuen Linken waren viele junge, weiße Studenten, die

selten materielle Armut gekannt hatten. Sie kritisierten die privilegierte Gesellschaft, aus der

sie stammten, für deren 'geistige Armut', die sie als eine Art Entfremdung von sich selbst

(Alienation) verstanden haben. Als ein politisches Pendant zu dieser eher psychologischen

Idee der 'Alienation' waren für sie nicht die 'Armen' wichtig, sondern die 'politically

alienated', also Menschen, die durch das politische System ausgeschlossen bzw. entfremdet

waren (ebd.). So waren die Schwarzen als Betroffene wichtiger geworden als die

Arbeiterklasse, „which had been bought off, given a seat at the table“ (ebd. S. 2). Der

politische Widerstand der Schwarzen in segregierten Universitäten und Hochschulen des

Südens war für die weißen Studenten eine Art spiritueller Auslöser. Die Affinität der Akteure

der neuen Linken zu den Schwarzen hat noch einen weiteren Hintergrund: „The young whites

grew up influenced by the subversive, transgressive romanticization of Black Americans in

mid-twentieth-century popular culture. The appeal of Jazz and Rhythm-and-blues,

jitterbugging, baseball and boxing encouraged among some whites the old idea that the

african american culture was a repository of authenticity“ (ebd. S. 15). Obwohl sie gegen

Rassismus kämpften, waren sie nicht ganz frei von rassistischem Denken im Sinne eines

positiven Rassismus.

3.2.2. Alienation and Authenticity: Das Vokabular der Existentialisten

Im Hinblick auf die Mobilisierung von Widerstand verkörperte die Idee der Alienation oder

Entfremdung einen 'Shift' von reinen materialistischen Betrachtungsweisen. Nicht nur

Menschen, die materiell betroffen waren, leisteten Widerstand, sondern Widerstand konnte

auch aufgrund eines geistigen bzw. psychologischen Entfremdungsgefühls entstehen. Da die

31

Page 32: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

privilegierten weißen Akademiker der neuen Linken weder vom sozialen noch vom

konventionellen politischen System ausgeschlossen waren, ging es um einer Art Entfremdung

von sich selbst und von Gott, wie der Theologe Paul Tillich es formulierte. Arthur Schlesinger

stellte diese Entfremdung allgemein in den Kontext der Devitalisierung der Religion – zu der

es im Rahmen der Industrialisierung und der darauffolgenden Säkularisierungsprozesse

gekommen war – und genauer in den Kontext des Kalten Krieges (vgl. Rossinow S. 3). Seiner

Meinung nach lebten die Amerikaner im Kontext des Kalten Kriegs in einem 'Age of

Anxiety', in dem politische Konflikte kalt gelegt wurden. „Broad affulence, mass

consumption, the bureaucratization of many areas of social life, and increased disengagement

from formal political participation“ führte zu einem Gefühl der „weightlessness or numbness“

(ebd. S. 5). Diese Oberflächlichkeit führte zur Entfremdung. Kam die Entfremdung durch

gesellschaftliche Entwicklungsprozesse zu Stande, so sahen die Akteure der neuen Linken in

der radikalen Veränderung ungerechter gesellschaftlicher Bedingungen die größte

Möglichkeit, sich von ihrer Entfremdung zu befreien.

Das Wiederfinden des Göttlichen in sich 'as the very ground of being' (Paul Tillich) konnte

durch den Einsatz für die schwarzen Marginalisierten, zur 'inner wholeness' oder 'authenticity'

führen. So verbanden sich in der Bürgerrechtsbewegung die Suche nach persönlicher

Authentizität mit sozialem und politischem Einsatz (vgl. ebd. S. 4f.). Die SNCC (Student

Nonviolent Coordinating Committee) und die SDS (Students for a democratic Society)23

waren führende Organisationen, die Authenzität mit Aktivismus zusammenbrachten. Sie

haben Parallelen zwischen Entfremdung und 'the estrangement of the nation into racial parts

separating blacks and whites' gefunden und setzten sich für 'racial egalitarianism' ein (vgl.

ebd. S. 6f.). So wurde christlicher Existentialismus eine wichtige Ressource und

Mobilisierungskraft für die Bürgerrechtsbewegung.

3.2.3. Paul Tillich und 'The new Being'

Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer waren wichtige Impulsgeber für die theologische

Kontextualisierung der Proteste der Studenten, die versuchten ihre spirituellen und politischen

Hoffnungen für Veränderungen zusammenzubringen.

Tillich brachte in seinen Ansichten Elemente der Psychologie und Theologie zusammen. In

seiner Vision war die Trennung zwischen dem Transzendenten und dem Immanenten

aufgehoben. Gott war für ihn der 'ground of Being', Religion sah er als die 'depth dimension

to all things in this world'. Sich dem 'Sein' hinzugeben bezeichnete er als einen religiöse Akt

(vgl. Ronssinow S. 64). Martin Luther King Jr. berief sich auf Tillich, als er sagte, dass die

23 Vgl. Howard Zinn, in: The Zinn Reader, 2009.

32

Page 33: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Bewältigung der existentiellen Entfremdung eine „ union-in-love with the ground of our

Being“24 sein wird (ebd. S. 67). Tillich sprach von einer mutigen und mitfühlenden Liebe, die

nicht nur zur spirituellen Integrität führt, sondern die Basis für die Kritik der bestehenden

Verhältnisse ist. So schrieb er: “the social consequence of love as a guide to action is justice“

(ebd.). Tillich verwies auf die 'human boundry situation' (Krisensituationen), in der der

Mensch vulnerabel ist und mit dem eigenen 'Sein' (das 'göttlich' ist) konfrontiert wird. Also

müsste der Mensch sich bewusst solchen Situationen aussetzen (z. B. den soziopolitischen

Gegebenheiten widersprechen), um sich selbst zu spüren und als 'ganz' zu erfahren.

The new Being: „To Tillich the achievement of an integrated and forceful 'personality' would

flow from our reunion with God and would go hand in hand with the achievement of

community“ (Rossinow S. 66). Nach Tillich war der moderne Mensch im Zuge der

Entzauberung der Welt in seiner Autonomie unsicher und leer geworden. Um dieser 'anxiety'

und Taubheit zu entkommen sollte der 'neue' Mensch sich bewusst den Chancen und der Last

seiner Autonomie stellen und so seine Existenz spüren, seinem Leben Bedeutung geben (vgl.

ebd. S. 64). Dies bedeutet auch, die redundant gewordene sozialen Normen, Rollen und Werte

in Frage zu stellen. In der Bürgerrechtsbewegung berief sich A. L. Kernshaw, eine wichtige

studentische Führungspersönlichkeit, auf Tillich und forderte die Studenten auf, ihre

'intellektual drowsiness' aufzugeben und 'the new being' mit einem Herz für radikale soziale

Veränderungen zu verkörpern (vgl. Rossinow S. 94). So versuchten die Studenten der neuen

Linken durch eine dissidente und radikale Demokratie, das Spirituelle, Philosophische und

Ästhetische in ihrem Leben wieder einzuführen und wahrhaftig zu sein.

3.2.4. Dietrich Bonhoeffer und die 'community of resistance'

Wo Tillich einen eher psychologischen Ansatz vertrat, stand Bonhoeffer für eine deutlich

politischere Kontextualisierung der Theologie. Seine dissidente Haltung gegen die

Nazifizierung der Kirche in Deutschland beruhte auf einer 'religionless Christianity' (vgl.

Rossinow S. 54) die archaisch und zugleich modern war. Im Unterschied zu Tillich und

anderen Existentialisten feierte er das 'coming of Age' des modernen Menschen, der autonom

war und keine göttliche Legitimation brauchte. Für ihn war die 'Entzauberung' der Welt kein

Grund zur Angst, sondern gerade darin sah er die Freiheit des Menschen, sich für Gott zu

entscheiden. Er plädierte für einen radikalen Durchbruch zu Gott, der die menschliche

Autonomie nicht verneint (vgl. ebd. S. 63). In einer sehr radikalen, direkten und

unpretenziösen Art sprach er von einem 'spiritual rebirth', in dem der Mensch sich selbst die

24 Vgl. Unio Mystica oder Ishq im Sufismus.

33

Page 34: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

kosmische Erlaubnis zu leben gibt (vgl. ebd. S. 71). Dieses Autonomie hatte auch politische

Konsequenzen. Er meinte, dass es nicht genug war, nur Mitleid mit Opfern von

Ungerechtigkeit zu haben oder Zeugen ungerechter Situationen zu sein. Der autonome

wiedergeborene Mensch müsse handeln, politisch handeln und Widerstand leisten (vgl. ebd.

S. 73). Im Hinblick auf Widerstand war ihm der Gemeinschaftsgedanke wichtig. Bonhoeffer

visualisierte Beichte als die Möglichkeit, wo Menschen in ihrer Fehlerhaftigkeit

(Entfremdung als Sünde) zu einander finden und eine Gemeinschaft werden. Er sprach von

einer „conspiratorial community of resistance“, die in der Lage war, das eigene Verstricktsein

in den Verhältnissen zu erkennen (ebd. S. 69).

Beloved Community: Die Suche nach Gemeinschaft war eines der zentralen Motive der

'politics of authenticity' der neuen Linken. Die 'Beloved Community' war nicht nur einer der

bedeutendsten Slogans der Bürgerrechtsbewegung, sondern wurde als die aktive Umsetzung

von Solidarität gelebt. Für die Akteure der neuen Linken war die Bewältigung der

Entfremdung mit der Entdeckung einer gemeinsamen menschlichen Identität und das

Zusammenfinden in einer 'community of resistance' oder Beloved Community möglich, die

gemeinsame Ziele durch kollektive Handlungen umsetzte (vgl. Rossinow S. 7). Für sie war

die Gemeinschaft eine 'creative mode of corporate existence', um soziale Formen mit

Bedeutung und Intentionalität zu erfüllen, damit sie nicht leer oder herrschaftlich werden (vgl.

ebd. S. 57). In der Vision der Beloved Community vereinten sich „Bonhoeffers command to

go to the public place with Tillichs challenge to confront the boundry situation“ (ebd. S. 84).

The Faith and Life Community an der University of Texas war ein Beispiel einer Beloved

Community. Diese community unterstützte die Meinung, dass politischer Widerstand Teil der

Suche nach Authentizität war. Sie war eine sehr lebendige Gemeinschaft, in der Dialog und

Dissens zwischen Individuen nicht nur willkommen, sondern sehr zentral waren. So glaubten

die Mitglieder, dass

„authentic, self consciously disciplined community does not swollow the individual, it rather creates the very

possibility of personhood by pushing the individual against the necessity to decide for himself. (…) The capacity

to disagree was a mark of the really close relationships that bound a true community“ (ebd. S. 58).

Die community fungierte wie ein „incubator of truly strong and autonomous persons“ (ebd. S.

82). Diese versuchten weg von Abstraktionen, Lamentierung und Selbstgefälligkeit hin zu

einer radikalen und konkreten Menschlichkeit zu finden. Dies bedeutete, politische Risiken

einzugehen, auch wenn die Erfolgsaussichten sehr klein waren, weil es der Weg zur

Authentizität war (vgl. ebd. S. 77). So waren sie die ersten, die integrierte Wohnheime für

weiße und schwarze Frauen auf dem Campus durchsetzten. Sie setzten diese Entscheidung

durch, obwohl sie finanzielle Einbußen erleiden mussten (vgl. ebd. S. 59).

34

Page 35: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

3.2.5. Der moralische Imperativ zur Radikalität

In ihrer Suche nach Authentizität haben die Akteure der neuen Linken den moralischen

Imperativ gesehen, für die Bürgerrechte der Schwarzen zu kämpfen (vgl. Rossinow S. 12).

Die Aktivistin Casey Hayden sprach im Hinblick auf den zivilen Ungehorsam gegen

Segregation von Protest als dem einzigen Weg menschlich zu bleiben:

„When an individual human being is not allowed by the legal system and the social mores of his community to

be a human being (…) Perhaps in this situation protest is the only way to maintain his humanity“ (ebd. S. 104).

So haben die Akteure der neuen Linken durch Sit-Ins, Stand-Ins und Picketing Proteste25 die

konfrontative Kraft der moralischen Idee der Würde des Menschen konkrete Gestalt gegeben

(vgl. ebd. S. 119). Dabei haben sie jegliche Form intellektuellen Konformismus abgelehnt und

riefen zu Radikalität im Denken und Handeln auf. Harvey Cox, ein Aktivist, schrieb:

“to be radical now means to refuse to accept at face value the standard interpretations of what is happening in the

world (...) without testing and applying it to life“ (ebd. S. 95).

Er kritisierte den Ideologismus der alten Linken und forderte mehr zum Experimentieren auf.

Dies beinhaltete „to view the situation of the non-western world from their perspectives“

(ebd. S. 120). So wurden z. B. gängige Vorurteile, wie der 'negro student as a trouble maker'

oder die Bezeichnung antirassistischer Proteste als kommunistisch, abgelehnt; den Russen,

Kubanern und anderen 'enemy Nations' wurde zugehört oder die Todesstrafe abgelehnt (vgl.

ebd. S. 108-110/120). Hierbei war die Betonung von konkreten Aktionen und Handlungen

sehr wichtig, weil „talk was cheap (...); something more was required if one was to act

responsibly“ (ebd. S. 127). Die Protestierenden warteten nicht auf die Erlaubnis der

Autoritäten, sondern ihre Handlungen waren selbst-legitimiert. Glenn Smiley nannte dies

'moral Judo' und zog eine Parallele zu Jesus: „Jesus meant to do the imaginative thing, the

unexpected thing, the thing that catches your enemy off balance“ (ebd. S. 125).

3.2.6. Von 'politics of authenticity' zu 'politics of identity'

Gegen Ende der 70er Jahre kam es zu einer Verwandlung von der 'politics of authenticity' zu

einer 'politics of identity'. Die neue Linke bewegte sich weg von der Idee der Revolution hin

zu Liberalismus und Reformismus. Viele Aktivisten der neuen Linken haben ihre Autonomie

und Selbst-Legitimation ausgelebt, indem sie ihre eigenen Institutionen und communities

gegründet haben. Dies führte eher zu einer Fragmentierung des Widerstandspotentials und

dessen Absorbierung in den sozialen Strukturen. „At best they nutured a small subculture

rather than bring about largescale social change“ (Rossinow S. 18). Die Ideen der Radikalität

sozialer Veränderung ließen nach, als die Aktivisten sich mehr und mehr lokaler 'issue-

25 Verschiedene Protestaktionen des zivilen Ungehorsam richteten sich gegen Segregation in Restaurants, Verkehrsmitteln, Theatern, Bibliotheken und anderen öffentlichen Orten.

35

Page 36: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

specific politics' zuwandten. „They continued to preach revolution and practice reform“ (ebd.

S. 336). Rossinow macht diesbezüglich aufmerksam auf die dialektische Natur von Protest

und Gesellschaft bzw. Struktur und Dissens. Demnach protestieren politische Bewegungen

gegen die sozialen Strukturen, die die Proteste produzieren bzw. ohne welche die Proteste

nicht möglich wären (vgl. ebd. S. 20). Die universalistischen Kräfte der

Bürgerrechtsbewegung konnten den pluralistischen Kräften der Identitätspolitik nicht mehr

standhalten, bei der die Suche nach Authentizität in vorgegebenen relativ festen 'chanels of

fellowship' weiter ging. Auch die Einbettung in die Wissenschaften führte zu einer Diffusion

des Widerstandspotentials. So war das amerikanische Utopie der universale Nation mit einer

transnationalen Identität auf eine pluralistische 'workaday understanding of society' reduziert

(vgl. ebd. S. 342f.).

3.2.7. Zusammenfassung

Die vorangegangene Beschreibung einige Aspekte der Bürgerrechtsbewegung kann bezüglich

der theoretischen Kategorien folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Entstehung und

Aneignung der moralischen Empörung war von zentraler Bedeutung hinsichtlich der

soziopolitischen Veränderung der Segregationspraxen. Zum einen war die Bewegung geprägt

von verschiedenen Bündnissen, die eine wichtige Bedingung waren für die Aneignung von

Widerstand (vgl. Moore). Die neue Linke war ein Zusammenkommen von Schwarzen und

Weißen, christlichen Existentialisten und auch Counterculture Hippies. Durch Bündnisse mit

den privilegierten Bevölkerungsanteilen wurde eine breite Basis für Widerstandsnetzwerke

geschaffen. Zum anderen waren es aber auch einzelne Leitfiguren, die mit ihrer Impulsgebung

und Leitvisionen die Bewegung bereicherten. Ideen wie Entfremdung und die Suche nach

Authentizität lieferten die moralische Legitimation für Widerstand gegen die ungerechten

Verhältnisse der Segregation. Aktionen wie Sit-ins oder Stand-ins und die Picketing Proteste

können als ein Ausdruck moralischen Muts und Autonomie der Akteure gesehen werden. Die

moralische Erfindungsgabe von theologischen Leitfiguren wie King, Bonhoeffer, Tillich und

Bultmann lieferten der Bewegung sowohl moralisches Kapital in Form von Ideen, wie z. B.

the New Being (vgl. Tillich), als auch soziales Kapital in Form von Visionen, wie Beloved

Community oder Communities of Resistance (vgl. Bonhoeffer). Bezüglich der sozialen Form

der Religion ist die Bewegung eher bei den 'Religion of Humanities' anzusiedeln, die das

'Humane' als verbindendes Element betonen. Die Kritik einer Kirche der Mächtigen kann als

eine Kritik gegen Christentum als 'Religion of Difference' verstanden werden. Die schwarzen

Kirchen dagegen lieferten materielle Ressourcen (Räumlichkeiten, Gelder), aber auch

moralische Unterstützung, z. B. Prayer Services und Gottesdienste, die zum politischen

36

Page 37: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Handeln aufriefen. Im Kontext des Kalten Kriegs schuf diese Bewegung für privilegierte

weiße Studenten eine Insel der Sinnhaftigkeit ihrer Existenz. Insofern kann es auch als ein

'Stählen des Sinns' gesehen werden, wie Moore es beschreibt. Bei dieser Bewegung mündete

die moralisch-psychologische 'Arbeit an sich Selbst' (Authentizität) in politisches Handeln

gegen unterdrückende Machtverhältnisse. Die Aneignung der Authentizität angesichts der

Entfremdung im Kontext der Prozesse der Säkularisierung weist auf eine Art 'Sakralisierung'

von public space hin (vgl. Woodhead/Heelas). Der intersubjektive Charakter dieser Bewegung

zeigt die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit der Akteure (vgl. kritische Psychologie), die

ihre Lebenssituation durch die Veränderung der gesellschaftlichen Situation herbeizuführen.

Das Format des gewaltlosen zivilen Ungehorsams der Bewegung war nicht nur Widerstand

gegen den amerikanischen Staat, sondern gegen die Geschichte des Rassismus als ein

Herrschaftssystem. Hierbei diente die Religiosität der christlichen Existentialisten als auch der

pantheistischen Counterculture Hippies als eine Ressource (materiell sowie moralisch) für die

soziale Veränderung. Aber indem sie ihren sozialen Einsatz für die Schwarzen mit der

Aufhebung ihre eigenen 'Alienation' oder Entfremdung verknüpft haben, waren die Akteure

der neuen Linken nicht ganz frei von utilitaristischen Motiven. Dies war allerdings nicht mit

einem moralischen Überlegenheitsgefühl, sondern mit einer moralischen Vulnerabilität

verbunden und hatte so gesehen mehr mit Solidarität als 'Charity' zu tun. Die Diffusion der

neuen Linken gegen Ende der 70er in Richtung der Identitätspolitik koinzidiert mit den

neoliberalen Entwicklungen der achtziger Jahre, aber auch mit der Schwächung des

moralischen Imperativ zur Radikalität, der als verbindendes Element in den Hochzeiten der

Bewegung diente.

3.3. Die 'Occupy'-Bewegung

Die 'Occupy'-Bewegung begann im September 2011 im Zuccotti Park New York, mit 'Occupy

Wall Street' wurde sie bekannt, inzwischen hat sie sich zu einer der bedeutendsten

transnationalen Bewegungen gegen das kapitalistische Herrschaftssystemen entwickelt. Mit

dem berühmten Slogan 'We are the 99%' hat sie sich nicht nur den sozialen Raum für Protest

wieder angeeignet, sondern hat das 'Gewissen' Amerikas neu besetzt (vgl. Chomsky 2012 S.

9). Insofern bietet diese Bewegung ein interessantes Feld für die Betrachtung des

Verhältnisses zwischen Religion und Protest im Hinblick auf soziale Veränderung. In dem

Buch 'Occupy Spirituality' haben sich der junge Aktivist Adam Bucko und der radikale

37

Page 38: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Theologe Matthew Fox über dieses Verhältnis in der Occupy-Bewegung ausgetauscht. Im

Folgenden stelle ich ein paar Impulse aus diesem intergenerationellen Dialog dar, um diese

Verbindungslinien zu eruieren.

Die ursprüngliche Idee dieser Bewegung war es, 'public space' oder Orte öffentlichen Lebens,

die als kapitalistische Herrschaftsräume fungierten (z.B. die Wall Street) zu erobern und sie

als Räume des Protests, demokratischer und gewaltloser Aktionen des zivilen Ungehorsams

neu zu besetzen. Die Proteste des Arabischen Frühlings (z. B. auf dem Tahrir Platz in

Ägypten), bei denen viele Bürger ihre politischen Rechte wieder geltend zu machen

versuchten, inspirierten die Occupy-Bewegung. Diese Wiederaneignung des public space ging

mit einer Art materieller und ideeller Insolvenz einher. Nach langen Kriegsphasen (z. B. die

Kriege am Golf, in Afghanistan und der 'Krieg gegen den Terror'), stellte sich ein tiefes

Mißtrauen gegen die politischen Institutionen und Instrumente ein, deren Willen und

Fähigkeit, nötige Änderungen herbeizuführen, bezweifelt wurde. Die Occupy-Bewegung

versuchte, 'public space' als einen Raum der Veränderung zu politisieren:

„the occupy movement sent a worldwide signal that young people are sickened by the bankruptcy and terrible

inequality of the capitalist dream of endless growth“ (Harvey, in: Bucko/Fox S. XV). Greg Ruggiero beschreibt

die Leitvision von Occupy folgendermaßen: „In no rush to produce leaders or to issue a closed set of demands,

Occupy embodies a vision of democracy that is fundamentally antagonistic to the management of society as a

corporate-controlled space that funds a political system“ (Chomsky S. 15/16).

Bucko und Fox sehen diese Besetzung des public space vor allem als eine Erschaffung des

'sacred space' in den moralischen Vorstellungen der Akteure dieser Proteste, die sowohl auf

einer politischen als auch auf einer spirituellen Suche sind (vgl. Bucko/Fox S. XXVI). Bucko

beschrieb Zuccotti Park folgendermaßen: „This is our new holy ground, church, temple,

mosque, synagogue. God is where moral courage is!“ (Bucko/Fox, 2013 S. 180). Es wird von

einem 'Shift in consciousness' gesprochen. „Perhaps the movement's most radical message is

its incitement to change ourselves, individually, in the workplace and socially“ (Chomsky S.

16). So verkörpert die Occupy-Bewegung für Bucko und Fox das Zusammenkommen von

'radical spirituality' (eine Spiritualität, die politisch ist) und 'soul activism' (eine Politisierung,

die spirituell ist). Darauf möchte ich als nächstes eingehen.

3.3.1. Radical Spirituality

„The spirituality my generation is interested in is less compartmentalised than that of our parents generation. We

want our work and our families and our spiritual practice to be one and the same.“ V.H.K. Female

„I think we are hungry for something that encourages questioning, curiosity, depth and meaning. Our generation

has the opportunity to redefine spirituality as something that is truely healthy and inclusive of things like art,

38

Page 39: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

science and having fun! E.B. Male 30

„We tend to use numerous methods to deepen spiritual experience, including nature, yoga, meditation, consious

community, art, and activism (....) Because it is sourced from our personal experience, we don't feel pressured or

compelled to conform to a specific teaching or institution.“ C.C. Female 35

„We are an intra-spiritual generation. I, for example, consider myself to be part of Christianity, Universalism,

earth-based traditions, Yoga and Sufism. I, like many of my generation, like to mix and match my spirituality.“

K.R. Female 27

„To me the spirituality of my generation is about following an instinct, an impulse, which arises from deep

inside. It requires a constant fidelity to the relationship aspect of the universe, or the friendship aspect of God.

(…) There is an openness to the movement of the spirit which leaves all of life exposed to its breath.“ R.M. Male

(Bucko/Fox S. 17-19)

Die oben zitierten Aussagen von Akteuren der Occupy-Proteste, die eher ihre 'Sprititualität'

als ihre konfessionelle Zugehörigkeit betonen, heben den postmodernen Charakter dieser

Bewegung hervor: „the first characteristic of this new spirituality is that it is deeply

ecumenical, interspiritual and post-traditional. (…) A second point is that this new spirituality

is contemplative and experienced based. It starts from life rather than concepts. Nonetheless,

concepts are celebrated as tools to connect the dots and deepen the experience“ (Bucko/Fox

S. 21/23). Außerdem wird die Sehnsucht oder die Suche nach einer gelebten Spiritualität

deutlich, die im Alltag eingebettet ist. So hat Kunst oder Essen oder Sexualität genau so mit

Spiritualität zu tun, wie politischer Widerstand. Es findet eher ein 'insourcing' als 'outsourcing'

der Spiritualität statt. Äußere Autoritäten werden in Frage gestellt und die eigene Erfahrung

als Quelle sowie als die relevanteste Legitimationsinstanz26 betont: „a beautiful shift from

relying on institutions to relying on your own inner teacher, and then living from there in a

way that is uniquely your own“ (ebd. S. 214). Die Occupy-Akteure versuchen, der

'Fragmentierung ihres Selbst' durch eine organische Spiritualität entgegen zu wirken. Dies

bedeutet auch den Beziehungsaspekt zu anderen in dieser Erfahrung mit einzubeziehen.

Außerdem werden pluralistische Tendenzen sichtbar, die durch Inklusivität und einen hohen

Grad an Autonomie gekennzeichnet sind.

Matthew Fox spricht von einer 'Creation Spirituality', in der das Göttliche durch vier Wege

zugänglich wird: durch 1) Via Positva: in the awe, wonder and mystery of nature and of all

beings; 2) Via Negativa: in darkness and nothingness, in the silence and emptying, in the

letting go and letting be; 3) Via Creativa: in cocreation with God, in our imaginative output;

4)Via transformativa: in the relief of suffering, in the combating of injustice, in the struggle

for homeostasis (vgl. ebd. S. 23f.). Die 'Creation Spirituality' kommt zu einem 'New

Monasticism', in dem die klassischen monastischen Gelübde neu definiert werden: So wird

26 Vgl. Sufismus.

39

Page 40: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

die 'Armut' mit Nachhaltigkeit, der 'Gehorsam' mit der Versprechung demokratischer

Arbeitsweisen und die 'Enthaltsamkeit' mit verantwortlicher Sexualität und Respekt für

sexuelle Diversität gleichgesetzt (vgl. ebd. S. 201-203).

3.3.2. Soul Activism

Bucko und Fox sehen in Occupy eine leise und langfristige Revolution. „Revolutions will

come and go. Movements will change names and forms. But what is emerging in people's

hearts will continue. Most likely it will continue quietly, in small communities, among

friends, mostly unacknowledged by the dominant media“ (Bucko/Fox S. XXIII). Diese Art

politischer Einsatz oder Aktivismus beinhaltet eine spirituelle oder moralische

Untermauerung, die sich deutlich von Formen des Automatismus, heroischem 'Aktionismus'

und 'feel good activism' abgrenzt.

„One can become a cause junkie – one can make one's whole life social activism and leave no room for the soul,

no room for the mystical juice that, first of all, is the very goal of social justice. The goal of social justice is that

the whole community can live life fully“ (ebd. S. 25).

Auch politische Arbeit wird im Hinblick auf eine Definition gesehen, in der Arbeit nicht nur

instrumentell, sondern eher als eine Ausdrucksmöglichkeit des Seins begriffen wird. So

führen Bucko und Fox den interessanten Unterschied zwischen 'warrior' und 'soldier' ein: „a

warrior as distinct from a soldier, has an interior life and undergoes practices that feed one's

deepest level of being, not just the compulsion to act“ (ebd. S. 29). Diese Art Akteure oder

'spiritual warriors' haben nicht nur den Mut ins Gefängnis zu gehen, wenn es sein muss, um

einem ungerechten und gewalttätigen System zu widerstehen, sondern sie können die

spirituellen Vibrationen eines historischen Moments auffangen und die moralische

Imagination der Menschen aktivieren (vgl. ebd. S. XX).

3.3.3. Spiritual Democracy

Spiritual Democracy bezeichnet in der Occupy-Bewegung das Zusammenkommen von

'radical spirituality' und 'soul activism'. Es verkörpert die alte Verbindung zwischen Mystik

und Prophetie. Bucko und Fox berufen sich auf Walt Whitman, den berühmten

amerikanischen Dichter der Free Verse-Tradition27, der den Begriff 'Spiritual Democracy' als

eine Demokratisierung der Religion oder der spirituellen Erfahrung eingeführt hat (vgl.

Bucko/Fox S. XXVI). Im Gegensatz zur protestantischen Ethik der 'Auserwählten' betont

Spiritual Democracy, dass „grace itself is democratic (...), that grace is available to everybody

not just to those who are preening at the pinnacle of imperial success, whether financial or

27 Free verse: free verse is a way to achieve unification of body, soul, and spirit through writing. it does not follow a rigid form that restricts the imagination“ (Bucko/Fox S. 212/213).

40

Page 41: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

political or military or religious. So it is definitely a deconstruction of hierarchy“ (Bucko/Fox

S. 218). „Spiritual democracy incorporates the wisdom (…) that is not just about a secular

political shift in power. It is a spiritual insight“ (ebd. S. 32). Pancho Ramos Stierle, einer der

Aktivisten, der in Occupy Oakland während eine Meditation festgenommen wurde, meinte:

„It is time for the spiritual people to get active and the activist people to get spiritual, so that

we can have a total revolution of the human spirit“ (ebd. S. XXVII). Sie beinhaltet einen

Prozess der 'Cocreation' in der Gemeinschaft. Ein paar wichtige Elemente der 'Spiritual

Democracy' sind:

Moral Outrage: „First you have to get mad. (…) Getting mad is what prophets do, Gandhi

was mad and King was mad and Jesus was mad; anger has its place. But it needs direction, it

needs contours. Moral outrage is and always has been a light that sets fire to social change.

But it takes discipline, such as the discipline the civil rights movement instilled in its

nonviolent practices. It takes spirituality“ (Bucko/Fox S. XXV). In Spiritual Democracy

verpufft die moralische Empörung nicht mehr, sondern wird durch kontemplative Praxen

gebündelt und in Handlung umgesetzt. Bucko und Fox beschreiben Aussprüche, die auf

Plakaten der Akteure der Occupy-Proteste gestanden haben:

„There is an elderly women who looks like she could be the grandmother of any of these kids. Her sign says, 'I'm

87 and mad as hell'“.

„There is one kid holding a sign that says, 'That we're young only means we have the most to lose by standing

idle'.“

„I won't believe corporations are people until the state of Texas executes one.“

„Sorry for the inconvenience. We are trying to change the world“

„If voting could change anything it would be illegal.“ Female protestor, Occupy Wall Street. (ebd. S. 4f./180)

Ein Ausdruck dieser moralischen Empörung mündete in der subversiven Idee, öffentliche

Beichtzeremonien vor Institutionen der Sozialen Arbeit zu halten.

„Others who are connected to the shelter system, are talking about organising homeless youths and holding

public ceremonies of forgiveness in front of some of the social service organisations and shelters that claim to be

solving homelessness, but instead are dehumannizing the people they serve. By publicly forgiving those who

dehumanize them on a daily basis, they hope to awaken the humanity of the people who run those organisations

and bring it to the forefront of social services and life at large“ (ebd. S. 181).

Moral authority: Die Frage der Legitimationsinstanzen für Spiritualität sowie Aktivismus

werden in der Occupy-Bewegung deutlich: „In the west, seminaries have sold their souls, I

think to the academic system, which is throughly polluted and which includes a distinct

resistance to mysticism, to experience, to spirituality. (…) And they have sold their soul to

41

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these accrediting-body institutions, which are all about numbers. (…) Who accredits the

accrediting bodies?“ (Bucko/Fox S. 155/156). Im Gegensatz zu der wissenschaftlichen

Legitimation wird in der Occupy-Bewegung die moralische Autorität der Gerechtigkeit und

ihre Selbstvalidierung anerkannt. Bucko spricht von der moralischen Kraft:

„I felt there a certain kind of energy, a kind of spiritual and moral power.(...) I remember marching the streets

and looking around at the bankers and corporate executives standing there in their suits, watching us. I saw that

they too were feeling this energy. They could see that this was not just another dress-up game of angry and

frustrated college students. It was a manifestation of moral authority that was here to change things. (...) This

moral power that is felt in the movement is those kid's spiritual teacher. They are getting a direct transmission

from the entity of justice that is emerging in their midst“ (ebd. S. 9/14).

The concept of a Person: Die Occupy-Bewegung verkörpert Widerstand gegen die

kapitalistischen Konzeptionen von 'personhood'. Chomsky beschreibt, wie die Gesetzte der

Vereinigten Staaten auch historisch darüber verfügten, welchen Menschen der Status von

'Person' eingeräumt wurde. So waren die Afro-Amerikaner bis weit in die 60er Jahre keine

vollwertigen Personen. Nachdem Segregation mindestens gesetzlich verboten war, kamen

andere Strategien zum Einsatz, z. B. die Kriminalisierung von Schwarzen oder die

Ausbeutung von Hispanics (vgl. Chomsky S. 41). Im Kontext der Neoliberalisierung wurde

die Konzeption der Person wieder in zwei Weisen verändert: „one way was to broaden it to

include corporations, legal fictions established and sustained by the state. (...) It was also

narrowed to exclude undocumented immigrants. They had to be excluded from the category

of persons“ (ebd. S. 41/46). Also wurde einerseits realen Menschen der Status von Person

aberkannt und gleichzeitig nicht realen Firmen der Status von Person verliehen. Die Akteure

der Occupy-Bewegung versuchten, Widerstand gegen diese Konzeption der personhood zu

mobilisieren. So wurde die New York city council resolution 1172 ins Leben gerufen. Diese

Resolution ruft auf, 'corporate personhood' abzulehnen, zwischen Menschen und

Managements zu unterscheiden und diesbezüglich die amerikanische Verfassung in Richtung

eines permanenten Verbots zu verändern (vgl. ebd. S. 13).

Spiritual leadership: In der Occupy-Bewegung wird von 'mutual mentoring' gesprochen:

„the more I reach to my brothers and sisters, the more i realize that everyone is my mentor

and I theirs. We share a mutual mentorship with one another.“ R.P. Male 32 (Bucko/Fox S.

150). Dies symbolisiert eine Dehiarchisierung in den Konzepten der Führung. Fox spricht hier

von einem Shift von den „hierarchial and top-down dynamics to circle dynamics“, in der jeder

Führende und Geführte sein kann. „When leaders show up with ideas without paying attention

to what is trying to be born there, they simply miss the mark, they miss the evolutionary

42

Page 43: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

possibility. (…) This is not the time for top down management. This is not the time for

monologue. It is the time for dialogue“ (ebd. S. 13). Die Führungskultur der Occupy-

Bewegung ist inter-generationell. „Elders are not so much recognised for their titles, résumés

or fame, but rather their ability to relate to the younger generation from their lived

experience“ (ebd. S. 31). Chomsky beschreibt diese Haltung folgendermaßen: „not just telling

people „here's what you should believe, but learning from them“ (Chomsky S. 51). Bucko und

Fox sprechen von 'servant leaders' in der Occupy-Bewegung: „Bouyant and uplifting,

relational and collective rather than insular and exclusive, these servant leaders are formenting

a consciousness movement and beloved community (...) working towards social justice“

(Bucko/Fox S. 228).

Bucko kritisiert auch die spirituelle Führung, die sich vor politischer Positionierung scheut:

„I decided to peek on Twitter to see what kind of messages our spiritual leaders were sending to the world. Were

they standing up in solidarity with the youth as the Egyptian secret police brutalised them in Tahrir Square? (…)

What I found disgusted me. They were pushing books on „spiritual weight loss“, „miracles of manifesting

wealth“ (...) It was capitalism at its worst.(...) How are these spiritual leaders any different from Wall Street

executives?“ (Bucko/Fox S. 12).

Global Community: „the most exciting aspect of the Occupy movement is the construction

of the associations, bonds, linkages and networks that are taking place all over“ (Chomsky S.

45). Die Einbettung des 'radical spiritualism' und 'soul activism' in der Gemeinschaft ist ein

wichtiger Aspekt der Occupy-Bewegung. Die Akteure der Bewegung betonen ihre

Interdependenz mit anderen Menschen sowie der Natur. Vertrauen und Solidarität mit

einander drücken sich aus in Slogans wie:

„Stop believing in authority, start believing in each other.“ Male Protester Occupy Wall Street (Bucko/Fox S.

180) oder „God is my vertical connection which asks me to connect horizontally.“ N.B. Male 33 (ebd. S. 1).

In der Occupy-Bewegung sieht Adam Bucko die Realisierung der Vision einer „global

movement of sacred community living“ (Bucko/Fox S. 32). Die Vision einer globalen oder

universalen Bürgerschaft, in der 'Keiner ist zuständig, aber alle sind verantwortlich' gilt, lässt

sich von den 'Base communities' in Lateinamerika, von den Beloved Communities der

Bürgerrechtsbewegung und von den Sufi-Communities inspirieren (vgl. ebd. S. 34). Bucko

erkennt die Bedeutung der Rituale, die zum Erleben von Gemeinschaft führen:

„It seems to me that a lot of youth scenes, such as the Rave scene, Hip hop scene, Deadhead scene, Punk scene,

Burning man scene, or Phish scene, are all about global experience of community and ritual“ (ebd. S. 140).

Der Occupy-Aktivist Pancho Ramos-Stierle geht weiter in seiner Betonung der Gemeinschaft

bildenden Idee: „I believe that nine out of ten actions must be creating the community that we

want to live in (…) I think one out of every ten actions should be obstructive – that is boycotts

and protests and marches and non violent civil disobedience“ (ebd. S. 174). In der Gestaltung

43

Page 44: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

der Gemeinschaft bei der Occupy-Bewegung wird auf Diversität, Glokalität und

Dezentralisierung gesetzt.

3.3.4. Zusammenfassung

Die Occupy-Bewegung kann als eine Schirmbewegung für Widerstand gegen unterschiedliche

Herrschaftssysteme im Bereich des Sozialen, der Ökonomie und Ökologie verstanden werden.

In ihr kommen verschiedene Bewegungen zusammen: Bündnisse zwischen Gewerkschaften,

Feministinnen, Antirassisten, Ökoaktivisten, Tierrechtlern, Antinationalisten und viele andere

Protestbewegungen. Sie alle bieten hier eine breite Plattform für die Aneignung von

Widerstand und den Ausdruck moralischer Empörung, um soziale Veränderungen zu

bewirken. Auffällig ist, dass die Proteste eher durch Akteure mit einem akademischen

Hintergrund organisiert werden. Bei den Teilnehmenden finden sich sowohl Aktivisten als

auch Betroffene. Die Beschreibung von Zuccotti Park als ein 'Sakraler Ort' , wo moralischer

Mut entstanden ist, kann als Zeichen für die Sakralisierung von Widerstand an sich gesehen

werden. Wall Street, das Zentrum des Finanzkapitals Amerikas, wird mit 'moral bankruptcy'

gleichgesetzt. Der Slogan 'We are the 99%' hebt die Denkfigur der Zentrum-Peripherie-

Verteilung von sozialem Raum auf. Er ist ein Hinweis auf Widerstand gegen den 'corporate

controlled space' bzw. die Machtverhältnisse des Neoliberalismus. Die Protestslogans der

Akteure geben klare Indizien für moralische Empörung (moral outrage) und sprechen von

moralischer Kraft (moral power), die auch von den 1% zur Kenntnis genommen wird (vgl.

Bucko/Fox S. 9).

Die spirituelle Untermauerung von moralischer Empörung der Akteure erhebt den Anspruch,

'Aktionismus' zu verhindern. Die moralische Autonomie der Occupy-Akteure hat keinen

speziellen konfessionellen Hintergrund, sondern ist im Sinne der Postmoderne eher 'spirituell'

geprägt. So treten äußerliche Legitimationsinstanzen in den Hintergrund und der EigenSinn

der Akteure wird zur zentralen Figur der moralischen Autonomie dieser Bewegung. So finden

die Akteure die unterschiedlichsten Ausdrucksmöglichkeiten für Protest z. B. 'Raves', Demos,

Volksküchen, akademische Workshops etc., um den 'public space' mit EigenSinn zu besetzen.

Mit Ideen wie Spiritual Democracy, die 'radical spirituality' mit 'soul activism' verbinden, ist

diese Bewegung eher den 'Spiritualities of Life' zuzuordnen. Die Occupy-Bewegung liefert

sowohl moralisches Kapital für ihre Akteure, indem sie einen 'Shift in consciousness' anstrebt,

aber durch die Erschaffung von 'social intimacy' in den Netzwerken und Protestgruppen stellt

sie auch soziales Kapital zur Verfügung. Sie verbindet sowohl pluralistische (z. B. Creation

Spirituality) als auch universalistische Denkfiguren (z. B. global citizenship) im Sinne der

'unity in diversity'. Dezentrale, selbstorganisierte, gewaltlose Handlungsansätze, die

44

Page 45: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Herrschaftsverhältnisse des postmodernen Neoliberalismus kritisieren und Solidarität,

Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit fördern, kennzeichnen diese Bewegung. Sie ist sowohl in

globalen bzw. transnationalen als auch lokalen Verhältnissen eingebettet und nimmt Einfluss

auf diese. Die Akteure dieser Bewegung zeigen einen Sinn für Reflexivität, wenn sie sagen:

„We are totally interrelated, dependent upon powers of nature and society transcendent over

and beyond any one of us as well as immament in each and all of us“ (ebd. S. 227). Hierbei ist

auch der Bezug zur eigenen Handlungsfähigkeit als einer verallgemeinerten

Handlungsfähigkeit (vgl. kritische Psychologie) gegeben. Die Frage, ob Protest selbst zu

einem Produkt wird, das von Akteuren konsumiert wird, ohne Veränderung der

gesellschaftlichen oder individuellen Verhältnisse, ist offen und kann als Thema für weitere

Forschungen dienen.

3.4. Kohärenzen und Divergenzen der drei Bewegungen

Ein Vergleich der drei Bewegungen im Hinblick auf dichotome Unterscheidungsmerkmale

oder Gemeinsamkeiten würde meines Erachtens der Komplexität und Vielschichtigkeit des

Untersuchungsgegenstands nicht gerecht werden. Trotzdem möchte ich nicht ganz darauf

verzichten. Allerdings versuche ich, die drei Bewegungen in Bezug miteinander zu setzen, um

Kontinuitäten, Interdependenzen, Überkreuzungen, aber auch Diskontinuitäten, Widersprüche

und Divergenzen aufzuspüren, um den Vergleich zu ergänzen.

Wenn man die Differenzkategorien betrachtet, die für die drei Bewegungen relevant waren, so

fällt auf, dass beim Sufismus die Kategorie 'Religion' die wichtigste ist. Dabei geht es hier

nicht um die 'Konfession', sondern eher um die Religiosität ihrer Akteure. Bei der

Bürgerrechtsbewegung spielt die Kategorie 'Rasse' eine wichtige Rolle und die Occupy-

Bewegung als Kritik des kapitalistischen Herrschaftssystems macht die Kategorie 'Klasse'

wieder aktuell. Allerdings können in allen drei Bewegungen Überkreuzungen zu anderen

Kategorien, z. B. Gender, Alter oder Körper, sichtbar werden. An deutlichsten wird die

Intersektion und Interdependenz der Kategorien bei der Occupy-Bewegung deutlich, bei der

Kapitalismuskritik mit Kritik an Sexismus, Rassismus, Abelismus/Bodyismus und anderen

Herrschaftssystemen verbunden wird.

Allen drei Bewegungen gemeinsam ist, dass sie in unterschiedlichem Maße Kritik oder

Widerstand gegen Herrschaftssysteme verkörpern. Beim vormodernen Sufismus waren es

einzelne Mystiker mit kleinen Gefolgschaften, die gegen die herrschende Orthodoxie

45

Page 46: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

protestierten. Bei den modernen und postmodernen Sufis waren es Bruderschaften und

Communities, die gegen verschiedene Formen von Puritanismus, Nationalismus oder

Imperialismus bzw. Kolonialismus Widerstand leisteten. Die Bürgerrechtsbewegung erhob

sich gegen rassistische Praxen wie Segregation. Die Occupy-Bewegung mobilisierte

Widerstand gegen alle kapitalistischen Herrschaftssysteme. Um es in einer theologischen

Metapher zu formulieren, haben alle drei Bewegungen Widerstand als eine Möglichkeit der

gelebten Transzendenz von Herrschaftssystemen begriffen und gestaltet. In der

Bürgerrechtsbewegung hat die Zivilgesellschaft durch direkten und gewaltfreien zivilen

Ungehorsam einem ungerechten Staat widerstanden und tatsächliche politische

Veränderungen herbeigeführt. Beim Sufismus ist der Widerstand nicht immer direkt gegen

den Staat gerichtet, sondern eher gegen die 'Norm' und Normiertheit von Religiosität. In der

Occupy-Bewegung sind es sowohl die zivile Gesellschaft, als auch einige politische Parteien,

die ein Bündnis gegen 'Formen des Regiertwerdens' bzw. 'Gouvernementalität' richten und

nicht gegen einen Staat als solchen. In allen drei Bewegungen spielten moralische Empörung

und moralische Imagination bei der Entstehung von Widerstand eine wichtige Rolle, wobei

dafür unterschiedliche Ausdrückformen gefunden wurden. So haben sie beim Sufismus die

Form von Gottesliebe28 und Ekstase (als Befreiung von sozialen Grenzen des Ichs)

angenommen. Bei der neuen Linken ging es um die Erfahrung der Entfremdung und die

entsprechende Suche nach Authentizität, die in zivilen Ungehorsam mündete. Auch bei der

Occupy-Bewegung sind 'moral outrage' und 'moral courage' wichtige Elemente der 'radical

spirituality' und 'soul activism', die in der Vision der 'Spiritual Democracy' aufgehen.

Allerdings unterscheidet sich der radikale und existenzielle Charakter der moralischen

Empörung bzw. Imagination der Bürgerrechtsbewegung von der eher integrativen und auf

Nachhaltigkeit setzenden moralischen Autonomie der Occupy-Bewegung und dem

moralischen Nonkonformismus der Sufi-Bewegung.

Alle drei Bewegungen haben mit neuen oder alternativen Selbst- oder Subjektkonzeptionen zu

tun. So ist im Sufismus der bekannte Ausspruch von Al Hallaj: Ana'l Haqq (Ich bin Gott bzw.

Ich bin die schöpferische Wahrheit) bis heute sehr bedeutend, genau so wie bei der

Bürgerrechtsbewegung die Idee von 'The new Being' von Paul Tillich eine wichtige Rolle für

das Selbstverständnis der Akteure gespielt hat. Auch in ihrer Ablehnung der 'Corporate

Personhood' stellt die Occupy-Bewegung die 'Personenkonzeptionen' des Neoliberalismus in

Frage. Dies könnte ein Hinweis auf die Relevanz von Selbstlegitimations- bzw.

Selbstvalidierungsprozessen bei der Aneignung von Widerstand sein.

28 Liebesverhältnis statt Herrschaftsverhältnis zu Gott.

46

Page 47: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Der Gemeinschaftsgedanke mit der Möglichkeit zu Bündnissen und Allianzen scheint auch

bei allen drei Bewegungen zur Mobilisierung von Widerstand zu führen. So ist die Einbettung

der Sufis in Bruderschaften sowie Communities bedeutend, die sowohl zur 'social intimacy'

führt, als auch als Plattform zum politischen Protest dient. Auch die Beloved Communities

der neuen Linken als ein Gemeinschaftswerk von Schwarzen und Weißen, Existentialisten

sowie Counterculture Hippies fungierten als 'communities of resistance'. Ideen, wie 'global

citizenship' oder 'sacred community living' kennzeichnen diese wichtige Voraussetzung für

Widerstand in der Occupy-Bewegung. Besonders wenn der postmoderne Kontext

berücksichtigt wird, sind sowohl beim Sufismus als auch bei der Occupy-Bewegung die

Koexistenz von globalen bzw. transnationalen und lokalen Bündnissen sichtbar.

Im Hinblick auf ihre Positionierung zum Wissen bzw. zur Wissenschaft sind Divergenzen

wahrzunehmen. Die vormodernen Sufis stellten ganz bewusst Wissenssysteme als

Ordnungssysteme in Frage. Ihre Akteure irritierten die Ordnungsgelehrten (Juristen,

Schriftgelehrten) eher durch ekstatische und ästhetische Praxen. So ersetzten sie die

Legitimation des 'Ilm' (Wissen) durch die Legitimation der 'Mari'fa' (Erkenntnis) und 'Ishq'

(Liebe). Auch in der Moderne und Postmoderne betonen die Sufis mehr die

'Erfahrungsdimension' als die evidenzbasierte 'Wissensdimension'.29 Die Akteure der

Bürgerrechtsbewegung benutzten theologische und soziopolitische wissenschaftliche

Erklärungen, um andere Wissenssysteme, in diesem Fall die der Justiz, zu relativieren. Bei der

Occupy-Bewegung geht es darum, die reflexive Praxis des 'Wissen-Macht'-Nexus als

Herrschaftsinstrument transparent zu machen. Dies kann nicht außerhalb von

Wissenssystemen und ohne Produktion von neuem Wissen geschehen. Neben

'Widerstandswissen' kann die Mystik als Praxis der Liebe oder Ekstase die Macht von

Wissenssysteme an sich relativieren. Trotz ihrer unterschiedlichen Positionierung zu

Wissenssystemen kann festgestellt werden, dass die meisten Akteure dieser Bewegungen

selbst einen Bildungshintergrund hatten: Die Sufi-Dichter oder die postmodernen Sufi

communities; die Akteure der neuen Linken; und die Organisatoren und Koordinatoren von

Occupy hatten gewiss Zugang zu Bildungsressourcen. Dies weist auf einer Sprecherposition

hin, von der aus Widerstand zu leisten eher möglich ist.

Hinsichtlich der Inszenierung des Widerstands fällt auf, dass in allen drei Bewegungen die

ästhetische Praxis ein wichtiges Element war. So war es die Gospelmusik, der Blues oder Jazz

mit den berühmten 'songs of the slaves', die zur Mobilisierung in der Bürgerrechtsbewegung

29 Dies bedeutet nicht, dass sie außerhalb von Wissenssystemen operieren.

47

Page 48: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

zum Einsatz kamen. Auch das Anhören von Dichtung mit Musik und Tanz (Sama) bei den

Sufis oder die Raves bzw. andere Performances bei der Occupy-Bewegung sind wichtige

Katalysatoren und Ausdrucksformen der Bewegung.

Die postmoderne Kontextualisierung der Religion im Sinne des 'turn to the self' bringt

widersprüchliche Auswirkungen im Hinblick auf die Mobilisierung und Diffusion von

Widerstand zum Vorschein. Einerseits kann es zu einer 'Individualisierung' der spirituellen

Suche kommen, wobei Menschen das 'Spirituelle' als Flucht benutzen, um die

gesellschaftlichen Konflikte zu umgehen. Sölle spricht von Weltflucht, John Welwood von

'spiritual bypassing'. Hierbei handelt es sich um einer Art spirituellen Konsumerismus (vgl.

Woodhead/Heelas30). Auch das International Sufi Movement versucht zwischen

Werteintegrität und Marktorientierung zu balancieren. Andererseits kann genau dieser 'turn to

the self' sich im Hinblick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse positionieren und genau darin

ein spirituelles Motiv finden, z. B. die Sufis in Chechnya.

Die postmoderne Entwicklung der Protestformen scheint vor allem durch Koexistenz und

Widersprüchlichkeit gekennzeichnet zu sein. Zum einen zeigt sich der 'turn to politics of

identity' in sehr partikularen Bewegungen, die lokale 'issue-based'-Kämpfe (z. B. Stuttgart 21)

ausfechten. Es gibt aber auch eine 'globalisation of dissent'31, was z. B. in der Occupy-

Bewegung sichtbar wird, wo Globalisierung als Möglichkeit einer global geteilten

Verantwortung für Fragen des Zusammenlebens und das Entstehen einer globalen

Öffentlichkeit betrachtet wird (vgl. Wagner S. 255). Vor einer Klassenkodierung der

postmodernen Akteure des Protests warnt Castro Varela mit ihrer Beobachtung, dass

„Mitglieder rechter Parteien zum Teil sehr wohl über hohe Bildungsabschlüsse verfügen und

insbesondere im globalen Süden auch Land- und Fabrikarbeiter eine wichtige Säule der

Antiglobalisierungsbewegung darstellen“ (Castro Varela S. 324). Im Hinblick auf die

Organisationsformen weisen sowohl die postmodernen Protest- als auch religiöse

Bewegungen auf Formen, die offene flexible Foren für unterschiedlichste Themen und

Interessen einen gemeinsamen Rahmen anbieten, ohne lähmende Strukturen oder einengende

Statuten (vgl. Wagner S.264/267). Dabei treten Menschen in Beziehungen zu anderen, so

lange und so weit ihre Anliegen sich treffen; sie brauchen sich nicht mehr ganz für eine Sache

hingeben, sondern machen überall dort mit, wo sie zur Zeit einen Sinn entdecken können. Die

persönliche Erfahrung verbindet viel umfassender als ausformulierte Thesen (ebd.). Dies kann

sowohl bei dem International Sufi Movement als auch bei Occupy-Protesten beobachtet

werden.

30 Spirituality as consumerised experience.31 Vgl. Tom Liacas, 2001.

48

Page 49: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

4. Soziale Veränderung und Soziale Arbeit

Soziale Protestbewegungen, wie die Frauen-, Arbeiter- oder Jugendbewegung haben für die

Entstehung, Etablierung und Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit wichtige Beiträge

geleistet. Gleichzeitig haben sie, vor allem die neuen sozialen Bewegungen, die Soziale Arbeit

immer wieder kritisiert. Häufig geschah das dann, wenn die Soziale Arbeit sich „mit den

Forderungen der Mächtigen verbündete“, sei es der Staat oder der Kirche, und sich

„unkritisch als Normen- und Gesetzesanwenderin“ verstand“ (vgl. Wagner, 2009 S. 13). Die

Soziale Arbeit hat aber auch selbst als Profession und Disziplin ihre Bewegungen angestoßen.

Ein Beispiel dafür sind die Arbeitskreise Kritische Soziale Arbeit (AKS), die gegen die

Verwirtschaftlichung, Verberuflichung und berufliche Missstände der Sozialen Arbeit

gekämpft haben und weiterhin kämpfen (vgl. Penke, 2009 S. 192ff.).

Religiöse Bewegungen haben die Soziale Arbeit in ihrem Mandat der Fürsorge und Wohlfahrt

auch stark beeinflusst. Sie haben durch ethische Leitvisionen und -werten sowie

Organisationsformen die Professionalisierung und Ausbildung unterstützt. Gleichzeitig waren

sie auch Gegenstand der Kritik in der Sozialen Arbeit. So wurde das Verhältnis der Sozialen

Arbeit zu Fragen der moralischen Ökonomie32 (z. B. im Kontext der Entwicklungs- oder

Behindertenhilfe) immer wieder kontrovers diskutiert. Angesichts der Überkreuzung von

Religion und Protest unter neoliberalen Bedingungen wird auch die Frage der

Ökonomisierung und Rationalisierung von moralischer Empörung durch die Soziale Arbeit

virulent. Die Frage, inwieweit Soziale Arbeit die Entwicklungen der religiösen Bewegungen

ungefragt im Sinne einer 'frommen Sozialwohlfahrt' übernommen hat oder sie als kritisch

revolutionäre oder subversive Sozialpolitik umgesetzt hat, kann aufschlussreich sein mit Blick

auf gesellschaftliche Transformationsprozesse.

In der vorangegangenen Untersuchung der religiösen und sozialen Bewegungen im Hinblick

auf soziale Veränderung, besonders durch die Enteignung und Aneignung von moralischer

Empörung, sind folgende Kategorien bzw. Thematisierungen sichtbar geworden, die für die

Soziale Arbeit von Relevanz sein könnten: Zum einen sind es die Subjektkonzeptionen, die

Veränderungsprozesse beeinflussen, zum anderen sind Gemeinschaftskonzeptionen im Sinne

kollektiver Prozesse wichtige Wirkmächte des sozialen Wandels. Außerdem ist die

Konstitution und Gestaltung des Alltags (die Lebensweise) hinsichtlich

Transformationsprozesse bedeutsam. Und letztlich ist die Frage zu stellen, wie

handlungsfähig die Akteure des sozialen Wandels sind. Ich möchte nun den Positionierungen

32 Vgl. Bill Huges zur moralischen Ökonomie, und Arundhati Roy zur 'Corporate Philantrophy'.

49

Page 50: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

der Sozialen Arbeit im Verhältnis zu diesen Thematisierungen nachgehen, um

herauszuarbeiten, inwieweit Soziale Arbeit Prozesse sozialer Veränderung unterbindet oder

ermöglicht.

4.1. Fromme Subjekt-Konzeptionen

Das 'Sein', das an sich Unfassbare, Unmittelbare manifestiert oder konkretisiert sich in

Formen, in Namen, in Identitäten. Dies ist ein intersubjektiver Prozess und unterliegt auch

kontextuellen gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Alex Demirovic spricht von der Kraft

oder Machtform, die „Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie

an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst

und die anderen in ihnen zu erkennen haben. Diese Machtform verwandelt die Individuen in

Subjekte“ (Demirovic, 2010 S.162). Barrington Moore spricht von der Internalisierung von

Widerstand bei den 'Asketen', einer Rationalisierung bei den 'Unberührbaren' sowie subtiler

und offener Repression des Widerstands bei den 'Insassen' der Konzentrationslager. In dieser

Thematisierung werden sowohl Subjektivierungsprozesse als auch 'Identitäten', die sie

generieren, sichtbar, die zur Enteignung der moralischen Empörung führen. Die Soziale

Arbeit als ein Kraftfeld des Sozialen ist an diesen Subjektivierungsprozessen beteiligt. Als

nächstes skizziere ich einige Subjektfiguren und die damit verbundenen Institutionalisierungs-

und Diskursievierungsprozesse der Sozialen Arbeit, die meines Erachtens im Hinblick auf die

Enteignung von moralischer Empörung bzw. Widerstand angesichts konflikthafter

gesellschaftlicher Verhältnisse von Interesse sein können.

4.1.1. Der Arme/Der Bedürftige

Eine Figur, die oft in der Vor-Professionalisierung der Sozialen Arbeit in Institutionen der

Fürsorge und 'Charity' auftaucht: Der 'Bedürftige', dem geholfen wird, häufig aus Mitleid. An

ihm verdienen sich die generösen Spender, Samariter und Wohltäter ihre moralischen

'Creditpoints' oder, wie die Hindus es sagen, Karmapunkte. Diese Figur steht häufig in

Zusammenhang mit institutionellen Kontexten von Wohlfahrtsorganisationen oder

Nichtregierungsorganisationen, nicht selten mit kirchlichem Hintergrund, die im Arbeitsfeld

der 'Entwicklungshilfe', Behindertenhilfe oder auch Katastrophenhilfe tätig sind. In

Werbekampangen von 'Brot für die Welt' oder Miserior etc. tauchen sie auf in Gestalten als

arme, verletzte, hungrige Kinder oder Frauen. Die Enteignung von Widerstand gegen

ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse passiert in diesem Fall durch moralische

Sentimentalisierung (Tränendrüsen-Syndrom) oder moralische Ökonomisierung. Der

Einzelne, das Objekt des Mitleids, kann klagen, hat aber keine Ansprüche, die er einklagen

50

Page 51: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

kann. Das Ehrenamt-Konzept in der gegenwärtigen Sozialen Arbeit kann hier als Beispiel für

die subtile Ableitung oder Absorbierung vom potentiellen Widerstand gelten.

4.1.2. Der Klient

Eine Figur, die im Kontext der Modernisierung und Humanisierung der Sozialen Arbeit zu

verorten ist. Nicht so sehr ein Objekt des Mitleids, sondern ein Objekt der Techniken von

professioneller Empathie.33 Häufig ist diese Subjektfigur Empfänger von Hilfe in Form von

spezialisiertem Wissen und Können von Experten oder 'Professionellen', die seine Defizite

bearbeiten. Pädagogen, Berater, Coaches verdienen an ihm ihre moralischen aber auch

'Kompetenz'-Creditpoints (was ihre Berufsidentität angeht). Häufig in institutionellen

Kontexten von staatlichen, kirchlichen sowie privaten, gewerblichen oder/und

gemeinnützigen Beratungsstellen, Bildungseinrichtungen, Gesundheitseinrichtungen etc.

werden durch diagnostische Verfahren und Hilfepläne seine 'Probleme' bearbeitet. Seine

Person, Verhalten und Defizite werden als Erklärungen für seine Probleme thematisiert und

nicht die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse. Hierbei handelt es sich häufig um

pädagogische und psychologische Prozesse der Internalisierung von potentieller Empörung,

bei der soziale Konflikte in den Einzelnen hineinprojiziert werden.

4.1.3. Der Täter/Das Opfer

Diese Figuren tauchen in modernen sozialstaatlichen 'Kontrollbestimmungen' der Sozialen

Arbeit auf. Sie sind entweder Täter oder Opfer von Handlungen, die als 'Verbrechen' gegen

die juristischen Gesetze gelten. Als Täter sind sie Objekte von Straf- und Kontrollmaßnahmen

und als Opfer sind sie Objekte von Schutzmaßnahmen. Die institutionellen Kontexte von

Justizvollzug, Jugendamt, Psychiatrie, Drogen- und Suchtarbeit, Sexuelle und häusliche

Gewalt etc. sind hierfür bezeichnend. Der Einzelne wird korrigiert, ermahnt, kontrolliert,

sanktioniert, eingesperrt, bestraft oder als Opfer geschützt, häufig auch durch

Kontrollmechanismen. Die Enteignung von Widerstandspotential geschieht durch die

Repression, die durch den Kriminalisierungsdiskurs und Präventionsdiskurs legitimiert wird.

Der Kontrolleur verdient an ihnen seine 'Ordungs'-Creditpoints. Nicht die gesellschaftlichen

Konstellationen sind problematisch, sondern die Aktionen und Reaktionen des Einzelnen

werden hier als Verstoße gegen den gesellschaftlichen Vertrag, als problematisch bezeichnet.

Das soziale Wächteramt als Funktionsbestimmung der Sozialen Arbeit wacht hier über ein

mögliches Entstehen von Widerstand und seine rechtzeitige Unterbindung.

33 Im Gegensatz zu radical Empathie die sich auf dem 'condito humana' beruft und ein sich verletzbar machen des 'Professionellen' beinhaltet, der seine expertokratische Rolle verlassen kann.

51

Page 52: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

4.1.4. Der Kunde

Im Zuge der postmodernen Dienstleistungsorientierung der Sozialen Arbeit tritt diese Figur

als ein Vertragspartner auf. Ihm werden bestimmte Anrechte zugesprochen, wenn bestimmte

Vertragsbedingungen (normalerweise vom Staat festgelegt) erfüllt sind. Er ist ein Objekt des

sachlichen 'Service' der Sozialen Arbeit, der für die optimale Abwicklung von Kontrakten

seine 'Creditpoints' bekommt. In institutionellen Kontexten der staatliche Bürokratien, wie

dem Arbeitsamt, Wohnungsamt, Migrationsdiensten, werden materielle sowie personelle

Ressourcen verteilt. Aus individuellen Bedürfnissen werden institutionelle Bedarfe

festgestellt. Der Einzelne wird häufig zu einem 'Fall' mit einer 'Akte' und wird unter

bestimmten Zuständigkeiten verwaltet. Um Zugang zu den nötigen Ressourcen zu bekommen,

muss der Einzelne sein Verhalten nach dem 'Vertrag' maßregeln. Es kann in diesem Fall von

einer 'Verzettelung' von Widerstandspotential oder auch Enteignung von moralischer

Empörung durch Bürokratisierungsprozesse gesprochen werden.

4.1.5. Der Unternehmer seiner Selbst

Das ist eine Figur, die typisch für neoliberale Entwicklungen der Sozialen Arbeit ist. Diese

Figur durchdringt zunehmend alle institutionellen Kontexte der Sozialen Arbeit. Der

'autonom' handelnde Mensch, ist hier Objekt der 'Selbsthilfe'. Der Einzelne wird als Manager

seiner Selbst bezeichnet. Er ist aufgerufen, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen,

autonom sein 'Selbst' für sein Überleben einzusetzen.

„Der neue Zugriff auf das Subjekt findet Ausdruck in Formeln wie Ich-AG, Selbst AG, Ich & Co oder

Arbeitskraftunternehmer. Die Subjektivität der Individuen rückt insbesondere als ökonomischer Faktor in den Blick. (…) Die

Subjektivität der Lohnabhängigen selbst wird in Betrieb genommen, indem mit neuen, marktnahen Steuerungsmechanismen

die Einzelnen dazu veranlasst werden, in ein neues wettbewerbsorientiertes Verhältnis zu sich selbst zu treten. Sie sollen

Unternehmer ihrer selbst werden und ihre Leistungserbringung selbst steuern“ (Demirovic S.151f.).

Konzepte wie 'Hilfe zur Selbsthilfe' oder Fördern und Fordern oder das Subsidiaritätsprinzip

bewirken auch in der Sozialen Arbeit die Vermarktung des Einzelnen. Dabei werden „die

eigenen Persönlichkeitsmerkmale als Porfolio betrachtet, die eigene Person als Standort, der

ein mehr oder weniger wettbewerbsfähiges Profil hat“ (ebd.). In der Umstellung von 'Welfare

to Workfare', wo soziale Ungleichheit das Ergebnis individuellen Versagen ist, aus dem kein

Anspruch mehr auf kollektive Solidarität abgeleitet werden kann, kommt der Sozialen Arbeit

die Rolle der Aktivierungsagentur zu (vgl. Wagner S. 257). Der schlanke Sozialstaat

instrumentalisiert hier, den Wunsch und Hoffnung des Einzelnen nach Autonomie für die

Enteignung seiner Selbstbestimmung, in der er unter Leistungsforderung und -zwang gestellt

wird (vgl. Demirovic S.148ff). Es findet ein Umgehung (bypassing) von moralischer

Empörung statt, in dem ihre Ökonomie in Frage gestellt wird.

52

Page 53: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

4.2. Subversive Impulse zur Subjektivierung

Die obengenannten Subjektfiguren können als Beispiele einer frommen, funktionstüchtigen

oder gehorsamen Sozialen Arbeit verstanden werden. Aber da Soziale Arbeit auch ein Produkt

des Sozialen ist, das nicht eindimensional und eindeutig ist, lassen sich in der Sozialen Arbeit

auch widerständige und subversive Subjektkonzeptionen (im Sinne einer Liebesverhältnis

statt Herrschaftsverhältnis) finden. Im Folgenden stelle ich einige kritische Impulse aus den

theoretischen Konzeptionen und Handlungspraxen der Sozialen Arbeit dar.

4.2.1. Der Adressat

Die 'subjektive Wende' in den Sozialwissenschaften, die kritische soziale Bewegungen und

die Bedeutung der 'Lebensweltorientierung' in der Sozialen Arbeit, haben seit Ende der 90er

Jahre wichtige Auseinandersetzungen im Hinblick auf den 'Adressat'-Begriff eingeleitet (vgl.

Bitzan/Bolay, 2013 S. 35). Es standen sowohl in der Praxis als auch in den theoretischen

Konzeptionen die Verschränkungen von Akteur und Struktur im Fokus mit dem Ziel, der

Würde und Eigenart des Einzelnen Rechnung zu tragen. Maria Bitzan und Eberhard Bolay

haben die Konturen eines kritischen Adressaten-Begriffs präzisiert. Sie schlagen vor, dies als

eine relationale und nicht dualistische Kategorie im Sinne einer dialektischen Verwobenheit

von Struktur und Handeln, also von Individualisierungs- und Vergesellschaftungsprozessen zu

betrachten (ebd. S. 40). Wer also als Adressat der Sozialen Arbeit bezeichnet wird, bestimmt

sich weder nur aus der Definition eines 'autonomen' Subjekts, noch allein aus einem

sozialpolitisch-institutionellen Definitionsprozess. Vielmehr spannt sich zwischen diesen zwei

Polen ein Kraftfeld, in dem verschiedene Definitionen um Gültigkeit kämpfen. Hinter diesem

'Identitätskampf', also Definitionskampf, eröffnet sich auch ein 'Interessen-' bzw. ein

'Bedürfniskampf'. Es geht zunächst in diesen Kämpfen darum, den politischen Status

verschiedener Bedürfnisse zu etablieren oder zu verweigern, diese Bedürfnisse zu

interpretieren, also festzulegen, zu präzisieren. Und letztlich geht es um die Befriedigung

dieser Bedürfnisse, indem ihre Versorgung gesichert oder verweigert wird (vgl. ebd. S. 44).

Der kritische Adressat-Begriff weist darauf hin, dass die Identität eines Adressats zwar sozial

bedingt, aber nicht sozial determiniert ist. Die Soziale Arbeit ist hier aufgefordert, die

Machtstrukturiertheit dieses Feldes, also die sozialen Bedingungen der Konstruktion und

Performance von Identität von Akteuren zu erörtern, Sprecherpositionen auf dem Feld

aufzuzeigen, alternative Scripts der Identitätskonstruktionen zu erörtern bzw. sichtbar zu

machen und Artikulationsräume für die subversive Identitätsaneignung der Akteure zu

schaffen (ebd. S. 41). Die Frage der Handlungsfähigkeit der Akteure wird hierbei relevant, die

durch die Konzeption von 'Agency' aufgegriffen wird.

53

Page 54: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

4.2.2. Agency

Die in der Handlungsfähigkeit immanente Spannung zwischen Struktur und Handeln,

zwischen gesellschaftlicher Bestimmtheit und subjektiver Selbstbestimmung, wird in der

'Agency'-Konzeption sichtbar. Nach Albert Scherr ist die Frage, ob menschliches Handeln

sozial determiniert oder autonom ist, demnach falsch gestellt (vgl. Scherr, 2013 S. 232). Es

wäre sinnvoller, Handeln als kreative 'Praxis', als Prozess der gemeinsamen Sinnkonstruktion

zu sehen. In diesem Prozess sind die Adressaten 'Co-Creators of Reality' (vgl. Bucko/Fox),

deren Handlungen nicht immer vorhersagbar und kontrollierbar sind. Allerdings ist zu

beachten, dass die Handlungsfähigkeit der Akteure nicht als gegebene Eigenschaft

vorausgesetzt werden muss. Sie ist in einem sozialen Prozess der Ermöglichung und

Begrenzung eingebettet (vgl. Scherr S. 233). Die Agency-Perspektive richtet sich auf die

Konstitution von „Subjektivität als kontextuell situierte Fähigkeit zu eigensinnigen und

kreativen Handlungen“(ebd.). Agency wird hier definiert als ein widersprüchlicher und

komplexer Prozess, in dem sozial konstituierte und eingebettete Akteure sich kulturelle

Kategorien und Handlungsbedingungen aneignen, reproduzieren und auch verändern können

(ebd.). Die Soziale Arbeit ist hier aufgefordert die Bedingungen zu untersuchen, wie

individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit sozial ermöglicht, begrenzt oder

verunmöglicht wird. Dies ist sowohl in Bezug auf individuelle Interaktion als auch auf

institutionelle Arrangements notwendig, insbesondere angesichts der Gefahr der Verkürzung

und des Missbrauchs dieses Konzeptes durch die neoliberale Kolonialisierung der Sozialen

Arbeit als 'Aktivierungsagentur'. Die Handlungsfähigkeit der Sozialen Arbeit kann darin

bestehen, die soziale Praxis ihrer Adressaten in ihre jeweiligen spezifischen Kontexte zu

stellen, und dabei Widersprüche und Handlungsspielräume aufzuzeigen. Die Alltags- und

Bewältigungsperspektiven in der Sozialen Arbeit geben hier interessante Impulse.

4.2.3. Alltag und EigenSinn

„Das Ziel der 'gut integrierten Persönlichkeit' ist verwerflich, weil es dem Individuum jene Balance der Kräfte

zumutet, die in der bestehenden Gesellschaft nicht besteht und nicht bestehen sollte. (...) Man lehrt den einzelnen

die objektiven Konflikte zu vergessen, die in jedem notwendig sich wiederholen, anstatt ihm zu helfen, sie

auszutragen. (…) Es sind Brechungen in den Individuen, das was sich der Zwanghaftigkeit der

Subjektintegration entzieht, das auf die Widersprüche der Gesellschaft hinweist (Demirovic S. 168f.).

Demirovic bezieht sich auf Adorno, der die Normalisierungsprozesse der Moderne kritisiert,

in dem „das sperrige, das Fragwürdige am Individuum vernichtet würde durch eine Strategie

der gesunden Anpassung“ (ebd.). Die Soziale Arbeit hat für dieses Ziel der 'gesunden

Anpassung' des Individuums sowie von Gruppen eine wichtige Rolle gespielt. Johannes Stehr

weist auf die Gefahr der Kolonisierung des Alltags der Adressaten von Institutionen und

54

Page 55: Protest als Religion, Religion als Protest: Soziale Arbeit zwischen Frömmigkeit und Subversion

Experten durch Etikettierungsprozesse hin, die dem Ziel der sozialpolitischen 'Regulierung'

dienen (vgl. Stehr, 2013 S. 347ff). Castro Varela macht außerdem aufmerksam auf NGOs, die

die Interessen der 'Ärmsten der Armen' zu repräsentieren beanspruchen und damit verhindern,

dass die Subalternen ihre eigenen Bedürfnisse artikulieren können (vgl. Castro Varela, 2013 S.

320). Somit wird das, was 'einzigartig' ist, das was nur dem Subjekt gehört, in die

symbolischen Repräsentanten oder in das 'Regime der Selbstverständlichkeit' aufgesaugt.

Aber wie Helga Crämer-Schäfer betont, „Menschen gestalten ihr Leben selbst, aber nicht aus

eigenen Stücken, Menschen verhalten sich in Bezug auf Optionen und Zwänge gleichsam

kontrafaktisch wie 'Gestalter ihres Lebens'“ (vgl. Stehr S. 348). Sie verhalten sich zu den

Verhältnissen in einer 'eigensinnigen' Weise. Sie 'stählen ihren Sinn' (vgl. Moore) in

Praktiken, die mal widerständig, mal angepasst sind.

Hier kann die Alltagsperspektive in der Sozialen Arbeit interessant sein, die auf EigenSinn der

Akteure aufmerksam macht. Durch diesen EigenSinn setzen sie die 'non-logical' logics of

everday life' als Kontrapunkt gegen die Pseudo-Konkretheit34 bzw. die Selbstverständlichkeit

des Alltags (vgl. Stehr S. 351). Stehr versteht EigenSinn als „Moment und Potential einer

nicht-institutionellen Perspektive“. Er zitiert Negt und Kluge, die EigenSinn als „den auf

einen Punkt zusammengezogenen Protest gegen Enteignung, (als) Resultat der Enteignung der

eigenen Sinne, die zur Außenwelt führen“ verstehen. „Was gesellschaftlich an Motiven der

Rebellion enteignet wurde, lebt dort weiter, wo es am geschütztesten ist, im Subjekt“ (ebd. S.

348f.). Die kritische Alltags- und Eigensinns-Perspektive, in der Soziale Arbeit als

'subterranean counter traditions'35 begriffen wird, schaut nach Bedingungen, unter welchen

das Handeln der Adressaten als bornierte Anpassung geschieht oder als Subversion erscheint

(vgl. ebd. S. 351). Sie schauen nach Gesellschaftskonstellationen, die sich im

widersprüchlichen Handeln und Identitäten der Akteure im Alltag zeigt (ebd.). „Eine

Konturierung der Logik des Alltags will soziale Praktiken sichtbar machen, die nicht völlig in

den herrschaftlich durchdrungenen Kategorisierungen, normierten Identitäten und

Subjektivierungsregimen aufgehen, die aber auch nicht alle per se als widerständige oder

subversive Praktiken bezeichnet werden können“ (ebd. S. 348).

Der eigensinnigenAlltag der Adressaten ist voller Widersprüche, Konflikte, aber auch voller

Phantasie und Kreativität. Diese werden oft auch durch die Soziale Arbeit enteignet, indem

gesellschaftliche Konflikte und Widersprüche in den Einzelnen verlagert und dort 'bearbeitet'

werden. Beispiele dafür sind die institutionellen Kontexte, in dem durch psychologische,

pädagogische und kriminologische Diskurse und Praktiken die Adressaten 'fit für den Alltag'

bzw. die Gesellschaft gemacht werden. Eine kritische Alltags- und Eigensinnsperspektive

34 Stehr bezieht sich auf Kosik und Gardiner hier.35 Johannes Stehr bezieht sich auf Gardiner

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dagegen versucht dem 'Raub der Konflikte und Raub der Utopie'36 der Einzelnen entgegen zu

wirken, indem die Perspektiven der Adressaten und ihre eigenen Deutungen, 'Scripts', zur

Geltung kommen. Gleichzeitig werden darin die gesellschaftlichen Widersprüche aufgedeckt,

die damit zusammenhängen. In dem widersprüchlichen und phantasievollen Alltag von

Adressaten könnte Soziale Arbeit Spielräume für die Aneignung von moralischer Empörung

bzw. Widerstand sowie sozialer Imagination erkennen und sichtbar machen. Wie Arundhati

Roy sagt: „Another world is not only possible, she is on her way. On a quiet day I can hear

her breathing“ (Bucko/Fox S. XXIV).

5. Fazit

Welche Anregungen würden Jellaluddin Rumi, Martin Luther King oder Panchos Ramos-

Stierle zur Sozialen Arbeit anbieten? Anders formuliert: Welche Impulse aus den sozialen und

religiösen Bewegungen kann die Soziale Arbeit für sich fruchtbar machen? Im Hinblick auf

die vorher thematisierten Bewegungen lassen sich folgende Andeutungen entwickeln:

Schöpferische Soziale Arbeit

Der radikale Spruch von Al Hallaj 'Ana'l Haqq' ('Ich bin die schöpferische Wahrheit') könnte

darauf hinweisen, dass die Soziale Arbeit das kreative Potential ihrer Adressaten, ihr 'Sein'

und 'Handeln' selbstbestimmt zu gestalten, ernst nimmt und unterstützt. Die Soziale Arbeit

kann aber auch sich selbst einen schöpferischen EigenSinn einräumen und eigene

wissenschaftliche und praxisbezogene Positionierungen entwickeln. Insbesondere was die

disziplinarische Forschung angeht, sind Wissenschaftler aufgefordert:

„to go beyond their current practices of armchair scholarship. Such a move engenders an epistemic pluralist

methodology that includes the firsthand subjective and inter-subjective data of lived experience rather than

relying solely on conceptual knowledge acquired through text-like verbal utterances“ (Bühler 2014 o. S.).

Interdisziplinarität kann hier gegen 'Monocultures of the mind'37 wichtig werden. Nach der

Sufi-Philosophie 'Stirb bevor du stirbst' könnten die Akteure der Sozialen Arbeit jegliche

Form von Dogmatismus, Automatismus und Faschismus im eigenen Denken und Handeln in

Frage stellen. Sie sind gefordert ihre Mythen und ihre Expertokratie aufzugeben und sich mit

den Adressaten auf 'radical participation' einzulassen.

36 Vgl. Rainer Treptow.37 Vgl. Vandana Shiva empfiehlt 'Bio-Diversity', sowohl in der Ökologie als auch im Sozialen.

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Ekstatische Soziale Arbeit

Die Soziale Arbeit ist aufgerufen ihre Fixierung auf evidenzbasierte Wissenssysteme und

Handlungspraxen aufzugeben und erfahrungsbasiertes Wissen ihrer Akteure und Adressaten

ernst zu nehmen, die nicht in das gewöhnliche Raster von akademischer Glaubwürdigkeit

passen. Erfahrungen mystischer oder spiritueller Natur sind wichtige biographische und

alltägliche Wirkkräfte. Sie können vermeintlich logische Denkweisen durchbrechen und zu

einem veränderten sozialen Bewusstsein führen, und so gesehen auf ihr Potential, soziale

Veränderung herbei zu führen, geprüft werden.

Begeisterte Soziale Arbeit

In Bezug auf soziale Veränderung ist die Soziale Arbeit aufgefordert, ihre bürokratischen

Litaneien zu verkürzen, unterdessen Menschen im Gemeinwesen oder sozialen Raum

verwaltet und bearbeitet werden. Vielmehr sollen Möglichkeiten gesucht werden,

Gemeinschaft zu erschaffen, also Bindungen zwischen Menschen zu ermöglichen, die der

Bildung von sozialer Imagination und moralischer Empörung dienlich sind, so wie die

Beloved Community der Bürgerrechtsbewegung. Diese sollte nicht beschränkt sein auf

intellektuelle bzw. akademische Arbeitsgruppen (wie AKS), sondern auf die Partizipation von

Adressaten zielen. Hier kann Soziale Arbeit Anregungen holen von den bislang

anthropologisch erforschten Themen der 'Collective Effervescence und Communitas'38. Das

Potential dieser Ideen kann besonders in Bezug auf die Erschaffung von sozialen Räumen

ausgelotet werden. Hierbei können kollektive, kreative Rituale (z. B. Raves etc.) als wichtige

Handlungsmodi der Sozialen Arbeit dienen, um lebendige 'communities' zu kultivieren.

Neugierige Soziale Arbeit

Veränderung braucht Verstehenszugänge, so Chomsky, die nur durch gegenseitiges lernen

geschehen können. Im Sinne einer radikalen Partizipation bedeutet dies: „It means learning.

And you learn through participation. You learn from others. You learn from the people you are

trying to organize“ (Chomsky S. 44). Soziale Arbeit könnte sich auf die Idee einlassen, dass

sie von ihren Adressaten genau soviel lernen kann wie von den vermeintlich unverzichtbaren

'Supervisoren'. Lernen ist hier nicht nur mit einem technokratischen 'Mehrwert' des Wissens

38 Tim Olaveson beschreibt die beide Phänomene folgendermaßen: „Collective effervescence and communitasare events. They are the magical moments that give ritual its power. The individual arrives at this point because the ritual is representative of the social ideal. By participating, the individual is brought in on the ground floor of social creation; they get to return to the founding moments of their societies, and through representative acts of prescribed actions get to renew the covenant, so to speak. Normal social rules are typically suspended during such rituals, and there arrives an opportunity to continue the course of society or break from it. The social goals can be adapted and adjusted. The ritual becomes a renegotiation of terms between the outside world and society as well as the inside actions of individuals and the requirements of society.“ (Olaveson, o.S.)

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verbunden. Vielmehr ist es als ein Prozess des 'mutual mentoring' (vgl. Bucko/Fox S.150) zu

verstehen, das Einsichten in widersprüchliche und kreative Lebenswirklichkeiten ermöglicht.

Eine andere Möglichkeit des demokratischen Lernens ist es, Gemeinschaftsräume zu

erschaffen, in dem Adressaten von einander lernen können. Forschungsmethoden aus der

Anthropologie wie Ethnobiography und Ethnoautobiography39 könnten interessante Impulse

für die Möglichkeit der partizipativen Forschung liefern.

Authentische Soziale Arbeit

Die Soziale Arbeit könnte prüfen, inwiefern ihre Legitimationsinstanzen im Sinne eines

'perception management' (vgl.Roy) ihre Auftragslage, Mandat, Funktion, und Arbeitskultur

beeinflussen und bedingen. Die Einbettung der Sozialen Arbeit in der 'NGOization of

resistance' (vgl. Roy o. S.) im Sinne der Entpolitisierung von sozialen Konflikten müsste

geprüft werden. Castro Varela macht hier aufmerksam auf das Potential der Wut: „Sie passt

nicht in so populär gewordene Managementkategorien wie etwa 'Teamworking' oder auch

'Empowerment'. Im Gegenteil, eben weil Wut nicht kontrollierbar ist, aber dennoch informiert

ausgelöst wird, kann es hier weder ein Qualitätsmanagement, noch eine organisierte

Ermächtigung geben. Wut ist im besten Sinne des Wortes 'Selbst-Ermächtigung'“ (Castro

Varela S. 325). Die Soziale Arbeit könnte sich verabschieden von einer Ethik, die sich

reduziert auf die sinnentleerten Worthülsen von Homepages ihrer Institutionen. Sie könnte

kreative Räume für moralische Empörung und Imagination eröffnen.

Ausblick

Ja, es ist möglich: „Hope is a verb with sleeves rolled up“ (David Orr).

39 „Part of such writing is the investigation of hybridity, categorical borderlands and transgressions, and the multiplicity of (hi)stories carried outside and inside the definitions and discourses of the dominant society of a particular place and time. As creative and evocative writing and storytelling, ethnoautobiography explores consciousness as the network of representations held by individuals from a subjective perspective and bringsthose representations into inquiring conversation with objective factors related to identity construction.“ (Vgl. Bühler S. 2014)

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Zeichenerklärung

[ ] = Veränderungen oder Erklärungen der Verfasserin

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