Prekarität und Armut in der Sozialstruktur Die berufliche Arbeitsteilung und die Prekarisierung der Erwerbsstruktur in der BRD nach den Daten des Mikrozensus 1991-2009 Eigenprojekt und Kurzprojekt bei der Hans-Böckler- Stiftung in Zusammenarbeit mit Dr. Sonja Weber-Menges Vortrag auf der Konferenz Die nützliche Armut der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW am 23. November 2013 an der Universität Wuppertal Michael Vester – Leibniz Universität Hannover
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Prekarität und Armut in der Sozialstruktur Die berufliche Arbeitsteilung und die Prekarisierung der Erwerbsstruktur in der BRD nach den Daten des Mikrozensus.
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Prekarität und Armut in der Sozialstruktur
Die berufliche Arbeitsteilung und die Prekarisierung der Erwerbsstruktur in der BRD
nach den Daten des Mikrozensus 1991-2009 Eigenprojekt und Kurzprojekt bei der Hans-Böckler-Stiftung
in Zusammenarbeit mit Dr. Sonja Weber-Menges
Vortrag auf der Konferenz Die nützliche Armut der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW
am 23. November 2013 an der Universität Wuppertal
Michael Vester – Leibniz Universität Hannover
„Kapitalismus ist nicht nur Ausbeutung“ Der Widerspruch der langfristigen
kapitalistischen Entwicklung:
dynamische Produktivkräfte vs.
blockierende Produktionsverhältnisse
2.1.
Abb. 1 Zur Ideologie des Aufstiegs in die MitteErwerbsbevölkerung nach Stellung im Beruf (1882-2010)
Abb. 2 Zur Ideologie der postindustriellen DienstleistungsgesellschaftErwerbstätige nach Wirtschaftssektoren
in Westdeutschland (1950-2010)
Sektor 1950 1960 1970 1980 1992 2000 2010
Primärer Sektor(Land- und Forstwirtschaft)
25 % 13 % 9 % 5 % 3,4 % 2,2 % 2,2 %
Sekundärer Sektor (Handwerk und Industrie)
43 % 48 % 48 % 45 % 40 % 29 % 24 %
Tertiärer Sektor (Dienstleistungen)
33 % 39 % 43 % 49 % 56 % 69 % 74 %
Die Ideologie der Wissensgesellschaft
Die künftige Gestalt der Qualifikationshierarchie:
Pyramide ?
Sanduhr ?
Pilz ?
Orange ?
Olive ?
Abb. 3 Darstellung der tatsächlichen Entwicklung der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung mit dem Konzept
des sozialen Raums von Bourdieu
Abb. 3a
Abb. 3b
Abb. 4Das mehrdimensionale Konzept der beruflichen Arbeitsteilung:
vier Achsen der Differenzierung in Anlehnung an Marx, Durkheim und Bourdieu
Vertikale Achse Machtrang Beharrungskraft der Produktionsverhältnisse (instutionalisierte Herrschaftshierarchie)
Horizontale Achse Qualifikationsrang Dynamik der Produktivkräfte (zunehmende Arbeitsteilung und Spezialisierung)
Territoriale Achse transregionale und transnationale Differenzierung
Dynamik der Regionalisierung und Globalisierung
Zeitachse Strukturverschiebungen durch ökonomische Prozesse und gesellschaftliche Kämpfe
Nicht lineare, sondern wellenförmige Dynamik
Abb. 5 Die Aufschlüsselung der Dienstleistungen in zehn Teilgruppen
nach den vertikalen und horizontalen Raumachsen bei Oesch Abb. 4 Die neue Sektoreinteilung in der beruflichen Gesamtgliederung nach Oesch
und die Differenzierung der Dienstleistungen in zehn Berufsfelder .
Arbeitnehmer Selbst-ständige
Qualifikationsrang Interpersonelle Arbeitslogik
Technische Arbeitslogik
Organisatorische Arbeitslogik
Selbstständige Arbeitslogik
Professionen (Berufe mit Hochschulausbildung - 'akademische Berufe')
Soziokulturelle Experten Höhere Bildungs-, Medizin-, Kultur- und Publizistikberufe
Technische Experten Ingenieur-, Informatik- und Architekturberufe
Oberes Management Höhere Verwaltungs-, Finanz- und Ver-marktungsberufe
Freie Berufe Rechts- anwälte, Ärzte usw.
Grosse u. mittl. Unter-nehmer Industrie, Handel, Finanzen Semi-
professionen (Berufe mit höherer Fachausbildung - 'halbakademische Berufe')
Soziokulturelle Semi-professionen Erziehungs-, Sozialarbeits- und Therapiefachberufe
Technische Semi- professionen Computer-, Elektro- und Überwa-chungstechniker
Unteres Management Verwaltungs-, Buchhaltungs-. und Rechtsberufe
Kleingewerbe mit (1-9) Beschäftigten Handel, Handwerk, Gastronomie, Landwirtschaft
Lehrberufe (Berufe mit Fachlehre – ‚skilled employees’)
Qualifizierte Dienst-leistende Verkaufs-, Ord-nungs-, Gastro-nomie-, Pflege-, Betreuungs- und Schönheitsberufe
Qualifizierte Facharbeiter und Fach-handwerker Facharbeiter-, Elektro-, Mechaniker- und Handwerksberufe
Qualifizierte Büro- und Verwaltungs-fachkräfte Büro-, Finanz- und Sekretariats-fachkräfte
Klein- gewerbe ohne Beschäftigte Handel, Handwerk, Gastronomie, Landwirtschaft
An- und Ungelernte (gering qualifizierte. Arbeitskräfte – ‚routine employees’)
Gering qualifizierte Dienst-eistende Verkaufs- und Dienstpersonal
Gering quali-fizierte Arbeiter in Pro-duktion. Transport
Gering quali- fizierte Arbeiter in Land- u. Forst-wirtschaft
Gering qualifizierte Verwaltungs-kräfte Kassierer-, Büro-, Boten- und Lagerberufe
./.
Zuordnung der Berufsgruppen zu den 17 Erwerbsklassen im Modell der horizontalen und vertikalen Gliederung der Berufsstruktur von Daniel Oesch (Redrawing the Class Map, Basingstoke 2006, S. 88f, 222-224). Eigene Darstellung; arbeitnehmerische Dienstleistungsberufe in schwarzer Schrift.
Abb.6 Die horizontale Sektorgliederung der Arbeitnehmerberufe
nach den drei Arbeitslogiken (nach Oesch)
Interpersonelle Dienstleistungslogik [Produktivkräfte der Human- dienstleistungen]
Technische Arbeitslogik [Produktivkräfte der Industrie- und Agrartechnik]
Organisatorische Arbeitslogik [Organisation der Produktionsverhältnisse bzw. Verwaltungsdienstleistungen]
Organisationsform des Arbeitspro-zesses (setting of work process)
Dienstleistungsbeziehung auf der Grundlage direkten persönlichen Austauschs
Durch technische Produktionskriterien bestimmter Arbeitsprozess
Bürokratische Arbeitsteilung
Herrschafts-beziehungen (relations of authority)
Arbeit weitgehend außerhalb von Befehlsstrukturen
Arbeit auf höheren Stufen eher außerhalb festgelegter Befehls-strukturen, auf unteren Stufen eher innerhalb
Arbeit innerhalb einer bürokratischen Befehlshierarchie, die gleichzeitig die Aufstiegshierarchie ist
Primäre Orien-tierung (Primary orientation)
Orientierung zum Klienten, Schüler, Patienten oder Bittsteller
Orientierung zur Berufsgruppe
Orientierung zur beschäftigenden Organisation
Qualifikations-anforderungen (skill requirements)
Fachliches Expertentum und soziale Kompetenzen auf den höheren Stufen, soziale Kompetenzen auf den unteren Stufen
Wissenschaftliches Expertentum auf höheren Stufen, handwerkliches Können und manuelle Fertigkeiten auf unteren Stufen
Koordinations- und Kontrollfähigkeiten auf den höheren Stufen, qualifizierte Büroarbeit auf den niedrigen Stufen
Quelle: Daniel Oesch, Redrawing the Class Map. Basingstoke: palgrave MacMillan 2006, S. 64
Abb. 7 Drei Alternativen des Wohlfahrtsstaates und der Arbeitsteilung nach Geschlecht:
Gliederung und Größe (in %) der siebzehn Erwerbsklassen nach Oesch (2006) im Ländervergleich: Deutschland (2000) - Schweden (2000) - Vereinigtes Königreich (1999). - (Frauenanteile in % der jeweiligen Kategorie in Klammern).. Nach; Oesch 2006, S. 88f, 222-224.
Wissensgesellschaft?
Welche ist die künftige Gestalt der Qualifikationshierarchie:
Pyramide ?
Sanduhr ?
Pilz ?
Orange ?
Olive ?
Abb. 8 Die hohe Dynamik der Produktivkräfte der BRD 1991- 2009 Verschiebung der Anteile der Berufsgruppen an den Erwerbstätigen
Arbeitnehmer Arbeitnehmer Arbeitnehmer Selbstständige Qualifikations-rang nach am Arbeitsplatz in der Regel erforderlichem Ausbildungs-abschluss
Gering qualifizierte Arbeiter - Produktion u. Transport 11,2% -> 9,8% (- 1,4%) ▼ - Land- u. Forstwirtschaft 0,4% -> 0,9%
(+0,5%) ►
Gering quali-fizierte Büro- und Verwal-tungskräfte ► Kassierer-, Büro-, Boten- u. Lagerberufe 3,0% -> 3,2% (+0,2%)
./.
1% = ca. 0,4 Millionen Erwerbstätige ▲ Wachstum zwischen 0,6% und 3,0% ▲▲ Wachstum zwischen 3,1% und 8,8% ▼ Abnahme zwischen 1,1% und 2,8% ▼▼ Abnahme zwischen 5,2% und 15,6%
Folgerungen aus Abb. 8 – Dynamik der Produktivkräfte 1991-2009: Fünf spannungsreiche Verschiebungen in der Berufsgliederung
1. Kompetenzrevolution:Hohe, aber balancierte Dynamik des Bildungskapitals – Anhebung vor allem innerhalb der Mitte: Gestalt der „Olive“
2. Restrukturierung des industriellen Exportmodells: Transnationale Strukturverschiebungen zu Lasten vor allem der Fachlehrberufe, aber auch der höheren Qualifikationen, aber nur sehr geringe Zunahme der Berufe mit niedrigen Qualifikationen.
3. Unterschiedliche Entwicklungsdynamikender technischen, administrativen und sozialen Arbeitnehmerberufe(a) Technische Berufe:
Zunahme auf der Ingenieursebene, Auslagerungen bei den Semiprofessionen und vor allem bei den Facharbeitern: „polarisiertes upgrading“
(b) Administrative Dienstleistungen:Zunahme der Managementberufe, Auslagerungen bei den Lehrberufen
(c) Interpersonelle Dienstleistungen:Nur geringe Zunahme der Zahl der Beschäftigten bei abnehmendem Arbeitsvolumen (Arbeitszeit) Flucht in prekäre Selbstständigkeit
4. Gleichstellung der Frauen: Zunahme vor allem von Berufsgruppen der Dienstleistungen und der höheren Qualifikation, die traditionell höhere Frauenanteile hatten; höhere Chancen von Frauen, aber auch mehr Konflikte mit Männern, die nun in diese Berufsgruppen streben
5. Territoriale Disparitäten:Regionale und transnationale Strukturverschiebungen und ökonomische Schieflagen (insbesondere zwischen Territorien midauerhaft negativer und dauerhaft positiver Export-Leistungsbilanz)
Abb. 9 Prekarität und instabile untere Mitte als zusätzliche Einkommensklassen: Die fünf Einkommensklassen nach Groh-Samberg
als Alternativen zu den statistischen Quintilen und zu verzerrenden Verallgemeinerungen zur Mitte
Einkommensklassen in Anlehnung an Groh-Samberg
Klassifikation der OECD
Einkommensklasse Höhe des Netto-Einkommens in v.H. des Durchschnittseinkommens (arithmetisches Mittel)
Höhe des Netto-Einkommens in v.H. des mitleren Einkommens (Median)
gW Gesicherter Wohlstand
132 % und mehr
bW Bescheidener Wohlstand
100% bis unter 132%
iW Instabiler Wohlstand 75% bis unter 100% Pr Prekarität 50 bis unter 75%
[75% = „Wohlstandsschwelle“ nach Hübinger]
[Die OECD definiert keine Einkommens-lage der Prekarität]
Ar Armut unter 50% unter 60% Das arithmetische Mittel geht von der Summe aller Einkommen aus und teilt diese durch die Zahl der Fälle.
Der Median geht von den Fällen aus und teilt diese in zwei Hälften. Unterhalb des Medians liegen 50% der Fälle, darüber die übrigen 50%..
Referenzen: Olaf Groh-Samberg, Armut, soziale Ausgrenzung und Klassenstruktur, Wiesbaden: VS 2009; Werner Hübinger, Prekärer Wohlstand, Freiburg: Lambertus1996.
Abb. 11 Erosion der Mitte?Die ungleiche Verteilung der Prekarisierung
Armut (unter 50% des durchschnittlichen individuellen Einkommens) – Prekarität (50 - unter 75%) – instabiler Wohlstand (75 - unter 100%), bescheidener Wohlstand (100 - unter 132%) – gesicherter Wohlstand (mehr als 132%). Datengrundlage: Mikrozensus, n = 192.101 (1991) und 181.309 (2009). Überdurchschnittliche Größen und Größenveränderungen sind fett hervorgehoben.
Folgerungen aus Abb. 11 – ungleiche Verteilung der Prekarisierung
in den Arbeitnehmerberufen 1991-20091. Prekarität und instabile untere Mitte als zusätzliche Einkommensklassen:
Die fünf Einkommensklassen nach Groh-Samberg als Alternative zu den statistischen Quintilen und zu den verzerrenden Verallgemeinerungen über die Mitte.
2, Gebremste vertikale Polarisierung der individuellen Netto-Einkommen: Kein extremes Wachstum der obersten und der untersten Einkommensklasse; stattdessen relative Umverteilung (gemessen am Durchschnittseinkommen) innerhalb der oberen und innerhalb der unteren Einkommensgruppen: von der „Orange“ zur „Erdnuss“.
3. Die Umverteilung innerhalb der unterdurchschnittlichen Einkommensklassen – vor allem zwischen 2000 und 2007: Zwischen 2000 und 2007 Halbierung der unteren Mitte („instabiler Wohlstand“) von ca. 40% auf ca, 22%, Verdoppelung der Prekarität von ca. 15% auf ca. 30% und der Armut von ca. 5% auf ca. 10%; danach leichte Abmilderung der Polarisierungstendenz.
4. Die horizontale Einkommensschere des konservativen Exportmodells: Benachteiligung der Humandienstleistungen (Wohlfahrtsstaat) gegenüber den administrativen Dienstleistungen (staatliche und private Bürokratie) und den meisten technischen Berufen (Exportmodell).
5. Das räumliche Mosaikbild ungleicher Chancen:(a) Die unteren Arbeitnehmerberufe (An. und Ungelernte und Fachlehrberufe) sind unterschiedlich betroffen. Prekaritäts- und Armutseinkommen liegen nur bei den Facharbeitern und den qualifizierten Verwaltungsberufen mit Fachlehre nahe beim Durchschnitt. In der Landwirtschaft, bei den interpersonellen Dienstleistungen und bei den gering qualifizierten Verwaltungsberufen liegen sie extrem darunter. (b) Professionen und Semiprofessionen: Fünf Gewinnergruppen, eine relativ benachteiligte Gruppe (die Semiprofessionen in den Humandienstleistungen)
6. Qualitative Dimensionen der Prekarisierung: Geringe Wochenarbeitszeit und befristete Vertragsdauer fallen im Allgemeinen mit den niedrigen Einkommensstandards zusammen.
7. Diskriminierung nach Klasse, Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund und Region:Alle diese Gruppen sind in den benachteiligten Einkommensklassen weit über dem Durchschnitt vertreten (Sonderauswertung der Daten für das Institut für Gesellschaftsanalyse der RLS)
Abb. 12 Ungleiche Verteilung der Prekarisierung bei den Selbstständigen: Rückkehr der prekären Selbstständigen
Verschiebungen der Anteile der selbstständigen Berufsgruppenan den Erwerbstätigen 1991 – 2009
2009 2007 2000 1995 1991 Freie Berufe 2,5 %
1.050.000 2,2 % 920.000
0,9 % 380.000
0,6 % 250.000
0,9 % 380.000
Große und mittlere Unternehmer
1,2 % 500.000
1,2 % 500.000
0,7 % 290.000
1,5 % 630.000
1,1 % 460.000
Kleingewerbe bis zu 9 Beschäftigte
3,3 % 1.390.000
3,5 % 1.470.000
1,5 % 630.000
2,9 % 1.220.000
3,4 % 1.430.000
Kleingewerbe ohne Beschäftigte
5,2 % 2.180.000
5,4 % 2.270.000
4,5 % 1.890.000
4,1 % 1.430.000
4,1% 1.720.000
Folgerungen aus Abb. 12: (1) Zunahme verdeckter Verlierergruppen in allen vier selbstständigen
Berufsgruppen, insbesondere 2000-2007 (2) Verdreifachung der Freien Berufe: Die Neuen Freien Berufe als hochmodernes akademisches Prekariat