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René Buchholz PREKÄRE IDENTITÄTEN Oder: Gibt es ein Wesen des Judentums? Updated: January 2020
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Prekäre Identitäten - Oder: Gibt es ein Wesen des Judentums?

Jan 23, 2023

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Girma Kelboro
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Page 1: Prekäre Identitäten - Oder: Gibt es ein Wesen des Judentums?

René Buchholz

PREKÄRE IDENTITÄTEN

Oder: Gibt es ein Wesen des

Judentums?

Updated: January 2020

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„Ererbtes Dissidententum, Halsstarrigkeit, Hin-

tersinn, Widerstand gegen den Sachzwang,

Störfaktor.“

Emmanuel Levinas1

1. Krise und Selbstvergewisserung

Was ist das Judentum? Gegenfrage: Wer ist befugt, eine Definition des Ju-

dentums zu geben? „We Jews“, konstatieren Amos Oz und Fania Oz-

Salzberger, „are notoriously unable to agree about anything that begins with

the words ‘we Jews’.”2 ‚We Jews‘ könnte sich ebenso als Chimäre erweisen

wie ‚the Jews‘. Weder von innen noch von außen kann die ‚Essenz‘ des Ju-

dentums formuliert werden, ohne gleich auf Widerspruch zu stoßen – aber

vielleicht gehört dieser Befund ja schon zu seinem ‚Wesen‘, wenn es denn

ein solches gibt. Welche ‚Essenz‘ also verbindet diese „zerstrittene Sipp-

schaft“ (Arthur Hertzberg)3? Über Jahrhunderte hinweg bereitete eine solche

Frage den meisten Juden keine schlaflosen Nächte, und die Kontroversen der

rabbinischen Literatur entzündeten sich an anderen Problemen. Wenn nach

dem ‚Wesen‘ oder – moderner: der Identität einer Kultur, Religion oder Reli-

gionsgemeinschaft gefragt wird, so hat sie bereits ihre Selbstverständlichkeit

verloren, ihre Identität ist, um eine Formulierung Gregor Hoffs und Thomas

Meyers aufzugreifen, prekär geworden4. Entweder steht die Wesens-Frage,

1 Emmanuel LEVINAS, Anspruchsvolles Judentum. Talmudische Diskurse. Übersetzt von Frank Miething,

Frankfurt/M. 1996, 9. 2 Amos OZ / Fania OZ-SALZBERGER, Jews and Words (A companion volume to the Posen Library of Jew-

ish Culture and Civilization), New Haven-London 2012, 147. 3 Arthur HERTZBERG, (in Zusammenarbeit mit Aron HIRT-MANHEIMER ) Wer ist Jude? Wesen und Prä-

gung eines Volkes. Übersetzt von Udo Rennert, München-Wien 2000, 55. „Die weitverbreitete Vorstel-

lung“ heißt es wenig später, „von der Einheit des Weltjudentums ist ein Mythos, den sich Antisemiten

lange Zeit zunutze gemacht haben. (ebd., 56) 4 Vgl. Gregor HOFF, Die prekäre Identität des Christlichen. Die Herausforderung postModernen Diffe-

renzdenkens für eine theologische Hermeneutik, Paderborn 2001, 11 (dort auch der Hinweis auf Thomas

MEYER).

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 2

wie bei Feuerbach, im Zeichen einer Beerbung, einer reductio ad hominem

dessen, was in den Himmel projiziert wurde, oder es soll ein invariantes Sub-

strat der Religion inmitten des von den historischen Wissenschaften konsta-

tierten Wandels eruiert werden. Beides aber kennzeichnet den Stand von Re-

ligion seit den Anfängen der Moderne. Die Kritik politischer wie religiöser

Autorität, der Zerfall jener Milieus, die bislang Träger der Überlieferung und

religiösen Sozialisation waren, die Möglichkeit (und Notwendigkeit), die

mundane Wirklichkeit aus eigenen, wissenschaftlich beschreibbaren Regeln

zu erklären und nicht zuletzt die Einsicht in die Kreativität und Spontaneität

des Subjekts – auch bei Dokumenten der Offenbarung, die fortan nicht mehr

als wörtliches Diktat Gottes angesehen werden konnten –, zwangen zu einer

kritischen Rekonstruktion des Offenbarungsanspruchs und der in ihm grün-

denden religiösen Traditionen. Diese Anstrengungen konnten sowohl im In-

teresse der Religionskritik als auch der theologischen Selbstvergewisserung

(als apologia ad intra et ad extra) erfolgen. Die Zahl der Schriften mit dem

Titel Das Wesen der Religion, des Christentums oder des Judentums nimmt

seit Anfang des 19. Jahrhunderts deutlich zu. Sie dienen unterschiedlichen

und nicht selten zweifelhaften Zwecken: In den antisemitischen Schriften war

die Frage nach dem Wesen des Judentums schon zu Beginn der Abhandlung

entschieden, es kam nur noch darauf an, dem Vorurteil durch Fußnoten den

Schein der Wissenschaftlichkeit zu verleihen. Aber auch in Stellungnahmen,

die sich als kritische Fortsetzung der radikalen Aufklärung begriffen und das

Programm der Emanzipation unter den gesellschaftlichen Bedingungen des

19. Jahrhunderts zu formulieren versuchten, finden sich Affinitäten zum An-

tisemitismus, wie etwa in Marxens berüchtigter Replik auf Bruno Bauers Die

Judenfrage. Unbekümmert um wirtschafts- sozial- und religionsgeschichtli-

che Differenzierungen – Religion wird von Marx eher beiläufig abgefertigt –

sieht er die ‚Identität‘ des Judentums nicht in den komplexen religiösen Tra-

ditionen, sondern in der weltlichen Funktion, der es sich als reale Größe an-

geblich verdankt: „Der Schacher“5. Auch wenn man die Formulierungen als

5 Vgl. Karl MARX, Zur Judenfrage (1844), in: Karl MARX/Friedrich ENGELS, Gesamtausgabe, hrsg. vom

Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Abt. I, Band 2, Berlin 1982, 141-169, hier: 164;

noch Franz MEHRING verteidigt die Schrift trotz des wachsenden Antisemitismus (vgl. ders., Karl Marx.

Geschichte seines Lebens Leipzig 51933 = Gesammelte Schriften und Aufsätze, hrsg. von Eduard FUCHS,

Band XII, 93-98), während sie bei Gustav MAYER, eher als ‚Jugendsünde‘ erscheint (vgl. ders., Aus der

Welt des Sozialismus. Kleine historische Beiträge, Berlin o.J [1927], 13-18); HERTZBERG , Wer ist Jude?

220-222; Shlomo AVINERI, Karl Marx: Philosophy and Revolution, New Haven-London 2019, 41-54

und Micha BRUMLIK, Hegels Juden. Reformer, Sozialisten, Zionisten, Berlin 2019, 102-118. Auch wenn

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 3

ironische Replik auf Bauers Antisemitismus deutet und Marx später auf diese

Schrift nicht mehr zurückkam, färben die antisemitischen Stereotypen auf die

Schrift ab. So eignet der Frage nach dem ‚Wesen‘ des Judentums ein gewis-

ser Hautgout.

Wo hingegen Religion gegenüber ihren Verächtern als eine beerbungsresis-

tente Größe erwiesen werden sollte, erschien es als notwendig zu zeigen, dass

ihr Wahrheitsanspruch und ihre unverbrauchte Vitalität sich in den wech-

selnden historischen Gestalten behaupteten, ja durch sie hindurch zu realisie-

ren vermochten. Für das Judentum ergab sich im 19. Jahrhundert ein weiteres

Problem, das die Schriften zu seinem ‚Wesen‘ beantworten oder doch einer

Antwort näher führen sollten: Trotz der zögernd einsetzenden politischen

Emanzipation der Juden blieben nicht nur bei christlichen Theologen antijü-

dische Reserven; „der Fanatismus schwand“, wie Abraham Geiger schrieb,

„aber die Zurücksetzung der Juden hatte man zu lieb gewonnen, um sie mit aufzuge-

ben. Da kam dann der Scharfsinn hinterher und stützte auf allerhand Weisen; bald soll-

te eine fremde Nationalität, bald die Nahrungsweise der Juden, bald ihre nicht vollstän-

digen Leistungen an den Staat, bald Grundfehler im Charakter der Juden den Rechts-

grund für die ungerechte Behandlung hergeben.“6

Lassen wir dahingestellt, ob es, wie Geiger meint, „ blos verjährtes Vorurt-

heil“ war7 (und ob Vorurteile eine Verjährungsfrist haben) oder nicht eher die

Persistenz eines allen Urteilen und Erfahrungen vorausgehenden und sie prä-

genden Schemas, das, religiös oder säkularisiert, noch eine große Zukunft

haben sollte. Mochten die Ewiggestrigen kaum zu überzeugen sein, so musste

doch den liberal denkenden Zeitgenossen bis in die Regierungen hinein die

Anschlussfähigkeit des Judentums an die Moderne demonstriert werden.

Stand das Judentum unter dem Verdacht ein vom Christentum überholtes, auf

uralte äußere Zeremonien beschränktes historisches Fossil zu sein, das nur

um den Preis einer Selbstliquidierung sich den modernen Gesellschaften öff-

nen konnte, so bescheinigte Geigers Polemik den Gegnern der Emanzipation

die Rückständigkeit und Erstarrung ihres Bewusstseins. Ein Judentum, das

sich in erster Linie als von aller Naturverfallenheit emanzipierte, als geistige

Größe verstand, dem Europa – zum Teil über das Christentum vermittelt –

MARX und ENGELS in der Heiligen Familie sich explizit gegen BAUERs Antisemitismus wenden (vgl.

AVINERI, Karl Marx, 49-51; BRUMIK, Hegels Juden, 112-116) bleibt doch ein schaler Nachgeschmack. 6 Abraham GEIGER, Der Kampf christlicher Theologen gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden, in:

Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 1 (1835), 52-67 und 340-357; 2 (1836), 78-92 und

446-473, hier: 1 (1835), 53. 7 Ebd.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 4

die religionsgeschichtliche Basis eines zivilisierten sittlichen Bewusstseins

verdankt, musste in seinem Wert und seiner Bedeutung von einer aufgeklär-

ten Gesellschaft anerkannt werden. So liegt für Hermann Cohen gerade im

prophetischen Messianismus mit seiner Verbindung von Ethik und Religion

„eine sittliche Urkraft“; er ist „die gewaltigste Idee, welche die Ethik aus ei-

nem der philosophischen Methodik fremden Gebiete zu entlehnen und aufzu-

nehmen hat“8. Emil Fackenheim geht wohl nicht fehl, wenn er bemerkt, dass

nach Cohen „modern philosophy (and hence the modern world) stands itself

in need of foundations originally, if no longer exclusively, Jewish in charac-

ter.“9 Mit der Ablehnung des Judentums zerstört Europa seine eigenen zivili-

satorischen Grundlagen und schließlich auch sich selbst.

Nicht ein in Kurzformeln zu fassender Glaube (Dogmen) und keine Dogma-

tik, für die nach Leo Baeck im Judentum die Voraussetzung fehlt10

, sondern

die enge Verbindung von der Einheit Gottes und der Einheit des Sittlichen

machen nach diesem Verständnis das Spezifische des Judentums aus11

. Bei

allem Wandel der äußeren Form bleibt das Judentum in seinem produktiven

geistigen Wesen, das im Laufe der Geschichte fortschreitend zu sich kommt,

mit sich identisch, ohne in ein statisches Phänomen überzugehen. „Das Ju-

dentum ist“, wie Hermann Cohen versicherte, „ein einheitlicher Begriff nicht

nur etwa für die Volkseinheit, sondern für die Einheit der Religion. Und diese

Einheit bewährt sich ebenso am Begriffe des einzigen Gottes, wie am Begrif-

fe des Menschen, der selbst auch einzig ist unter allen Wesen der Natur.“12

Schärfer noch wird diese Einheit von Leo Baeck 1905 in seinem Wesen des

Judentums als Antwort auf Harnacks Wesen des Christentums (11900

13) arti-

kuliert, wenn er gleich zu Beginn des Buches schreibt:

8 Hermann COHEN, Ethik des reinen Willens (System der Philosophie, 2. Teil), Berlin

21907, 407. Ähnlich

auch Leo BAECK: „Nur in Israel hat es einen ethischen Monotheismus gegeben, und wo er späterhin an-

derwärtig zu finden ist, dort ist er mittelbar oder unmittelbar von Israel hergekommen.“ (Das Wesen des

Judentums [11905; die Seitenzahl hinter dem Schrägstrich bezieht sich auf diese Ausgabe] = DERS., Wer-

ke, Band 1, hrsg. von Albert H. FRIEDLÄNDER und Bertold KLAPPERT, Gütersloh 2006, 89/59)

9 Emil FACKENHEIM, Encounters Between Judaism and Modern Philosophy. A Preface to Future Jewish

Thought, New York 1973, 132.

10

BAECK, Das Wesen des Judentums, 45/6; DERS., Hat das überlieferte Judentum Dogmen? = Aus drei

Jahrtausenden (1938/1958), in: Werke, Band 4, hrsg. von Albert H. FRIEDLÄNDER, Bertold KLAPPERT

und Werner Licharz, Gütersloh 2006, 31-45. 11

Vgl. BAECK, Das Wesen des Judentums, 159/142. 12

Hermann COHEN, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (11918), Frankfurt/M.

21929,

Nachdruck Darmstadt 1966, 37 13

Vgl. Adolf von HARNACK, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller

Facultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten, Leipzig 1900, Neudruck,

hrsg. von Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 2005

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 5

„Das Wesen wird durch das, was errungen worden ist und erhalten blieb, bezeichnet.

Ein solch Bleibendes, Wesentliches hat das Judentum, trotz seinen vielgestaltigen Ge-

bieten, trotz seinen schwankenden Zeiten. Sie alle besitzen darin ihr Gemeinsames, sie

haben eine Einheit ihres Denkens und Empfindens und damit die innerliche Verbin-

dung in ihrer Existenz. Das Bewußtsein, eine eigene Welt zu besitzen, diese seelische

Kraft, welche die zerstreuten Tage zusammenhält, war in ihnen immer rege. Sie alle

haben ihre religiöse Heimat in der sie leben“14

Das ‚Wesen‘ des Judentums, das mit der Einheit Gottes auch die sittlichen

Grundlagen des Zusammenlebens verbindet, ist für Baeck als ein geschicht-

lich Entsprungenes nicht schlechthin zeitlos, bildet aber fortan die kognitive,

soziale wie emotionale Grundlage aller weiteren Entwicklung, in der es zur

vollen Entfaltung kommt; es ist deshalb auch bei Baeck kein Statisches,

schlechthin Gegebenes. Auf seiner Basis bildet sich eine eigene Welt aus, die

das Judentum kennzeichnet und von anderen Gruppen unterscheidet. Zu-

gleich bereichern die Errungenschaften der jüdischen Geschichte auch die

ganze Menschheit15

. Diesen Gedanken formulierte mit Nachdruck auch der in

Fürth geborene Kaufmann Kohler (1843-1926), der 1869 in die Vereinigten

Staaten emigrierte16

. Er gehörte jenem Kreis von Rabbinern an, die 1885 jü-

dische ‚Essentials‘ aus der Perspektive des Reformjudentums auf der Pitts-

burgh Platform formulierten; ein Text, der zugleich programmatische Bedeu-

tung hatte17

. In seinem Grundriss einer systematischen Theologie des Juden-

tums (1910) widmete Kohler der Frage nach dem Wesen des Judentums ein

eigenes Kapitel. Im Zentrum stand für ihn „die Lehre vom „einzig-einen hei-

ligen Gott und der Auf- und Ausbau seines Reiches der Wahrheit, der Ge-

rechtigkeit und des Friedens in der Menschheit“ als „Kern, Mittelpunkt und

Zweck des Judentums“. Die „Verbreitung und Verteidigung dieser Lehre“

bilde die „geschichtliche Mission des jüdischen Volkes“18

. Zurückhaltender

gegenüber dem Begriff der ‚Erwählung‘ spricht Kohler hier von der ge-

14

BAECK, Das Wesen des Judentums, 41/2f. 15

Vgl. ebd., 249-276 / 251-283. 16

Zu KOHLERs Biographie vgl. David PHILIPSON, Biographical Sketch of Dr. K. Kohler, in: DERS. / David

NEUMARK / Julian MORGENSTERN (eds.), Studies in Jewish Literature, Berlin 1913, 11-29; den Artikel

Kohler, Kaufmann, in: Jüdisches Lexikon, begründet von Georg HERLITZ und Bruno KIRSCHNER, Band

III, Berlin 1929, Sp. 752-754. KOHLER selbst hat sich seiner theologischen Anfänge in der Neoorthodo-

xie eines Samson Raphael HIRSCH nie geschämt, sondern bei aller Differenz mit einigem Respekt von

HIRSCH gesprochen. 17

Der Text der PITTSBURGH PLATFORM ist dokumentiert in W. Gunther PLAUT (ed.), The Growth of Re-

form Judaism. American and European Sources (11965), Philadelphia 2015, 31-41; online siehe unter

https://www.jewishvirtuallibrary.org/the-pittsburgh-platform. 18

Kaufmann KOHLER, Grundriss einer systematischen Theologie des Judentums auf geschichtlicher

Grundlage, Leipzig 1910 (Nachdruck Hildesheim-New York 1979), 13.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 6

schichtlichen Mission, die dem jüdischen Volk zukomme, hält damit aber

einen wichtigen Aspekt des Erwählungsgedankens19

fest. Die „Gebundenheit

an den jüdischen Stamm“ ist keine Beschränkung, sondern sichert „den offe-

nen Sinn für den Wert der Lebensgüter“ und bewahrt so die Religion davor,

„sich in ein Schattendasein zu verflüchtigen. … Es will die Heiligung, nicht

die Verjenseitigung des Lebens; es will die Tat und die wertende Gesinnung,

nicht den leeren blinden Glauben. Es will keine weltverneinende Erlösungs-

religion sein, weil es keine radikale Macht des Bösen im Menschen oder in

der Welt kennt.“20

Schärfer noch als bei Baeck tritt hier die Spitze gegen das

Christentum mit seiner Tendenz zur Spiritualisierung und seinem Anspruch,

das Judentum abzulösen, hervor. Die Herausbildung einer eigenen histori-

schen Größe, die das Judentum kennzeichnet, die Betonung einer spezifi-

schen Mission und die Entwicklung ethischer Prinzipien, die in Prophetie und

Messianismus hinausweisen auf die gesamte Menschheit, entkräften den al-

ten Verdacht, das Judentum sei einem tribalistischen vormodernen Denken

verhaftet und beschränke sich ethisch auf bloße äußerlich bleibende Formen.

Die Geistigkeit, der sittliche Ernst und die Modernität des Judentums, wie es

vor allem im Licht des ethischen Monotheismus erschien, dessen Begriff

Herman Cohen in seinen religionsphilosophischen Schriften entfaltete21

, be-

gründete mindestens seine Ebenbürtigkeit gegenüber dem Christentum; eher

schon die Überlegenheit. Da es zudem weder Trinitäts- noch Inkarnationsleh-

re kennt und ihm eine ausgebildete Erbsündenlehre fremd blieb, bietet es in

der Sicht liberaler Theologen und Religionsphilosophen weitaus weniger in-

tellektuelle Hürden und mythische Reminiszenzen als das Christentum. Die –

zumindest dem Anspruch nach – von theologischen Vorgaben unabhängige

historisch-kritisch verfahrende Erhellung der jüdischen Geschichte und Kul-

tur von den biblischen Anfängen an (Wissenschaft des Judentums) einerseits

und eine reformorientierte theologische Systematik andererseits erfüllten eine

doppelte Aufgabe: nach innen, gegenüber der Orthodoxie, verwiesen sie auf

die Wandlungsfähigkeit von Liturgie, Halakhah und Brauch, nach außen

konnte die ungebrochene Lebendigkeit und schöpferische Kraft des Juden-

tums in seinen reichen Traditionen demonstriert werden. Theologisch verab-

schiedete man sich von einem in der jüdischen wie christliche Tradition ver-

19

Vgl. hierzu auch HERTZBERG, wer ist Jude? 34-55. 20

KOHLER, Grundriss, 14f. 21

Vgl. Hermann COHEN, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Gießen 1915, 126-133;

DERS., Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 7

breiteten instruktionstheoretischen Offenbarungsbegriff und erkannte, dass

auch die Thora „eine vielerlei Geschichtsepochen durchlaufende Entwick-

lung“ aufweist und „statt der einmaligen göttlichen Offenbarung menschliche

Urheber anzunehmen“ sind22

. Um sowohl den Befunden moderner Bibelkri-

tik, die auf orthodoxer Seite angestrengt ignoriert wurden, als auch der zeit-

genössischen (nach-) kantischen Subjektphilosophie Rechnung zu tragen,

entwickelten Theologen und Religionsphilosophen, die der Reformbewegung

nahe standen, das Modell einer progressiven Offenbarung23

, das weit über die

vorsichtigen, im Grunde ‚halbierten‘ Modernisierungsbestrebungen der Neo-

Orthodoxie hinausging.

2. Judaism or Judaisms?

Die Leistungen, auf welche diese Identitätssicherung jüdischer Historiker,

Religionsphilosophen und Theologen verweisen konnten, sind in der Tat be-

trächtlich; sie öffneten Wege jenseits von Konversion und religiöser Indiffe-

renz. Aber nicht nur von orthodoxer Seite meldeten sich Kritik und ‚Verlust-

anzeigen‘. Lässt sich die schwer zu definierende Einheit von ethnischer und

religiöser Identität des Judentums noch denken, wenn es – trotz Kohlers aus-

drücklicher Distanzierung von aller „Verjenseitigung“ – primär als geistige

Größe gefasst wird – also das empirische Subjekt als Träger dieser Einheit

zurücktritt? Geht die Spiritualisierung des Judentums nicht auf Kosten gerade

der Lebendigkeit und schöpferischen Kraft, die es als empirisches, geschicht-

liches Phänomen behauptet? Schließlich blieben wichtige Phänomene wie die

mystischen Traditionen oder ein mit dem Bild des kontinuierlichen Fort-

schritts nur schwer vereinbarer apokalyptischer Messianismus in ihrer Bedeu-

tung unterbewertet. Sie entsprachen kaum dem Bedürfnis, sich – durchaus

selbstbewusst – einer europäischen Kultur zu empfehlen, die sich als aufge-

klärt und fortschrittlich sah, deren Bereitschaft jedoch, das Judentum unein-

geschränkt zu achten und nicht bloß zu tolerieren (so Samuel Hirsch24

), ge-

ring war und deren Lichter noch nicht einmal anderthalb Jahrzehnte nach

dem Jahrhundertwechsel ausgingen. Die Defizite eben dieses Judentums, das

22

KOHLER, Grundriss, 34. 23

Programmatisch formuliert von KOHLER, Grundriss, 25-40. 24

Vgl. Samuel HIRSCH, Die Religionsphilosophie der Juden oder das Prinzip der jüdischen Religionsan-

schauung und sein Verhältniß zum Heidenthum, Christenthum und zur absoluten Philosophie, Leipzig

1842, V.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 8

die europäische Kultur ernster nahm als diese sich selbst, wurden offen und

nicht selten polemisch von der zionistischen Kritik formuliert, aber seit den

dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts auch auf der anderen Seite des At-

lantik im Kontext des Rekonstruktionsimus angesprochen. Das Judentum ist

keine bloße Glaubensgemeinschaft oder spirituelle Größe, es lässt sich auch

nicht auf den ethischen Monotheismus oder eine zeitlose Essenz reduzieren.

Zu den Kritikern einer ‚Wesensdefinition‘ des Judentums (und mit ihm

auch aller Apologetik) gehörte Gershom Scholem. Als eine lebendige Größe

unterliegt das Judentum Veränderungen, die den Rahmen einer strikt syste-

matischen oder dogmatischen Festlegung sprengen und diese Veränderungen

sind gerade Ausdruck seiner Lebendigkeit:

„Judaism cannot be defined according to its essence, since it has no essence. Judaism

cannot therefore be regarded as a closed historical phenomenon whose development

and essence came into focus by a finite sequence of historical, philosophical, doctrinal,

or dogmatic judgments and statements. … Judaism, however, cannot be defined by or

with any authority, or in any clear way, simply because it is a living entity, having

transformed itself at various stages in its history and having made real choices, discard-

ing many phenomena that at one time were very much alive in the Jewish world. … If

Judaism cannot be defined in any dogmatic way, then we may not assume that it pos-

sesses any a priori qualities that are intrinsic to it or might emerge in it; indeed, as an

enduring and evolving historic force, Judaism undergoes continuous transformation.”25

Diese prinzipielle Skepsis schließt nicht aus, dass die unterschiedlichen Phä-

nomene des Judentums im Zeichen “of a great idea, namely monotheism”

sich entwickelten26

. Nur ist diese Entwicklung weder im Sinne einer fort-

schreitenden Vergeistigung, noch einer Entelechie zu verstehen, als wären

alle Erscheinungen der jüdischen Geschichte annähernd hegelianisch als

Selbstentfaltung einer Idee zu verstehen. Auch meint Idee im Sinne Scholems

nicht einen Oberbegriff, dem die einzelnen Erscheinungen der Geschichte

subsumiert werden. Eher bezeichnet sie das Zentrum, um das herum sich die

diversen Phänomene gruppieren lassen, und was es mit dieser ‚Idee‘ auf sich

hat, bleibt verborgen, solange nicht alle Phänomene – auch die scheinbar ab-

seitigen und befremdlichen – untersucht und abgeschritten sind. Jenseits einer

in diesem Sinne gefassten Idee erschöpfte sich alle Forschung entweder auf

eine idealistische Reduzierung der Phänomene auf vorgefasste Begriffe oder

25

Gershom SCHOLEM, What is Judaism? = DERS., On the Possibility of Jewish Mysticism in Our Time and

Other Essays, edited by Avraham SHAPIRA, Philadelphia 1997, 114-117, hier: 114f. 26

SCHOLEM, What is Judaism? 115; vgl. auch 117.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 9

in der bloßen Sammlung und Katalogisierung von so genannten Fakten; eine

Art Friedhofsverwaltung der jüdischen Geschichte.

Aber nicht nur die idealistische Konstruktion, auch die (orthodoxe) Fixierung

auf die Halakhah verfehlt die Fülle der jüdischen Geschichte und ihrer Her-

vorbringungen: „Judaism has taken on many varied forms, and to think of it

as only a legislative body of precepts seems to me as an historian and as an

historian of ideas to be utter nonsense.”27

Das Judentum muss, wie Scholem

fordert, in weiteren Begriffen erschlossen werden als in denjenigen eines ha-

lakhischen Judentums, einer Glaubensgemeinschaft (des ‚deutschen Staats-

bürgers jüdischen Glaubens‘) oder selbst dem eines ethischen Monotheismus

– so zentral die Einheit und Einzigkeit Gottes für das Judentum auch ist28

.

Die historische Forschung der letzten vier Jahrzehnte hat diese Sicht eher be-

stätigt und auch jene anxiety of influence29

weitgehend überwunden, von der

selbst die Forschungen Scholems keineswegs frei waren. Für die Jewish Stu-

dies Nordamerikas verbindet sich diese methodische wie inhaltliche Öffnung

nicht zuletzt mit dem Namen Jacob Neusners, der mit Scholem die Zweifel

an einem zeitlosen, allem geschichtlichen Wandel zugrunde liegenden ‚We-

sen des Judentums‘, teilte. Bereits in seiner Antrittsvorlesung vor der Wis-

consin Society for Jewish Learning hatte Neusner 1961 sein Programm nicht

zur uneingeschränkten Freude des Auditoriums dargelegt:

„Jewish culture cannot be reduced to a geometry, of course, but it needs to be reduced

to a history, or, more specifically, to a history of ideas. Approaching the history of Jew-

ish civilization, one finds order and development only with great difficulty because

there has never been such a thing as unitary and monolithic ‘Judaism,’ but rather, ‘Ju-

daisms,’the Judaism of the prophets and the mystics, the Judaism of the rationalists, the

Judaism of the lawyers, the Judaism of the moralists, the Judaism of the poets, the Ju-

daism of the codifiers, the Judaism of the nationalists – and even the Judaism of the

municipal authorities. All these constitute expressions of Jewish culture ans all offer a

significant insight. The continuities of Judaism will emerge from study of their com-

plexities; to reduce ‘Judaisms’ to the ‘essentials of Judaism’ yields something neither

authentic nor even recognizable.“30

Was Neusner hier bot, waren, nach den Worten seines Biographen Aaron W.

Hughes, „new ideas about understanding the complexity of Judaism – a set of 27

Ebd., 115. 28

Tangiert von dieser Kritik ist auch Franz ROSENZWEIGs zeitlose Konzeption des Judentums, das ganz aus

seiner liturgischen Existenz heraus lebt. 29

Zum Begriff vgl. Harold BLOOM, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York-Oxford 21997, XI-XLVII (Preface),

30 Die Antrittsvorlesung Jacob NEUSNERs wird zitiert nach Aaron W. HUGHES, Jacob Neusner: An Ameri-

can Jewish Iconoclast, New York 2016, 84.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 10

overlapping Judaisms – that cannot be reduced to a basic narrative“31

. Für

Neusner war diese Befreiung von ‚Wesensfragen‘ erst der Anfang einer For-

schungsarbeit, die nach seinem eigenen Verständnis schließlich den Abschied

von der Jeshiva vollzog32

und mit ihm die ‚vorkritischen‘ Eierschalen abwarf,

um sich unvoreingenommen den unterschiedlichen Phänomenen der jüdi-

schen Geschichte und den diversen jüdischen Kulturen zuzuwenden – „out of

the single world of Jewish studies under ethnic auspices and for ethnic purpo-

ses“33

. Das impliziert die Erforschung der Wechselwirkungen zwischen jüdi-

schen und nichtjüdischen Kulturen, das Verständnis von Religionen als ‚Sys-

teme‘34

, die Erforschung der sozialen Strukturen ebenso wie die vorbehaltlo-

se Öffnung zu anderen historischen Disziplinen und ihren Methoden. Die me-

thodische Erneuerung der Judaistik, ihre Integration in die Religionswissen-

schaft und der Abschied von der ‚Wesensfrage‘ mit ihrer Fixierung auf den

‚basic narrative‘ sind Teil eines Reformprojekts. Die Judaistik hört so erst

auf, sich in einem eng begrenzten Binnenraum zu bewegen und Selbstgesprä-

che zu führen: „The old academy celebrates itself and bores the world. The

new academy addresses the world and learns from everyone all the time“,

heißt es in einer pointierten Formulierung35

. Anstatt sich auf ein chimärisch

bleibendes ‘Wesen’ zu konzentrieren, kommt es darauf an, die Merkmale ei-

nes religiösen Systems zu eruieren, das konstituiert wird durch drei Merkma-

31

Ebd. 32

Deren überkommenen Paradigmen teilweise noch verhaftet geblieben zu sein, warf NEUSNER dem For-

schungs- und Lehrbetrieb am Jewish Theological Seminary vor. Die dortigen Wissenschaftler – darunter

kein geringerer als Saul LIEBERMAN – repräsentierten aus seiner Sicht eine Übergangsphase der moder-

nen Judaistik, hin zu einem „new intellectual paradigm of learning“, als dessen Vertreter er sich selbst

sah und dessen Programmatik er formulierte (vgl. Jacob NEUSNER, Paradigms in Passage. Patterns of

Change in the Contemporary Study of Judaism, Lanham 1988, 11-23 und 35-44). Das JTS hatte NEUS-

NER selbst im Rahmen seiner Ausbildung ab 1954 ‚von innen‘ kennengelernt und 1958 mit gemischten

Gefühlen verlassen (vgl. HUGHES, Jacob Neusner, 40-56). Wenig Eindruck machte auf NEUSNER auch

Salo F. BARON an der Columbia University, wohin er 1958 wechselte (vgl. ebd., 23-31). 33

Jacob NEUSNER, Paradigms in Passage, 9. 34

Vgl. ebd., 38-40. 35

Ebd. – Es fällt übrigens auf, dass NEUSNER in seiner Kritik der amerikanischen Judaistik, wie er sie

selbst in den 50er und 60er Jahre erlebte und wohl auch erlitt, auf die wissenschaftlichen Ursprünge in

Europa seit Leopold ZUNZ kaum zu sprechen kommt. Dabei hätte er seine eigenen Reformvorschläge für

die Jewish Studies in eben diese Tradition stellen können: als Fortschreibung und, was die institutionel-

len Bedingungen betrifft, Vollendung im amerikanischen Raum, wo, anders als in Europa vor 1945, die

Judaistik einen legitimen Platz an den Universitäten behaupten und aus der Vormundschaft von Vereinen

und Gemeinden heraustreten konnte – sofern sie dies denn wirklich anstrebte. Die aus Europa stammen-

den Gelehrten etwa am JTS aber galten NEUSNER eher als Inbegriff einer rückständigen ethnischen Fixie-

rung; gefangen in Selbstgesprächen und alten apologetischen Fronten. Ausgenommen von diesem Urteil

ist nicht einmal die immense Forschungsarbeit eines Gershom SCHOLEM ungeachtet seiner zuweilen

fulminanten Kritik an der Wissenschaft des Judentums und ihrer Protagonisten (vgl. ders., Judaica 6,

Frankfurt/M. 1997). Aus NEUSNERs Sicht war auch diese Kritik den Frontstellungen europäischer Dis-

kurse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verhaftet. In den heftigen Konflikten, die NEUSNER um die Er-

neuerung der Judaistik austrug, wurde er seinen Gegnern und Zeitgenossen nicht immer gerecht.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 11

le: „social group / Israel)“, „worldview / Torah)“ und „way of life / comman-

dments“36

. Insofern gilt: „Judaism is a religion like any other.“37

Ist aber das

Judentum ausschließlich eine Religion und versteht es sich auch heute so? Es

gibt vielleicht – jenseits einer ‚identity policy‘ – gute Gründe, zu zögern, die

Beschreibung des Judentums integral in den Kategorien der Religionswissen-

schaft aufgehen zu lassen. Die Rezeptionsgeschichte der fundierenden und

prägenden Texte ist keineswegs auf die Gruppe praktizierender Juden (von

Neusner Judaists genannt38

) beschränkt, sondern umfasst auch Teile des hete-

rogenen säkularen Judentums mit seinen ‚unorthodoxen‘ Lesarten. Diese

Gruppe aus den Jewish/Judaic Studies auszuschließen, bedeutet eine unzuläs-

sige Zensur der Forschung39

angesichts dessen, dass in der Moderne die reli-

giösen Traditionen brüchig wurden und andere Lesarten sie ergänzen oder

gar ersetzen wollen. Auch diese Entwicklungen sind Gegenstand einer Wis-

senschaft, die das Judentum, und zwar nicht allein das normativ gewordene

und praktizierte, vorbehaltlos zu ihrem Gegenstand hat. Die Judaistik bezieht

über die jüdische Religionsgeschichte hinaus auch die Moderne ein d.h. die

Gegenwart des Judentums mit seinen religiösen wie säkularen Formen. Inso-

fern ist sie keine reine Religionswissenschaft, sondern eine Wissenschaft der

Jewish cultures40

, in denen religiöse Traditionen, wie gebrochen und verwan-

delt auch immer, explizit oder implizit fortleben.

3. Identitäten, Kulturen und Krisen

Neusners Bedeutung für eine weitere Emanzipation der Judaistik von Interes-

sen der Gemeinden und der Fixierung auf rein innerjüdische Belange ist

kaum zu überschätzen. Seine umfangreichen Forschungen wurden vielfach

aufgegriffen, aber zum Teil auch erheblich modifiziert; das betrifft etwa die

These, „that through a process of selection, reformulation, and systematizati-

on, the Bavli’s creators form a single, unified voice with a coherent message

36

Jacob NEUSNER, Judaism: The Basics, Oxford-New York 2006, 2f. 37

Ebd., 1. 38

Ebd., 6. 39

Dort, wo, wie in NEUSNERs Buch, die Grundlagen (the basics) dargestellt werden, ist die Beschränkung

auf dezidiert religiöse Gruppen zwar gerechtfertigt; doch bedarf die Erhellung der historischen Genese

des normativen Judentums durchaus der Einbeziehung jener Kreise, die im Zuge einer noch weiter zu

analysierenden Identitätspolitik ausgeschlossen und zu Gegnern erklärt wurden. 40

Zur Judaistik als historische Genese und Differenzierung der Jewish cultures vgl. David BIALE, Cultures

of the Jews. A New History, New York 2002.

Page 13: Prekäre Identitäten - Oder: Gibt es ein Wesen des Judentums?

René Buchholz: Prekäre Identitäten 12

to which tradition is subjugated or adapted“41

. Stattdessen ist mit einer weit-

aus größeren Diversifikation und Diskontinuitäten zur Tradition zu rechnen –

einschließlich der Endredaktion als eigene Stimme und Lese(r)lenkung.

Darüber hinaus bieten die Bibelwissenschaft und Archäologie ein neues Bild

der Geschichte Israels. Wie gestaltete sich etwa das Verhältnis des vorexili-

schen Israel zu den kanaanäischen Kulturen? Vielleicht wurden sie nur des-

halb von den Propheten und Teilen der Thora so nachdrücklich abgelehnt,

weil sie faszinierten und in Wahrheit Teil der damaligen ‚Identität‘ Israels

waren; einer Identität wohlgemerkt, die nicht dem Verrat an den rein mono-

theistischen Anfängen entsprang, sondern gleichsam die ‚älteren Rechte‘ be-

anspruchte. Die Diskussion um die Entstehung des biblischen Monotheis-

mus42

, die Auswertung archäologischer Befunde und die Erforschung kultu-

reller Interaktionen innerhalb des Alten Orients hatten ältere Vorstellungen

deutlich korrigiert und gezeigt, in welchem Maße ‚Israel‘ auch ein kulturelles

Konstrukt ist. Wie viel ‚heidnische‘ Kultur fand Eingang ins Judentum? Es

scheint, als griffe der abstrakte Gegensatz von ‚Heidentum‘ und Judentum zu

kurz, wie er historische und religionsphilosophische Forschungen des 19.

Jahrhunderts kennzeichnet. Die antiken Diasporagemeinden in Mesopotami-

en, Persien, Griechenland, auf der italienischen und iberischen Halbinsel hat-

ten sich in hohem Maße ihrem kulturellen Umfeld assimiliert, ohne in ihm

aufzugehen. Ähnliches gilt für die jüdischen Gemeinden im islamisch ge-

prägten arabischen Raum und für die kulturellen Räume Europas, deren

Grenzen zum Islam mit Blick auf Spanien43

und Süditalien fließend waren.

Ist der oft behauptete Gegensatz von griechischem und hebräischem Denken,

sofern er je in dieser Form existierte, auch für das sich herausbildende rabbi-

nische Judentum ohne Einschränkung zutreffend? Der Mischna hatte Jacob

Neusner eine philosophische Affinität bescheinigt, auch wenn es sich der

Form nach gewiss nicht um eine philosophische Schrift zur praktischen Phi- 41

Moulie VIDAS, Tradition and the Formation of the Talmud, Princeton (NJ)-Oxford 2014, 5. 42

Vgl. Othmar KEEL / Christoph UEHLINGER, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue Erkenntnisse

zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen

(QD 134), Freiburg-Basel-Wien 1992; Fritz STOLZ, Einführung in den biblischen Monotheismus, Darm-

stadt 1996; Ronald D. HENDEL, Israel Among the Nations. Biblical Culture in the Ancient Near East, in:

BIALE (Hrsg.), Cultures of the Jews, 43-75; RÖMER

Eine Reise zu den Quellen des Monotheismus Übersetzt von Annette JUCKNAT, Darm-

stadt 2018. 43

Zum sephardischen Judentum vgl. die Beiträge von Benjamin R. GAMPEL und Aron RODRIGUE in David

BIALE (Hrsg.), Cultures of the Jews. A New History, New York 2002, 389-447 und 863-885 (Lit!); Est-

her BENBASSA / Aron RODRIGUE, Histoire des Juifs séphardes. De Tolède à Salonique, Paris 2002, deut-

sche Übersetzung von Lilli Herschhorn, Bochum 2005; Esther BENBASSA (dir.), Les Sépharades. His-

toire et culture du Moyen Âge à nos jours, Paris 2011.

Page 14: Prekäre Identitäten - Oder: Gibt es ein Wesen des Judentums?

René Buchholz: Prekäre Identitäten 13

losophie, wie sie Platon oder Aristoteles verfassten, handelt. Aber sie lässt

sich, so Neusner, im Kontext der Philosophie ihrer Zeit deuten, und hinsicht-

lich ihrer Methode und Aussage erfüllt sie durchaus Kriterien philosophi-

schen Denkens44

. „The Mishnah does not set forth a philosophy but a law

code that at its foundations is philosophical – a very different claim, con-

tained within the formulation the Mishnah as philosophy.”45

Daniel Boyarin

geht in seiner Charakterisierung nicht der Mischna, wohl aber des Babyloni-

schen Talmud einen Schritt weiter; er eröffnet eine andere Sicht auf die rab-

binischen Texte, die er als Teil der keineswegs homogenen hellenistischen

Kultur versteht. Er behauptet nicht, dass im Beit ha-Midrash Platons Sympo-

sion oder Menon unter der Bank gelesen wurde oder gar Gegenstände von

Diskussionen waren; seine Studie „imagines, hypothesizes, a cultural relati-

onship, not merely a typological parallelism between Plato and the Babyloni-

an Talmud. This is a controversial point“, wie ihm durchaus bewusst ist46

.

Immerhin könnten popularisierte Formen platonischer und neuplatonischer

Philosophie durchaus Inhalte und Strukturen talmudischer Diskussionen be-

stimmt haben, die Boyarin in terminologischer Anlehnung an Mikhail

Bakhtin als „monological Dialogues“ bezeichnet47

. Der Babylonische Tal-

mud ist also keineswegs jene unendlich offene rabbinische Diskussion, als

welche er häufig dargestellt wird; die Dialoge sind sorgfältige Kompositio-

nen mit dem Ziel, die mündliche Thora, ihre Lehrer und deren Auslegungs-

methoden im Judentum fest zu verankern und ‚identitätsbildend‘ zu werden.

Ob Boyarins Hypothese der Kritik standhält und sich in der Forschung be-

währt, bleibt abzuwarten.

Was heißt im 4., 5. oder 6. Jahrhundert ‚normatives Judentum‘? Eine neue

Sichtweise auf die Entstehung von rabbinischem Judentum und Christentum

entwickelte sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Das rabbini-

sche Judentum ist zu verstehen als eine Reaktion auf die Krise nach 70, d.h.

auf den Verlust des letzten Restes politischer Selbstständigkeit und vor allem

auf die Zerstörung des Tempels und des an ihn gebundenen Kultes. Das rab-

binische Judentum ist demnach nicht die ‚Mutterreligion‘ des Christentums,

sondern beide Religionen entwickeln sich als rivalisierende Geschwister, die

im Frühjudentum vor 70 ihren Ursprung haben. Man rechnet heute damit,

44

Jacob NEUSNER, Judaism as Philosophy. The Method and Message of the Mishnah, Baltimore- London

1991, X (Preface). 45

Ebd., 1-7, hier: 3. 46

Vgl. Daniel BOYARIN, Socrates and the Fat Rabbis, Chicago-London 2009, 133-140, hier: 140. 47

Vgl. ebd., 140-146.

Page 15: Prekäre Identitäten - Oder: Gibt es ein Wesen des Judentums?

René Buchholz: Prekäre Identitäten 14

dass das entstehende Christentum in weitaus größeren Maße als Neusner

dachte, die Gestaltwerdung oder ‚Identität‘ des rabbinischen Judentums be-

einflusste und zwar deutlich über die ersten vier Jahrhunderte hinaus.

„Die Grenzen zwischen ‚Rechtgläubigkeit‘ und ‚Häresie‘“, so Peter Schäfer, „erweisen

sich innerhalb des spätantiken Judentums wie innerhalb des entstehenden Christentums

als fließend, und damit werden auch die Grenzen zwischen ‚Judentum‘ und ‚Christen-

tum‘ in der Spätantike durchlässig. Mehr noch: Nicht nur definiert sich dieses Christen-

tum im Rückgriff auf das zeitgenössische Judentum und in der aktiven Auseinanderset-

zung mit ihm, auch das rabbinische Judentum findet sich selbst erst im Austausch mit

dem Christentum – und dies in dem doppelten Sinne von Abstoßung und Anziehung:

der Ausscheidung von (ursprünglich im Judentum angelegten) Elementen, die das

Christentum usurpieren und verabsolutieren sollte, sowie der stolzen und selbstbewuss-

ten Wiederaneignung eben solcher religiöser Traditionen, trotz oder auch gerade wegen

ihrer christlichen Usurpation.“48

.

In eben diesem Sinne möchte Schäfer seine provozierende These von der

‚Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums‘ verstanden wissen.

Im ersten Jahrhundert lässt sich schwerlich schon vom Christentum und ei-

nem ‚normativen‘ rabbinischen Judentum sprechen. In der Tat setzt die Rede

von einer jüdischen ‚Mutterreligion‘ eine Statik und Homogenität eben dieser

Religion voraus, die sich bereits mit dem neutestamentlichen Befund kaum

deckt. Beide Gruppen nahmen sich denn auch weniger in der Mutter-Tochter-

Relation wahr als vielmehr im Bild der Zwillinge Jakob und Esau, wobei

man wechselseitig für sich die Rolle des Jakob beanspruchte, an den die

Bundes-Verheißung überging49

. Der Abschied vom Modell (in Daniel Boya-

rins Worten vom „Mythos“) der ‚Mutter-‘ und ‚Tochterreligion‘ hat weit rei-

chende Konsequenzen: Rabbinisches Judentum und Christentum haben ihre

religionsgeschichtlichen und theologischen Voraussetzungen im Frühjuden-

tum, diese Erbschaft in wechselseitiger Rivalität übernommen und transfor-

miert. Auch die ‚Geschwister‘, existierten nach 70 nicht schon in ihrer heuti-

gen Gestalt; sie wussten noch gar nicht, dass sie eines Tages die historische

Bühne als zwei Religionen betreten sollten. Mit Boyarin und Schäfer wäre

48

Peter SCHÄFER, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums. Fünf Vorlesungen zur Ent-

stehung des rabbinischen Judentums, Tübingen 2010, X. Zur neueren Diskussion vgl. Jacob NEUSNER,

Judaism in the Age of Constantine. History, Messiah, Israel, and the Initial Confrontation, Chicago-

London 1987; Daniel BOYARIN, Dying For God. Martyrdom and the Making of Christianity and Juda-

ism, Stanford (CA) 1999; ders., Border Lines. The Partition of Judeo-Christianity, Philadelphia 2004; Is-

rael YUVAL, Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spät-

antike und Mittelalter. Übersetzt von Dafna Mach (Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, Band 4),

Göttingen 2007. 49

Vgl., Alan F. SEGAL, Rebecca’s Children, Judaism and Christianity in The Roman World, Cambridge

(MA)-London 1986; YUVAL, Zwei Völker in deinem Leib, 15-44.

Page 16: Prekäre Identitäten - Oder: Gibt es ein Wesen des Judentums?

René Buchholz: Prekäre Identitäten 15

also auch das ‚Geschwistermodell‘ dahingehend zu modifizieren, dass die

Grenzen beider Gruppen in den ersten Jahrhundert durchlässig waren und

das, was als fixe Identitäten erscheint, noch plastisch war50

. So ist auch mit

christlichen Einflüssen auf das Judentum zu rechnen, und zwar nicht nur in

der spätantiken formativen Phase, sondern über das Mittelalter hinaus bis zur

Gegenwart. Wichtige Beiträge sind von der Erforschung der liturgischen

Traditionen zu erwarten. So wirkten die liturgische Ausgestaltung des christ-

lichen Osterfestes und dessen Narrative auf die Entwicklung des Pessachfes-

tes nach der Tempelzerstörung51

. Originell und von bissiger Ironie geprägt ist

die Darstellung Jesu in der rabbinischen Literatur. Von Bedeutung sind je-

doch weniger die frühen Texte als vielmehr jene, die nach der Konstantini-

schen Wende entstanden sind, vor allem der Babylonische Talmud. Die ent-

sprechenden Passagen sind allerdings, wie Peter Schäfer zeigte, nicht als

Quelle für den ‚historischen Jesus‘ von Belang, sondern für die Auseinander-

setzung zwischen dem sich formierenden rabbinischen Judentum und der

frühen Kirche. Liest man die verstreuten Texte zusammen, so ergeben sie,

wie Schäfer formuliert, „a daring and powerful counter-Gospel“; es antworte-

te auf christliche Polemiken „with the means of parody, inversion, deliberate

distortion”52

.

Zusammen mit dem Christentum beeinflusste auch der Islam die spezifische

Gestalt des Judentums, d.h. er nahm nicht nur jüdische und christliche Ele-

mente in sich auf und transformierte sie, sondern er wirkte auch auf beide

Religionen, soweit sie in seinem kulturellen Raum existierten oder mit ihm in

Verbindung standen, zurück. Auch wenn in der älteren Forschung – man

denke an Abraham Geiger, Ignaz Goldziher oder Heinrich Speyer – stärker

der rezeptive Charakter des Quran betont wurde und apologetische Elemente

keineswegs fehlten53

, so gibt es doch einem beachtlichen Unterschied zum

50

Vgl. BOYARIN, Dying For God, 1-21; ders., Border Lines, 1-33; SCHÄFER, Die Geburt des Judentums. 51

Vgl. YUVAL, Zwei Völker in deinem Leib, 69-103; Albert GERHARDS / Hans Hermann HENRIX (Hrsg.),

Dialog oder Monolog? Zur liturgischen Beziehung zwischen Judentum und Christentum (QD 208), Frei-

burg-Basel-Wien 2004; Clemens LEONHARD, The Jewish Pesach and the Origins of the Christian Easter.

Open Questions in Current Resarch (SJ 35), Berlin-New York 2006; Albert GERHARDS / Clemens

LEONHARD (Hrsg.), Jewish and Christian Liturgy and Worship. New Insights into its History and Interac-

tion, Leiden 2007. 52

Peter SCHÄFER, Jesus in the Talmud, Princeton (NJ)-Oxford 2007, 129. 53

Vgl. etwa Abraham GEIGER, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? (1833), Neu-

druck hrsg. von Friedrich Niewöhner, Berlin 2005; Ignaz GOLDZIHER, Vorlesungen über den Islam, Hei-

delberg 1910, bes. 1-34; Heinrich SPEYER, Die biblischen Erzählungen im Qoran, Gräfenhainischen

1931 (Nachdruck Hildesheim-Zürich-New York31988). Bei Franz ROSENZWEIG findet sich eine sehr kri-

tische Sicht auf den Islam, die sich weniger eigener Forschung als vielmehr systematischen Vorausset-

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 16

zeitgenössischen ‚Orientalismus‘: Die jüdischen Gelehrten suchten „gerade

nicht nach absoluten Differenzen, die den Orientalen zum Negativ des Euro-

päers machten, sondern nach Übereinstimmungen zwischen Judentum und

Islam“, wie Susannah Heschel ausführt54

. Das Bild wurde in jüngerer Zeit

nochmals modifiziert: Forscher (an-) erkennen nicht nur die Originalität des

Quran, seiner innerislamischen Rezeption und Kommentierung, sondern be-

greifen den fundierenden Text des Islam als Teil einer umfassenderen religi-

onsgeschichtlichen Entwicklung, in der das rabbinische Judentum, das Chris-

tentum und der Islam Konturen gewannen. Die Spätantike ist mithin die for-

mative Phase aller drei monotheistischen Religionen. So ist der Koran, wie

Angelika Neuwirth schreibt, „die jüngste weltgeschichtlich bedeutende

Schrift“, welche „die vorausgehenden Texte ein für allemal intertextuell

durchwirkt“ hat und den westlichen Textkanon beeinflusste. So bildet auch

der Koran „ein bedeutsames Vermächtnis der Spätantike an Europa“55

. Die

Rezeption der vorangehenden Texte und Traditionen war durchaus schöpfe-

risch; dabei spielten nicht nur als orthodox geltende Überlieferungen eine

Rolle, sondern nicht minder heterodoxe, die auch nach den ersten vier Öku-

menischen Konzilen lebendige Größen im Spektrum der spätantiken Religio-

nen blieben56

. Theologie, Recht und Kultur des Islam erwiesen sich auch in

späteren Jahrhunderten als produktive Größen, die auf jüdischer Seite Beach-

tung fanden. Bekannter und weithin akzeptiert sind die Beziehungen auf phi-

losophischer Ebene, wie etwa die jüdische Rezeption des Kalâm oder die Be-

deutung Ibn Sinas und Al Farabis für Maimonides. Sarah Stroumsa meint so-

gar einen bislang unterschätzten almohadischen Einfluss auf Maimonides

ausmachen zu können, und zwar nicht nur auf dessen Gottesbegriff57

. Aber

von breiterer Wirkung war der von Muslimen, Christen und Juden zwischen

der iberischen Halbinsel bis in den Nahen Osten geteilte Alltag. Die lebens-

zungen verdankt; vgl. die Zusammenstellung der Passagen: Franz ROSENZWEIG, „Innerlich bleibt die

Welt eine“. Ausgewählte Schriften zum Islam, Berlin-Wien 2003. 54

Susannah HESCHEL, Der jüdische Islam. Übersetzt von Dirk HARTWIG, Moritz BUCHNER und Georges

KHALIL, Berlin 2018, 11. Insofern bedarf Hans ZIRKERs kritisches Urteil einer Differenzierung (ders., Is-

lam. Theologische und gesellschaftliche Herausforderungen, Düsseldorf 1993, 33-59). 55

Angelika NEUWIRTH, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010, 67. 56

Vgl. Günter RIßE, „Gott ist Christus, der Sohn der Maria“. Eine Studie zum Christusbild im Koran (Be-

gegnung, Band 2), Bonn 1989. Zunächst stand keineswegs fest, wer schließlich als ‚orthodox‘ den Sieg

davontragen würde. Bei der Terminologie ‚orthodox‘ und ‚heterodox‘ ist zu beachten, dass sie bereits die

Perspektive der siegreichen Partei einnimmt, wobei die unterlegene, sofern sie nicht von der historischen

Bühne abtritt, nach wie vor die Sieger als heterodox ansieht. Für die entstehende islamische Gemein-

schaft war es keineswegs schon ausgemacht, welche christliche Lehre ‚orthodox‘ war oder nicht. 57

Vgl. Sarah STROUMSA, Maimonides in His World. Portrait of a Mediterranean Thinker, Princeton (NJ)-

Oxford 2009, 53-83.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 17

weltlichen Bezüge – „Muslims, Christians and Jews lived in closest proximi-

ty to one another“ – blieben nicht ohne Folgen für die jeweiligen Identitäten,

die niemals starre Größen waren58

. Wir haben es also schon früher mit ‚pre-

kären‘ jüdischen ‚Identitäten‘ in diversen gesellschaftlichen, kulturellen und

zeitlichen Kontexten zu tun, wie David Biale konstatiert: ,

„Jewish self-definition was, then, bound up in a tangled web with the non-Jewish envi-

ronment in which the Jews lived, at once conditioned by how non-Jews saw the Jews

and by how the Jews adopted and resisted the majority culture’s definition of them. For

all that Jews had their own autonomous traditions, their very identities throughout their

history were inseparable from that of their Canaanite, Persian, Greek, Roman, Chris-

tian, and Muslim neighbors. … Viewed in this light, Jewish identity cannot be consid-

ered immutable, the fixed product of either ancient ethnic or religious origins, but ra-

ther to have changed as the cultural context changed.”59

Kulturen, in denen das Judentum lebte, waren keine Gewänder, die man an-

zog, um darin den zeitlosen Kern oder das Wesen einzuhüllen; sie blieben

ihm nicht äußerlich, sondern prägten tief die Eigenart der unterschiedlichen

‚Judentümer‘ und die Transformationsprozesse, die sie durchliefen.

Ähnliches gilt auch für den Eintritt des Judentums in die europäische Neuzeit

und Aufklärung, den die ältere Forschung kaum hinter die zweite Hälfte des

18. Jahrhunderts datierte. Die jüdische Partizipation an der Renaissance-

Kultur in Italien, die Entwicklungen in den Niederlanden und die ersten An-

fänge einer jüdischen Aufklärung im frühen 18. Jahrhundert nötigen zu regi-

onalen und zeitlichen Differenzierungen60

. Neuzeit und Aufklärung ließen

das bisherige Selbstverständnis des europäischen Judentums, sofern man von

einem solchen im Singular noch sprechen darf, nicht unberührt. Aber auch

krisenhaften Erscheinungen kommt hier eine zentrale Bedeutung zu: die Ver-

58

Vgl. Shlomo Dov GOITEIN, Interfaith Relations, Communal Autonomy, and Government Control, in:

ders., A Mediterranean Society. The Jewish Communities of the World as Portrayed in the Documents of

the Cairo Geniza, Volume II: The Community, Berkeley-Los Angeles-London 1971/1999, 273-407, hier:

289; Raymond P. SCHEINDLIN, Merchants and Intellectuals, Rabbis and Poets. Judeo-Arabic Culture in

the Golden Age of Islam, in: BIALE (ed.), Cultures of the Jews, 313-386. 59

David BIALE, Vorwort zu Cultures of the Jews, XXIII; zu diesem bemerkenswerten Versuch einer Ge-

samtdarstellung der jüdischen Geschichte und Kultur, ohne eine einheitliche Idee oder ein Wesen des Ju-

dentums vorauszusetzen, vgl. Michael BRENNER, Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichts-

schreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, 282-294. 60

Vgl. etwa Michael GRAETZ (Hrsg.), Schöpferische Momente des europäischen Judentums in der frühen

Neuzeit, Heidelberg 2000; Elliot HOROWITZ, Families and their Fortunes: The Jews of Early Modern Ita-

ly, in: BIALE (Hrsg.), Cultures of the Jews, 573-636; David B. RUDERMAN, Early Modern Jewry. A New

Cultural History, Princeton-Oxford 2010; Christoph SCHULTE, Die jüdische Aufklärung. Philosophie –

Religion – Geschichte, München 2002; Shmuel FEINER, Haskalah and History. The Emergence of a

Modern Jewish Historical Consciousness. Translated by Chaya Naor, Oxford – Portland (OR) 2004;

ders., Haskala – Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution. Übersetzt von Anne Bir-

kenhauer, Hildesheim-Zürich-New York 2007.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 18

treibung der Juden aus Spanien 1492, Verfolgungen in Osteuropa (die

Chmelnizki-Pogrome) und messianische Bewegungen wie vor allem der

Sabbatianismus im 17. Jahrhundert. Gerade der Sabbatianismus, der sowohl

Krisenbewältigung als auch Auslöser neuer Krisen war, führte zu einer

Schwächung der Tradition und der rabbinischen Autorität. Aber auch jenseits

messianischer Krisen führte der enorme Druck, dem im Zuge der religiösen

und kulturellen Uniformierung in Spanien nach 1492 Neu- und Altchristen

ausgesetzt waren, zu dem, was Yirmiyahu Yovel ‚split identities‘ nennt:

Conversos, die trotz der sorgfältige Überwachung durch die Inquisition ihr

Judentum klandestin weiterhin praktizieren; eine Tendenz zur Verinnerli-

chung und verstärkten Intimität der Religion auch bei Neuchristen, die sich

durchaus als Teil der Kirche verstanden; Synkretismus, die Ausbildung neuer

heterodoxer Glaubensformen, Opportunismus, Skepsis und erste Ansätze ei-

nes säkularen Bewusstseins und die Krise der Transzendenz, d.h. jedweden

religiösen Bewusstseins61

. Natürlich konnte sich ein Atheismus im frühneu-

zeitlichen Spanien nicht offen artikulieren, aber die Ansätze dazu waren, wie

Yovel zeigte, durchaus vorhanden. Der Übergang zu einem säkularen Denken

sola ratione, vor dem auch religiöse Geltungsansprüche sich ausweisen

mussten, wird aber erst auf der Basis des Cartesianismus mit Baruch Spinoza

deutlich greifbar – und zwar außerhalb der iberischen Halbinsel und bis Ende

des 18. Jahrhunderts mit ungleich stärkerer Wirkung im nichtjüdischen

Raum, wenn man die Autoren der radikalen Aufklärung denkt oder an Les-

sing, Goethe und Hegel. Das änderte sich mit dem Eintritt des Judentums in

die Moderne; hier inspirierte Spinoza ein dezidiert säkulares Selbstverständ-

nis von Juden – eine Rezeptionsgeschichte, die Yovel über Marx, Heine und

Hess bis zu Freud verfolgte62

. Die Bedeutung Spinozas für die Aufklärung

wird zuweilen höher veranschlagt als diejenige Descartes, und gerade die ‚ra-

dikalen Aufklärer‘ legitimierten sich oft mit dem Verweis auf Spinoza oder

sahen sich von ihm inspiriert63

.

61

Vgl. Yirmiyahu YOVEL, The Other Within. The Marranos: Spilt Identity and Emerging Modernity,

Princeton (NJ)-Oxford 2009; ders., Marranism and the Breakdown of Integral Identity, in: Eveline

GOODMAN-THAU / Fania OZ-SALZBERGER (Hrsg.), Das jüdische Erbe Europas. Krise Der Kultur im

Spannungsfeld von Tradition, Geschichte und Identität, Berlin-Wien 2005, 53-76. 62

Yirmiyahu YOVEL, Spinoza and Other Heretics, 2 Bände, Princeton 1989; dt.: Spinoza: Das Abenteuer

der Immanenz. Übersetzt von Brigitte FLICKINGER, Neuausgabe Göttingen 2012. 63

Vgl. Jonathan ISRAEL, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity 1650-1750,

Oxford-new York 2002, besonders part II, 157ff; DERS., Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolu-

tion and Human Rights 1750-1790, Oxford-New York 2011; zur Diskussion vgl. Jonathan ISRAEL / Mar-

tin MULSOW, (Hrsg.), Radikalaufklärung, Berlin 2014.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 19

Die produktive Auseinandersetzung des Judentums mit seiner Umwelt, wel-

che die Übernahme anderer Traditionen in die eigenen einschließt, durchzieht

also seine gesamte Geschichte, die sich keineswegs, wie Heinrich Graetz ge-

gen Issak Markus Jost einwandte, auf eine „Leidens- und Gelehrtengeschich-

te“ reduzieren lässt64

. Dass Graetz‘ imposante Geschichte der Juden nach

dem Urteil vieler moderner Historiker selbst Züge einer solchen hat, ist eine

andere Frage. Wie Geiger und später Scholem verweist auch Graetz auf die

schöpferischen Kräfte des Judentums. Wie aber hätten diese sich in einer un-

aufhörlichen Leidens- und Verfolgungsgeschichte entfalten können? Gab es

nicht zumindest längere Pausen, in denen die Gemeinden sich konsolidieren

konnten und in mehr oder weniger regem Austausch mit ihrer nichtjüdischen

Umwelt standen?65

Zweifelhaft ist auch die völlige Ohnmacht und Passivität

jüdischer Gemeinden in der Diaspora nach 70. Es führt kein unerbittliches

historisches Gesetz, kein unabwendbares Schicksal vom Jahr 70 über 1492

bis zur Sho‘ah. Das Verhältnis von „power and powerlessness“ der Juden

wird seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts eingehend untersucht

und neu bewertet. Auch bestätigt die jüngere historische Forschung keines-

wegs durchgehend, wie Jonathan Elukin schreibt “the narrative of persecuti-

on and suffering“; vielmehr erweist sich dieser als „a one-dimensional narra-

tive of victimization“66

. In vielen mehrheitlich nichtjüdischen Gesellschaften,

so die These, konnten – und können – Juden selbstbewusst leben und auf Re-

serven und Vorurteile mit Phantasie, ja Chuzpe reagieren – als apologia ad

intra und „pour epater les goyim“, um eine Formulierung von Natalie Zemon

Davis aufzugreifen67

. Aus den notwendigen Korrekturen und Differenzierun-

gen ist jedoch kein harmonisches Bild abzuleiten, das nun ältere Darstellun-

64

Heinrich GRAETZ, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Band 11: Beginn

der Mendelssohnschen Zeit bis in die neuste Zeit, Leipzig 21900 (Reprint Berlin 1998), 427.

65 Vgl. Shaye J. D. COHEN / Ernest S. FRERICHS (Hrsg.), Diasporas in Antiquity (Brown Judaic Studies

288), Atlanta 1993/2007; Eric S. GRUEN, Diaspora Jews amidst Greeks and Romans, Cambridge (MA)-

London 2002; DERS.. Hellenistic Judaism, in: BIALE (Hrsg.), Cultures of the Jews, 77-132; Shlomo Dov

GOITEIN, Interfaith Relations; Mark R. COHEN, Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter.

Übersetzt von Christian Wiese, München 2005; Jonathan ELUKIN, Living Together – Living Apart.

Rethinking Jewish-Christian Relations in the Middle Ages, Princeton (NJ) – Oxford 2007; siehe auch die

Beiträge von Raymond SCHEINDLIN, Benjamin GAMPEL und Ivan MARCUS in BIALE (Hrsg.), Cultures oft

he Jews, 313ff. 66

ELUKIN, Living Together – Living Apart, 2 und 4; vgl. auch David BIALE, Power and Powerlessness in

Jewish History, New York 1986; Florian SCHULLER / Guiseppe VELTRI / Hubert WOLF (Hrsg.), Katholi-

zismus und Judentum. Gemeinsamkeiten und Verwerfungen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Regens-

burg 2005; Judith FRISHMAN / David J. WERTHEIM / Ido de HAAN / Joël CAHEN (Hrsg.), Borders and

Boundaries in and around Dutch Jewish History, Amsterdam 2011. 67

Vgl. Natlie Zemon DAVIS, Ad me ipsum, in: dies., Lebensgänge. Übersetzt von Wolfgang Kaiser, Berlin

1998, 75-104, hier 99.

Page 21: Prekäre Identitäten - Oder: Gibt es ein Wesen des Judentums?

René Buchholz: Prekäre Identitäten 20

gen vollständig falsifiziert und ablöst. Die Persistenz antijüdischer Klischees,

deren sich politische und religiöse Propaganda bis in die Moderne hinein je-

derzeit bedienen konnte, lässt sich nicht ‚wegdifferenzieren‘. Waren sie fester

Bestandteil des kulturellen Codes in Europa – wie David Nirenberg meint68

oder konnten sie in ihrer Funktion so weit zurücktreten, dass ein friedliches

Zusammenleben von Juden und Christen in einigen Regionen sogar über län-

gere Zeiträume hinweg möglich war? Der Ausgang der Debatte ist noch nicht

entschieden, zumal beide Positionen keineswegs kontradiktorische Gegensät-

ze bilden: Der Fortbestand von tief sitzenden Vorurteilen, die nicht nur mit

der religiösen Sozialisation weitergegeben wurden, ist durchaus vereinbar

mit zeitweiliger ‚friedlicher Koexistenz‘ von Juden und Nichtjuden, engeren

ökonomischen und kulturellen Beziehungen zwischen beiden Gruppen und

gleichsam ‚perforierten‘ Identitäten.

4. Judentum als säkulare und religiöse Zivilisationen

Vor allem im Horizont christlicher AutorInnen kommt schließlich eine Grup-

pe nur selten vor, die nicht nur in Israel und in den Vereinigten Staaten eine

beachtliche Größe angenommen hat und die oft in Spinoza ihren Ahnherrn

erblickt: säkulare Juden69

. Aus streng orthodoxer Perspektive als Häretiker

angesehen, gelten sie auch Christen als weniger geeignete Gesprächspartner,

da ihnen abzugehen scheint, was in christlicher Interpretation oft als selbst-

verständlich für das Judentum vorausgesetzt wird: sein Charakter als Religion

und Glaubensgemeinschaft. Vergessen wird dabei oft, dass im Judentum der

Glaube und ein komplexes Glaubensbekenntnis trotz mancher Anläufe in

Mittelalter und Neuzeit70

keine ebenso zentrale Rolle spielen wie im Chris-

tentum. „To be a good jew“, war die Antwort eines Rabbiners auf das

68

Vgl. David NIRENBERG, Anti-Judaism. The Western Tradition, New York-London 2013. Gegen David

BIALE, Power and Powerlessness vgl. Ruth R. WISSE, Jews and Power, New York 2007. 69

Vgl. David BIALE, Not in the Heavens. The Tradition of Jewish Secular Thought, Princeton-Oxford

2011; Jérôme SEGAL, Athée & Juif. Fécondité d’un paradoxe apparent, Paris 2016; Jonathan ROMAIN /

David MITCHELL, Inclusive Judaism. The Changing Face of an Ancient Faith, London-Philadelphia

2020, 65-77 (= chapter 4: Atheist Jews). 70

Vgl. Menachem KELLNER, Dogma in Medieval Jewish Thought. From Maimonides to Abravanel, Ox-

ford-Portland (OR) 2004. Die Kontroverse setzte sich in der Neuzeit von Moses Mendelssohn über Leo-

pold LÖW und Abraham GEIGER, bis Leo BAECK in verschärfter Form fort; vgl. dazu Kerstin VON DER

KRONE, Jüdische Wissenschaft und modernes Judentum: Eine Dogmendebatte, in: Andreas KILCHER /

Thomas MEYER, Die „Wissenschaft des Judentums“ Eine Bestandsaufnahme, Paderborn 2015, 115-138;

René BUCHHOLZ, Gegendiskurse. Jüdische Antworten auf das Christentum im langen 19. Jahrhundert:

https://www.academia.edu/2178587/Gegendiskurse._Jüdische_Antworten_auf_das_Christentum_im_langen_19._Jahrhundert, 41-49.

Page 22: Prekäre Identitäten - Oder: Gibt es ein Wesen des Judentums?

René Buchholz: Prekäre Identitäten 21

‚Bekenntnis‘ einer Agnostikerin, „you don’t have to believe in God …just do

what God says.“71

Das mag auf den ersten Blick frappieren, hat aber durch-

aus einen Anhalt an der Tradition, wie Arthur Hertzberg konstatiert: „Die al-

ten Rabbiner waren beherzt genug, um genau diesen Gedanken Gott in den

Mund zu legen: ‚Sie können sich getrost von mir abwenden, solange sie mei-

ne Gebote befolgen.‘ (Eichah Rabbah Petichah 2)“72

Unabhängig von der

Frage, ob diese Ansicht mehrheitsfähig ist, so drückt sie doch ein Bewusst-

sein davon aus, dass eine zureichende Bestimmung des Judentums keines-

wegs in der Opposition Glaube / Unglaube besteht. Ähnlich argumentieren

auch Amos Oz und Fania Oz-Salzberger:

„Judaism is a civilization. And one of the few civilizations that have left their mark on

all of mankind. Religion is a central element in the Jewish civilization, perhaps even its

origin, but that civilization cannot be presented as nothing more than religion. From the

religious source of that civilization grew spiritual manifestations that enhanced the reli-

gious experience, changed it, and even reacted against it: languages, customs, lifestyles,

Characteristic sensitivities, … and literature and art and ideas and opinions. All of this

is Judaism. The rebellion and apostasy in our history, especially in recent generations,

they are Judaism too. It is a broad and abundant inheritance.”73

Beiläufig wird hier ein wichtiger Begriff eingeführt: Judentum als Zivilisati-

on; im emphatischen Sinne wurde er 1934 von Mordecai Kaplan geprägt74

und wird uns noch später beschäftigen. Jedenfalls gehört ein dezidiert säkula-

res Judentum mit seiner Geschichte nicht minder zum Judentum – nicht als

Glaube oder Religion, sondern als Zivilisation – wie Orthodoxie, Reform o-

der Conservative Judaism. Den neuzeitlichen Prototyp des säkularen Juden

mag mancher in Baruch Spinoza sehen75

; was als Außenseitertum und Häre-

sie begann – und was wäre das Judentum wohl ohne seine ʼApikorsim? –,

wurde eine breite Strömung – wenn auch zunächst nicht innerhalb des Juden-

tums, wo Abwehr dominierte. Erst jüdische Autoren des 19. und 20. Jahr-

hunderts rehabilitierten den ‚Häretiker‘ und betonten seine Modernität. In-

71

ROMAIN / MITCHELL, Inclusive Judaism, 72. 72

HERTZBERG, Wer ist Jude? 311. 73

OZ / OZ-SALZBERGER, Jews and Words, 200. Die Formulierungen stammen aus einer älteren Publikation

von Amos OZ: In the Land of Israel, New York 1983, 135. 74

Vgl. Mordecai KAPLAN, Judaism as a Civilization. Toward a Reconstruction of American-Jewish Life

(11934), Philadelphia 2010.; dazu Leora BATNITZKY, How Judaism Became a Religion. An Introduction

to Modern Jewish Thought, Princeton (NJ)-Oxford 2011, 169-173. 75

Vgl. Daniel B. SCHWARTZ, The First Modern Jew. Spinoza and the History of an Image, Princeton-

Oxford 2012; Jan Eike DUNKHASE,: Spinoza der Hebräer. Zu einer israelischen Erinnerungsfigur. תולדות

/ toledot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur, hrsg. von Dan Diner, Band 11, Göttingen 2013.

Page 23: Prekäre Identitäten - Oder: Gibt es ein Wesen des Judentums?

René Buchholz: Prekäre Identitäten 22

dessen bilden auch die säkularen Juden keine homogene Gruppe76

; das Spekt-

rum reicht von Juden, die vor allem eines nicht sein wollen: orthodox, über

religiös indifferente bis hin zu Atheisten, von denen nur eine Minderheit im

angeblich ‚postsäkularen‘ Zeitalter eine polemische Beziehung zur Überliefe-

rung hat, andere aber deren pauschale Verwerfung ablehnen und Teile aus-

wählen, die ihnen auch dann noch von Bedeutung sind, wenn sie die religiöse

und theologische Basis dieser Traditionen nicht nachvollziehen: „And I see

myself as one of the legitimate heirs: not as a stepson or as a disloyal and de-

fiant son, or a bastard, but as a lawful heir. … For it follows that I am free to

decide what I will choose from this great inheritance, what I will place in my

living room and what I will relegate to the attic.”77

. In der Tat gilt auch für

säkulare Juden, darunter Kritiker der Religion, dass sie, wie David Biale re-

sümiert, der Tradition nicht entkommen konnten, und nicht wenige reflektier-

ten diesen Umstand78

. Weder das uneingeschränkt affirmative Verhältnis zum

Geltungsanspruch der Religion, noch die Abstammung ist ihnen ein hinrei-

chendes Kriterium. Aber nicht nur säkulare, auch (mehr oder weniger) religi-

öse Juden treffen für ihre Praxis eine Auswahl aus der Tradition und ent-

scheiden, was ins ‚Wohnzimmer‘ und den Alltag gehört und was auf den

Speicher oder in die private ‚Geniza‘ kommt. Eine wichtige Aufgabe der Ju-

daistik besteht darin, all das, was in den Abstellräumen sich befindet, zu sich-

ten und auszuwerten – vielleicht kann man es ja doch noch eines Tages brau-

chen; eine Arbeit, die derjenigen ähnelt, welche seit Salomon Schechter die

Dokumente der Kairoer Geniza der Forschung bereiten. Manche Tradition,

die sich der gegenwärtige Generation nicht erschließt und darum in der ‚Ge-

niza‘ des kollektiven Gedächtnisses deponiert wird, kann für die nachfolgen-

de – vielleicht sogar in einer der vielen Krisen – ganz neue Bedeutungs-

schichten offenbaren. So wird man wohl weniger von einem zeitenthobenen

Wesen des Judentums sprechen können als vielmehr von dessen kollektivem

und kulturellem Gedächtnis79

, welches Organon und differenzierte Inhalte

zugleich bezeichnet, das Judentum nicht nur als Zivilisation prägt, sondern

76

Vgl. etwa Elisa KLAPHECK / Ruth CALDERON, Säkulares Judentum aus religiöser Quelle (Machloket /

Streitschriften, hrsg. von Elisa Klapheck, Band 1), Berlin 2015. 77

OZ / OZ-SALZBERGER, Jews and Words, 200. 78

Vgl. BIALE, Not in the Heavens, 176-180. 79

Zu den Begriffen ‘kollektives’ und ‘kulturelles’ Gedächtnis vgl. Maurice HALBWACHS, Das Gedächtnis

und seine sozialen Bedingungen. Übersetzt von Lutz Geldsetzer. Frankfurt/M. 1985; ders., Das kollekti-

ve Gedächtnis. Übersetzt von Hilde LHOEST-OFFERMANN, Frankfurt/M. 1985; Jan ASSMANN, Das kultu-

relle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in den frühen Hochkulturen, München 31999; ders., Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 23

auch seinen Status als Dissidententum und anti-totalitären „Störfaktor“, wo-

von Emmanuel Levinas im Eingangszitat spricht80

. Die Gehalte dieses Ge-

dächtnisses stehen nicht alle auf gleicher Ebene, sondern gruppieren sich in

wechselnden Konstellationen um bestimmte Themen, nehmen dabei aber

auch weitere Inhalte auf und verändern sich in ihrer Formation und Semantik.

Dieses Gedächtnis ist nicht exklusiver Besitz der Frommen, sondern aller, die

sich in dessen ‚Gravitationskraft‘ begeben. Dass die Erinnerung lebendig

bleibt, ergänzt, sogar transformiert wird, ist zentral; erst mit ihr würde auch

das Judentum erlöschen.

„Who is a Jew? Whoever”, so die Antwort von Amos Oz und Fania Oz-

Salzberger „is wrestling with the question ‚Who is a Jew?‘ Here is our per-

sonal definition: any human being crazy enough to call himself a Jew is a

Jew. Is he or she a good or a bad Jew? This is up to the next Jew to say.”81

Diesem Antwortversuch dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit widersprochen

werden, zumal er sich souverän über halakhische Fragen und Traditionen

hinwegsetzt. Aber bleibt das Judentum nicht konstitutiv bezogen auf Texte,

welche erst das Gedächtnis zu einem bestimmten werden lassen? Ins Zentrum

der nachexilischen jüdischen ‚Identität‘ rückt allmählich ein Konvolut von

Texten, das Geschichten von den Anfängen erzählt, und zwar von Anfängen,

die im engeren und weiteren Sinn die Grundlage der gott-menschlichen Kor-

relation thematisieren: den Anfang der Schöpfung, den Anfang des Volkes

Israel, den Anfang einer Befreiung, deren uneingeschränkte Realisierung

noch Desiderat ist, den Anfang des Bundes zwischen Gott und der Mensch-

heit, Gott und Israel (mit dem entsprechenden Bundesdokument), den Anfän-

gen im Land – und schließlich die vielen Neuanfänge, die nötig waren und

möglich wurden, indem die früheren Anfänge erzählt, fortgeschrieben und so

erinnert wurden. Es sind oft Anfänge, die mit Fort- und Umzügen verbunden

sind: lech-lecha! Nicht Wurzeln, sondern die Füße sind von Wichtigkeit, wie

80

Vgl. Anm. 1, ferner Delphine HORVILLEUR, Réflexions sur la question antisémite, Paris 2019, 125: „Tout

au long de l’Histoire, les Juifs ont été perçus comme ceux qui empêchaient de faire ‘tout’, de faire totali-

té, parce que quelque chose dans leurs rites, dans leurs corps ou dans leur croyance se posait en retrait, en

coupure, en refus de faire corps avec la totalité.“ Eben das zieht den unbändigen Hass der Angepassten

auf sich, d.h. jener, die sich willig in die Totalität eingliederten und dies auch von anderen erwarten. Der

Antisemitismus ist die abwehrende Antwort auf die Möglichkeit des Besseren. 81

OZ / OZ-SALZBERGER, Jews and Words, 203. Die Autoren spielen möglicherweise auf bMeg13a an, wo

die Frage, wer Jude genannt werden könne, dahingehend beantwortet wird, dass Jude derjenige sei, der

den Götzendienst verleugne; vgl. auch Shaye J. D. COHEN, „Those Who Say They are Jews and Are

Not“: How Do You Know a Jew in Antiquity When You See One?, in: ders. / FRERICHS (Hrsg.), Diaspo-

ras in Antiquity, 1-45, hier: 34.

Page 25: Prekäre Identitäten - Oder: Gibt es ein Wesen des Judentums?

René Buchholz: Prekäre Identitäten 24

Joseph Roth betonte82

. Und solange die Wanderschaft freiwillig geschieht,

eignen ihr auch Aspekte der Befreiung. Erst die vom Rancune befeuerte

Phantasie des Antisemitismus, dieses Wahngebilde der Autochthonen, hat

daraus den Mythos vom ‚ewigen Juden ‘konstruiert.

Aber etwas geht immer mit auf die Reise: Bücher; und zu diesen gehört auch

das Buch von den zahlreichen Anfängen und unabgegoltenen Verheißungen.

Es hat seinerseits, wie die historische Forschung zeigt, komplexe Anfänge,

Wachstumsphasen, Rezeptionsgeschichten und generiert neue Texte mit

komplexen Anfängen etc. Das Volk Israel und dieser Text sind wechselseitig

aufeinander bezogen, Israel ist, wie Moshe Halbertal es ausdrückt, ‚a text-

centered community‘83

. Der Text, dessen vorliegende kanonische Gestalt in

mehreren Redaktionen aus vielen älteren Texten unterschiedlicher Zeiten und

Interessen zusammengefügt wurde, entsteht jedoch im keineswegs homoge-

nen sozialen Verband und dieser wiederum vergewissert sich durch diesen

Text, den er aktualisiert, gewichtet, auswählt, deutet, fortschreibt, um den

sich die Gemeinde versammelt, in dem sie sich wiedererkennt (was nur mög-

lich ist, wenn sie ihn zugleich deutend transformiert), der sogar eine Schutz-

funktion ausübt und der seinen Platz im Zentrum des Gottesdienstes hat, wie

Esther Benbassa und Jean-Christophe Attias konstatieren84

. Die deutende Ar-

beit setzt nicht erst nachträglich ein, sondern ist schon während der Textge-

nese im Gange, und in diesem Sinne entsteht er auch erst durch die Interpre-

tation in jeder Generation, ja in jedem Individuum neu. Die Deutung trans-

formiert, mit Marc Zvi Brettler gesprochen, ein „sourcebook“ in ein „text-

book“85

, d.h. aus einer widerspruchsvollen Sammlung von Quellen wird ein

sinnvolles und lesbares Gefüge, indem ausgewählt, festgelegt oder gar geän-

dert wird86

. Dies ist kein rein willkürlicher Vorgang; im Laufe der Entste-

82

„Der Mensch ist kein Baum. Beine und Füße hat Gott dem Menschen gegeben, damit er wandere über

die Erde, die sein ist. Das Wandern ist kein Fluch, sondern ein Segen.“ (Joseph ROTH, Werke, Band 3,

hrsg, von Klaus WESTERMANN, Köln 1991, 532) Ähnlich heißt es auch in Mona YAHIAs Roman When

the Grey Beetles Took Over Baghdad (London 2000, 397f): „Roots, some metaphor! Let trees strike

roots, let them stick to the soil, forever stationary, forever in the way. It is trees which should long to

have feet, to have the privilege of walking, running, frolicking, yet mostly to have our freedom to seek

our future faraway from our past.” 83

Vgl. Moshe HALBERTAL, People of the Book. Canon, Meaning, and Authority, Cambridge (MA)-London

1997, 6-10. Amos OZ und Fania OZ-SALZBERGER sehen im Judentum den auch „not a bloodline but a

textline“ (OZ / OZ-SALZBERGER, Jews and Words, 1). 84

Esther BENBASSA / Jean Christophe ATTIAS, Le Juif et l’Autre, Gordes 2002, 11. 85

„In a nutshell, here is my view of the Bible as a Jew: The Bible is a sourcebook that I – within my com-

munity – make into a textbook. I do so by selecting, revaluing, and interpreting the texts that I call sa-

cred.” (Marc Zvi BRETTLER, How to Read the Jewish Bible, Oxford-New York 2005, 280). 86

Nur unter dieser Bedingung behalten die biblischen Schriften ihre Aktualität. Deutung heißt einerseits

die zu verschiedenen Texten geronnenen Traditionen ‚aufzuschmelzen‘, andererseits, sie in einen ver-

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 25

hungsgeschichte entwickeln sich Leserlenkungen, präferierte Lesarten allein

schon durch Anordnung und kleine redaktionelle Eingriffe – die ‚Emser De-

peschen‘ der Redaktoren –, die subtil die Interpretationen der Nachwelt be-

stimmen. Über diese hermeneutischen Fragen hinaus öffnen sich die Texte,

theologisch betrachtet, auch deshalb für neue Deutungen, weil ihr Ursprung

(nicht: ihr historischer Anfang) in einer unerschöpflichen Bedeutungsfülle

liegt, die von keiner einzelnen Interpretation ausgeschöpft wird, sich im Lau-

fe der Geschichte konkretisiert und so erst für uns wahrnehmbar und lesbar

wird87

. Und wie der Referenztext, so werden auch die Kommentare wiede-

rum zu neuen Quellen. Elie Wiesel spielt darauf in seinem Raschi-Buch an.

Der große Kommentator von Bibel und Talmud begleitete ihn seine Kindheit

und Jugend hindurch, er war die erste Referenz. Aber, so ergänzt er, „l’appel

de Rashi s’adresse à tout le monde. Je veux dire: sa passion de pénétrer un

texte pour y déceler un sens caché qui sera ensuite transmis par des généra-

tions est capable de toucher, d’intéresser et d’enrichir tous ceux dont la vie

est dominée par l’étude.“88

Etwas davon lebt fort noch in der säkularen Inter-

pretation von Amos Oz und Fania Oz-Salzberger, die sich als „secular Jewish

Israelis“ bezeichnen, so dass Glaube und Frömmigkeit keine konstitutive

Rolle mehr spielen, wohl aber die Rezeptionen der alten Texte und mit ihnen

das „model of intergenerational conversation“89

. Aber was bleibt hier noch

von Scholems „great idea, namely monotheism“90

? Wird sie nicht ersetzt

durch eine heterogene Interpretationsgemeinschaft, die nur noch locker ver-

bunden ist durch den unbestimmten Begriff des ‚Judentums‘? Gerade in ei-

nem säkularen Judentum bleibt jedoch etwas von diesem Monotheismus auf-

bewahrt im „Verbot, das Falsche als Gott auszurufen, das Endliche als das

Unendliche, die Lüge als Wahrheit. Das Unterpfand der Rettung liegt in der

Abwendung von allem Glauben, der sich unterschiebt, die Erkenntnis in der

Denunziation des Wahns“, wie Horkheimer und Adorno es in der Dialektik

stehbaren Zusammenhang zu bringen, „into a more monolithic bloc“ (ebd.). Es ist also etwas voreilig,

die Interpretation stets als pluralistisch zu bezeichnen. Sie kennt im Interesse der Lebbarkeit – man kann

nun einmal nicht alle Traditionen zusammen leben – pluralisierende und homogenisierende Tendenzen,

und es ist keine rein deutungsimmanente Entscheidung, welche der beiden Tendenzen überwiegt. 87

Vgl. auch Gershom SCHOLEM, Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum, in:

ders., Judaica 4, hrsg. von Rolf TIEDEMANN, Frankfurt/M. 1984, 189-261. 88

Elie WIESEL, Rashi. Ebauche d’un portrait, Paris 2010, 11; – deutsche Übersetzung von Daniel KROCH-

MALNIK unter dem Titel Raschi. Ein Porträt, Freiburg-Basel-Wien 2015, hier: 9 („…der Ruf Raschis ist

an alle gerichtet. Ich meine, die Leidenschaft, in einen Text einzudringen, um einen verborgenen Sinn zu

entdecken, der dann von den kommenden Generationen überliefert wird, kann jeden berühren, angehen

und bereichern, dessen Leben dem Studium gewidmet ist“). 89

OZ / OZ-SALZBERGER, Jews and Words, 3 und 6. 90

SCHOLEM, What is Judaism? 115.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 26

der Aufklärung (1944/47) formulierten91

. Nicht das positive Bekenntnis, die

Stilisierung des Glaubens als Entscheidung, das Pochen auf Identität, sondern

die bestimmte Negation des Unsinns hält der Idee des einzigen Gottes nega-

tiv die Treue und erinnert so noch einmal an die kritische Kraft des Monothe-

ismus92

. Wo sie in einem munteren, im Grunde harmlosen Spiel unendlicher

unverbindlicher Deutungen verschwindet, hört der Text früher oder später

auf, tradiert zu werden, weil er irrelevant geworden ist.

Darum genügt es auch nicht, sich allein auf die Interpretation und Reinterpre-

tation des Textes zu konzentrieren und darüber die Menschen in ihren sozia-

len und historischen Zusammenhängen zu vergessen, als interpretiere der

Text sich selbst. Es gibt keinen Text ohne sozialen Verband mit seinen funk-

tionalen Differenzierungen, Asymmetrien und Tabus, die der Text rechtfer-

tigt oder problematisiert. Der Zugang zum Text und seine Deutung können

auf bestimmte Gruppen begrenzt sein, so gibt es genderspezifische Ein- und

Ausschlüsse, gar einen „Excès de ‚textostérone‘“93

. Zugang und Deutung

weiten sich in konfliktreichen Prozessen. Auch hier zeigt sich, dass das Ju-

dentum keine rein geistige Erscheinung ist; die Texte müssen im Lebenspro-

zess dieser Gruppe Gestalt gewinnen. So erst werden sie ‚a way of life‘ und

gewinnen in der sozialen Realität ihre Wahrheit oder zeigen wenigstens die

Möglichkeit von alternativen ‚ways of life‘ auf. Eben dies mochte Mordecai

Kaplan vorschweben, als er vom Judentum „as a civilization“ sprach:

„It is not, however, the traditional Torah, or the Jewish civilization as it has come down

from the past that can any longer elicit the attitude that it is the supreme worth to the

Jew and his people. The traditional Torah must be reinterpreted and reconstructed so

that it become[s] synonymous with the whole of a civilization necessary to civilize or

humanize the individual. … Torah should mean to the Jew nothing less than a civiliza-

tion which enables the individual to effect affirmative and create adjustments in his liv-

ing relationships with reality. Any partial conception of Torah is false to the forces that

91

Max HORKHEIMER / Theodor W. ADORNO, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in:

Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 5, hrsg. von Gunzelin SCHMID NOERR, Frankfurt/M.

1987, 11-290, hier: 46. 92

Mehr noch: „Gleichgültig wie die Juden an sich selber beschaffen sein mögen, ihr Bild als das des

Überwundenen, trägt die Züge, denen die totalitär gewordene Herrschaft todfeind sein muß: des Glücks

ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos.“ (ebd.,

229) In einem gewissen Sinne bewahren HORKHEIMER und ADORNO hier säkularisiert den Gedanken auf,

das jüdische Volk sei nicht wie alle Völker, an dem auch Gershom SCHOLEM festhielt (vgl. DERS., Es

gibt ein Geheimnis in der Welt“. Tradition und Säkularisation. Ein Vortrag und ein Gespräch, hrsg. von

Itta SHEDLETZKY, Frankfurt/M. 2002, 90f; ferner HERTZBERG, Wer ist Jude? 48f). Den Antisemiten, da-

runter die ‚kleinen Leute‘ mit Blockwart-Ambitionen, wird dies zum Gegenstand der Sehnsucht und der

Abwehr zugleich. 93

Delphine HORVILLEUR, En Tenue d‘Ève, Féminin, pudeur et judaïsme, Paris 2013, 112.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 27

have made for Judaism’s development and survival. Torah means a complete Jewish

civilization.”94

Zu dieser Zivilisation gehören heute orthodoxe, irritierte, liberale, zionisti-

sche und dezidiert säkulare Juden. Aber das Judentum war und ist, so müssen

wir hinzufügen, nicht eine Zivilisation, sondern es ist zu mehreren unter-

schiedlichen Kulturen und Zivilisationen vermittelt, die es in sich aufnahm

und sich assimilierte. Der Vorgang der Assimilation ist ja nicht nur im Sinne

einer Anpassung des Judentums an seine nichtjüdische Umwelt zu verstehen,

sondern auch umgekehrt: die Transformation und Akkomodation des jeweili-

gen kulturellen Kontextes an die eigene Tradition, die davon wiederum nicht

unberührt bleibt, sondern so erst ihre Aktualität und Lebendigkeit erweist. In

diesem Sinne müsste die Aufgabe, die nach Kaplan Juden in der Diaspora zu

erfüllen haben, realisierbar sein: Sie sollen helfen „to render that civilization

capable of enhancing human life as the Torah enhanced the life of Israel“95

.

Fast will es scheinen, als erblickte Kaplan im Judentum die lebende oder ‚in-

karnierte‘ Thora inmitten ihrer nichtjüdischen Umwelt. Aus Solomon Sch-

echters „Catholic Israel“ wird hier die „Civilization“, die „the whole human

life“ einbezieht und nach Kaplan eben diese Bestimmung mit dem Katholi-

zismus teilt96

. Dieser Begriff des Judentums bereitet christlichen Gesprächs-

partnern oft Schwierigkeiten, da sie das Judentum primär als eine Glaubens-

gemeinschaft ansehen, in der die Praxis zwar eine größere Rolle spielt als im

Christentum, die aber doch im Glauben fundiert ist. Dem christlich-jüdischen

Dialog ist dies nicht uneingeschränkt bekömmlich.

Judentum als Zivilisation (mit seinem spezifischen kulturellen Gedächtnis)

bietet aber auch jenen säkularen Juden noch Anknüpfungsmöglichkeiten, die

einerseits nur eine sehr gebrochene Beziehung zur religiösen Tradition haben

oder sich dezidiert als nicht religiös verstehen, andererseits aber die Bezie-

hung zur verschlungenen Kette der Überlieferung und des kollektiven Ge-

dächtnisses des Judentums nicht gänzlich kappen möchten, wie das Buch von

Amos Oz und Fania Oz-Salzberger belegt. Damit ist freilich nicht schon ent-

schieden, was geschieht, wenn sich die Spur des Textes und des in ihm do-

kumentierten kulturellen Gedächtnisses, allmählich verliert und die Tradition

unverständlich wird oder verstummt. Eine solche Situation tritt ein, sobald

94

KAPLAN, Judaism as a Civilization, 414; Kursivierung im Original. 95

Ebd. 96

Vgl. ebd., 250. – Zu Solomon SCHECHTERs Formulierung Catholic Israel vgl. ders., Studies in Judaism

(Band I), London 1896, XXI.

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 28

auch die rudimentären Formen der Weitergabe erlöschen entweder, weil die

Tradenten selbst nicht mehr über das notwendige Wissen verfügen oder aber,

wie in Europa, ganze jewish cultures systematisch vernichtet wurden. Mit

dem wachsenden arabischen Nationalismus der 20er und 30er Jahre und

nochmals nach der Staatsgründung Israels 1948 verschlechterte sich auch in

der arabischen Welt die Lage vieler Gemeinden dramatisch, so dass ein

Großteil ihrer Mitglieder unter dem wachsenden Druck auswanderte oder

vertrieben wurde und so – wie im Irak – eine regionale Geschichte der Juden,

die mehrere Jahrtausende in die Vergangenheit reicht, an ihr Ende kam.

In welchem Maße ein säkulares Judentum, wie es Fania Oz-Salzberger und

Amos Oz vorschwebt, die Überlieferung sichert, so dass die kommende Ge-

neration überhaupt wählen kann zwischen dem, was in ihrem Alltag noch

Platz beanspruchen kann und den Überlieferungen, die in der Geniza depo-

niert werden, steht dahin. Der Verlust von Traditionen, an denen man sich

abarbeitet, um Selbststand zu gewinnen, und nicht zuletzt von Tradenten,

wiegt schwer97

. Vieles muss wieder neu entdeckt werden oder entsteht – wie

derzeit in Deutschland – neu aus den Ruinen der Vergangenheit98

, auch wenn

es übereilt wäre, wieder von einem ‚blühenden Judentum‘ in Deutschland

und Europa zu sprechen99

. Manche Elemente der Überlieferung erscheinen

der heutigen Generation eher als ‚museal‘ oder sind mit den historischen Er-

fahrungen des 20. Jahrhunderts inkompatibel. Der nie verschwundene und

heute wieder laut auftretende Antisemitismus stellt Juden vor die Frage, ob

sie in jenem Europa, das sie schon einmal verraten und der Vernichtung

überantwortet hat, bleiben wollen und welche Zukunft ihnen hier beschieden

ist. Und auch in den Vereinigten Staaten, der goldenen medine, ist die Lage

des Judentums angesichts zahlreicher Anschläge auf Gemeinden und Indivi-

duen schwieriger geworden; ungewiss, ob sie noch einmal in großem Maß-

stab Zuflucht sein werden. Angesichts antisemitischer Zerrbilder, nach wie

97

Vgl. etwa Bernard WASSERSTEIN, Europa ohne Juden. Das europäische Judentum seit 1945. Übersetzt

von Bernd Rullkötter, Köln 1999. WASSERSTEINs eher pessimistischer Blick wird aktuell genährt zumin-

dest durch eine Erosion der westlichen Demokratien, verbunden mit dem Aufstieg der politischen Rech-

ten (unter dem Begriff des ‚Populismus‘), ein unverhüllter Antisemitismus nicht nur in der extremen

Rechten, sondern ebenso ausgeprägt im nach wie vor aktiven Islamismus und – in der Form eines expli-

ziten Antizionismus – auch in Teilen der Linken. 98

Zur deutschen Situation vgl. Michael BRENNER (Hrsg.), Geschichte der Juden in Deutschland von 1945

bis zur Gegenwart, München 2012, 379-434. 99

Vgl. Anetta KAHANE, Gibt es in Deutschland wirklich blühendes jüdisches Leben? In: Berliner Zeitung

vom 26. Januar 2020, online: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/kolumne-gedenktag-gibt-es-in-deutschland-

wirklich-bluehendes-juedisches-leben-li.5665?fbclid=IwAR3jAcHyMvp4rexFBepPYHUggweRJvkobpcGehY5WOVjzi6n6EBQNo1m5Lc

(letzter Zugriff: 27.01.2020)

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René Buchholz: Prekäre Identitäten 29

vor existierender Assimilationsbestrebungen und tiefer Gräben zwischen den

unterschiedlichen Richtungen bleibt nicht nur innerjüdisch die Frage aktuell,

was das Judentum eigentlich ausmache. Die jüdische ‚Identität‘ in der späten

Moderne bleibt, wie wohl eine jegliche, prekär. Gleichzeitig existiert aber in

liberalen, konservativen und vielleicht auch in manchen modern-orthodoxen

Gemeinden ein Bewusstsein davon, dass ‚Identität‘ nichts schlechthin Gege-

benes ist, sondern plastisch bleibt. Das Bild eines fixen Depositums muss das

kulturelle Gedächtnis des Judentums, das sich über mehrere Jahrtausende er-

streckt und beachtliche Transformationen durchlief, verfehlen. „Ein Erbe das

aufhört, befragt zu werden, stirbt“; konstatiert die Pariser Rabbinerin Delphi-

ne Horvilleur100

. Nur Traditionalisten träumen von einer Zeit, in der das Ver-

hältnis zur Überlieferung ungebrochen, Texte eindeutig, die Identität klar und

für alle Zeiten definiert war; die Wissenschaft weiß von einer solchen nicht

zu berichten.

100

„Un héritage qui cesse d’être interrogé meurt.“ (HORVILLEUR, En Tenue d‘Ève, 197)