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E 20934 D Mohr Siebeck Redaktion: Telefon 72010 Tübingen 72074 Tübingen (07071) 923-52 Postfach 20 40 Wilhelmstraße 18 Telefax ISSN 0022–6882 [email protected] (07071) 923-67 www.juristenzeitung.de Juristen Zeitung 75. Jahrgang Aus dem Inhalt: 17. April 2020 8 Seiten 373 – 424 Gunther Teubner An den Grenzen des Rechts: Die Paradoxie des Rechtsmissbrauchs Patricia Wiater Verwaltungsverfahren durch Private? Alexander Schall Corona-Krise: Unmöglichkeit und Wegfall der Geschäftsgrundlage bei gewerblichen Miet- und Pachtverträgen Christoph Zehetgruber Probleme der Bindungswirkung revisions- gerichtlicher Urteile BVerfG mit Anmerkung von Claus Dieter Classen Verbot des Kopftuchtragens bei bestimmten Tätigkeiten im Rahmen des Rechtsreferendariats BGH mit Anmerkung von Jens Koch und Philipp Maximilian Holle Voraussetzungen des Widerrufs einer Schenkung wegen groben Undanks Digitale Kopie – nur zur privaten Nutzung durch den Autor/die Autorin – © Mohr Siebeck 2020
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Oct 19, 2020

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Mohr Siebeck Redaktion: Telefon72010 Tübingen 72074 Tübingen (07071) 923-52Postfach 20 40 Wilhelmstraße 18 TelefaxISSN 0022–6882 [email protected] (07071) 923-67

www.juristenzeitung.de

JuristenZeitung

75. Jahrgang Aus dem Inhalt:17. April 20208 Seiten 373 – 424 Gunther Teubner

An den Grenzen des Rechts: Die Paradoxie des Rechtsmissbrauchs

Patricia WiaterVerwaltungsverfahren durch Private?

Alexander SchallCorona-Krise: Unmöglichkeit und Wegfall der Geschäftsgrundlage bei gewerblichen Miet- und Pachtverträgen

Christoph ZehetgruberProbleme der Bindungswirkung revisions- gerichtlicher Urteile

BVerfG mit Anmerkung vonClaus Dieter ClassenVerbot des Kopftuchtragens bei bestimmten Tätigkeiten im Rahmen des Rechtsreferendariats

BGH mit Anmerkung von Jens Koch und Philipp Maximilian HolleVoraussetzungen des Widerrufs einer Schenkung wegen groben Undanks

Digitale Kopie – nur zur privaten Nutzung durch den Autor/die Autorin – © Mohr Siebeck 2020

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HerausgeberProfessor Dr. Dr. Eric Hilgendorf, WürzburgProfessor Dr. Matthias Jestaedt, Freiburg i.Br.Professor Dr. Dr. h.c. Herbert Roth, RegensburgProfessor Dr. Astrid Stadler, Konstanz

Professor Dr. Bernhard Großfeld, Münster (bis 2000)Professor Dr. Christian Starck, Göttingen (bis 2006)Professor Dr. Dr. h.c. Rolf Stürner, Freiburg i.Br. (bis 2012)

RedaktionMartin Idler, Tübingen

Mohr Siebeck

8 75. Jahrgang

17. April 2020

Juristen Zeitung

Besprechungsaufsatz

Professor Dr. Dr. h.c. mult. Gunther TeubnerAn den Grenzen des Rechts: Die Paradoxie desRechtsmissbrauchs 373

Aufsätze

Professorin Dr. Dr. Patricia WiaterVerwaltungsverfahren durch Private? 379

Professor Dr. Alexander SchallCorona-Krise: Unmöglichkeit und Wegfallder Geschäftsgrundlage bei gewerblichen Miet- undPachtverträgen 388

Privatdozent Dr. Christoph ZehetgruberProbleme der Bindungswirkung revisionsgerichtlicherUrteile 397

Literatur

Mattias Wendel: Verwaltungsermessen als Mehrebenen-problem. Zur Verbundstruktur administrativerEntscheidungsspielräume am Beispiel des Migrations-und RegulierungsrechtsProfessor Dr. Markus Winkler 404

Entscheidungen

BVerfG, 14. 1. 2020 – 2 BvR 1333/17mit Anmerkung vonProfessor Dr. Claus Dieter ClassenVerbot des Kopftuchtragens bei bestimmten Tätigkeitenim Rahmen des Rechtsreferendariats 405

BGH, 22. 10. 2019 – X ZR 48/17mit Anmerkung vonProfessor Dr. Jens Koch und Dr. Philipp Maximilian HolleVoraussetzungen des Widerrufs einer Schenkung wegengroben Undanks 419

JZ Information

Aktuelles aus der Rechtsprechung/Aus dem Inhalt der nächsten Hefte 240*Aus den Hochschulen 241*Gesetzgebung 241*Entscheidungen in Leitsätzen 242*Neuerscheinungen 258*Zeitschriftenübersicht 271*Festschrift 275*Impressum 276*

Inhalt

JuristenZeitung 75/8 Inhalt DOI: 10.1628/jz-2020-0136ISSN 0022-6882 © Mohr Siebeck 2020

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HerausgeberProfessor Dr. Dr. Eric Hilgendorf, WürzburgProfessor Dr. Matthias Jestaedt, Freiburg i.Br.Professor Dr. Dr. h.c. Herbert Roth, RegensburgProfessor Dr. Astrid Stadler, Konstanz

RedaktionMartin Idler, Tübingen

Mohr Siebeck

8 75. Jahrgang17. April 2020Seiten 373–424

Juristen Zeitung

Professor Dr. Dr. h.c. mult. Gunther Teubner, Frankfurt a.M.*

An den Grenzen des Rechts: Die Paradoxie des Rechtsmissbrauchs**

Die Figur des Rechtsmissbrauchs ist eine der schwierigstenGeneralklauseln im Recht. Trotz fundamentaler Kritik an ihrerUnbestimmtheit und an ihrer inneren Widersprüchlichkeit wirdsie praktisch auf allen Rechtsgebieten immer wieder eingesetzt,um rechtlich unerwünschtes Verhalten zu verhindern. Derfolgende Rezensionsaufsatz untersucht, ob und wie eine neueMonographie, die eine einheitliche Konzeption desRechtsmissbrauchs vorschlägt und zugleich ihren Verästelungendetailliert nachgeht, zu einer rechtstheoretischen undrechtsdogmatischen Klärung dieser Kategorie beiträgt.

I. Das Argument

Eine bahnbrechende Habilitationsschrift ist anzuzeigen. Dasist keine Übertreibung, denn Roman Guski ist es gelungen,der schwierigen Kategorie des Rechtsmissbrauchs eine neu-artige Interpretation zu geben, die sie prinzipiell von anderenGeneralklauseln unterscheidet. Guski interpretiert Rechts-missbrauch als Paradoxie. Rechtsmissbrauch ist paradox,weil in ihm Recht und Unrecht zusammenfallen. Im Unter-schied zu Treu und Glauben, gute Sitten, ordre public, Sozi-aladäquanz etc., die, wenn auch reichlich unbestimmt, dieRechtsanwendung auf ein positives Ziel verpflichten, endetdie doppelte Negation im Verbot des Rechtsmissbrauchstrotz aller Präzisierungsbemühungen der Dogmatik stets ineinem Paradox, insofern in bestimmten Situationen dasRecht selbst rechtswidrig wird. Doch ist dies nicht das resig-nierte Ende des Gedankengangs, sondern erst sein vielver-sprechender Anfang: Den Rechtsmissbrauch in die Theorieder Paradoxien einzubetten, erlaubt es Guski, die Paradoxiein vielen Aspekten zu entfalten und damit sowohl die zahl-reichen Ursachen des Rechtsmissbrauchsverbots aufzude-cken als auch vielfältige Entscheidungskriterien für dieRechtsanwendung zu bestimmen.

Hier soll der Vorschlag unterbreitet werden – mit Guski,gegen Guski und über Guski hinaus –, seine bahnbrechendeUntersuchung ein Stück weiterzuführen. In Übereinstim-mung mit Guski soll zunächst die innere Logik des Miss-brauchsparadoxes vorgestellt werden. Damit kann man, wieGuski es erfolgreich unternimmt, die Gefahren der parado-xalen Interpretation des Rechtsmissbrauchs, zugleich aberauch die Chancen seiner Entparadoxierung deutlich machen(sub II). Darüber hinaus aber, und das macht die Originalitätseiner Arbeit aus, kann Guski mit Hilfe der Paradoxierechtstheoretisch die Gründe für das Auftauchen des Rechts-missbrauchs aufdecken (sub III) und zugleich rechtsdogma-tisch Lösungsperspektiven vorzeichnen (sub IV). GegenGuski soll dann kritisch vorgebracht werden, dass seine be-harrlichen Rückführungen aller Situationen des Rechtsmiss-brauchs auf negative Selbstreferenz die Tendenz befördert,dessen bloß rechtsinterne Interpretation überzubetonen. Soverständlich es ist, eine Überflutung des Rechts mit rechts-externen Einflüssen eindämmen zu wollen, so schwierig wirdes dann, die Leere des Selbstreferenzzirkels erfolgreich zuüberwinden (sub V). Über Guski einen Schritt hinausgehendwird schließlich die Beobachtung eingeführt, dass rechts-missbräuchliche Handlungen stets an den Grenzen desRechts und zwar an seinen Außengrenzen wie auch an denBinnengrenzen, begangen werden. Das darauf reagierendeVerbot des Rechtsmissbrauchs durchbricht effektiv dieseGrenzen des geltenden Rechts und findet Entscheidungskri-terien jenseits der jeweiligen Grenze, die es dann in das Rechtinkorporiert. Mit diesem Argument, das an Guskis Gedan-kengänge anschließt, wird die Aufmerksamkeit auf unter-schiedliche Grenzstellen des Rechts gelenkt. Die Richtungs-angaben für die Rechtsanwendung heißen dann: An den Au-ßengrenzen des Rechts gebietet das Rechtsmissbrauchsver-bot den Import rechtsexterner Kriterien und an seinenBinnengrenzen eine rechtsinterne Kontextualisierung (subVI).

II. Paradoxologie des Rechtsmissbrauchs

Roman Guski will der schillernden Rechtskategorie desRechtsmissbrauchs zu klaren Konturen verhelfen, indem er,was bisher noch nicht versucht worden ist, den vielfältigenEinsatz der Kategorie rechtstheoretisch auf den einheitlichen

Bes

prech

ungsa

ufsatz

* Der Autor ist Emeritus am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt.** Zugleich eine Besprechung von Roman Guski: Rechtsmissbrauch alsParadoxie: Negative Selbstreferenz und widersprüchliches Handeln imRecht. – Tübingen: Mohr Siebeck, 2019. (Heidelberger Rechtswissenschaft-liche Abhandlungen; Bd. 19.) XXVI, 753 S.; Leinen: 144.– €. ISBN 978-3-16-157594-5; eBook 978-3-16-157595-2.

JuristenZeitung 75, 373–378 DOI: 10.1628/jz-2020-0115ISSN 0022-6882 © Mohr Siebeck 2020

Digitale Kopie – nur zur privaten Nutzung durch den Autor/die Autorin – © Mohr Siebeck 2020

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Begriff der Paradoxie bringt, diesen dann aber rechtsdogma-tisch differenzierend so entfaltet, dass er zugleich in ganzunterschiedlichen Anwendungskontexten Entscheidungskri-terien liefert. Den Bedeutungsreichtum einer solchen unitasmultiplex, die in der Kategorie des Rechtsmissbrauchs ver-borgen ist, entfaltet Guski auf verschiedenen Rechtsgebieten– im Privatrecht, im Europarecht und im Wettbewerbsrecht –mit Hilfe einer höchst komplexen Theorie: der Theorie derParadoxien.

Das ist ein gewagtes Unternehmen. Denn mit Paradoxienzu argumentieren, insbesondere in der Rechtsdogmatik Pa-radoxien aufzudecken, gilt gemeinhin als eine Kamikaze-Strategie. Weil man durchaus zu Recht befürchtet, dass Pa-radoxien das Denken paralysieren, wird entweder ihre Exis-tenz schlicht geleugnet oder der Umgang mit ihnen wird ausGründen der Logik verboten oder sie werden ridikülisiert,als bloße Spielerei abgetan.1 Guski aber kann sich daraufberufen, dass in anderen Disziplinen Theorien der Paradoxieerfolgreich eingesetzt werden, um bisher ungeklärten Zu-sammenhängen auf die Spur zu kommen.2 Und es gibt auchrechtswissenschaftliche Studien, die in verschiedenenRechtsgebieten Paradoxien aufdecken und den Umgang mitihnen analysieren.3

Wenn Guski den Vertretern von Rechtsmissbrauchsleh-ren scharfsinnig nachweist, dass ihre Lehre notwendig ineiner Paradoxie endet, will er ihnen keineswegs vorwerfen,sie seien einem Denkfehler aufgesessen. Im Gegenteil, ersucht genauso wie sie, die äußerst unbestimmte Kategoriedes Rechtsmissbrauchs einer genaueren Bestimmung zu-zuführen. Aber er insistiert darauf, dass erst die Aufdeckungihrer Paradoxie die Chance bietet, in den verschiedenenRechtsgebieten den Ursprung des Rechtsmissbrauchs zu ent-decken, und zugleich vielfältige Möglichkeiten eröffnet, mitdem Rechtsmissbrauch dogmatisch ertragreich umzugehen.

Recht ist Unrecht – darin steckt der fundamentale Wider-spruch im Begriff des Rechtsmissbrauchs. Der Kern desRechtsmissbrauch besteht für Guski darin, dass in bestimm-ten Situationen das Recht zu Unrecht gebraucht wird, dassalso das Recht sich selbst für rechtswidrig erklärt. In derRechtspraxis mit einem solchen Widerspruch des Rechts ge-gen sich selbst umzugehen, ist schwierig, wenn nicht unmög-lich. Deshalb gibt es auch namhafte Stimmen, die diesesselbstwidersprüchliche Oxymoron aus der Dogmatik voll-ständig verbannen wollen.4 Das aber widerlegt wiederumdie Rechtspraxis selbst, die, wie Guskis eingehende Recht-sprechungsanalysen zeigen, auch nach scharfer Kritik dieKategorie des Rechtsmissbrauchs in neuen Konstellationenimmer wieder heranzuziehen sich genötigt fühlt. Doch überdas Argument, dass die Praxis die Eliminierungsforderungen

tagtäglich konterkariert, geht Guski noch hinaus. Die Kate-gorie abschaffen zu wollen, kritisiert er deswegen als eska-pistisch, weil er gerade in der inneren Widersprüchlichkeitdes Begriffs eine Chance für die Weiterentwicklung desRechts vermutet. Wie aber kann die Rechtspraxis mit derWidersprüchlichkeit umgehen, wenn der Rechtsmissbrauchkeine subsumtionstaugliche Information gibt, wenn er keineKriterien liefert, den Widerspruch aufzulösen?

Jedoch geht die Problematik tiefer, Rechtsmissbrauchenthält mehr als einen bloßen Widerspruch. Ein Wider-spruch zwischen Geltungsansprüchen von Normen besagt:A ist Non-A, eine Norm gilt und sie gilt nicht, Recht istUnrecht. In der Tat bedeutet Rechtsmissbrauch, dass in be-stimmten Situationen der Gebrauch des Rechts rechtswidrigist. Doch ein Paradox ist mehr als ein bloßer Widerspruch.Paradoxien können sich zwar als Widersprüche äußern, ha-ben aber eine kompliziertere Struktur, die mit ihrer Selbst-rückbezüglichkeit bzw. „Selbstgerechtigkeit“ zu tun haben:5A weil Non-A und Non-A weil A; Recht weil Unrecht undUnrecht weil Recht. Lügt der Kreter, wenn er selbstrück-bezüglich von sich sagt, dass er lügt? Ist Recht selbst gerecht,d. h. ist es recht/unrecht, Konflikte nach recht/unrecht zubeurteilen? Ein Verhalten wird als Rechtsmissbrauch fürrechtswidrig erklärt, gerade weil es sich auf das Recht beru-fen kann.

Aus diesem Gegensatz von Widerspruch und Paradoxresultieren Unterschiede in den Konsequenzen. Normwider-sprüche lassen sich durch Entscheidung zwischen Alternati-ven auflösen. Oder sie erlauben einen Kompromiss. BeideWege sind jedoch bei Paradoxien verstellt. Durch Entschei-dung kann man der Oszillation zwischen ihren Polen nichtentkommen, da jede Entscheidung für einen Pol den selbst-rückbezüglichen Zirkel wieder in Gang setzt. Wenn Unrecht,dann Recht. Wenn Recht, dann Unrecht. Die Konsequenz istprinzipielle Unentscheidbarkeit. Resultat des Paradoxes istParalyse.6

Antinomien schließlich sind für Guski unauflösbare in-haltliche Normwidersprüche im Recht, im Unterschied zuformalen Paradoxien, in denen Recht als Unrecht erscheint.7Mit Antinomien kann juristische Argumentation nichts an-fangen, weil das Recht sich Widerspruchsfreiheit unterstellenmuss, um konsistent zu entscheiden. Eine von der Theorieder Paradoxie angeleitete Analyse könne dagegen, so Guski,Strategien der Paradoxiebehandlung entwerfen, wenn Rechtmit Recht im Recht kollidiert. Bekannt gewordene Strategiensind insbesondere Temporalisierung, Hierarchisierung oderExternalisierung der Paradoxie.

Als beunruhigende Besonderheit des Rechtsmissbrauchs-verbots benennt Guski das elementare Problem negativerSelbstreferenz im Rechtssystem. Er spricht von Selbstrefe-renz, weil mit dem Vorwurf rechtsmissbräuchlichen Verhal-

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1 Um den neuerdings erhobenen paradoxologischen Ton in der Rechts-wissenschaft zum Schweigen zu bringen, bedient sich Klaus Röhl gleich-zeitig aller drei Argumentationslinien: Röhl, Rechtssoziologie-Online, § 18V. 2.(4), § 69 VII, § 70 II, https://rechtssoziologie-online.de/kapitel-13systemtheoretische-erklarungsansatze/§-70das-recht-als-autopoietisches-system/.2 Hier ist in erster Linie Niklas Luhmann zu nennen, auf dessen Theorieder Rechtsparadoxien Guski aufbaut; Luhmann, Das Recht der Gesell-schaft, 1993, passim, besonders S. 545 ff., 580 ff.3 Fletcher, „Paradoxes in Legal Thought“, Columbia Law Review 1985,1263 – 1292; Suber, The Paradox of Self-Amendment: A Study of Logic,Law, Omnipotence and Change, New York 1990; Ross, On Self-Referenceand a Puzzle in Constitutional Law, Mind 1969, 1 – 24.; Hart, Self-referringLaws, Essays in Jurisprudence and Philosophy, Oxford 1983, S. 170 – 178.4 Prominent Planiol/Ripert, Traité élémentaire de droit civil, Bd. 2,11. Aufl. 1931, S. 312 f.; ebenso Ripert, Abus ou relativité des droits, RevueCritique du Droit International Privé 1929, 29.

5 Zur Denkfigur des Paradox aus philosophischer Sicht Probst/Kutschera,Paradox, in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philoso-phie, Basel 1989, S. 81 – 97; Simon, Das philosophische Paradox, in: Geyer/Hagenbüchle (Hrsg.), Das Paradox: Eine Herausforderung des abendlän-dischen Denkens, 1992, S. 45 – 60. Zu den Unterschieden von Widersprü-chen und Paradoxien in pragmatischer Perspektive Watzlawick, Mensch-liche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 2000, S.171 ff.6 Esposito, Paradoxien als Unterscheidungen von Unterscheidungen, in:Gumbrecht/Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche,1991, S. 35 ff.7 Zu Antinomien im Recht Canaris, Systemdenken und Systembegriff inder Jurisprudenz, 1983, S. 112 ff.; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung,Richterfreiheit, 2005.

Besprech

ungsaufsatz

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tens Rechtsakte über andere Rechtsakte urteilen, also eineselbstreferentielle Beziehung innerhalb des Rechts herstellen.Diese ist negativ, weil die einen Rechtsakte den anderenRechtsakten nicht Rechtmäßigkeit bescheinigen, das wärepositive Selbstreferenz und im Ergebnis eine unschädlicheTautologie. Vielmehr erklärt sich im Urteil des Rechtsmiss-brauchs das Recht als Unrecht, wenn es die rechtmäßigeNorm als unrechtmäßig gebraucht beurteilt. Damit löst siedie Paralyse des Rechtsparadoxes aus und endet in einerSituation totaler Unbestimmtheit, in der kein Urteil mehrmöglich ist.

Guskis Kritik richtet sich nun gegen die weitverbreitetePraxis, die Paradoxieproblematik dadurch zu kaschieren,dass man rechtsmissbräuchliches Verhalten als „schikanös“,„sittenwidrig“, „treuwidrig“, „unzulässig“, „unangemessen“oder „unzumutbar“ umschreibt und sich davon die gesuchtePräzisierung der Generalklausel für die Rechtsanwendungerhofft. Solche Umetikettierungen verschieben nach Guskinur das Paradoxieproblem. Mit geradezu unerbittlicher Kon-sequenz weist Guski mit seinen Analysen unterschiedlicherAnwendungsgebiete nach, dass sich solche Uminterpretatio-nen des Rechtsmissbrauchs stets wieder in den Paradoxiender Selbstreferenz verfangen. Für ihn sind sie nur mehr oderweniger gut versteckte Synonyme für die situative Rechts-widrigkeit des Rechtsgebrauchs. Als Zirkel der Selbstrefe-renz sind sie demnach genauso kriterienlos wie die Kategoriedes Rechtsmissbrauch selbst. Und sie verdecken die zugrun-deliegende Paradoxie, statt das in ihr enthaltene Lösungs-potential zu nutzen.

Wie aber aktualisiert sich nun das Lösungspotential, dasGuski im Rechtsmissbrauchsparadox vermutet? In denNachbardisziplinen gelten in der Tat Paradoxien als treiben-de Kraft, welche zur Anpassung der Gedanken aneinanderund hiermit zu neuen Aufklärungen und Entdeckungendrängt.8 Guski entdeckt im Paradox des Rechtsmissbrauchsein doppeltes Lösungspotential, ein rechtstheoretisches undein rechtsdogmatisches. Rechtstheoretisch sucht er mit Hilfeder Paradoxie aufzudecken, aus welchen Gründen die Figurdes Rechtsmissbrauchs in den verschiedenen Rechtsgebietenstets aufs Neue auftauchen muss. Genauer: Guski suchtrechtstheoretisch zu rekonstruieren, welche selbsterzeugtenSystemprobleme des Rechts in welchen Kontexten dafür ver-antwortlich sind, dass es gar nicht vermieden werden kann,die Kategorie des Rechtsmissbrauchs einzuführen. Rechts-dogmatisch eröffnet Guski mit den Mitteln der Entparado-xierung, also mit einem gut durchdachten Ausgang aus derParadoxie, vielfältige Möglichkeiten, entscheidungsrelevanteKriterien zu entwickeln. Wenn es gelingt, fundamentale An-tinomien des Rechts in Paradoxien umzuwandeln, dann ver-sprechen die vielfältigen Strategien der Entparadoxierung,dass entschieden werden kann, wann ein rechtmäßiges Ver-halten rechtsmissbräuchlich ist.

III. Rechtstheoretische Entparadoxierung:Ursprünge des Rechtsmissbrauchs

Die Rechtstheorie hat der Kategorie des Rechtsmissbrauchsbisher wenig abgewinnen können. Wegen ihrer Unbestimmt-heit erscheint sie nur als eine der vielen Leerformeln desRechts. Guski jedoch macht, wie schon gesagt, den prinzi-

piellen Unterschied zu anderen Generalklauseln deutlich,dass nämlich der Rechtsmissbrauch die genannte paradoxaleStruktur negativer Selbstreferenz aufweist, und dass genaudieser Unterschied die Antwort auf die Frage erlaubt: Wa-rum taucht das Rechtsmissbrauchsparadox stets auf Neuewieder auf? Seine Hypothese heißt: Es sind selbsterzeugteProbleme des Rechtssystems, auf welche die Kategorie desRechtsmissbrauchs reagiert. In detaillierten Analysen zeigtGuski, welche funktionsimmanenten Systemprobleme desRechts diese Reaktion auslösen. Zu diesem Zweck identifi-ziert Guski unterschiedliche dem Recht zugrundeliegendenormative Antinomien. Da das Recht aber Antinomien nichteinfach auflösen kann, sucht es sie aus seinen Operationenauszuschließen, indem es sich mit dem Rechtsmissbrauchs-urteil für den Vorrang der einen Seite entscheidet, ist dannaber dessen Paradoxien ausgeliefert. Dass die Paradoxien desRechtsmissbrauchs mit ihrer formalen Struktur der Einheitder Differenz Recht/Unrecht überhaupt auftauchen, führtGuski also auf funktionsimmanente Antinomieprobleme imRechtssystem zurück. Guski unterscheidet folgende Kon-stellationen, in denen selbsterzeugte Antinomien des Rechtsden Rechtsmissbrauchsvorwurf, der den Wiedereinschlussdes Ausgeschlossenen fordert, auslösen:

(1) Einzelfall – Ausschluss des Partikularen: Rechtsopera-tionen schließen nur einen sehr kleinen Teil der Welt ein,über den entschieden wird – und schließen damit zugleicheinen unübersehbar komplexen Weltbereich als irrelevantaus. In der Konfliktentscheidung macht sich die Antinomiezwischen abstrahierender Selektivität von Normen und kon-kreter Einzelfallgerechtigkeit als eines der selbsterzeugtenSystemprobleme des Rechts bemerkbar. Darauf reagiert dasRechtsmissbrauchsverbot. Wenn es verlangt, dass die Um-stände des Einzelfalles einbezogen werden müssen, dannbricht die ganze Komplexität der Welt herein, was zu einerRevision rechtlicher Selektionen führt.

(2) Normsetzung – Selektivität der Tatbestände als Aus-schluss von Umweltaspekten:

Anders als in der Einzelfallentscheidung stellt sich beider Normsetzung das Problem tatbestandlicher Selektionen,die immer zugleich Bestimmungen des rechtlich Zulässigensind, ebenso wie das darauf beruhende Konsistenzproblembei Gesetzesauslegungen, die vom Wortlaut abweichen. Hierwirkt die bekannte Antinomie von Gesetz versus Recht, alsodie Problematik einer Rechtsfindung contra legem. Mit Not-wendigkeit werden in der ursprünglichen Normierung As-pekte ausgeschlossen, die über die Kategorie des Rechtsmiss-brauchs ihren Wiedereinlass in die Normierung fordern.

(3) Normtext/Zweck – Ausschluss von Umweltverände-rungsstrategien: Weil das Recht prinzipielle Schwierigkeitenhat, mit Zweckprogrammen zu arbeiten, schließt die kon-ditionale Form der Normsetzung Zwecküberlegungen weit-gehend aus. Die Antinomie zwischen Normtext und Norm-zweck, zwischen vergangenheitsbezogener Normierung undzukunftsbezogener Zwecksetzung ist unüberbrückbar. So-weit teleologische Auslegung dies nicht mehr kompensierenkann, weil sie den möglichen Textsinn definitiv unterlaufenwürde, muss der Rechtsmissbrauch als Korrektiv einsprin-gen, um den Einfluss von Zwecksetzungen in Konditional-programmen herzustellen.

(4) Subjektive Rechte – Ausschluss von Bindung: Subjek-tive Rechte der Moderne sind als asymmetrische Berechti-gung ohne Binnenausgleich konzipiert. Doch macht sich so-gleich die Antinomie von Freiheit und Bindung, als Kollisionzwischen subjektiven Rechten (einschließlich Freiheit) undobjektiver Rechtsordnung, bemerkbar. Der Protest gegen

JZ 8/2020 Gunther Teubner An den Grenzen des Rechts: Die Paradoxie des Rechtsmissbrauchs 375

8 Krippendorff, Paradox und Information, in: Dervin/Voigt (Hrsg.), Pro-gress in Communication Sciences 5 (1984), S. 46 ff., 51 f.

Besprech

ungsaufsatz

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Rechtsmissbrauch fordert hier die Korrektur der Bindungs-losigkeit subjektiver Rechte, insofern jene die Möglichkeitrechtswidrigen Handelns innerhalb subjektiver Rechte eröff-net.

(5) Repräsentation – Ausschluss des Prinzipalwillens: Hiergeht es um den Missbrauch von Repräsentationsbefugnissen,der als interessenwidrige Ausübung einer Befugnis zur Inte-ressenbestimmung auftritt. Es taucht die prinzipiell nichtbeseitigbare Antinomie zwischen eigener Rechtsbefugnisund repräsentierten Fremdinteressen auf. Beim Missbrauchvon Repräsentationsmacht ist die Kompetenz zum Handelngegeben, und erst ihr Vorliegen begründet die Notwendig-keit rechtlicher Kontrolle.

(6) Verfahren – Ausschluss des materiellen Rechts: Hierstellt sich das verfahrensspezifische Problem systeminternerzeugter Ungewissheit, insofern rechtswidrige Prozess-handlungen rechtmäßige Folgen herbeiführen und umge-kehrt. Die hier zugrundeliegende Antinomie, die in der Dif-ferenz materiell/prozessual ausgedrückt wird, erzwingt denEinsatz des Rechtsmissbrauchsverbots.

Damit ist es Guski in der Tat gelungen, sowohl eineeinheitliche Interpretation des Rechtsmissbrauches als Para-doxie als auch dessen plausible Differenzierung mit Hilfe derfunktionsnotwendigen Antinomien des Rechts zu finden.

IV. Rechtsdogmatische Entparadoxierung:Kriterien der Rechtsanwendung

Die Paradoxietheorie ist, so Guski, über eine solche Ursa-chenforschung hinaus in der Lage, die Suche nach Entschei-dungskriterien für die Rechtsfrage, wann ein Verhaltenrechtsmissbräuchlich ist, anzuleiten. Er hält die Rechtsmiss-brauchsproblematik dadurch für lösbar, dass ihr Paradoxdurch neue rechtliche Differenzierungen aufgelöst, aufgeho-ben, verdrängt, invisibilisiert wird. Als Entscheidungskrite-rien, so Guski, „werden entweder nichtrechtliche, vor allem:moralische Maßstäbe zur normativen Bewertung von Rechtherangezogen [. . .] oder es werden systemimmanente Grada-tionen eingeführt (positiv: höheres/einfaches Recht, negativ:einfaches/qualifiziertes Unrecht), das Regel/Ausnahme-Schema zur Begründung von Kommunikationslasten heran-gezogen und [es] wird mit den Figuren der ‚Rechtspflicht‘sowie des ‚Rechtsinstituts‘ gearbeitet“.

1. Außerrechtliche Maßstäbe

Eine der möglichen Strategien der Entparadoxierung ist dieExternalisierung des Paradoxes durch Moralisierung desRechtsmissbrauchs. Das Rechtsmissbrauchsparadox wirdaus dem Rechtssystem herausverlagert und mit Hilfe rechts-fremder Entscheidungskriterien gelöst. Schon die moralnaheFormulierung des Rechtsmissbrauchs legt seine Externalisie-rung in die Moral nahe. Das führt auf Entscheidungskrite-rien, die auf Merkmale individueller Bösartigkeit (dolus,fraude, malice) des Berechtigten abstellen. Modernere mora-lische Kriterien, mit Hilfe derer das Verbot des Rechtsmiss-brauchs entschieden wird, sind unlautere Motive, Verdrän-gungsabsicht im Wettbewerb, bei der Gesetzesumgehung dieAbsicht, sich einen gesetzeswidrigen Vorteil zu verschaffen,und Schädigungsvorsatz bei der Ausübung eines Rechts(§ 226 BGB).

Obwohl Guski einräumt, dass die Gerichtspraxis mit ei-nem gewissen Recht solche moralischen Kriterien desRechtsmissbrauchs häufig einsetzt, ist er gegenüber der Ex-

ternalisierung insgesamt skeptisch. Moralische Entschei-dungskriterien seien im Recht letztlich nicht plausibel, dasie einen normativen gesellschaftlichen Konsens suggeriertenund den Betroffenen dadurch als unsozial diskreditierten.Zugleich werde die wesentliche Errungenschaft der Emanzi-pation des Rechts von moralischen Kategorien gefährdet.

2. Innerrechtliche Maßstäbe

Den Königsweg der Paradoxieauflösung erblickt Guski da-gegen in Differenzierungen, die sich an innerrechtlichenMaßstäben orientieren:

Hierarchisierung ist die wichtigste Methode, um Ent-scheidungskriterien für das Verbot des Rechtsmissbrauchszu finden. Im Gegensatz zur Externalisierung ist dies einselbstreferentielles Vorgehen, das die Paradoxie innerhalbdes Rechts auflöst, und zwar durch Einbau von zusätzlichenEbenen, besonders durch Bildung von Normhierarchien. Be-reits in den aus der Rechtsgeschichte bekannten Differenzenvon Recht/Billigkeit, dikaion/epieikeia, ius civile/ius hono-rarium, ius/aequitas, common law/equity, droit/bonnesmœurs mache es der jeweilige Gegenbegriff möglich, dieRechtsnorm, auf die sich rechtsmissbräuchliches Verhaltenberufe, durch ein höheres Recht zu derogieren. Heute ge-schieht es immer häufiger, Entscheidungskriterien aus derVerfassung zu gewinnen.

Guski findet im Europarecht die wohl plausibelste Formder Hierarchisierung, mit der sich zahlreiche Rechtsmiss-brauchsfälle lösen lassen. Der Missbrauch der Grundfreihei-ten realisiert sich in Handlungen, die in paradoxer WeiseGrenzfreiheit und Grenzen zugleich ausnutzen. Die Ausdif-ferenzierung der autonomen supranationalen Ebene ist fürGuski die bedeutendste strukturelle Errungenschaft der EU,die zugleich den Grundfreiheitenmissbrauch wirksam be-kämpfen kann. Die Normenhierarchie ermöglicht primär-rechtliche Rechtssetzungen durch institutionalisierte Verfah-ren mit unionseigenen Organen und verrechtlicht transnatio-nale Privatautonomie. Sie kann aber zugleich mitgliedstaat-liche Regelungsinteressen im Rechtsmissbrauchsverbotberücksichtigen.

Asymmetrisierung im Regel/Ausnahme-Schema: DieseTechnik lässt gegensätzliche normative Inhalte gleichzeitigzu, aber in einer asymmetrischen Form, in welcher dasRechtsmissbrauchsverbot die Ausnahme zur Regel als Normsetzt, damit aber zugleich die Regel stärkt. Rechtsmissbraucherscheint somit gewissermaßen als die Generalklausel derGeneralklauseln, als „regeldurchbrechendes Korrekturprin-zip“.

Guski diskutiert im Detail Entscheidungskriterien, wel-che diese Technik u. a. beim Wegfall der Geschäftsgrundlage,bei AGB–Kontrollen, beim Durchgriff bei verbundenen Ge-schäften, bei persönlicher Haftung trotz beschränkter Haf-tung, beim Kapitalersatzrecht liefert.

Subjektives Recht als Pflichtrecht: Die hier wirksame Pa-radoxie von Bindung und Freiheit löst Guski unter Berufungauf Gierke, Raiser, Wiethölter, indem er dem Berechtigteninhaltliche Auflagen als Rücksichtnahmepflichten auferlegt,die im subjektiven Recht immanent angelegt seien. Dannwird Rechtsmissbrauch als Pflichtverletzung formulierbar,und zwar als Missachtung einer Pflicht, die sich das Indivi-duum durch soziale Beteiligung selbst auferlegt habe. Hiergelte das Verbot der Selbstexemtion von einem Regelungs-zusammenhang, auf den sich der Berechtigte selbst berufe.Guski zeigt im einzelnen, wie das Verbot der Selbstexemtionin unterschiedlichen Regelungskomplexen wirkt: Venire

376 Gunther Teubner An den Grenzen des Rechts: Die Paradoxie des Rechtsmissbrauchs JZ 8/2020

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contra factum proprium, eigener Rechtsbruch und Verwir-kung durch Rechtsuntreue, kontradiktorische causa beimgewollten und zugleich nichtgewollten Typus oder bei ver-deckten Gewinnausschüttungen oder die Aufspaltung einerEinheit bei Kettenverträgen, Wertaufteilungen und verbun-denen Geschäften.

Institutionalisierung: Das Verbot des Rechtsmissbrauchswirkt hier dadurch, dass es das Verhalten als im Widerspruchzum Sinn einer Rechtsinstitution erklärt. Fundament ist auchhier das Verbot der Selbstexemtion: Das Rechtssubjekt dürfenicht rechtliche Einrichtungen in Anspruch nehmen unddiese gleichzeitig negieren. Das Axiom greife beim Miss-brauch von Repräsentationsmacht, beim Missbrauch von Ex-pertise, bei der Haftungsvereitelung und beim rechtswid-rigen Erwirken eines Gerichtsurteils. Guski macht dies auchan wirtschaftsrechtlichen Beispielen deutlich: am Verbot desMissbrauchs einer GmbH, der die Widmung des Haftungs-fonds verletzt und am Verbot des Missbrauchs einer markt-beherrschenden Stellung, bei dem ein Unternehmen Freiheitgegen Freiheit einsetzt. Besonders ausführlich diskutiert erdie kartellrechtliche Figur des Marktmachtmissbrauchs, dieihre Wurzel in dem Paradox habe, dass die erfolgreich inAnspruch genommene Rechtsinstitution des Wettbewerbswettbewerbswidrige Wirkungen haben kann, insofern sieMarktmacht ermöglicht hat. Auch hier hat das Missbrauchs-verbot eine entparadoxierende Funktion: Es richtet sich ge-gen wettbewerbsrechtlich legitimierten, jedoch unzulässigenEinsatz von Freiheit, der die Freiheit selbst unterminiert.

V. Kritik: Die Wendung nach innen

An dieser Stelle aber muss, so brillant Guskis Analysen an-sonsten sind, eine Kritik an seinem Vorgehen einsetzen. Wel-chen Kriterienertrag erbringt es, wenn er die gehaltvolle ge-samtgesellschaftliche Einrichtung des wirtschaftlichen Wett-bewerbs auf eine bloße Rechtsinstitution reduziert? Identifi-ziert er damit nicht die wirtschaftliche Institution auf denbloßen Teilkomplex formaler Rechtsnormen und verliert dieMöglichkeit, gerade aus ihrer wirtschaftlichen, also rechts-externen, Funktion die für den Rechtsmissbrauch gesuchtenmateriellen Entscheidungskriterien zu gewinnen? Wenn einVerhalten deswegen als rechtswidrig verurteilt wird, weil esgegen den Sinn einer Institution verstößt, dann sollte man diegesamte Sozialinstitution und nicht nur die partielle Rechts-institution in den Blick nehmen. Den vollen Sinn einer ge-sellschaftlichen Institution zu bestimmen – das kann dasRecht aus sich heraus gar nicht leisten. Es muss dazu nachaußen greifen. Es muss einerseits auf die reiche gesellschaft-liche Praxis, die den Sinn einer sozialen Institution immerwieder neu bestimmt, rekurrieren. Und es muss andererseitsdie Sinnerklärungen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaf-ten aufgreifen und rechtsintern rekonstruieren. Der Ausgriffauf rechtsexternen Sinn – das gerade ist die Intention derinstitutionellen Sichtweise des Rechts von Gierke, Raiser,Wiethölter, auf die sich Guski beruft. Eine Rechtsinstitutionist wegen ihrer bloßen Formalität anfällig für den Rechts-missbrauch. Erst der Durchgriff auf die Materialität ihresgesellschaftlichen Sinns erbringt die Legitimation für dasVerbot des Rechtsmissbrauchs.

Guski aber zeigt durchgängig eine deutliche Präferenzfür innerrechtliche Maßstäbe, um die Generalklausel desRechtsmissbrauchs zu konkretisieren. Damit sollen seine Re-kurse auf rechtsinterne Hierarchisierungen oder das Regel/Ausnahme-Verhältnis nicht kritisiert werden, die für be-

stimmte Konstellationen gewiss ihr Eigenrecht behalten.Wohl aber seine Tendenz, die außerrechtlichen Bezüge desRechtsmissbrauchs zu minimieren oder, was er häufig tut, siein rein innerrechtliche Bezüge umzudeuten. Am deutlichstenwird dies, wie gesagt, im institutionellen Rechtsmissbrauch,wenn Guski bewusst die Sinnbezüge zu den Sozialinstitutio-nen zugunsten einer verengten rechtsinternen Sicht kappt.Dies tut er nicht nur im Falle des Marktmachtmissbrauchs,der ohne ökonomische Theorien des Wettbewerbs nicht an-gemessen verstanden werden kann. Ebenso will er den Miss-brauch von Expertise in den Fällen der Expertenhaftungohne Durchgriff auf die gesellschaftliche Institution der Ex-pertise behandeln. Deren schwierige normative Anforderun-gen lassen sich aber erst dann formulieren, wenn man wis-senschaftssoziologische Analysen zur Rolle von Experten inder gesellschaftlichen Praxis zu Rate zieht. Auch der indivi-duelle Rechtsmissbrauch verliert seine materiellen Bezüge,wenn Guski ihn nur formell als Selbstexemtion gegenüberRechtsnormen beschreibt und nicht in den Blick nimmt, dassdie formale Selbstexemtion auf die vielfältigen sozialen Er-wartungen einer auf wechselseitige Achtung gerichteten ma-terialen Interaktionsmoral Bezug nimmt.

Verstehen lässt sich Guskis bewusster Rückzug auf dieInnenwelt des Rechts aus zwei Motiven. Das eine ist dieBesorgnis, dass die Rechtsdogmatik von außerrechtlichenEinflüssen überschwemmt werden könnte. Das andere Motivstammt, besonders im Bereich des Wettbewerbsrechts, ausder ordoliberalen Tradition, die sich gegen staatlichen Inter-ventionismus und ergebnisorientierte rechtliche Regulierungrichtet und beides allenfalls gegen selbstdestruktive Tenden-zen des Wettbewerbs zulassen will. Damit aber kappt mandie Sinnbestimmungen des Wettbewerbs aus konkurrieren-den ökonomischen Theorien, die das Recht nicht einfachausblenden kann, sondern durchdenken muss. Bedenkt manjedoch, dass die Autonomie des Rechts gar nicht gefährdetist, wenn das Recht seine Sensibilität gegenüber externenIrritationen aus der gesellschaftlichen Praxis und aus kon-kurrierenden Sozialtheorien steigert,9 dann verlieren beideMotive an Plausibilität.

Beide Motive konterkarieren letztlich Guskis eigenenGedankengang, denn sie führen wieder in den leeren Zirkelder Selbstreferenz hinein, aus dem die Entparadoxierungeneigentlich herausführen sollten. Deshalb wird Guskis Pro-jekt, materielle Entscheidungskriterien für den formalenRechtsmissbrauch zu finden, erst dann wirklich erfolgreich,wenn es die rechtlichen Selbstbegrenzungen durchbricht.

VI. Das Verbot des Rechtsmissbrauchsals Grenzdurchbrechung

Nimmt man diese Kritik in Guskis komplexen Gedanken-gang auf, dann lohnt es sich, nochmals zur Ausgangsfragezurückzukehren: Welche Bedingungen bestimmen das rekur-sive Auftauchen des Paradoxes und seine Auflösung? DieParadoxietheorie identifiziert zwei Bedingungen: gesell-schaftlichen Problemdruck und kommunikative Plausibili-tät.10 Wenn eine geltende Unterscheidung dem Druck sozia-ler Probleme nicht mehr gewachsen erscheint und/oder anPlausibilität verliert, dann taucht ihre Geltungsparadoxie auf.Zur Entparadoxierung muss eine neue Unterscheidung ge-

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9 Luhmann (Fn. 2), S. 225.10 Luhmann (Fn. 2), S. 545 ff.

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funden werden. Diese wird aber in der gesellschaftlichenKommunikation nur dann akzeptiert, wenn die neue Diffe-renz als adäquate Antwort auf den gesellschaftlichen Pro-blemdruck gelten kann und wenn sie plausibel, das heißtmit anderen zurzeit geltenden Unterscheidungen kompatibelist. Akzeptabel sind dann die durchaus „relativistischen“Kriterien der Zeitgemäßheit, der Sachangemessenheit undder Gesellschaftsadäquität der neuen Identitäten, sofern sieden beiden genannten Bedingungen gehorchen.

Problemdruck und Konsistenz, auf das Recht gewendet,heißt: Von diesen zwei Bedingungen hängt das Rechtsmiss-brauchsparadox ab: (1) von als lösungsbedürftig wahr-genommenen Sozialproblemen und (2) von Konsistenzpro-blemen der Normen, Begriffe und Prinzipien. Wenn der ge-sellschaftliche Problemdruck zu groß wird und die Plausibi-lität rechtlicher Differenzen verloren geht, dann wirdVerhalten als rechtsmissbräuchlich sichtbar und es entstehtdas Rechtsmissbrauchsparadox genau an den Stellen, an de-nen das Recht seine Differenzen erzeugt hat. Denn dort hatsich das Recht gegenüber gesellschaftlichem Problemdruckund der Übereinstimmung mit gesellschaftlich plausiblenDifferenzen in seinen Autonomietendenzen abgeschlossen.Und von dieser Schließung profitiert das rechtsmissbräuch-liche Verhalten. Die operative Schließung des autonomenRechts macht den Rechtsmissbrauch möglich. Denn operati-ve Schließung bedeutet stets sowohl Einschließung als auchAusschließung. Was aber vom Recht ausgeschlossen ist, for-dert vehement dennoch Einlass. Das Verbot des Rechtsmiss-brauchs ermöglicht die Wiederkehr des Verdrängten, indemes die vom Recht rechtmäßig vorgenommene Ausschließungbestimmter Aspekte für rechtswidrig erklärt. Das Paradoxbricht also stets an den Grenzen des Rechts auf, entwederan den Außengrenzen des Rechts zur gesellschaftlichen Um-welt, also zur Moral oder zu gesellschaftlichen Institutionen,oder an den durch innere Differenzierung in unterschiedlicheNormbereiche und Rechtsgebiete entstandenen Binnengren-zen des Rechts. Zur Auflösung des Paradoxes muss dasRecht über das Verbot des Rechtsmissbrauchs mit aller Ent-schiedenheit diese selbstgezogenen Grenzen durchbrechenund jenseits dieser Grenzen Kriterien für eine neue Normfinden. Erfolgreich ist die neue Norm dann, wenn sie alsadäquate Antwort auf den Problemdruck gelten und zu-gleich in das geltende Normennetz konsistent integriert wer-den kann.

Damit rücken die Grenzen des Rechts, seine Außen- undBinnengrenzen, in das Zentrum der Rechtsmissbrauchspro-

blematik. Rechtsmissbräuchliches Verhalten nutzt stets dieSchließung der Rechtsgrenzen aus. In seinem Bestehen aufder formellen Rechtslage immunisiert es die Außengrenzengegen den Einbruch von materiellen Umweltforderungen.Oder es immunisiert die Binnengrenzen gegen die Berück-sichtigung anderer Rechtsprinzipien. Die Reaktion desRechtsgefühls darauf ist zunächst hilflos: Ein solcher Rechts-gebrauch kann doch nicht rechtmäßig sein! Gelöst werdenkann dies Paradox erst dann, wenn das Recht seine Außen-grenzen und/oder Binnengrenzen durchbricht und neueNormen setzt.

Durchbrechung der Grenzen bedeutet jedoch nicht, dieGrenzen als solche einzuebnen. Wie Guski zu Recht immerwieder einfordert: Das Verbot des Rechtsmissbrauchs lässtdas Recht weder mit der Gesellschaft verschmelzen noch gibtes seine inneren Differenzierungen auf. Wohl aber macht esdie Außen- und Binnengrenzen des Rechts durchlässig, in-dem es die Normanwendung für Irritationen aus der Umweltdes Rechts oder für normative Impulse aus anderen Rechts-bereichen empfänglich macht. Damit sind die zwei großenLösungsstrategien bestimmt: Externalisierung an den Au-ßengrenzen und rechtsinterne Kontextualisierung an denBinnengrenzen.

Daraus ergibt sich der Vorschlag, die in Guskis komple-xen Analysen vorgeführten Paradox-Ursachen und Paradox-Auflösungen trotz ihrer Trennung dadurch zusammen-zuführen, dass man sie beide im konkreten Fall an der jegleichen Grenze des Rechts lokalisiert. Guskis glänzendeStudie, welche die unitas multiplex des Rechtsmissbrauchsin der Einheit der Paradoxietheorie und der Vielheit ihrerEntparadoxierungen in Ursachenkomplexen und Anwen-dungsgebieten eindrucksvoll entfaltet hat, könnte in der vor-geschlagenen Weise weitergeführt werden: An einer der Au-ßengrenzen des Rechts zu gesellschaftlichen Institutionen istdie jeweilige Ursache des Rechtsmissbrauchs als gesellschaft-licher Problemdruck zu identifizieren. Und das Verbot desRechtsmissbrauchs kann die gleiche Grenze durchbrechen,um sich an der damit verfügbaren Externalisierung der Ent-scheidungskriterien zu orientieren. An den jeweiligen Bin-nengrenzen des Rechts hingegen werden die Ursachen alsMangel an Prinzipienkonsistenz im Rechtssystem als Gan-zem identifiziert und die Kontextualisierung der Normeninnerhalb des Rechtssystems bietet die Chance, das Rechts-missbrauchsproblem zu bewältigen.

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