Jan Völker Politik ohne Staat. Zu Badious Rekonstruktion des Imaginären 1. Der ideologische Konsens der Demokratie Können wir uns heute eine Politik vorstellen, die nicht auf den Staat fixiert ist? Ein nicht-etatistisches Imaginäres? Eine Politik, die die Demokratie nicht als Staat denkt? Im Gefolge einer bestimmten postmodernen Perspektive auf die westlichen Staaten mochte sich nach dem Ende des Realsozialismus der paradoxe Eindruck eines langsamen Absterbens des Staates überhaupt einstellen – im Zuge der Privatisierung und Globalisierung. Michael Hardt und Antonio Negri haben das eigentümliche Ergebnis einer solchen Perspektive auf den Punkt gebracht: »Aus diesem Blickwinkel betrachtet, stellt die Postmoderne eine merkwürdige und unerwartete Wiederholung der traditionellen marxistischen Vision dar, insofern sie das Absterben des Staats in der Gesellschaft des voll entwickelten Kapitalismus, oder besser die zivile Gesellschaft zu einer befriedeten politischen Form sich transformieren sieht.« 1 Am Ende dieser Entwicklung ist die Gesellschaft in einen Zustand des Konsenses übergegangen: »Demokratie ist realisiert, 1 Antonio Negri, Michael Hardt, Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, aus dem Ital. und Engl. übers. von Thomas Atzert und Sabine Grimm, Berlin/Amsterdam 1997, S. 132. 1
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Politik ohne Staat. Zu Badious Rekonstruktion des Imaginären
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Jan Völker
Politik ohne Staat.
Zu Badious Rekonstruktion des Imaginären
1. Der ideologische Konsens der Demokratie
Können wir uns heute eine Politik vorstellen, die nicht auf den
Staat fixiert ist? Ein nicht-etatistisches Imaginäres? Eine
Politik, die die Demokratie nicht als Staat denkt? Im Gefolge
einer bestimmten postmodernen Perspektive auf die westlichen
Staaten mochte sich nach dem Ende des Realsozialismus der
paradoxe Eindruck eines langsamen Absterbens des Staates
überhaupt einstellen – im Zuge der Privatisierung und
Globalisierung. Michael Hardt und Antonio Negri haben das
eigentümliche Ergebnis einer solchen Perspektive auf den Punkt
gebracht:
»Aus diesem Blickwinkel betrachtet, stellt die Postmoderne
eine merkwürdige und unerwartete Wiederholung der
traditionellen marxistischen Vision dar, insofern sie das
Absterben des Staats in der Gesellschaft des voll
entwickelten Kapitalismus, oder besser die zivile
Gesellschaft zu einer befriedeten politischen Form sich
transformieren sieht.«1
Am Ende dieser Entwicklung ist die Gesellschaft in einen
Zustand des Konsenses übergegangen: »Demokratie ist realisiert,
1 Antonio Negri, Michael Hardt, Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, aus dem Ital. und Engl. übers. von Thomas Atzert und Sabine Grimm, Berlin/Amsterdam 1997, S. 132.
1
Geschichte beendet.«2 Diese These vom Ende der Geschichte ist
auch als diejenige Fukuyamas bekannt geworden. Eine Geschichte
der fröhlichen Utopie der 90er Jahre, die nach dem Mauerfall
begann und die einen doppelten Tod sterben musste, wie Slavoj
Žižek festhält: einmal mit den Ereignissen vom 11. September
2001, ein weiteres Mal in der Finanzkrise 2008.3
Nichtsdestotrotz, so ebenfalls Žižek, bleiben die meisten von
uns der Fukuyama-Version treu – wir glauben, dass die
Demokratie die Quintessenz der politischen Systeme darstellt,
die bestmögliche Option.4
Demokratie hat sich, mit Alain Badiou gesprochen, zu dem
unhintergehbaren Emblem unserer politischen Diskussion
entwickelt:
»Ein Emblem ist das Unantastbare eines Symbolsystems. Das
heißt, Sie können über das politische System sagen, was Sie
wollen, Sie können ihm gegenüber eine ›kritische‹ Haltung
von beispielloser Schärfe einnehmen und etwa den ›Terror der
Ökonomie‹ verdammen – man wird es Ihnen nicht übelnehmen,
solange Sie es nur im Namen der Demokratie tun [...].«5
Wenn jedoch ›Demokratie‹ der unhintergehbare Konsens, der
virtuelle Fixpunkt, der politischen Debatten geworden ist, dann
wird man, so lässt sich Badiou folgen, dieses Emblem für einen
2 Ebd.3 Slavoj Žižek, First as Tragedy, then as Farce, London/New York 2009, S. 5.4 Vgl. ebd., S. 88.5 Alain Badiou, »Das demokratische Wahrzeichen«, übers. von Claudio Gutteck, in: Giorgio Agamben u.a. (Hg.), Demokratie? Eine Debatte, Frankfurt a. M. 2012, S. 13-22, hier: S. 13 (Übersetzung geändert).
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Moment zur Seite stellen müssen, um an den tatsächlichen Kern,
»an das Reale unserer Gesellschaften« heranzukommen.6
»Man wird der Welt, in der wir leben, nur dann gerecht, wenn
man das Wort ›Demokratie‹ einmal beiseite läßt und das
Risiko eingeht, kein Demokrat zu sein und damit tatsächlich
von ›aller Welt‹ mißbilligt zu werden. Denn ›alle Welt‹ ist
– bei uns – ohne jenes Emblem nicht zu denken: ›Alle Welt‹
ist demokratisch. Man könnte dies das Axiom des Emblems
nennen.«7
Abgesehen von diesem Platz, den der Begriff Demokratie
einnimmt, ist das Konzept der Demokratie heute selbst zu einer
unsicheren Formel geworden. Zum einen ist nicht mehr sicher,
dass die Demokratie eine Eigenschaft ist, die notwendigerweise
mit der Liberalisierung der Märkte einhergeht. Slavoj Žižek hat
vor allem im Hinblick auf die Entwicklungen in China darauf
hingewiesen, dass sich hier die Aufkündigung einer historischen
Koinzidenz anzeigt – China lässt sich als ein Signal für die
Zukunft lesen, in der der Kapitalismus die Demokratie aus
Effizienzgründen hinter sich lässt.8
Zum anderen aber ist ›Demokratie‹ von Beginn an ein skandalöser
Begriff – und zwar deshalb, weil ihm sein eigener Exzess
innewohnt, der ihn jede ihm gegebene (Staats-)Form tendenziell
übersteigen lässt. Vor allem Jacques Rancière hat diesen Aspekt
der Demokratie herausgearbeitet, der sie als eine Kraft der
Gleichheit erscheinen lässt, die die Ungleichheit der Zählungen
und Verteilungen unterbricht. Als solche Kraft lässt sie sich6 Ebd. (Übersetzung geändert).7 Ebd. (Übersetzung geändert).8 Slavoj Žižek, Living in the End Times, London/New York 2010, S. 158.
3
nicht in eine Form übersetzen, lässt sie sich nicht
›verrechnen‹ und nicht in ein objektives Maß übertragen.
Staatsformen können nach Rancière in diesem Sinn überhaupt
nicht demokratisch sein:
»Was meinen wir genau, wenn wir sagen, dass wir in
Demokratien leben? Im strikten Sinne ist die Demokratie
keine Staatsform. Sie liegt immer diesseits oder jenseits
der Staatsformen. Sie liegt diesseits, insofern sie die
notwendigerweise egalitäre und genauso notwendigerweise
verdrängte Grundlage des oligarchischen Staats ist. Und
jenseits, insofern sie die öffentliche Aktivität ist, die
der Tendenz eines jeden Staates, die gemeinsame Sphäre zu
beanspruchen und zu entpolitisieren, entgegenwirkt. Jeder
Staat ist oligarchisch.«9
Demokratie ist so im eigentlichen Sinn für Rancière der Streit,
der die Politik ist. Sie bildet den verdrängten Grund des
Staates, insofern der Staat letztlich darauf gründet, das Volk
in die Verteilungen einzubeziehen. Und sie übersteigt diesen
Staat, weil das gezählte Volk immer eine grundsätzliche
Verrechnung, eine falsche Rechnung ist, weil das Volk nie
einfach das Volk ist, sondern ein unberechenbarer Begriff.10
9 Jacques Rancière, Der Hass der Demokratie, aus dem Frz. übers. von Maria Muhle, Berlin 2011, S. 87.10 Dieses Grundargument entwickelt Rancière vor allem in seinem Buch Das Unvernehmen, in dem die notwendige Fehlrechnung zwischen den Teilen einer Gesellschaft und den Anteilen, die diesen vom Gemeinsamen zukommen sollen, an der Frage des Volks ersichtlich wird: In der antiken Konzeption ist das Volk derjenige Teil der Gesellschaft, der zugleich alle Teile ist, dem jedoch kein eigener Anteil – Tugend, Reichtum – entspricht. Vgl. Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, aus dem Frz. von Richard Steurer, Frankfurt a. M. 2002.
4
Rancières Wette zielt auf die Wiederbelebung der Strittigkeit
der Demokratie, gerade als Kritik des konsensuellen
Verständnisses der Demokratie als Staatsform. Die Demokratie
als Staatsform wiederum kennt natürlich noch einen anderen
klassischen Gegner. Badiou hat darauf hingewiesen, dass Lenin
auf den Vorwurf, nicht demokratisch vorzugehen, zwei Antworten
gegeben hat. Einerseits lässt sich eine bourgeoise von einer
proletarischen Demokratie unterscheiden, zum anderen jedoch
muss unter Demokratie letztlich immer eine Form des Staats
verstanden werden.11 Dem gegenüber steht das, was Badiou den
›generischen Kommunismus‹ nennt, ein Kommunismus, der gerade
das Absterben des Staates, das Absterben der Kluft zwischen
Repräsentation und Präsentation, zum Ziel hat. Was Rancière als
den Streit der Demokratie denkt und was Badiou als ›generischen
Kommunismus‹ mit Lenin (aber in einer neuen Bedeutung) der
Demokratie entgegenstellt, lässt sich so zumindest in der
Gemeinsamkeit einer Abgrenzung zusammenführen: in der Distanz
zur demokratischen Staatsform.
Die demokratische Staatsform ist jedoch nun andererseits nach
dem Ende der realsozialistischen Staaten der allgemeingültige
Horizont. Für eine emanzipatorische Politik, die nicht mehr mit
Lenin den Kommunismus gegen den demokratischen Staat stellen
kann und die aus der Unsicherheit heraus agiert, welche
Prozedur es sein könnte, die den Namen ›generischer
Kommunismus‹ heute verdienen würde, besteht »the real dilemma«,
wie Žižek formuliert, darin herauszufinden »what to do with –
11 Alain Badiou, Über Metapolitik, aus dem Frz. u. Engl. übers. von Heinz Jatho, Zürich/Berlin 2003, S. 92.
5
how the Left is to relate to – the predominant liberal democratic
imaginary«.12
Im Kern zirkuliert dieses liberale Imaginäre zunächst um den
Glauben an den Markt, während seine Verknüpfung mit der Frage
des Staats undeutlich ist. Mit dem Markt jedoch scheint das
Schicksal der Demokratie verbunden, und zwar über das Prinzip
des Austausches. Jean-Luc Nancy hat diese Verknüpfung im
»Kapitalismus« als »Produkt einer Zivilisationsentscheidung«
verankert, die den Wert »in der Gleichwertigkeit«, im Prinzip
des Äquivalents ansiedelt.13 Die kapitalistisch präformierte
Demokratie zielt auf den gleichwertigen Austausch, die dem
Prinzip einer allgemeinen Äquivalenz folgt, und die derart
hergestellte Gleichwertigkeit ist eine Gleichheit des Werts der
warenförmig austauschbaren Produkte. Nancys Argument hat eine
neue Ungleichwertigkeit im Blick – das wäre die Wahrheit der
Demokratie –, die es einzuführen gelte, und die zuallererst die
Demokratie beträfe: die gerade nicht einfach eine (Staats-)Form
unter anderen wäre.14 Die Ungleichwertigkeit gälte einer
anderen Gleichheit als derjenigen des Liberalismus, indem sie
die Gleichheit aller als absolut unvergleichlicher aufzeigt:
ausgehend von dem »unvergleichliche[n] Wert[...]«15 eines
jeden, der sich jeder Identifizierung über Eigenschaften und
der damit einhergehenden Vergleichbarkeit entzieht.
12 Slavoj Žižek, »Holding the Place«, in: Judith Butler u.a. (Hg.), Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London/New York 2000, S. 308-329, hier: S. 325.13 Jean-Luc Nancy, Wahrheit der Demokratie, aus dem Frz. übers. von Richard Steurer, Wien 2009, S. 51f.14 Vgl. ebd., S. 67.15 Vgl. ebd., S. 54.
6
Im Prinzip der allgemeinen Gleichwertigkeit noch des Gleichen
und des Ungleichen hingegen zeigt sich das liberale Imaginäre
als ein Glaube an eine allgemeine Methode, die zugleich jene
des Marktes ist. Eine Methode, die sich gerade in dieser
Allgemeinheit als utopisches Projekt verrät:
»[T]he neutral reference to the necessities of the market
economy, usually invoked in order to categorize grand
ideological projects as unrealistic utopias, is itself to be
inserted into the series of great modern utopian projects.
That is to say – as Fredric Jameson has pointed out – what
characterizes utopia is not a belief in the essential
goodness of human nature, or some similar naive notion, but,
rather, belief in some global mechanism which, applied to
the whole of society, will automatically bring about the
balanced state of progress and happiness one is longing for
– and, in this precise sense, is not the market precisely
the name for such a mechanism which, properly applied, will
bring about the optimal state of society?«16
Der optimale Zustand der Gesellschaft ist der dauerhafte, ist
derjenige (darauf weist Nancy hin), der im etymologischen
Ursprung des Staates liegt: »der Staat bedeutet nach seinem
Wortursprung: il stato, der stabile Zustand«.17 Ist dieser stabile
Zustand des Marktes die Demokratie als Staatsform? Für Nancy
fügen sich zumindest Kapitalismus und Demokratie in der
Äquivalenz zusammen: »Der Kapitalismus, in dem oder mit dem,
16 Žižek, »Holding the Place« (wie Anm. 12), S. 324.17 Jean-Luc Nancy, »Begrenzte und unendliche Demokratie«, aus dem Frz. übers. von Tilman Vogt, in: Giorgio Agamben u.a. (Hg.): Demokratie? Eine Debatte, Frankfurt a. M. 2012, S. 72-89, hier: S. 86.
7
wenn nicht als welcher die Demokratie erschaffen wurde, ist vor
allem, in seinem Prinzip, die Wahl einer Bewertungsmethode: der
nach der Äquivalenz/Gleichwertigkeit.«18 Versteht man diese
Bewertungsmethode als eine Metaregel, dann ließe sich dieser
Satz Nancys auch so lesen, dass die Gleichwertigkeit der erste
Satz der demokratischen Staatsform ist, die aber auch
Kapitalismus und demokratische Staatsform unter das allgemeine
Äquivalent fallen lässt, sie austauschbar macht. Das liberale
demokratische Imaginäre zirkuliert um den Markt als Regel und
den demokratischen Staat als seine Form.
Was ist aber dann mit jener anderen Seite der Demokratie, ihrer
strittigen Existenz? Die Arbeiten Badious bieten eine
Möglichkeit, diesen unmessbaren Abstand zwischen der strittigen
Existenz der Demokratie einerseits und einer ihr angemessenen
Staatsform andererseits zu formalisieren, wenn man sie als
Differenz von Politik und Staat versteht.
Badiou begreift zunächst den Staat als eine Metastruktur, die
die Teilmengen einer Situation zählt und repräsentiert. Durch
diesen repräsentierenden Eingriff erzeugt der Staat seine
Übermacht, weil es stets »mehr Teile als Elemente«19, mehr
repräsentierende Einheiten als präsentierte gibt: Man kann
Bürger, Philosoph, Stadtbewohner zugleich sein. Der Staat ist
so zwar bezogen auf das, was sich soziale Situation nennen
ließe, aber er ist zugleich von ihr getrennt, weil er nur die
anders strukturierten, zusammengesetzten Teilmengen
repräsentiert. Der Staat ist in einem irrationalen, nicht
messbaren Maß übermächtig: »Der Staat und also auch die
18 Nancy, Wahrheit der Demokratie (wie Anm. 13), S. 51.19 Ebd.
8
Ökonomie, die heute seine Norm ist, sind gegenüber dem, was in
der Situation bloß präsentiert wird, durch einen strukturalen
Effekt der Trennung und der Übermacht charakterisiert.«20 Auf
seiner Ebene produziert der Staat so vorrangig eine
Rückversicherung des Effekts der Eins, die in sich ungegründet,
fiktiv, zugleich aber notwendig ist: »Der Staat ist schlicht
die notwendige Metastruktur jeder historisch-sozialen
Situation. Er ist das Gesetz, das garantiert, dass es Eins
gibt, nicht im Unmittelbaren der Gesellschaft [...], sondern in
der Menge ihrer Teilmengen.«21 Der Staat bekräftigt, dass das,
was ist, wirklich ist: Diese Gruppen und diese Beziehungen, die
er repräsentiert, gibt es wirklich; die Gefahren des Ambiguen,
Unklaren, Ungeordneten existieren nicht.
Repräsentation gilt nicht als dasjenige, was ein politischer
Prozess zugunsten des Phantasmas einer reinen Präsentation
aufzuheben hat. Alenka Zupančič weist darauf hin, dass Badiou
»well aware of the difficulty of simply putting an end to all
representation (or all state)« ist.22 Die Repräsentation ist
vielmehr »co-original to the situation«, und die Ausrichtung
der Politik gegen die Repräsentation bleibt ein
Orientierungsgrundsatz:
20 Badiou, Metapolitik (wie Anm. 11), S. 154.21 Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, aus dem Frz. übers. von Gernot Kamecke, Berlin 2005, S. 124. An dieser Stelle berührt sich das ontologische Register Badious – der Staat/Status als Metastruktur der Situation – mit dem phänomenologischen, das den politischen Staat meint. Hier lässt sich dieser schwierige Zusammenhang leider nicht ausführen, und es muss auf die entsprechenden Meditationen aus Das Sein und das Ereignis, vor allem 8 und 9, verwiesen werden. 22 Alenka Zupančič, »The Fifth Condition«, in: Peter Hallward (Hg.), Think Again. Alain Badiou and the Future of Philosophy, London/New York 2004, S. 191-201, hier S. 198.
9
»The end of representation and the ›universality of simple
presentation‹ (an egalitarian counting-for-one) remains a
goal that bears some resemblance to the Kantian notion of a
›regulative idea‹, i.e. an idea that cannot be realized but
in view of which one orientates one’s engagement in
reality.«23
Was die Politik präsentiert, ist tatsächlich zunächst eine
Unterbrechung der Maßlosigkeit, in der der repräsentierende
Staat von der Präsentation entfernt ist. Seinem Umherirren,
seiner unmessbaren Entfernung wird Einhalt geboten: »Die
Politik schafft Abstand zum Staat, den Abstand ihres Maßes.
[...] Die Politik ist [...] die Demonstration eines Maßes der
staatlichen Macht. In diesem Sinn ist die Politik
›Freiheit‹.«24 Gleichheit, ihr unabdingbares Axiom, kann die
Politik nur entfalten, wenn sie so dem Staat sein Maß angelegt
hat. Gegenüber diesem fixierten Maß zählt die Politik dann
jeden als gleich, entwickelt ihr egalitäres Maß – allerdings
nicht nach dem Prinzip der allgemeinen Äquivalenz, sondern als
Voraussetzung der Gleichheit von Singularitäten, und somit, um
an Nancys Begriffe anzuknüpfen, als Gleichheit von
Unvergleichlichem, nicht Messbarem.25 Die Politik knüpft an
diesen nicht einzubindenden Abstand zwischen Präsentation und
Repräsentation an, sie zielt, mit Badious Worten, auf die
23 Ebd., S. 198f.24 Badiou, Metapolitik (wie Anm. 11), S. 155. Im französischen Original verwendet Badiou das Wort »distance«, weswegen hier vielfach von »Distanz zum Staat« gesprochen wird.25 Hinzugefügt sei, dass Badiou diese egalitäre Zählung auch als Demokratie versteht – aber es ist dann gerade eine Demokratie in Distanz vom Staat. »Kommunismus« lässt sich bei Badiou als vorläufiger Name verstehen, der diese Differenz markiert. Vgl. Badiou, Metapolitik (wie Anm. 11), S. 161.
10
Dialektik von Leere (das nicht in der Präsentation aufgehende
Moment) und Überschuss (der Repräsentation). Die Politik geht
so nicht auf einen Zustand vor der Repräsentation zurück,
sondern meint ein neues Verhältnis von Leere und Überschuss,
sie erarbeitet »ein anderes Verhältnis [...] als der Staat«.26
Der Staat ist eine Form der Abtrennung: »[...] eine besondere
Gestaltung des abgesonderten Staatswesens und der formellen
Ausübung der Souveränität«.27 Aufgrund der Maßlosigkeit seines
Abstandes bringt er nicht-egalitäre Aussagen hervor, die
Politik hingegen, die demokratische Politik ohne Staat, ist für
Badiou die »reale Arbeit«, die die »situationelle Unmöglichkeit
von inegalitären Aussagen [...] erarbeitet und entwickelt«.28
In der Politik zählt somit nicht der Antagonismus zur
Repräsentation, sondern die Arbeit an der Erhaltung des
Abstandes zur Repräsentation, die Kreierung neuer Formen in der
Dialektik von Leere und Überschuss.
Ein politisches Problem ergibt sich, sobald die Leere
marxistisch als »Nicht-Repräsentation der Proletarier« gefasst
wird und das Verschwinden des Staates in der Universalisierung
– oder vielmehr: in der Verallgemeinerung – dieses Nicht-
Repräsentierten begründet wird.29 Dieses Imaginäre eines
»Ende[s] der Teile und also aller Notwendigkeit, den Überschuss
zu kontrollieren« brächte eine gegenläufige Konsequenz hervor:
»Bemerken wir, dass der Kommunismus, aus dieser Warte besehen,
26 Badiou, Sein und Ereignis (wie Anm. 21), S. 130.27 Ebd., S. 36.28 Alain Badiou, »Philosophie und Politik«, in: Rado Riha, Alain Badiou (Hg.), Jacques Rancière: Politik der Wahrheit, aus dem Frz. übers. von Rado Riha, Wien 2010, S. 36-54, hier: S. 52.29 Badiou, Sein und Ereignis (wie Anm. 21), S. 129.
11
in Wirklichkeit das unbegrenzte Reich des Individuums wäre.«30
Wie lässt sich dies verstehen? Es wäre das Reich der reinen
Präsentation von scheinbar gegebenen Besonderen, die sich
scheinbar der Repräsentation entledigt hätten. Aber sie
unterstellen sich tatsächlich einer weiteren Regel, der
Ungebundenheit des Individuums – das selbst eine Form der
Bindung ist. Begreift man die Leere nur als Fehlgehen der
Repräsentation, folgt man indirekt der Logik des Staates, weil
das Fehlende bereits identifiziert worden ist.
Die Politik entwickelt demgegenüber eine neue Orientierung des
Denkens, indem sie nicht diesseits der Repräsentation an etwas
Gegebenem (dem Individuum, einer Klasse) ansetzt, sondern
tatsächlich diesseits der Repräsentation bei etwas nicht
Gegebenem beginnt, an jenem Punkt, der zwischen Präsentation
und Repräsentation nicht aufgeht. Sie zielt folglich nicht
darauf, Nicht-Repräsentiertes in der Repräsentation
anzuerkennen, sondern darauf, auf jenem Punkt des
Unrepräsentierbaren in der Präsentation – dem Nicht-als-Eins-
Gezählten – zu beharren. Es gilt also nicht, die Präsentation
antagonistisch gegen die Repräsentation zu stellen, denn »[e]s
gibt immer zugleich die Präsentation und die Repräsentation«.31
Vielmehr ist im Innern ihrer Dialektik ein Punkt aufzufinden,
zu entwickeln, zu bewahren, der sich der Repräsentation
entzieht. Deswegen schreitet die egalitäre Politik von Punkt zu
Punkt, ohne die Struktur dieses Verhältnisses noch einmal in
eine Form gießen zu können, ihr einen Staat zu geben. Die
Politik wandert: »Daß der Staat nicht denkt, veranlaßt Platon
30 Ebd.31 Badiou, Sein und Ereignis (wie Anm. 21), S. 114.
12
am Schluß des neunten Buchs des Staat zu der Aussage, daß man
letztlich überall Politik treiben könne, nur nicht im
Vaterland.«32
Unsere heutigen parlamentarischen Staaten sind für Badiou durch
die Normen der Ökonomie, der nationalen Frage und der
Demokratie geregelt, drei subjektive Perspektiven, die dem an
sich objektiven Apparat ein spezifisches Gesicht verleihen.33
Der Demokratie kommt dabei zweifelsohne eine besondere Rolle
zu: Eine »von der Zirkulation beherrschte [...] Subjektivität
als Wirklichkeit des demokratischen Emblems«34 lässt sich als
eine Subjektivität an der Schnittstelle von demokratischer
Staatsform und liberalisiertem Markt verstehen. Zu ihr gehört
ein Imaginäres, das die ›freie‹ Zirkulation als ihren
fröhlichen Urzustand begreift: Dieser Naturzustand – einer
unabweisbaren, weil naturhaften Methode – ist die Ordnung des
Marktes. Das wahre Dilemma, so lautete die Formulierung Žižeks,
besteht in der Frage, wie mit diesem liberalen demokratischen
Imaginären umzugehen sei. Als zentraler Punkt dieses Imaginären
zeigt sich die Figur des Staats: als unsere zeitgenössische
Verknüpfung von Kapitalismus und Demokratie. Dagegen mag
›Kommunismus‹ in der Version Lenins einmal die Rolle eines
emanzipatorischen Imaginären erfüllt haben, das einen
alternativen Identifikationspunkt anzugeben wusste. Allerdings
hat sich dieses Imaginäre in eben jenem Punkt auch erschöpft:
nämlich in der Frage des Staates, indem der real existierende
Sozialismus zerfiel.
32 Badiou, Metapolitik (wie Anm. 11), S. 100.33 Vgl. ebd., S. 95f.34 Badiou, »Das demokratische Wahrzeichen« (wie Anm. 5), S. 19 (Übersetzung geändert).
13
Was aber wäre ein gegenwärtiges Imaginäres der Strittigkeit der
Demokratie, ihrer Unberechenbarkeit – wofür ein möglicher Name
Kommunismus wäre –, das Imaginäre einer Demokratie ohne Staat?
Im Folgenden soll versucht werden, einige Eckpunkte dieser
Frage abzustecken. Zunächst gehört es zu ihrer Vorgeschichte,
die Bindung eines solchen emanzipatorischen Imaginären an den
Staat selbst zu untersuchen. Zugleich kann ein Blick auf eine
gegenwärtige Fassung des liberalen Imaginären – auf eine
radikale Position dieses Imaginären – illustrieren, was die
tatsächliche Konsequenz der allgemeinen Äquivalenz von
Demokratie und Markt ist. Demgegenüber sind schließlich in den
Texten Badious Hinweise auf die Konstruktion eines nicht-
staatlichen Imaginären zu rekonstruieren.
2. Das Imaginäre und der Staat: Althusser
Man kann mit einer klassischen Position beginnen, in der ein
emanzipatorisches Imaginäres mit der Funktion des Staates
verknüpft und in der zugleich die Frage des Imaginären in einen
Bezug zur Frage der Ideologie gesetzt wird. In Ideologie und
ideologische Staatsapparate hat Louis Althusser den Begriff der
Ideologie wesentlich modifiziert und ihn in die marxistische
Theorie des Staates eingefügt. Diese Modifikation des
Ideologiebegriffs, die Althusser zu denken vorschlägt, besteht
darin, Ideologie nicht als die individuelle Verzerrung der
wirklichen Verhältnisse zu verstehen, sondern unter Ideologie
vielmehr das imaginäre Verhältnis der Individuen zu den realen
gesellschaftlichen Bedingungen zu begreifen. So wird es in
einer ersten These festgehalten: »Die Ideologie repräsentiert
14
das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen
Existenzbedingungen.«35 Zweitens verschiebt Althusser den
Begriff der Ideologie von einer rein ideellen Ebene auf eine
materiale: Die imaginären Repräsentationen sind nicht als
dematerialisierte Verschiebungen zu begreifen, sondern haben
vielmehr einen materiellen Gehalt und eine materielle Form:
»Die Ideologie hat eine materielle Existenz«, und dies
bedeutet, dass eine Ideologie »immer in einem Apparat und in
dessen Praxis oder dessen Praktiken« existiert.36 Diese beiden
Thesen münden – wenn wir zwei Subthesen übergehen, die Praxis,
Ideologie und Subjekt in ein notwendiges Verhältnis zueinander
setzen – in der dritten, zentralen These: »Die Ideologie ruft die
Individuen als Subjekte an.«37 Die letzte These – die These von der
Anrufung, der Interpellation der Subjekte durch die Ideologie –
fasst die Ideologie noch einmal als Bestimmung des Subjekts,
von der man nun sagen kann, dass sie allein praktisch
geschieht.
Die Ideologie ist eine Evidenzmaschine, sie setzt »Evidenzen
als Evidenzen«38 durch und ruft die ideologische Anerkennung
und Wiedererkennung hervor: ›Ja, so ist es‹ oder ›Ich bin es‹
zu sagen. Diese Momente führen die Ideologie in die
allerkleinsten Szenerien des Alltags hinein. Sei es nur, dass
der Polizist »He, Sie da!«39 ruft, und wir uns umdrehen und
erkannt sehen, wie Althusser in seinem berühmten Beispiel
anführt. Aber die Ideologie ist nicht nur die Praxis eines
35 Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, hg. von Frieder Otto Wolf, Hamburg 2010, S. 75.36 Ebd., S. 79f.37 Ebd., S. 84.38 Ebd., S. 86.39 Ebd., S. 88.
15
Weltverhältnisses, sondern sie ist bei Althusser als praktische
Prozedur an die Theorie der ›Staatsapparate‹ geknüpft. Was sind
die Staatsapparate? In einer recht typischen Bewegung setzt
Althusser bei der marxistischen Theorie des Klassenkampfes als
eines Kampfes um den Staat an, um diese Theorie dann um ein
Moment zu ergänzen, von dem er glaubt, dass es in der Theorie
bereits untergründig am Werk gewesen ist.
Genauer geht es zunächst um die Abgrenzung der Staatsmacht vom
repressiven Staatsapparat. Beide fallen nicht notwendigerweise
in eins: Wer die Staatsmacht erringt, kann dies unter
Beibehaltung des alten Staatsapparates tun; letztlich gilt aber
auch für Althusser, dass die proletarische Revolution beide
wird überwinden müssen, um schließlich beide ihrem Absterben
zuzuführen. Nun ist jedoch, so Althusser, dieser Theorie der
Begriff der ideologischen Staatsapparate hinzuzufügen. Während
der klassische Staatsapparat die Regierung, die Verwaltung, die
Armee u.ä., also größtenteils öffentliche Institutionen
umfasst, agieren die ideologischen Staatsapparate vorrangig im
Bereich des Privaten. Während der klassische Staatsapparat, als
›repressiver‹ Apparat, durch »den Rückgriff auf Gewalt«
funktioniert, funktionieren die ideologischen Staatsapparate
durch »den Rückgriff auf Ideologie«.40 Diese Unterscheidung ist
keine reine; beide Typen von Staatsapparaten greifen jeweils
auf Gewalt und Ideologie zurück, die ideologischen
Staatsapparate jedoch sind durch Ideologie, wie man mit einem
anderen Begriff Althussers sagen könnte, ›überdeterminiert‹. In
einer vorläufigen Liste führt Althusser Religionen, Schulen,
Familien, das politische Parteiensystem, Informationssysteme
40 Ebd., S. 56.
16
und die Kultur als Beispiele für ideologische Staatsapparate
an.
Wenn der Staatsapparat – der Staat schlechthin – die
»Maschine«41 ist, die die Reproduktion der
Produktionsverhältnisse gewährleistet, dann wird über
Althussers Ergänzung diese Maschine als eine gedoppelte
Prozedur verständlich, die sowohl repressiv als auch
ideologisch vorgeht. Die ideologischen Staatsapparate weisen
jedoch auf Plätze konkreter Auseinandersetzung um Macht hin
(nicht nur auf deren Durchsetzung): Hier muss sich die
Ideologie der herrschenden Klasse »notwendigerweise
verwirklichen«42, hier tritt sie auf und in Erscheinung, hier
trifft sie auf Widerstand, hier sind Orte des konkreten
Klassenkampfes. Ziel der herrschenden Ideologie muss es sein,
an diesen Orten einen »Konsens«, eine Vereinheitlichung
herzustellen.43
Im Gegensatz zu der Auffassung von Marx und Engels aus der
Deutschen Ideologie, in der die Ideologie als ein »reiner Traum«
verstanden wird und »keine Geschichte« hat,44 platziert
Althusser die Rolle des Imaginären im Konzept der Ideologie
neu. Ideologie betrifft, wie es bereits in Für Marx heißt, »das
gelebte Verhältnis der Menschen zu ihrer Welt«.45 Gelebt meint
ein »Verhältnis zweiten Grades«, ein »Verhältnis von
Verhältnissen«, bewusst und unbewusst, einfach und komplex
41 Ebd., S. 47.42 Ebd., S. 101.43 Ebd., S. 104.44 Ebd., S. 73.45 Louis Althusser, Für Marx, hg. von Frieder Otto Wolf, Frankfurt a. M. 2011, S. 298.
17
zugleich.46 »Tatsächlich«, schreibt Althusser, »drücken die
Menschen in der Ideologie nicht etwa ihre Verhältnisse zu ihren
Existenzbedingungen aus, sondern die Art, wie sie ihr
Verhältnis zu ihren Existenzbedingungen leben – was
gleichzeitig ein wirkliches und ein ›gelebtes‹, ›imaginäres‹
Verhältnis voraussetzt.«47 Das Imaginäre dieses Verhältnisses
überdeterminiert das Reale, indem es dieses (so könnte man
sagen) in eine Sichtweise, ein Verständnis, eine Auffassung
übersetzt. Es gibt dann keine Gesellschaften ohne Ideologie:
Selbst eine proletarische, klassenlose Gesellschaft hätte ihre
Ideologie, »ganz gleich, ob es sich nun um Moral, Kunst oder
›Weltdarstellung‹ handele«.48 Der Kampf gegen die herrschende
Ideologie ist somit auch kein Kampf gegen Ideologie als solche,
sondern ein Kampf innerhalb der ideologischen Staatsapparate,
um der herrschenden Ideologie eine andere Ideologie, eine
andere Form des Subjekts entgegenzustellen. Und auch für diese
»proletarische Ideologie«49 gilt, dass sie eine parallele
Funktion zur herrschenden bürgerlichen Ideologie einnimmt: Sie
ist eine Kraft der Vereinheitlichung. Es geht in der
bürgerlichen wie in der proletarischen Ideologie darum, den
»Klassenkampf zu vereinheitlichen und auszurichten«.50
›Ideologie‹ nimmt so bei Althusser den Status einer quasi-
transzendentalen Weltsicht an, die jedoch fundamental gespalten
ist, in eine bürgerliche und eine emanzipatorische Seite, die
sich antagonistisch gegenüberstehen. Ihre Auseinandersetzung
46 Ebd.47 Ebd.48 Ebd., S. 296.49 Althusser, Ideologie (wie Anm. 35), S. 118.50 Ebd., S. 119.
18
findet im dialektisch strukturierten Feld der repressiven und
ideologischen Staatsapparate statt, das die Staatsmacht
ausmacht. Ideologie bleibt bei Althusser am Staat orientiert:
So wie letztlich eine Ideologie gegen eine andere Ideologie
gerichtet ist, so ist auch vollkommen klar, dass eine
emanzipatorische Partei den Kampf um die ideologischen
Staatsapparate wie auch um den repressiven Staatsapparat
aufnehmen muss, dass sie im Inneren dieser Plätze zu agieren
hat, um sie schließlich abzuschaffen oder in etwas anderes zu
transformieren. Im Verhältnis von Ideologie gegen Ideologie
geht es letztlich bei Althusser um die Frage der Staatsmacht –
im Sinne einer emanzipatorischen Politik ist zunächst ein
anderer Staat, ein Staat neuen Typs, zu erringen. Das
Imaginäre, das durch die ideologischen Staatsapparate
hervorgebracht worden ist, ist an die Frage des Staates
gekoppelt, im emanzipatorischen wie im bürgerlichen Sinn. Diese
Kopplung auch des emanzipatorischen Imaginären an den Staat,
die sich schließlich zu der Entgegensetzung zweier Ideologien
als zweier Konzeptionen des Staats entwickelt, ist bereits in
dem grundlegenden Modus der Anrufung der Subjekte angelegt,
also in jenem Moment, in dem Subjekt und Apparat vermittelt
werden sollen. Mladen Dolar hat dieses Problem bei Althusser
entfaltet: Bei Althusser ist »the basic and minimal mechanism
of interpellation [...] described as a relation between two
subjects, a specular imaginary relationship between a subject
and a Subject«.51 Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass »the
subject, prior to recognition in the Other, is not simply the
individual. There is an ›intermediary‹ stage in that passage51 Mladen Dolar, »Beyond Interpellation«, in: Qui Parle 6.2 (Frühjahr/Sommer 1993), S. 75-96, hier: S. 88.
19
from the (real) individual into the (imaginary) subject, the
stage where the process of symbolization opens an empty space,
a crack in the continuity of being – a void that is not yet
filled with the imaginary subjectivity.«52
Es gibt einen bestimmten Preis, so Dolar, den das Individuum
für die Subjektivierung zu zahlen hat, ein Preis, der darin
besteht, dass die Subjektivierung nicht vollständig aufgeht und
ein Rest verbleibt. Dolars mit Lacan formulierte Kritik läuft –
in einem ihrer Punkte – darauf hinaus, dass Althusser im
Subjekt jenen Platz der Leere verschwinden lässt, der im
Prozess der Subjektivierung durch die Einrichtung des
Symbolischen als Rest erscheint, als ein nicht aufgehendes
Moment. Dieses Moment ist jedoch weder materiell und kann also
nicht durch die Apparate abgebildet werden, noch ist es ideell,
subjektiv, sondern es markiert eine Stelle der Kontingenz des
Externen, des Weder-noch, die im Subjekt wieder aufspringt und
sich der Anrufung widersetzt.53 Weil auf der einen Seite
Althusser dieser Stelle keinen Raum zuspricht, kann das Subjekt
in der Ideologie aufgehen. Weil andererseits wiederum für Dolar
diese Stelle genau den Ursprung des Subjekts markiert, ist das
vielmehr, diese leere Stelle auszufüllen, und verhindert so
Subjektivierung.54 Althussers Konstruktion des Subjekts
verbleibt so letztlich im Bereich des Imaginären, innerhalb der52 Ebd.53 Slavoj Žižek hat dies so zusammengefasst: »In short, far from being an ideal-immaterial-internal object opposed to externality, the ›remainder‹ ofwhich Dolar speaks is the remainder of contingent externality that persists within every move of internalization/idealization, and subverts the clear line of division between ›inner‹ and ›outer‹.« Slavoj Žižek, »Class Struggle or Postmodernism? Yes please!«, in: Judith Butler u.a. (Hg.), Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London/New York 2000, S. 90-135, hier: S. 117.
20
Spiegelstruktur von Anerkennung/Verkennung.55 Žižek fasst
Dolars Kritik zusammen:
»Dolar criticizes Althusser [...] for conceiving the subject
as imaginary, as an effect of imaginary
reconnaissance/méconnaissance. [...] [F]or Lacan, the subject
prior to subjectivization is not some Idealist pseudo-
Cartesian self-presence preceding material interpellatory
practices and apparatuses, but the very gap in the structure
that the imaginary (mis)recognition in the interpellatory
Call endeavours to fill in.«56
Das Subjekt, so Žižek weiter, ist nicht eines, das von
Anerkennungsmechanismen erreicht (oder nicht erreicht) wird,
sondern es ist nichts anderes als die Unmöglichkeit der
Symbolisierung. Dieser bei Althusser ausgetragene Punkt der
Unmöglichkeit, der den Prozess vom Individuum zum Subjekt aus
psychoanalytischer Sicht markiert, schreibt sein Fehlen auf der
Ebene der Auseinandersetzung der Ideologien fort, so dass hier
nun zwei Ideologien wie zuvor zwei imaginäre ›Subjekte‹
gegeneinander stehen. In ihrer parallelen Orientierung am Staat
verschwindet jedoch jenes leere Moment ihrer Struktur, über
welches sie sich differenzieren: ohne es ähneln sie sich.
Badiou, der die Politik – als subjektiven Akt – in notwendiger
Differenz vom Staat begreift, sieht deshalb bei Althusser
letztlich nur eine bürgerliche Ideologie gegeben, eine54 Badiou kommt in seiner Kritik Althussers zu dem Schluss, dass Althusser tatsächlich über keine Theorie des Subjekts verfügt. Vgl. Badiou, Metapolitik (wie Anm. 11), S. 72.55 Vgl. dazu auch Slavoj Žižek, The Sublime Object of Ideology, London/New York 1989, S. 116. 56 Žižek, »Class Struggle or Postmodernism? Yes please!« (wie Anm. 53), S. 119.
21
Ideologie, die »ein etatistischer und kein politischer Begriff
ist«.57 Wenn jedoch die Ausrichtung auf eine bürgerliche
Ideologie ein etatistisches Verständnis von Politik und
Ideologie auch in emanzpatorischen Begriffen hervorbringt, dann
müsste eine Neugründung des Begriffs der Politik sich vom Staat
entfernen, eine Distanz einrichten, die noch den Antagonismus
zum Staat hinter sich lässt und einen Begriff der Politik ohne
Staat formuliert. Die Frage, die sich dann jedoch stellt ist,
ob dieser Begriff der Politik auf die Dimension des Imaginären
verzichten muss, um ihn an eine andere Konstruktion der
Subjektivität anzubinden.
Bevor auf diese Frage einzugehen ist, lässt sich jedoch auch
ein Blick auf den Status der bürgerlichen Ideologie werfen –
oder vielmehr auf eine ihrer möglichen radikalen
Ausgestaltungen des Bezugs von Demokratie, Markt und Staat.
3. Der Markt der Staaten
»Seasteading« ist der Name eines jener Projekte, die gern
visionär genannt werden. Konzipiert im Silicon Valley, ist das
Projekt mit der beständig wachsenden IT-Industrie verbunden.
Die IT-Industrie mag viele gewöhnliche Probleme haben und viele
gewöhnliche Probleme vor allem auch nicht haben, ein sehr
spezifisches Problem, das sie hat, sind aber die
Immigrationsgesetze der USA, die es für nicht US-amerikanische
Staatsbürger schwer machen, in den USA zu arbeiten. Ein anderes
Problem sind die Steuern. Kalifornien ist nahezu bankrott, und
die IT-Branche sieht sich regelmäßig in der unangenehmen
Pflicht, enorme Steuern in einen ineffizienten und
57 Badiou, Metapolitik (wie Anm. 11), S. 76.
22
unterfinanzierten Staat zu pumpen: unzumutbare Verhältnisse
folglich.
Seasteading ist der Name der Idee, vor der Küste Kaliforniens
schwimmende Städte zu errichten, die dem Zugriff des Staates
entzogen sind.58 Ein schwimmendes Hongkong (bzw. eigentlich
mehrere schwimmende Hongkongs) wird oft zur Illustration des
Traums angeführt.59 Viel mehr als den Entwürfen einer Stadt
ähneln die Pläne der seasteading-Erfinder jedoch den Entwürfen
von privaten gated communities. Die schwimmenden Gemeinschaften
wären jedoch nicht nur der städtischen Kriminalität, sondern
dem Staat entzogen, befreit von der Last der Steuern und
entbunden von legislativen Begrenzungen. Es ist nicht ohne eine
Ironie der Ideengeschichte, dass einer der visionären
Entwickler des Projektes Patri Friedman ist, ein Enkel des
Vaters der »shock therapy« des Kapitalismus, um Naomi Kleins
Begriff aufzunehmen: Milton Friedman. Es gibt keinen Grund
anzunehmen, dass Ideengeschichte als ideologisches Konstrukt
nicht auch real funktioniert, und so lässt sich noch
hinzufügen, dass Patri Friedmans Vater – David D. Friedman –
wiederum ein entscheidender Denker des sogenannten Anarcho-
Kapitalismus ist. In einer Familie finden sich somit
Kapitalismus, Anarchismus. Seasteading zeigt, dass diese Ideen
58 Ich beziehe die meisten Informationen direkt von der Homepage des Projektes, http://www.seasteading.org, auf der auch viele Presseartikel zu dem Projekt abrufbar sind (zuletzt aufgerufen am 26.2.2013).59 Vgl. das von Jan Grossarth geführte FAZ-Gespräch mit Patri Friedman vom 7.9.2009: »Ich will ein schwimmendes Hong Kong erschaffen«, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/im-f-a-z-gespraech-patri-friedman-ich-will-ein-schwimmendes-hong-kong-erschaffen-1854646.html, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013.
23
nicht ganz so entfernt voneinander sind, wie man vielleicht
annehmen möchte.
Die grundlegende Idee von seasteading besteht darin, dass die
letzte Bastion, die bislang noch nicht vom freien Markt
übernommen wurde, gerade der Staat ist. Man könnte sagen, dass
hier genau der Punkt liegt, an dem Demokratie und Kapitalismus
ihre verknüpfte Geschichte aufzulösen vermögen, nicht, um sich
zu trennen, sondern um in der Äquivalenz aufzugehen, denn auch
Demokratie wird hier zu einer Ware, die der Nachfrage
unterliegt.
Auch wenn der Markt für Staaten vielleicht einer der größten
möglichen Märkte wäre, so sind Staaten bislang keine Ware, die
der freien Konkurrenz ausgesetzt wäre.60 So lässt sich zunächst
einmal auch nicht einfach ein alternativer Staat gründen: Es
gibt auf der Erde keinen unregierten Platz, und so ist das
Projekt seasteading auf lange Sicht eines für die Sterne. So
lange jedoch die Technologie noch nicht die notwendigen
Voraussetzungen erfüllt, bleiben als einzige Alternative die
internationalen Gewässer. Internationale Gewässer sind von den
staatlichen Zugriffen ausgenommen, werden von niemandem
besessen, sie sind die Ausnahme auf diesem Planeten. Um es
anders zu sagen: Die internationalen Gewässer sind die Ausnahme
auf diesem Planeten, die ihren Souverän noch nicht gefunden
hat.
60 Zum Folgenden vgl. auch den Vortrag von Patri Friedman und Brad Taylor: »Barriers to Entry and Institutional Evolution«, zu finden unter: http://www.seasteading.org/files/research/governance/Friedman%26Taylor_2011_BarriersToEntry_APEE.pdf, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013.
24
Die Idee führt bis in das 19. Jahrhundert und weit davor
zurück. Die amerikanische Idee des frontier ist
wiederzuerkennen,61 die Idee der offenen Grenze, offen für
denjenigen, der das freie Land zu erobern sucht. Es ist eine
romantische Idee, die die gewöhnlichen romantischen Klischees
mitbedient: Anarcho-Kapitalismus gründet sich auf der
Überzeugung, dass jeder, der zuerst seine Arbeit in ein Stück
Land investiert, auch der rechtmäßige Besitzer sein sollte. Und
die neue, unberührte Erde sind nun die Meere.62
Konkurrenz organischer Einheiten ist die grundlegende Idee von
seasteading. Jede schwimmende künstliche Insel würde Regeln
folgen, die von den Bewohnern dieser Insel akzeptiert und
selbst aufgestellt werden. Was zunächst nach einer Pluralität
von verschiedenen Regelsystemen klingt, soll jedoch bis in
seine radikalste Konsequenz gedacht sein: Mit den schwimmenden
Inseln entstünde eine Pluralität von Gesellschaftsformen, die
parallel existieren. Es könnte kommunistische wie auch
faschistische Inseln geben. Eine solche Möglichkeit, mit
Gesellschaftssystemen zu experimentieren, so betonen die
61 »The Seasteading Institute – Opening Humanity's next Frontier« ist der Titel der Internetseite.62 Es gibt ein paar, ebenfalls romantisch anmutende Vorläufer für seasteading,etwa die alte Plattform aus dem Zweiten Weltkrieg vor der Küste Englands, auf der eine geringe Anzahl Menschen seit 1967 leben und ihr eigenes Fürstentum begründet haben (›Sealand‹). Auch dieses Projekt war in seinen Anfängen mit den Utopien des Internets verbunden. Ursprünglich sollte das Projekt eine Server-Farm beherbergen, die jedem staatlichen Zugriff entzogen wäre. Es gibt also keinen Grund, davon auszugehen, dass der technische Fortschritt eine Sperre gegen die Romantik errichtet, im Gegenteil: Im Gewand der neueren Technik hält ein metaphysischer Hyperromantizismus Einzug, der die unberührte Einheit in kuriosen Gesellschaftsmodellen wieder auferstehen lässt (vgl. dazu den Beitrag von Martin Doll in diesem Band).
25
Erfinder gern, hätte uns in der Vergangenheit vor Unfällen
größeren Ausmaßes bewahren können.63
So absurd die Idee von seasteading klingen mag, solche Projekte
sollten jedoch nicht allzu schnell als Spielereien einiger
weltferner Idealisten abgetan werden. Seasteading ist weder die
Idee eines anti-demokratischen, autokratischen Kapitalismus,
und es ist auch nicht die vollendete Form dessen, was Negri und
Hardt unter dem Begriff des Empire gefasst haben. Um Negri und
Hardt – in einer vielleicht unerwünschten Weise – zu
paraphrasieren, ist seasteading eine Form von kapitalistischem
Exodus. Die schwimmenden Staaten ähneln gerade in der
projektierten Umsetzung ihres liberal-libertären Traums einer
perversen Wiederaufnahme absolutistischer Machtmodelle, die den
Staat zum absoluten Ich machen und jedem (kollektiven) Ich
seinen Staat geben. Sie schaffen Gemeinschaften von Königen. Es
sind Träume von autarken, selbstgenügsamen, absolutistischen
Hyperstaaten – ein multipliziertes Versailles.
Mit der Privatisierung einher geht die Illusion der Abschaffung
von Politik, der Abschaffung des Streits um das Gemeinsame.
Tatsächlich katapultiert seasteading die Äquivalenz von
Demokratie und Markt auf die nächste Ebene: Staaten werden
austauschbarer Teil des Marktes, und Demokratie ist eine
63 So schreiben Friedman/Taylor in dem bereits angeführten Vortrag »Barriersto Entry and Institutional Evolution« (wie Anm. 60) auf S. 14: »With the small-stakes experimentation enabled by seasteading, the communist experiment could have been conducted at a smaller scale with voluntary participants and abandoned as soon as failure became apparent.« Das gesamteProjekt erinnert unter anderem auch an Experimente, wie sie ein bestimmter Strang der Literatur (›Cyberpunk‹) bereits vorweggenommen hat. In seinem 1995 publizierten Roman Diamond Age. Die Grenzwelt beschreibt Neal Stephenson ein System von Gesellschaften – Stämmen oder phyles im Englischen –, in denen unterschiedliche Sozialsysteme parallel miteinander konkurrieren. Manche sind über Ethnizität definiert, andere über soziale Bindungen oder religiöse Überzeugungen oder biologische Fakten.
26
Warenform unter anderen. Das politische Imaginäre selbst ist
eine Warenform unter anderen und schafft sich in der Form des
Staatsmarktes selbst ab. Dieses Beispiel – in all seiner
Verrücktheit – zeigt, dass die Aufgabe eines emanzipatorischen
Imaginären nicht darin wird bestehen können, diesem Modell
antagonistisch seine Umkehrung entgegenzusetzen, dem Modell
seine ›gute‹ Variante gegenüberzustellen. Der Antagonismus ist
von diesem Modell längst aufgesogen: als mögliche
›kommunistische Insel‹ ist es in diese Form des liberalen
Imaginären längst integriert. Um es anders zu sagen: Der Staat
ist der Souverän der Ausnahme, und die Ausnahme zeigt sich als
Regel des liberalen Imaginären.64
4. Politik in Distanz zum Staat
Um also zurückzukommen auf die Frage eines nicht-etatistischen
Imaginären, wird man diese Gegenwart, in der die Subjektivität
in dem Austausch von gleichwertigen Sachen verschwindet, noch
einmal allgemeiner fassen müssen, als eine Gegenwart, die die
Opposition, die Alternative, den anderen Versuch etc. zum Teil
ihres Modells gemacht hat. Der Einspruch ist keiner gegen das
Modell, sondern ein Einspruch, der innerhalb des Modells
möglich ist. In dieser Allgemeinheit zeigt sich die Gegenwart
als eine, wie Badiou sie definiert, desorientierte Zeit, eine
Zeit, in der das Prinzip des Austausches regiert, in der es
jedoch an subjektiven Prinzipien mangelt, die die eigene
64 Es würde sich lohnen, Projekte wie seasteading noch einmal in Bezug auf dieDiskussion der Souveränität und des Ausnahmezustandes zu untersuchen – vor allem im Hinblick auf die Analysen, die Agamben ihr gewidmet hat.
27
Existenz orientieren könnten.65 Gekennzeichnet ist sie durch
das kapitalistische Axiom: »Es gibt nur Körper und Sprachen.«66 Es ist
das Axiom der gegenwärtigen Metaphysik, die Badiou
»demokratischen Materialismus« nennt, in der einzig die Körper
als objektive Existenzen anerkannt werden und einzig Sprachen
als »universale und juridische Gleichheit« fungieren.67
Materialistisch ist diese Metaphysik, insofern sie ein
Materialismus des Lebenden ist, ein »Biomaterialismus«, in dem
die quantifizierbaren individuellen Körper die Grundlage der
doxa abgeben und den Menschen in seiner Animalität des Genusses
und des Leidens in den Vordergrund rücken. Demokratisch ist die
Überzeugung, dass die Diversitäten untereinander anerkannt
werden müssen in ihrer – mit Nancys Ausdruck – Gleich-
wertigkeit.
Für Badiou sind diese beiden Punkte – die Existenz der Körper
und der Sprachen – unbestritten, sie bilden aber den
Ausgangspunkt für eine strittige Ergänzung. Dieses Supplement
sind die Wahrheiten, deren Existenz die allgemeine Anerkennung
ermangelt, und die es in das Axiom einer erneuerten
materialistischen Dialektik einzutragen gilt. Sie setzen dem
demokratischen Materialismus, in dem wir leben, eine Ausnahme
65 Vgl. zum Folgenden auch meinen Text: »Unsere Zeit ist die Zeit für neue Erfindungen politischer Subjektivität. Alain Badiou und die kommunistische Hypothese‹, in: Widerspruch. Münchener Zeitschrift für Philosophie 31.55 (2012), S. 19-30, in dem ich die Punkte dieses Teils in einer ersten Skizze entwickle undauf die ich mich hier stütze. Ähnlich diskutiert habe ich diesen Punkt auchin meinem Text zu Badiou in: Uwe Hebekus, Jan Völker, Neue Philosophien des Politischen zur Einführung, Hamburg 2012, S. 174-216, bes. S. 208ff.66 Alain Badiou, Logiken der Welten. Das Sein und das Ereignis 2, aus dem Frz. übers. v. Heinz Jatho, Zürich/Berlin 2010, S. 17.67 Ebd., S. 18.
28
entgegen: »Es gibt nur Körper und Sprachen, außer dass es
Wahrheiten gibt.«68
In Bezug auf die Politik hat Badiou die unmögliche Ausnahme
unserer Zeit die kommunistische Hypothese genannt. Diese
Hypothese beruht auf drei Axiomen:69 der Gleichheit, der
Überwindung der Arbeitsteilung und der Distanz vom Staat. »Die
kommunistische Hypothese ist, daß eine andere kollektive
Organisation realisierbar ist, welche die Ungleichheit der
Reichtümer und selbst die Arbeitsteilung eliminiert: Jeder wird
ein ›polyvalenter‹ Arbeiter sein, und insbesondere werden die
Leute zwischen der manuellen und der intellektuellen Arbeit
wechseln, wie auch zwischen der Stadt und dem Land.«70
Somit lässt sich sagen, dass die unmögliche Ausnahme in der
gegenwärtigen Metaphysik der Körper und Sprachen in einer
egalitären, generischen Politik besteht, die sich in Distanz
zum Staat entfaltet. »Es ist wesentlich«, schreibt Badiou an
anderer Stelle, »die politische Praxis der Faszination der
Macht zu entreißen«71 – weshalb das zweite Axiom deklariert,
dass »the existence of a coercive, detached State is not
necessary«.72
Man kann diesem Axiom der Distanz zum Staat einen besonderen
Status für die Aufgabe der Wiederbelebung der kommunistischen
68 Ebd., S. 20.69 Vgl. Alain Badiou, »The Courage of Obscurantism«, http://www.lacan.com/symptom11/?p=163, publiziert in Le Monde unter dem Titel »The courage of the Present« am 19.2.2010 (zuletzt aufgerufen am 1.3.2013).70 Alain Badiou: Wofür steht der Name Sarkozy?, aus dem Frz. übers. von Heinz Jatho, Zürich/Berlin 2008, S. 104.71 Alain Badiou, »Ist der Sozialismus das Reale der kommunistischen Idee?«, in: Alain Badiou, Slavoj Žižek (Hg.), Die Idee des Kommunismus, Bd. II, Hamburg2012, S. 11-22, hier: S. 20.72 Badiou, »Courage of Obscurantism« (wie Anm. 68).
29
Hypothese zuweisen, und zwar aufgrund der bisherigen Geschichte
dieser Hypothese. Badiou unterteilt sie in zwei Sequenzen.73
Die erste Sequenz verläuft von 1792 bis 1871. Es ist die Zeit
der Revolte, der Massendemonstrationen. Die initiale Idee ist
die der Revolution, des Umsturzes des Staates und der Erringung
der Macht. Diese Sequenz kommt in der Pariser Kommune an ein
Ende, woraufhin ein Intervall von 50 Jahren folgt. In dem Ende
der Kommune jedoch lassen sich die Schwächen der ersten Sequenz
nachzeichnen. Weder war sie in der Lage, die Revolution auf
Dauer zu stellen, noch vermochte sie es, für eine qualitative
Ausdehnung ihrer Bewegung zu sorgen. Die zweite Sequenz beginnt
mit dem Oktober 1917 und nimmt genau diese Schwächen auf, um
sie in die Ziele des politischen Prozesses zu verwandeln: Die
Revolution muss siegreich werden, sie muss auf Dauer gestellt
werden. Es geht um die Organisation und Disziplin der Partei
auf der einen Seite und des Staates auf der anderen. Die zweite
Sequenz wiederum erfährt ein doppeltes Ende in der
Kulturrevolution in China einerseits und im Mai 1968
andererseits. Die Kulturrevolution ist der letzte Versuch, die
übermächtige Bürokratie des Staates zu unterbrechen und die
Partei wieder mit den Massen zu verknüpfen, aber der Blutzoll
dieses gewalttätigen und vergeblichen Unterfangens bringt die
Sequenz an ein Ende. Im Mai 1968 entstehen auf der anderen
Seite zwar neue ereignishafte Strukturen, die zugleich neue
Formen der Organisation ankündigen, neue Formen, in denen
Studenten- und Arbeiterorganisationen verknüpft werden, die
aber noch immer abhängig von der Sprache der zweiten Sequenz
sind.
73 Vgl. zum Folgenden: Badiou, Sarkozy (wie Anm. 70), S. 111-124.
30
Beide Sequenzen drehen sich somit um die Frage des Staates.
Während die erste Sequenz die Revolte gegen den Staat probt,
sucht die zweite Sequenz den emanzipatorischen Staat zu
errichten. Zwar bildet das Absterben des Staates den
marxistischen Horizont, dennoch aber ist es genau die Frage des
Staats, in der sich die Sequenz erschöpft.
Die entscheidende Frage der Gegenwart für Badiou lautet dann,
wie sich eine dritte Sequenz eröffnen lässt. Dazu wird es
notwendig sein (wie Badiou in seinem Text über die
kommunistische Hypothese ausführt), erneut zu den ersten
Anfängen dieser Hypothese zurückzukehren. In einem gewissen
Sinn ist unsere Zeit, wie Badiou festhält, in politischer
Hinsicht der Zeit um 1840 verwandt: Wir stehen vor der
Notwendigkeit, die kommunistische Idee neu zu begründen, ihr
ein neues Fundament zu verleihen, mitten in einer Zeit, in der
der Kapitalismus anscheinend allseits ohne Einschränkungen zu
agieren vermag.74 Was dies bedeutet, lässt sich genauer fassen,
wenn man einen Blick auf die Struktur der Idee wirft.
Die Idee, die kommunistische Idee, umfasst drei Aspekte: einen
historischen Aspekt, einen politischen Aspekt und einen
subjektiven Aspekt. Für Badiou ist die Idee genau jenes Moment,
das diese Aspekte durchläuft und sie verknüpft. Der politische
Aspekt bezieht die Idee auf eine konkrete, reale Entwicklung
einer emanzipatorischen Bewegung – z.B. die russische
Revolution, die Kulturrevolution oder auf die Aufstände, die
zur Pariser Kommune führten. Der historische Aspekt bezieht
sich auf den Eintrag eines solchen Ereignisses in den Kontext
anderer Ereignisse, auf die Kontextualisierung eines realen
74 Vgl. Badiou, Sarkozy (wie Anm. 69), S. 123.
31
Ereignisses im Rahmen einer Geschichte der Emanzipation. In
diesem Sinne bezog sich beispielsweise, wie Badiou zeigt, die
Kulturrevolution auf die Pariser Kommune. Der subjektive Aspekt
schließlich bezieht sich auf die Möglichkeit von Individuen,
sich in dem sich entfaltenden Prozess der Konsequenzen eines
Ereignisses zu subjektivieren – z.B., in der zweiten Sequenz,
Mitglied einer Partei zu werden. Die gesamte Entfaltung einer
solchen Idee nennt Badiou auch eine Wahrheitsprozedur: Deutlich
ist, dass Wahrheit wie auch Idee hier nicht Abbildungs- oder
Entsprechungsverhältnisse meinen, sondern existierende,
konkrete und dynamische Prozeduren.
In einem zweiten Schritt verknüpft Badiou diese drei
Komponenten mit den drei Lacan’schen Registern des Realen,
Symbolischen und Imaginären. Ein politisches Reales wird in den
symbolischen Raum der Geschichte eingeschrieben, getragen von den
imaginären subjektiven Beziehungen. Keines dieser drei Momente
wird in Reinheit erscheinen, sondern die Momente sind
ineinander verschlungen und bedingen sich gegenseitig.
»Man wird zunächst behaupten, dass die Wahrheitsprozedur
selbst das Reale ist, auf das sich die Idee stützt. Man wird
anschließend übereinkommen, dass die Geschichte lediglich
eine symbolische Existenz hat. Tatsächlich könnte sie nicht
erscheinen. [...] Man wird schließlich übereinkommen, dass
die Subjektivierung, die das Reale in das Symbolische einer
Geschichte projiziert, nur imaginär sein kann, aus dem
gewichtigen Grund, dass kein Reales sich als solches
symbolisieren lässt.«75
75 Alain Badiou, Die kommunistische Hypothese, aus dem Frz. übers. und hg. von Frank Ruda und Jan Völker, Berlin 2011, S. 159.
32
Um es anders zu sagen: Das Reale einer politischen Entwicklung
kann nur in den symbolischen Raum einer Geschichte
eingeschrieben werden, wenn es von einer imaginären Operation
im Subjekt getragen wird. Genauer noch ergibt sich das Reale
nur über seine Einschreibung in das Symbolische als Ausnahme:
Es wird nicht als Teil der Geschichte, als Teil dessen, was
ist, sondern als sich von der Geschichte Ausnehmendes
projiziert. Als solches lässt sich das Reale nicht projizieren,
weswegen diese Projektion zum einen imaginär ist, zum anderen
aber als Ausnahme erscheint. Im Rahmen des Gegebenen, so könnte
man sagen, erscheint das Reale irreal:
»[D]ie Idee stellt eine Wahrheit in der Struktur der Fiktion
aus. [...] [D]ie kommunistische Idee ist die imaginäre
Operation, durch die eine individuelle Subjektivierung ein
Fragment des politischen Realen in die symbolische Narration
einer Geschichte projiziert. In diesem Sinne ist es
angebracht, von dieser Idee zu sagen (wie sehr man darauf
wartet!), sie sei ideologisch.«76
An dieser Stelle lässt sich eine erste Konsequenz der Kritik an
Althusser erkennen. Subjektivierung vollzieht sich über die
Projektion einer Ausnahme in den symbolischen Rahmen. Zugleich
wird nun jedoch nicht das Moment des Imaginären zurückgenommen,
sondern neu positioniert. Die imaginäre Projektion projiziert
das als solches nicht Symbolisierbare, so dass sie nicht die
Bewegung einer Identifizierung vollzieht – da das Reale als
solches nicht erkennbar ist –, sondern sich mit der Leerstelle
des Realen in der Gestalt der Ausnahme verklammert. ›Ideologie‹
76 Ebd., S. 160.
33
wird in der Folge nicht verdoppelt – in eine emanzipatorische
oder proletarische und eine bürgerliche –, sondern intern
gespalten, wird zu einer Figur, die die Bewegung eines nicht zu
Vereinheitlichenden erhält.
Geht man nun einen Schritt weiter und fragt sich nach der
Verknüpfung der Lacan’schen Triade mit der Unterteilung der
Sequenzen – ein Schritt, den Badiou nicht explizit vollzieht –,
ergibt sich folgendes interessantes Bild: Man sieht, dass sich
die erste Sequenz mit dem Stichwort der Revolution und der
Notwendigkeit der spontanen Erhebung so verstehen lässt, dass
sie sich vorrangig auf das real-politische Moment bezieht. Die
zweite Sequenz wiederum ist vor allem mit der Einschreibung der
Revolution in den nicht-existierenden, symbolischen Raum der
Geschichte beschäftigt. Was nun die zu eröffnende dritte
Sequenz der kommunistischen Idee anbetrifft, so stellt sich die
Frage nach ihrem imaginär-subjektiven Aspekt. Auch wenn jede
einzelne Entfaltung der Idee alle drei Momente notwendigerweise
vereint, so ließe sich fragen, ob nicht einzelne Sequenzen von
einzelnen Momenten der Idee überdeterminiert sind.
In der gegenwärtigen Situation, betont Badiou, ist es vor allem
notwendig, an der Existenz der kommunistischen Hypothese
überhaupt zu arbeiten, an ihren Begriffen, um sie als eine
Schöpfung des Denkens wiederzubeleben. Die Problematik der
Bekräftigung der Existenz der Hypothese betrifft nun das
spezifische Scharnier zwischen realer politischer Bewegung und
der subjektiven Inkorporation in diese: »Unser Problem ist der
eigentümliche Modus, in dem das von der Hypothese gebotene Denken sich in den
Figuren der Aktion präsentiert. Kurz: eine neue Beziehung zwischen dem
34
Subjektiven und dem Objektiven [...].«77 Und diese Frage lässt
sich noch einmal übersetzen: »Das, worauf es ankommt, betrifft
eine neue Beziehung zwischen der realen politischen Bewegung und der
Ideologie.«78
Hiermit lassen sich Badious Überlegungen zur Wiederbekräftigung
der Existenz der kommunistischen Hypothese in zwei Punkten
zuspitzen, die wiederum auf die Demokratie als Emblem der
Gegenwart zurückführen. Denn die Beziehung zwischen dem
politisch Realen und der Ideologie bricht sich in der Frage der
imaginären Bewegung, mittels derer das Reale in das Symbolische
eingeschrieben wird; doch ist die vorrangige Konzeption des
Platzes der Ideologie eine etatistische – eine der
Identifikation des Subjekts. Somit steht aus emanzipatorischer
Perspektive die Konfiguration eines imaginären Transports in
Frage, der sich im Abstand zum Staat denken ließe, weil der
Staat letztlich die allgemeine Regel der Konstruktion des
Subjekts als identischem ist. Versteht man den Staat in diesem
abstrakten Sinn – als Identifikation des Subjekts –, dann
schreibt die Erfindung einer anderen Subjektivität die
Geschichte der kommunistischen Hypothese fort und stellt sich
als Ausnahme dem demokratischen Materialismus gegenüber, dessen
allgemeine Methode in der Identifikation und etatistischen
Absicherung der Subjektivität besteht.
Was jedoch wäre ein nicht-staatliches Imaginäres?
5. Imaginäres ohne Staat
77 Badiou, Sarkozy (wie Anm. 69), S. 121.78 Ebd., S. 120 (Hervorhebung im Original).
35
In seinem frühen Hauptwerk, der Theorie des Subjekts, das noch
einzig der Politik gewidmet ist und die Partei als Subjekt der
emanzipatorischen Politik ausarbeitet, verzeichnet Badiou die
vollständige Ambivalenz des Imaginären: »Entgegen seiner
Legende gibt es nichts Strukturaleres und letztlich nichts
Ärmeres als das Imaginäre. Aber es gibt gleichwohl auch nichts,
was so deutlich notwendig ist.«79 Die Funktion, die Badiou dem
Imaginären hier anweist, ist diejenige einer bestimmten
Schließung oder Sättigung des subjektiven Feldes. Diese
Sättigung kann sich in Bezug auf das Subjekt als Dogmatismus
oder als Skeptizismus zeigen – das Imaginäre gefährdet den
Prozess der Politik. Das Imaginäre, auch wenn es sich nicht
vermeiden lässt, auch wenn es notwendig ist, stellt das
Unentscheidbare als immer schon entschieden dar, so Badiou.80
Es überführt Kontingenz in Notwendigkeit, in einer Bewegung,
die ähnlich der Althussers ist, nur dass es eben nicht die
Bewegung des Subjekts ist, die an einem Punkt der
Unentscheidbarkeit beginnt. Dogmatismus und Skeptizismus
hingegen führen den Prozess des Subjekts an ein Ende. Sie
stellen zugleich die Grundbegriffe der Ideologie dar: insofern
der Dogmatismus zum Beispiel auf den Personenkult führt, der
Skeptizismus aber in anarchisches Chaos.
Während hier noch die Frage des Imaginären dem Subjekt-Prozess
entgegengesetzt ist – wenngleich auch nicht aus ihm entfernt –,
so gewinnt die Frage des Imaginären in späteren Texten Badious
– wie anhand der Rekonstruktion der Operation (um Badious
Begriff aufzugreifen) der Idee bereits zu sehen war – eine
79 Alain Badiou, Théorie du sujet, Paris 1982, S. 317 (alle Übersetzungen aus diesem Buch von J. V.).80 Vgl. ebd., S. 315.
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andere Gewichtung. Diese Neujustierung des Imaginären, die nur
in ersten Ansätzen entwickelt ist, vereint zwei interessante
Momente: Zum einen stärkt sie die Rolle des Imaginären im
Prozess der Subjektivierung, zum anderen gibt sie den Blick
frei auf eine mögliche Skizze eines nichtstaatlichen
Imaginären.
In Badious Vorlesungen zu Platon findet sich ein sehr konkretes
Beispiel: eine sehr kleine Demonstration, ein irrelevanter
Moment, in dem nichtsdestotrotz ein politisches Reales seine
erste Form annimmt, in dem nichtsdestotrotz eine Prozedur, eine
Operation beginnen mag, die rückwirkend die Realisierung einer
Idee wird gewesen sein können. Das einzelne Individuum, wie
Badiou ausführt, das in diesen insignifikanten Moment
involviert ist, mag sich allen schlechten Bedingungen zum Trotz
als Agent der Weltgeschichte fühlen. Diese Projektion auf die
Bühne der Weltgeschichte ist es jedoch, die den imaginären
Transport ausmacht: Das Individuum totalisiert den realen,
vielleicht vollkommen bedeutungslosen Prozess der
Demonstration, indem es diesen Prozess imaginär in einen
potentiell unendlichen Prozess einschreibt, in einen
symbolischen Rahmen. Eines Tages wird diese Demonstration keine
kleine Demonstration, sondern der Beginn der Entfaltung – der
Realisierung – einer Idee gewesen sein. Aber der Aktivist der
Demonstration totalisiert nicht nur den Prozess, sondern er
identifiziert sich auch selbst mit ihm. Das Imaginäre bietet
diesen Transport als aktuale, korporeale Einschreibung in den
Prozess der Idee. »Es gibt also eine Wahrheit dieses
Imaginären, die genau darin besteht, dass es ein Imaginäres der
Wahrheit selbst ist, dass es eine Repräsentation der Wahrheit
37
ist, und dies konstituiert diese Wahrheit des Imaginären.«81
Noch einmal lassen sich die drei Dimensionen der Idee erweitert
übersetzen: Die Idee verknüpft einen realen Prozess, eine
symbolische Ausnahme und die »imaginäre Dimension, die die
Inkorporation als Inkorporation in eine virtuell unendliche
Totalität repräsentiert.«82
Der imaginäre Aspekt verankert den Prozess der Idee im
Individuum, er stützt die »Inkorporation«, die Einbindung des
Prozesses der Subjektivierung in den Körper des Individuums,
letztlich geknüpft an eine »Entscheidung«, einen »Willen«.83
Indem sich das Individuum mit der Prozedur identifiziert,
übersteigt es seine Endlichkeit und inkorporiert sich in die
Unendlichkeit des Prozesses. Dieser Exzess ist zugleich die
imaginär gestützte Repräsentation eines subjektiven Lebens oder
eines Lebens des Subjekts für das (endliche) Individuum.84 Wenn
das Imaginäre auf diese Weise eine »totalisierende
Repräsentation« eines Realen ermöglicht, dann verknüpfen sich
in der imaginären Operation alle drei Momente noch einmal:
»Sie repräsentieren sich das Fragment, das, was Sie im
Begriff sind zu tun, als ein Fragment das schließlich
äquivalent zu oder repräsentativ für die Voraussetzung einer
totalen Repräsentation der konstruierten, errichteten
Wahrheit ist. Und diese sich natürlich einstellende
Temporalität der Idee ist das Futur II, das heißt, das, was
81 Alain Badiou, Pour aujourd'hui: Platon! (3). Nicht autorisiertes Vorlesungstransskript, zitiert nach: http://www.entretemps.asso.fr/Badiou/09-10.2.htm, zuletzt aufgerufen am 26.2.2013.82 Ebd.83 Badiou, Die kommunistische Hypothese (wie Anm. 75), S. 156.84 Vgl. ebd., S. 159, Fn. 36.
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ich da mache, repräsentiere ich mir vom Punkt dessen aus,
was es gewesen sein wird wenn alles getan sein wird, wenn
alles getan gewesen sein wird, was aus dem gleichen Grund
geschehen musste.«85
Alle Momente der Idee erscheinen so zweifach: Die imaginäre
Operation ist die Eintragung des Realen ins Symbolische, aber
sie ist auch die individuelle Repräsentation dieser Operation
selbst. Die Fiktion, in deren Rahmen die Wahrheit ausgestellt
wird, ist so kein Luftschloss der Vernunft, wie Kant gesagt
hätte, sondern eine Fiktion, die sich auch als strukturelle
Fiktion beschreiben ließe, eine vernünftige Fiktion, die aus
Überzeugung eine Ausnahme – bzw. die Ausnehmung der Ausnahme
überhaupt, ihre nicht-essentialisierbare Ausnahmehaftigkeit –
im Rahmen des Gegebenen platziert. Sie ist die Fiktion eines
Individuums, Teil eines werdenden Subjektes gewesen zu sein,
eine Fiktion, in der es sich bereits desidentifiziert.
Im Zusammenhang der Idee nehmen diese Momente jedoch eine
andere Wendung in Bezug auf das, was üblicherweise als
imaginär-ideologischer Prozess verstanden wird. Die
Totalisierung ist eine Totalisierung der Ausnahme, da die
Prozedur in einer subjektiven Ausnahme vom allgemeinen Gesetz
der ›Körper und Sprachen‹ stattfindet. Was totalisiert wird,
wird nur in Bezug auf die Kontinuierung des Prozesses
totalisiert, in Bezug auf eine Fortsetzung, die sich erst im
Nachhinein als eine solche wird erwiesen haben. Die
Identifikation mit diesem Prozess ist daher keine
Identifikation mit einem Moment des Gegebenen innerhalb der
Metaphysik der Körper und Sprachen, sondern im Gegenteil eine85 Ebd.
39
Identifikation mit der inneren Unendlichkeit der Idee und der
Unendlichkeit ihrer Möglichkeiten, eine Identifikation mit der
Ausnahme. Die Repräsentation schließlich, die das Individuum im
Futur II aus dieser symbolischen Ausnahme macht, dreht die
Logik der Repräsentation um: Sie repräsentiert den Abstand
zwischen der Wahrheitsprozedur und der Ordnung des Gegebenen,
der demokratisch-materialistischen Logik der Körper und
Sprachen. Die Repräsentation sichert keine Zählung, sondern
repräsentiert fiktiv die Kontinuierung der Ausnahme einer
egalitären Zählung. In einem gewissen Sinn ließe sich sagen,
dass sie den Abstand der Politik repräsentiert.
Man kann also sagen, dass nach der Schließung der zweiten
Sequenz und inmitten der Intervallzeit, die nur durch den
Beginn einer dritten Sequenz der kommunistischen Hypothese
unterbrochen werden könnte, von den vergangenen Sequenzen sich
etwas lernen lässt: Die Sequenzen orientierten sich einmal am
politischen Realen, dann am historisch-symbolischen Rahmen.
Aufgrund dieses notwendigen Moments, etwas aus den vergangenen
Sequenzen zu lernen, was sich nicht als Wissen aus ihnen
abziehen lässt, rückt die Philosophie in den Vordergrund – die
Philosophie freilich verstanden als Raum einer Präsentation von
Ausnahmen, nicht als akademischer Ort verallgemeinerter Regeln;
die Philosophie verstanden als Ort der Übertragungen, in dem
sich Ausnahmen verknüpfen lassen.
Das Lernen aus den vorangegangenen Sequenzen kann zu der – in
sich ungegründeten – Wette führen, dass die dritte Sequenz am
Subjektiv-Imaginären orientiert sein könnte. Die Neubegründung
der kommunistischen Hypothese beginnt an der Schnittstelle von
Individuum und Subjekt – als Ermöglichung der Ausnahme. Sie
40
beginnt mit der Prozedur der Idee, im Moment des Imaginären.
»Die Funktion dieser Idee ist es, die individuelle
Inkorporation in die Disziplin einer Wahrheitsprozedur zu
unterstützen, dem Individuum seiner eigenen Ansicht nach Anlass
zu geben, die staatlichen Zwänge des Überlebens zu
überschreiten, indem es zu einem Teil des Wahrheitskörpers oder
des subjektivierbaren Körpers wird.«86 Die Idee beginnt somit
nicht im abgetrennten Raum einer bereits existierenden
politischen Subjektivität, sondern im gegebenen Individuum,
mitten in der Situation der ›Körper und Sprachen‹, als
Vorwegnahme und Beginn einer Ausnahme.
Am Punkt des Imaginären handelt es sich um eine Spaltung, einen
Abzug des Individuums von sich selbst, über den es sich in
einen Prozess seiner Partizipation an einer Subjektwerdung
einschreibt. Das Subjekt ›beginnt‹, es findet einen Punkt
seiner Existenz in der Ab-Spaltung des Individuums von sich
selbst, in dem Moment, in dem es in sich etwas anderes
existieren lässt, gestützt auf die fragile Erscheinung eines
politischen Realen. Der imaginäre Transport ist hier jedoch
nicht die Subjektivierung, sondern ihre Antizipation und ihre
Realisierung zugleich. Wenn der Staat die Möglichkeiten der
sozialen Situation bestimmt87 – und hier ist nun Staat
verstanden als Fixpunkt der Metaphysik des demokratischen
Materialismus –, dann ist diese Spaltung des Individuums
zugleich eine Distanzierung vom Staat. Das imaginäre Moment
beschreibt jedoch auch eine Distanz zum Staat, insofern es
einen nicht-etatistischen Begriff von Ideologie ermöglicht.
86 Ebd., S. 168.87 Ebd., S. 162.
41
Ideologie, so ließe sich Badiou verstehen, unterscheidet sich
nicht vom Moment des Individuell-Imaginären, sondern ist der
gleiche Aspekt hinsichtlich des subjektiven Aspekts der Logik
der Idee. Ideologisch ist eine Idee dann, wenn sie
notwendigerweise den Transport zwischen der Politik und der
Geschichte herstellen muss, und sie ist genauso uneindeutig,
ihr Status unklar.88 Da sie jedoch den Transport einer
subjektiven Ausnahme betreibt, zielt sie nicht auf die
Identifikation, sondern auf die Assoziation – hier ließe sich
dieses Wort neu einfügen – dessen, was sich nicht in einer
identifizierenden Formel wird abbilden lassen. Die Ideologie
gewinnt ihre Kraft nicht aus der Umdrehung und Wiederholung des
Anderen, sondern aus der Platzierung der Ausnahme, als
Identifikation und Totalisierung des Nicht-Identifizierbaren,
das sie zugleich erst kreiert. Das Moment des Imaginär-
Ideologischen ist in dieser Hinsicht fern davon, einen rein
utopischen Gehalt zu besitzen: Es ist bereits Teil der
Prozedur, bereits Teil der Politik. Aber es ist zugleich jener
Teil, der als Spaltung in die Welt der ›Körper und Sprachen‹
hineinragt. Im Moment des Imaginären beginnt die Wirklichkeit
der Idee, auch wenn sie sich am Beginn als ein Unwirkliches
realisiert. Gegen den Skeptizismus setzt das Imaginäre die
Möglichkeit der Idee und die Möglichkeit der individuellen
Inkorporation, gegen den Dogmatismus die Bekräftigung, dass
eine politische Prozedur nur lokal denkbar ist, zwar in ihrem
abstrakten Prinzip, aber nicht in ihrer Ausgestaltung
übertragen werden kann.89 Das Imaginäre sichert die lokale-
88 Vgl. ebd., S. 164.89 Vgl. zur Wiederaufnahme der Fragen von Skeptizismus und Dogmatismus auch Alain Badiou, Pour aujourd'hui: Platon! (3) (wie Anm. 81).
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individuelle Bindung, wie es zugleich die Entbindung vom
Lokalen ermöglicht.
Badiou hat einen sehr konkreten Vorschlag unterbreitet, wie
diese Konstruktion konkret verstanden werden kann. Es ist ein
neuer Begriff des Internationalismus. Für Badiou war »die
nationale Beschränktheit der Revolutionen des 20. Jahrhunderts
[...] eine der großen Schwächen der kommunistischen Idee«.90
Der »internationalistische Imperativ [ist] heute zum
wichtigsten Imperativ geworden«.91 Es gilt, einen »subjektiven
Internationalismus« gegen die »kapitalistische Globalisierung«
zu setzen.92 ›Subjekt‹ lässt sich hier nun zuallererst als ein
solcher Modus verstehen, der sich von der objektiven
Regulierung der allgemeinen Äquivalenz abzieht. Badious Begriff
der Subtraktion,93 des Abzugs vermag diesen Punkt des Subjekts
genau zu erfassen: Der Platz des Subjektes entsteht an jenem
Ort, der nicht mehr in die Metaphysik der Körper und Sprachen
einzugliedern ist. Insofern es derart nicht mehr den
Äquivalenzen gehorcht, ist es eine Subjektivität, die unter dem
Axiom der Egalität steht, die sich also in ihrem Denken an alle
richtet: Die Politik präsentiert das einzige Denken, das sich im
Abzug von den objektiven Bedingungen des Marktes an alle zu
richten vermag. Gleichwohl gibt es viele Politiken, die, da sie
zu einzelnen Situationen gehören, konkret verankert sind. Was
sie letztlich jedoch einzeln als Politik auszeichnet – dass sie
sich an alle richten – ist jenes Moment, was sie trotz ihrer
90 Badiou, »Ist der Sozialismus das Reale der kommunistischen Idee?« (wie Anm. 71), S. 20.91 Ebd.92 Ebd., S. 21.93 Vgl. dazu auch: François Wahl, »Das Subtraktive«, in: Alain Badiou, Bedingungen, aus dem Frz. übers. von Heinz Jatho, Zürich 2011, S. 11-59.
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Spezifität untereinander verbindet, nämlich ihr subjektiver
Egalitarismus. Man kann so, mit den Worten Badious, die er an
anderen Stellen einsetzt, behaupten, dass die Politik
aristokratisch und universal zugleich ist – als das einzige
Denken, das sich an alle richtet. Dass sie in ihrer Vielheit und
Verschiedenheit untereinander verbunden sind, könnte man ihren
inhärenten Internationalismus nennen. Dieser Internationalismus
stülpt das liberale Imaginäre um: Wo der Markt über die
Allgemeinheit des Warenaustauschs totalisiert, stellt die
Politik die Universalität des Grundsatzes der Gleichheit auf.
Wo der Staat der Allgemeinheit der Äquivalenz seine Form gibt,
hält sich die Politik in Distanz zum Staat. Der Unterschied
liegt in der Subjektivität der Politik: Sie totalisiert eine
Gleichheit, die sich nicht in die Allgemeinheit der Äquivalenz
von Eigenschaften übersetzen lässt.
Dem Internationalismus ist ein imaginäres Moment
eingeschrieben, insofern er fiktiv seine eigene Fortsetzung
projiziert und sich zugleich individuell verankert. Sich in
Politiken einzuschreiben, trotz der eigenen, individuellen
Abwesenheit, das ist ein entscheidendes Moment der heutigen,
schwierigen Situation emanzipatorischer Politiken. Der subjektive
Internationalismus ist objektiven Kriterien der allgemeinen
Äquivalenz entzogen, was es zugleich unmöglich macht, ihn als
Staat zu denken. Deswegen lässt sich letztlich sagen, dass an
dieser Stelle ein Prinzip der inneren Überzeugung entscheidend
wird, die sich im Abstand zu diesen Objektivierungen hält:
»Nicht nur der Aufbau eines Apparats, der sich der
verschiedenen Situationen annimmt, geht uns unmittelbar an,
sondern auch die innere Überzeugung, dass jede neue politische
44
Situation, die einen befreiten politischen Ort schafft, uns
unmittelbar angeht.«94
Wenn der Aufbau des Apparats die Frage der Organisation
betrifft, die eine Form abseits der Partei finden müsste, so
betrifft die Frage der ›inneren Überzeugung‹ etwas anderes: ein
Imaginäres der politischen Prozedur überhaupt.95 Es betrifft
die imaginäre Einschreibung in politische Prozeduren, die eine
individuelle Überzeugung zu einer entindividualisierenden
Bewegung macht. Was schließlich macht die übergreifende,
translokale Bedeutung jenes kurzen, wahrhaft historischen
Moments auf dem Tahrir Square im Frühjahr 2011 aus, so fragil
er war, und auch wenn er von anderen Bewegungen im Anschluss
seiner Kraft beraubt wurde, wenn nicht die blitzhafte
universale Möglichkeit einer imaginären Einschreibung in dieses
Moment? Genau durch dieses Moment ragen die Ereignisse in
Ägypten über ihre lokale Bedeutung hinaus, dass sie für einen
Moment international die Möglichkeit einer neuen egalitären
politischen Prozedur überhaupt repräsentierten.
In Distanz vom Staat, der Maschinerie imaginärer Einheiten,96
benötigt Politik ein Imaginäres einer punktuellen
Fortschreibung, die die Globalisierung des Marktes punktiert.
Ein emanzipatorisches Imaginäres steht so dem liberalen
Imaginären einerseits nicht einfach gegenüber: Es setzt
vielmehr an dessen innersten Rissen an. In seiner radikalsten
94 Ebd., S. 21f.95 An dieser Stelle spielt für Badiou die Kunst eine zentrale Rolle, da sie lehren kann, wie Wahrheitsprozeduren kreiert werden können. Vgl. dazu: Jan Völker, »Reversing and affirming the avant-gardes: a new paradigm for politics«, in: Marios Constantinou (Hg.), Badiou and the Political Condition, London/New York 2013 (im Erscheinen).96 Vgl. Alain Badiou, The Rebirth of History. Times of Riots and Uprisings, aus dem Frz. übers. von Gregory Elliott, London/New York 2012, S. 73.
45
Variante enthält das liberale Imaginäre bereits seinen eigenen
Widerspruch und hat es zu einem Teil seines Marktes gemacht.
Die Schöpfung der Ausnahme kann an dieser Spaltung beginnen und
den unmessbaren Abstand zum Staat fixieren, ohne sich selbst zu
identifizieren.97 Andererseits jedoch steht ein
emanzipatorisches Imaginäres so einem liberalen Imaginären
zugleich absolut gegenüber, als imaginärer Beginn der
Transformation, als Kreation der inäquivalenten Ausnahme aus
der allgemeinen Äquivalenz, einer Ausnahme, von der man sagen
könnte, dass sie existiert, aber nicht gegeben ist.
97 Zum Begriff der Fixierung der Politik vgl. auch: Alain Badiou, Ist Politik denkbar?, aus dem Frz. übers. und hg. von Frank Ruda und Jan Völker, Berlin 2010, S. 21f.